Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Thriller
Seit einem Unfall lebt Christine mit einer schweren Amnesie. Jede Nacht vergisst sie alles, was gewesen ist. Deshalb ist sie völlig auf ihren Mann Ben angewiesen. Dann findet Christine ein Tagebuch. Es ist in ihrer Handschrift geschrieben. Und was sie...
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Produktinformationen zu „Ich. Darf. Nicht. Schlafen. “
Seit einem Unfall lebt Christine mit einer schweren Amnesie. Jede Nacht vergisst sie alles, was gewesen ist. Deshalb ist sie völlig auf ihren Mann Ben angewiesen. Dann findet Christine ein Tagebuch. Es ist in ihrer Handschrift geschrieben. Und was sie darin liest, ist beunruhigend. Was ist wirklich passiert? Wem kann sie trauen?
Klappentext zu „Ich. Darf. Nicht. Schlafen. “
Ohne Erinnerung sind wir nichts. Stell dir vor, du verlierst sie immer wieder, sobald du einschläfst. Dein Name, deine Identität, die Menschen, die du liebst - alles über Nacht ausradiert. Es gibt nur eine Person, der du vertraust. Aber erzählt sie dir die ganze Wahrheit? Als Christine aufwacht, ist sie verstört: Das Schlafzimmer ist fremd, und neben ihr im Bett liegt ein unbekannter älterer Typ. Sie kann sich an nichts erinnern. Schockiert muss sie feststellen, dass sie nicht Anfang zwanzig ist, wie sie denkt - sondern 47, verheiratet und seit einem Unfall vor vielen Jahren in einer Amnesie gefangen. Jede Nacht vergisst sie alles, was gewesen ist. Sie ist völlig angewiesen auf ihren Mann Ben, der sich immer um sie gekümmert hat. Doch dann findet Christine ein Tagebuch. Es ist in ihrer Handschrift geschrieben - und was darin steht, ist mehr als beunruhigend. Was ist wirklich mit ihr passiert? Wem kann sie trauen, wenn sie sich nicht einmal auf sich selbst verlassen kann?
»Man muss sagen: Chapeau, der Mann hat es wirklich gefunden, das Rezept für den perfekten Thriller.« taz
»Es ist fast unmöglich, diesen mitreissenden, glaubwürdigen und daher nahegehenden Thriller aus der Hand zu legen.« Bücher
»Mitreissend, ein echter Pageturner.« Stern
»Schlicht und einfach der beste erste Thriller, den ich jemals gelesen habe.« Tess Gerritsen
Lese-Probe zu „Ich. Darf. Nicht. Schlafen. “
Ich. Darf. Nicht. Schlafen. von S. J. Watson... mehr
Das Schlafzimmer ist seltsam. Fremd. Ich weiß nicht, wo ich bin, wie ich hier gelandet bin. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll.
Ich habe die Nacht hier verbracht. Die Stimme einer Frau hat mich geweckt - zuerst dachte ich, sie läge mit mir zusammen im Bett, doch dann merkte ich, dass sie die Nachrichten verlas und ich einen Radiowecker hörte -, und als ich die Augen aufschlug, war ich hier. In diesem Zimmer, das ich nicht kenne.
Meine Augen gewöhnen sich an das Halbdunkel, und ich schaue mich um. Ein Morgenmantel hängt an der Kleiderschranktür- für eine Frau, aber eine, die viel älter ist als ich -, und eine marineblaue Hose liegt ordentlich über der Lehne eines Stuhls am Frisiertisch, aber sonst kann ich wenig erkennen. Der Radiowecker sieht kompliziert aus, aber ich finde den Knopf, der ihn hoffentlich zum Verstummen bringt. Es klappt.
Auf einmal höre ich hinter mir ein zittriges Einatmen und merke, dass ich nicht allein bin. Ich drehe mich um. Ich sehe nackte Haut und dunkles, graugesprenkeltes Haar. Ein Mann. Sein linker Arm liegt auf der Decke, und am Ringfinger der Hand steckt ein goldener Ring. Ich unterdrücke ein Stöhnen. Der Typ ist also nicht nur alt und grau, denke ich, sondern auch noch verheiratet. Ich habe nicht nur mit einem verheirateten Mann gevögelt, sondern vermutlich noch dazu bei ihm zu Hause, in dem Bett, das er normalerweise mit seiner Frau teilt. Ich sinke zurück, um mich zu sammeln. Ich sollte mich schämen.
Ich frage mich, wo die Ehefrau ist. Muss ich befürchten, dass sie jeden Augenblick hereingeschneit kommt? Ich stelle mir vor, wie sie am anderen Ende des Zimmers steht, kreischt, mich als Schlampe beschimpft. Eine Medusa. Ein Schlangenhaupt. Ich überlege, wie ich mich verteidigen soll, falls sie tatsächlich auftaucht, und ob ich dazu überhaupt imstande bin. Der Typ im Bett wirkt jedoch völlig unbesorgt. Er hat sich auf die andere Seite gerollt und schnarcht weiter.
Ich versuche, ganz still zu liegen. Normalerweise kann ich mich erinnern, wie ich in eine derartige Situation geraten bin, aber heute nicht. Ich muss auf einer Party gewesen sein, in einer Bar oder einem Club. Ich muss ganz schön betrunken gewesen sein. So betrunken, dass ich mich an gar nichts erinnere. So betrunken, dass ich mit einem Mann nach Hause gegangen bin, der einen Ehering trägt und Haare auf dem Rücken hat.
So behutsam wie möglich schlage ich die Decke zurück und setze mich auf die Bettkante. Zuallererst muss ich auf die Toilette. Ich ignoriere die Hausschuhe vor meinen Füßen - mit dem Ehemann zu vögeln, ist eine Sache, aber ich könnte niemals die Schuhe einer anderen Frau tragen - und schleiche barfuß auf den Flur. Ich bin mir meiner Nacktheit bewusst, habe Angst, die falsche Tür zu erwischen, in das Zimmer eines Untermieters zu platzen, eines halbwüchsigen Sohnes. Erleichtert sehe ich die Badezimmertür halboffen stehen, gehe hinein und schließe ab. Ich setze mich, benutze die Toilette, drücke die Spülung und wende mich zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Ich greife nach der Seife, aber irgendetwas stimmt nicht. Zuerst kann ich nicht benennen, was es ist, aber dann sehe ich es. Die Hand, die die Seife gefasst hat, sieht nicht wie meine aus. Die Haut ist faltig, die Finger dick. Die Nägel sind nicht lackiert und abgekaut, und wie bei dem Mann, neben dem ich vorhin aufgewacht bin, steckt ein schlichter goldener Ehering an der Hand.
Ich starre einen Moment darauf und wackele dann mit den Fingern. Prompt bewegen sich die Finger der Hand, die die Seife hält. Ich schnappe nach Luft, und die Seife flutscht ins Waschbecken. Ich blicke in den Spiegel.
Das Gesicht, das mich daraus ansieht, ist nicht meines. Das Haar hat keine Fülle und ist viel kürzer geschnitten, als ich es trage, die Haut der Wangen und unter dem Kinn ist schlaff, die Lippen sind dünn, der Mund nach unten gezogen. Ich schreie auf, ein wortloses Keuchen, das in ein entsetztes Kreischen übergehen würde, wenn ich es zuließe, und dann bemerke ich die Augen. Sie sind von Falten umgeben, ja, aber trotz allem erkenne ich sie: Es sind meine. Die Person im Spiegel bin ich, aber zwanzig Jahre zu alt. Fünfundzwanzig. Noch mehr.
Das kann nicht sein. Ich beginne zu zittern und halte mich am Waschbeckenrand fest. Ein weiterer Schrei drängt aus meiner Brust, und dieser bricht als ersticktes Keuchen hervor. Ich trete zurück, weg vom Spiegel, und erst jetzt sehe ich sie. Fotos. An die Wand geklebt, an den Spiegel. Bilder, dazwischen gelbe Haftzettel, Notizen mit Filzstift geschrieben, feucht und wellig.
Ich lese wahllos eine. Christine, steht da, und ein Pfeil zeigt auf ein Foto von mir - ein Foto von diesem neuen Ich, diesem alten Ich -, auf dem ich an einem Kai auf einer Bank sitze, neben einem Mann. Der Name kommt mir bekannt vor, aber nur vage, als müsste ich mich anstrengen zu glauben, dass es meiner ist. Auf dem Foto lächeln wir beide in die Kamera und halten Händchen. Er ist gutaussehend, attraktiv, und als ich genauer hinsehe, erkenne ich in ihm den Mann, mit dem ich geschlafen habe, der noch im Bett liegt. Darunter steht das Wort Ben, und daneben Dein Mann.
Ich keuche auf und reiße es von der Wand. Nein, denke ich. Nein! Das kann nicht sein ... Ich überfliege die übrigen Fotos. Sie alle zeigen mich und ihn. Auf einem trage ich ein hässliches Kleid und bin dabei, ein Geschenk auszupacken, ein anderes zeigt uns beide im Partnerlook in wetterfesten Jacken, wie wir vor einem Wasserfall stehen, während ein kleiner Hund unsere Füße beschnüffelt. Daneben ist ein Bild, auf dem ich neben ihm sitze, an einem Glas Orangensaft nippe und den Morgenmantel trage, den ich vorhin in dem Schlafzimmer gesehen habe.
Ich trete noch weiter zurück, bis ich kalte Fliesen im Rücken spüre. Im selben Moment erfasst mich eine schwache Ahnung, die ich mit Erinnerung assoziiere. Als mein Verstand versucht, sie zu ergreifen, schwebt sie davon, wie Asche in einem Lufthauch, und mir wird klar, dass es in meinem Leben ein Früher gibt, ein Vorher, doch ich kann nicht sagen, vor was, und dass es ein Jetzt gibt und dass zwischen diesen beiden Polen nur eine lange stumme Leere ist, die mich hierher geführt hat, zu mir und ihm, in dieses Haus.
***
Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Noch immer habe ich das Bild in der Hand - das von mir und dem Mann, neben dem ich aufgewacht bin -, und ich halte es vor mich. »Was geht hier vor?«, sage ich, schreie ich. Tränen strömen mir übers Gesicht. Der Mann setzt sich im Bett auf, die Augen halb geschlossen. »Wer bist du?«
»Ich bin dein Mann«, sagt er. Sein Gesicht ist verschlafen, zeigt keine Spur von Verärgerung. Er sieht meinen nackten Körper nicht an. »Wir sind seit vielen Jahren verheiratet.«
»Was soll das heißen?«, sage ich. Ich will weglaufen, weiß aber nicht, wohin. »›Seit vielen Jahren verheiratet‹? Was soll das heißen?«
Er steht auf. »Hier«, sagt er und reicht mir den Morgenmantel, wartet, während ich ihn anziehe. Er trägt eine Pyjamahose, die ihm zu groß ist, ein weißes Unterhemd. Er erinnert mich an meinen Vater.
»Wir haben 1985 geheiratet«, sagt er. »Vor zweiundzwanzig Jahren. Du -«
Ich falle ihm ins Wort. »Was -?« Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht, das Zimmer beginnt, sich zu drehen. Eine Uhr tickt, irgendwo im Haus, und es klingt so laut wie Hammerschläge. »Aber -?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Wie -?«
»Christine, du bist jetzt siebenundvierzig«, sagt er. Ich sehe ihn an, diesen Fremden, der mich anlächelt. Ich will ihm nicht glauben, will nicht mal hören, was er da sagt, aber er redet weiter. »Du hattest einen Unfall«, sagt er. »Einen schlimmen Unfall. Mit Kopfverletzungen. Es fällt dir schwer, dich an Dinge zu erinnern.«
»Was für Dinge?«, sage ich und meine eigentlich, Doch bestimmt nicht die letzten fünfundzwanzig Jahre? »Was für Dinge?«
Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu, nähert sich mir, als wäre ich ein verängstigtes Tier. »Alles«, sagt er. »Manchmal schon seit du Anfang zwanzig warst. Manchmal sogar noch früher.«
Daten und Altersangaben schwirren mir durch den Kopf. Ich will nicht fragen, aber ich weiß, ich muss. »Wann ... wann war der Unfall?«
Er sieht mich an, und sein Gesicht ist eine Mischung aus Mitgefühl und Furcht.
»Als du neunundzwanzig warst ...«
Ich schließe die Augen. Noch während mein Verstand versucht, diese Information abzulehnen, weiß ich irgendwo, dass sie der Wahrheit entspricht. Ich höre mich selbst, wie ich wieder anfange zu weinen, und sogleich kommt dieser Mann, dieser Ben, zu mir an die Tür. Ich spüre seine Nähe, bewege mich nicht, als er die Arme um meine Taille legt, leiste keinen Widerstand, als er mich an sich zieht. Er hält mich. Gemeinsam wiegen wir uns sacht, und ich merke, dass mir diese Bewegung irgendwie vertraut vorkommt. Sie tröstet mich.
»Ich liebe dich, Christine«, sagt er, und obwohl ich weiß, dass ich jetzt eigentlich das Gleiche zu ihm sagen sollte, schweige ich. Ich sage nichts. Wie kann ich ihn lieben? Er ist ein Fremder. Nichts ergibt irgendeinen Sinn. Ich will so vieles wissen. Wie ich hier gelandet bin, wie ich mit dem Leben zurechtkomme. Aber ich weiß nicht, wie ich fragen soll.
»Ich habe Angst«, sage ich.
»Ich weiß«, erwidert er. »Ich weiß. Aber das brauchst du nicht, Chris. Ich bin für dich da. Ich werde immer für dich da sein. Alles wird gut. Vertrau mir.«
***
Er sagt, er will mir das Haus zeigen. Ich fühle mich ruhiger. Ich habe einen Slip und ein altes T-Shirt angezogen, das er mir gegeben hat, mir dann den Morgenmantel um die Schultern gelegt. Wir treten auf den Flur. »Das Bad hast du ja schon gesehen«, sagt er und öffnet die Tür daneben. »Hier ist das Arbeitszimmer.«
Ich sehe einen Schreibtisch mit einer Glasplatte und darauf etwas, das ein Computer sein muss, obwohl es lächerlich klein ist, eher wie ein Spielzeug. Daneben steht ein Aktenschrank in Stahlgrau, darüber hängt ein Wandplaner. Alles ist sauber, ordentlich. »Hier arbeite ich manchmal«, sagt er und schließt die Tür. Wir überqueren den Flur, und er öffnet eine andere Tür. Ein Bett, eine Frisierkommode, Kleiderschränke. Alles sieht fast genauso aus wie in dem Zimmer, in dem ich aufgewacht bin. »Manchmal schläfst du hier«, sagt er, »wenn dir danach ist. Aber normalerweise wachst du nicht gern allein auf. Du kriegst Panik, wenn du nicht erkennen kannst, wo du bist.« Ich nicke. Ich fühle mich wie eine Mietinteressentin, der man eine neue Wohnung zeigt. Eine mögliche Mitbewohnerin. »Gehen wir nach unten.«
Ich folge ihm die Treppe hinab. Er zeigt mir ein Wohnzimmer - braunes Sofa mit passenden Sesseln, ein flacher, an der Wand befestigter Bildschirm, der, wie er mir erklärt, ein Fernseher ist -, Esszimmer, Küche. Alles ist mir fremd. Ich empfinde gar nichts, nicht mal, als ich auf einem Sideboard ein gerahmtes Foto von uns beiden sehe. »Hinterm Haus haben wir einen Garten«, sagt er, und ich schaue durch die Glastür in der Küche nach draußen. Es wird gerade erst hell, der Nachthimmel färbt sich tintenblau, und ich kann die Silhouette eines großen Baumes und eine Hütte am hinteren Ende eines kleinen Gartens erkennen, aber sonst nichts. Mir wird klar, dass ich nicht mal weiß, in welchem Teil der Welt wir sind.
»Wo sind wir hier?«, frage ich.
Er tritt hinter mich. Ich kann uns beide als Spiegelung in der Scheibe sehen. Mich. Meinen Mann. Beide mittleren Alters.
»Nordlondon«, antwortet er. »Crouch End.«
Ich trete zurück. Panik steigt hoch. »Verdammt«, sage ich. »Ich weiß noch nicht mal, wo ich lebe ...«
Er nimmt meine Hand. »Keine Sorge. Alles wird gut.« Ich drehe mich zu ihm um, sehe ihn an und warte darauf, dass er mir erklärt, wie, wie denn alles gut werden soll, aber er tut es nicht. »Soll ich dir deinen Kaffee machen?«
Einen Moment lang bin ich wütend auf ihn, doch dann sage ich: »Ja. Ja, bitte.« Er füllt einen Wasserkessel. »Schwarz bitte«, sage ich. »Ohne Zucker.«
»Ich weiß«, sagt er und lächelt mich an. »Möchtest du Toast?«
Ich sage ja. Er muss so viel über mich wissen, trotzdem fühle ich mich wie am Morgen nach einem One-Night-Stand: Frühstück mit einem Fremden in seinem Haus, abtaxieren, wann man endlich die Flucht antreten und nach Hause gehen kann.
Aber das ist der Unterschied. Angeblich ist das hier mein Zuhause.
»Ich glaube, ich muss mich hinsetzen«, sage ich. Er sieht mich an.
»Mach es dir doch schon mal im Wohnzimmer bequem«, sagt er.
»Ich bring den Kaffee dann rüber.«
Ich gehe aus der Küche.
Einige Augenblicke später kommt Ben mir nach. Er gibt mir ein Buch. »Das ist ein Album«, sagt er. »Es könnte dir helfen.« Ich nehme es ihm aus der Hand. Es hat einen Plastikeinband, der wie altes Leder aussehen soll, es aber nicht tut, und drum herum ist eine unordentlich gebundene Schleife. »Bin gleich wieder da«, sagt er und geht aus dem Raum.
Ich setze mich auf das Sofa. Das Album liegt schwer auf meinem Schoß. Es mir anzusehen, kommt mir vor, als würde ich rumschnüffeln. Ich sage mir, dass das, was da drin ist, mit mir zu tun hat. Mein Mann hat es mir gegeben.
Ich löse die Schleife und schlage eine beliebige Seite auf. Ein Foto von mir und Ben, auf dem wir sehr viel jünger aussehen.
Ich knalle das Album zu. Ich fahre mit den Händen über den Einband, fächere die Seiten auf. Das muss ich jeden Tag machen.
Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich bin sicher, dass da ein schreckliches Versehen vorliegt, und doch kann das nicht sein. Die Beweise sind da - in dem Spiegel oben, in den Falten an den Händen, die das Album vor mir streicheln. Ich bin nicht der Mensch, für den ich mich hielt, als ich heute Morgen aufwachte.
Aber wer war das?, denke ich. Wann war ich diese Person, die im Bett eines Fremden aufwachte und nur an Flucht dachte? Ich schließe die Augen. Ich habe das Gefühl zu schweben. Haltlos. In Gefahr, verlorenzugehen. Ich muss mich irgendwie verankern. Ich schließe die Augen und versuche, mich auf etwas zu konzentrieren, irgendetwas Greifbares. Ich finde nichts. So viele Jahre meines Lebens, denke ich. Einfach weg.
Dieses Album wird mir sagen, wer ich bin, aber ich will es nicht öffnen. Noch nicht. Ich möchte eine Weile hier sitzen, meine gesamte Vergangenheit ein leeres Blatt. Im Schwebezustand, irgendwo zwischen Möglichkeit und Tatsache. Ich habe Angst davor, meine Vergangenheit zu erkunden. Was ich erreicht habe und was nicht.
Ben kommt zurück und stellt ein Tablett vor mir ab. Toast, zwei Tassen Kaffee, ein Kännchen Milch. »Alles in Ordnung?«, fragt er. Ich nicke.
Er setzt sich neben mich. Er hat sich rasiert, trägt Hose, Hemd und Krawatte. Er sieht nicht mehr wie mein Vater aus. Jetzt sieht er aus, als würde er in einer Bank arbeiten oder in irgendeinem Büro. Aber nicht schlecht, denke ich, dann schiebe ich den Gedanken beiseite.
»Ist das jeden Tag so?«, frage ich. Er legt eine Toastscheibe auf einen Teller, bestreicht sie mit Butter.
»So ziemlich«, sagt er. »Möchtest du auch?« Ich schüttele den Kopf, und er nimmt einen Bissen. »Du scheinst Informationen speichern zu können, solange du wach bist«, sagt er. »Aber dann, wenn du schläfst, geht das meiste verloren. Schmeckt dir der Kaffee?«
Ich bejahe, und er nimmt mir das Album aus den Händen. »Das hier ist eine Art Sammelalbum«, sagt er und schlägt es auf. »Vor ein paar Jahren hat es bei uns gebrannt, und dabei haben wir viele alte Fotos und Sachen verloren, aber hier drin ist noch so einiges.« Er zeigt auf die erste Seite. »Das ist dein Abschlusszeugnis«, sagt er. »Und das ist ein Foto von dir auf deiner Abschlussfeier.« Ich schaue hin. Auf dem Bild lächele ich, blinzele in die Sonne, ich trage ein schwarzes Gewand und einen Filzhut mit einer goldenen Quaste. Dicht hinter mir steht ein Mann in Anzug und Krawatte, den Kopf von der Kamera abgewandt.
»Bist du das?«, frage ich.
Er schmunzelt. »Nein. Ich hab meinen Abschluss nicht zur selben Zeit gemacht wie du. Damals hab ich noch studiert. Chemie.«
Ich schaue zu ihm hoch. »Wann haben wir geheiratet?«, frage ich.
Er dreht sich zu mir und nimmt meine Hand mit beiden Händen. Ich bin ein wenig überrascht, wie rau seine Haut ist, vermutlich noch an die Weichheit der Jugend gewöhnt. »In dem Jahr, nachdem du deinen Doktor gemacht hattest. Da waren wir schon ein paar Jahre zusammen, aber du - wir - wir wollten beide warten, bis du mit der Promotion fertig warst.«
Klingt sinnvoll, denke ich, obwohl es mir ein wenig zu vernünftig vorkommt. Ich frage mich, ob ich überhaupt wild darauf war, ihn zu heiraten.
Als könnte er meine Gedanken lesen, sagt er: »Wir waren sehr verliebt«, und schiebt dann nach: »Wir sind es noch immer.«
Dazu fällt mir nichts ein. Er lächelt. Er trinkt einen Schluck Kaffee, ehe er wieder das Album auf seinem Schoß mustert. Er blättert ein paar Seiten weiter.
»Du hast englische Literatur studiert«, sagt er. »Dann hast du verschiedene Jobs gehabt, nach der Uni. Nur Gelegenheitsjobs. Als Sekretärin. Verkäuferin. Ich glaube, eigentlich wusstest du nicht so recht, was du machen wolltest. Ich hab meinen Bachelor gemacht und dann eine Lehrerausbildung. Ein paar Jahre lang mussten wir uns ziemlich nach der Decke strecken, aber dann bekam ich eine Beförderung, und na ja, so haben wir's bis hierher geschafft.«
Ich schaue mich im Wohnzimmer um. Es ist elegant, behaglich. Bürgerliche Langeweile. Über dem Kamin eine gerahmte Waldlandschaft, neben der Uhr auf dem Kaminsims Porzellanfigürchen. Ich frage mich, ob ich diese Deko mit ausgesucht habe.
Ben redet weiter. »Ich unterrichte an der Mittelschule, hier ganz in der Nähe. Ich bin jetzt Fachbereichsleiter.« Er sagt das ohne einen Anflug von Stolz.
»Und ich?«, frage ich, obwohl ich die einzig mögliche Antwort in Wahrheit schon weiß. Er drückt meine Hand.
»Du konntest nicht mehr arbeiten. Nach dem Unfall. Du bist nicht berufstätig.« Offenbar spürt er meine Enttäuschung. »Musst du auch nicht. Ich verdiene nicht schlecht. Wir kommen zurecht. Es geht uns gut.«
Ich schließe die Augen, lege eine Hand an die Stirn. Das wird mir alles zu viel, und ich möchte, dass er den Mund hält. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht so viel auf einmal verarbeiten kann, und wenn er immer noch mehr draufpackt, fahre ich irgendwann aus der Haut.
Aber was mache ich denn den lieben langen Tag?, möchte ich fragen, aber weil ich die Antwort fürchte, sage ich nichts.
Er hat seinen Toast aufgegessen und bringt das Tablett in die Küche. Als er zurückkommt, trägt er einen Mantel.
»Ich muss zur Arbeit«, sagt er. Ich merke, wie ich mich innerlich verkrampfe.
»Keine Sorge«, sagt er. »Alles wird gut. Ich ruf dich an. Versprochen. Denk immer dran, heute unterscheidet sich in nichts von irgendeinem anderen Tag. Alles wird gut.«
»Aber -«, setze ich an.
»Ich muss los«, sagt er. »Tut mir leid. Aber vorher zeig ich dir noch rasch ein paar Dinge, die du vielleicht brauchst.«
In der Küche erklärt er, in welchen Schränken ich was finde, zeigt mir ein paar Reste im Kühlschrank, die ich am Mittag essen kann, und deutet auf eine an die Wand geschraubte Wischtafel neben einem schwarzen Textmarker an einem Stück Kordel. »Hier schreibe ich manchmal Nachrichten für dich auf«, sagt er. Ich sehe, dass er das Wort Freitag in akkuraten, gleichmäßigen Großbuchstaben hingeschrieben hat und darunter die Worte Wäsche? Spaziergang? (Telefon mitnehmen!) Fernsehen? Unter dem Wort Lunch hat er notiert, dass im Kühlschrank noch etwas Lachs vom Vortag ist, und Salat? hinzugefügt. Am Schluss hat er geschrieben, dass er gegen sechs wieder zu Hause sein müsste. »Du hast auch ein Notizbuch«, sagt er. »In deiner Handtasche. Hinten drin stehen wichtige Telefonnummern und unsere Adresse, falls du dich verläufst. Außerdem ist ein Handy drin -«
»Ein was?«, sage ich.
»Ein Telefon«, sagt er. »Schnurlos. Mobil. Du kannst es überall benutzen. Außerhalb des Hauses, überall. Es ist in deiner Handtasche. Schau aber lieber noch mal nach, falls du weggehst.«
»Mach ich«, sage ich.
»Prima«, sagt er. Wir gehen in die Diele, und er nimmt eine abgegriffene Ledertasche, die neben der Tür steht. »Dann geh ich jetzt.«
»Okay«, sage ich. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich fühle mich wie ein Kind, das nicht zur Schule darf und allein zu Hause bleibt, während die Eltern zur Arbeit gehen. Fass nichts an, höre ich ihn im Kopf sagen. Vergiss nicht, deine Medizin zu nehmen.
Er kommt zu mir herüber. Er küsst mich, auf die Wange. Ich hindere ihn nicht daran, aber ich erwidere den Kuss auch nicht. Er wendet sich zur Tür und will sie schon öffnen, als er verharrt.
»Ach ja!«, sagt er und dreht sich zu mir um. »Das hätte ich beinah vergessen!« Seine Stimme klingt plötzlich gezwungen, die Begeisterung gespielt. Er strengt sich richtig an, natürlich zu wirken; offensichtlich hat er sich schon länger innerlich darauf vorbereitet, das zu sagen, was nun kommt.
Und dann ist es doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. »Heute Abend fahren wir weg«, sagt er. »Nur übers Wochenende. Es ist unser Jahrestag, und da hab ich mir gedacht, ich buch uns ein Zimmer. Ist das in Ordnung?«
Ich nicke. »Klingt doch nett«, sage ich.
Er lächelt, wirkt erleichtert. »Mal was, worauf man sich freuen kann, nicht? Ein bisschen Seeluft? Wird uns guttun.« Er wendet sich wieder zur Tür und öffnet sie. »Ich ruf dich später an«, sagt er. »Frag nach, wie du zurechtkommst, ja?«
»Ja«, sage ich. »Mach das. Bitte.«
»Ich liebe dich, Christine«, sagt er. »Vergiss das nie.«
Er schließt die Tür hinter sich, und ich drehe mich um. Ich gehe zurück in die Küche.
***
Später am Vormittag sitze ich in einem Sessel. Der Abwasch ist erledigt und steht ordentlich auf dem Abtropfständer, die Wäsche ist in der Maschine. Ich habe mich beschäftigt.
Aber jetzt fühle ich mich leer. Es stimmt, was Ben sagt. Ich habe keine Erinnerung. Nichts. Es gibt keinen Gegenstand in diesem Haus, den ich meine, schon einmal gesehen zu haben. Kein einziges Foto - weder rings um den Spiegel oben im Bad noch in dem Album vor mir - löst eine Erinnerung daran aus, wann es aufgenommen wurde. Ich kann mich an keinen Moment mit Ben erinnern außer heute Morgen, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Mein Kopf fühlt sich vollkommen leer an.
Ich schließe die Augen, versuche, mich auf etwas zu konzentrieren. Irgendetwas. Gestern. Letztes Weihnachten. Irgendein Weihnachten. Meine Hochzeit. Da ist nichts.
Ich stehe auf. Ich gehe durchs Haus, von Zimmer zu Zimmer. Langsam. Ziellos, wie ein Gespenst. Ich lasse meine Hand an den Wänden entlanggleiten, über Tische und Möbel, ohne jedoch etwas richtig zu berühren. Wie bin ich hier gelandet?, denke ich. Ich sehe mir die Teppiche an, die gemusterten Läufer, die Porzellanfigürchen auf dem Kaminsims und die Zierteller auf den Regalen im Esszimmer. Ich versuche, mir einzureden, dass das mir gehört. Alles mir gehört. Mein Zuhause, mein Mann, mein Leben. Aber diese Dinge gehören nicht zu mir. Sie sind nicht Teil von mir. Im Schlafzimmer öffne ich die Kleiderschranktür und sehe Reihen von Kleidungsstücken, die ich nicht kenne, ordentlich aufgehängt, wie leere Versionen einer Frau, der ich nie begegnet bin. Einer Frau, durch deren Haus ich wandere, deren Seife und Shampoo ich benutzt habe, deren Morgenmantel ich ausgezogen habe und deren Hausschuhe ich trage. Sie bleibt mir verborgen, eine geisterhafte Präsenz, distanziert und unberührbar. Heute Morgen habe ich mit schlechtem Gewissen meine Unterwäsche ausgewählt, habe zwischen Slips, Socken und Strumpfhosen gekramt, als hätte ich Angst, ertappt zu werden. Ich hielt die Luft an, als ich ganz hinten in der Schublade Dessous aus Seide und Spitze fand, die eindeutig nicht nur getragen, sondern auch gesehen werden sollen. Ich sortierte alles wieder genauso, wie ich es vorgefunden hatte, nahm nur einen blassblauen Slip heraus, zu dem es einen ähnlichfarbigen BH gab, und zog beides an, ehe ich dicke Socken überstreifte, dann eine Hose und eine Bluse.
Ich setzte mich an den Frisiertisch und musterte mein Gesicht im Spiegel, näherte mich vorsichtig meinem Bild an. Ich strich über die Linien auf meiner Stirn, die Hautfalten unter den Augen. Ich lächelte und betrachtete meine Zähne, die Fältchen, die sich um die Mundwinkel zusammenzogen, die Krähenfüße, die sichtbar wurden. Ich bemerkte Flecken auf meiner Haut, eine Verfärbung auf der Stirn, die aussah wie ein nicht ganz verblasster Bluterguss. Ich sah mich nach Make-up um und schminkte mich ein bisschen. Ein wenig Puder, ein Hauch Rouge. Ich stellte mir eine Frau vor- meine Mutter, wie mir nun klar ist -, die dasselbe tat und es ihre Kriegsbemalung nannte, und heute Morgen, als ich meinen Lippenstift mit einem Kosmetiktuch betupfte und den Lidstrich noch einmal nachzog, schien das Wort genau passend. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in einen Kampf ziehen oder als würde ein Kampf auf mich zukommen.
Mich zur Schule schicken. Make-up auflegen. Ich versuchte, mir meine Mutter vorzustellen, wie sie etwas anderes tat. Irgendetwas. Vergeblich. Ich sah nur konturlose riesige Lücken zwischen winzigen Inseln der Erinnerung, Jahre der Leere.
Jetzt bin ich in der Küche und öffne Schränke: Nudeltüten, Reispackungen mit der Aufschrift Arborio, Dosen mit Kidneybohnen. Ich erkenne diese Nahrungsmittel nicht. Ich erinnere mich, Käse auf Toast gegessen zu haben, Fisch aus dem Kochbeutel, Sandwichs mit Corned Beef. Ich nehme eine Dose heraus, auf der Kichererbsen steht, ein Beutelchen mit etwas, das Couscous heißt. Ich weiß nicht, was diese Dinge sind, und erst recht nicht, wie man sie kocht. Wie überlebe ich denn dann, als Ehefrau?
Ich sehe zu der Wischtafel hoch, die Ben mir gezeigt hat, bevor er ging. Sie hat eine schmutziggraue Farbe, Worte sind daraufgeschrieben und weggewischt worden, ersetzt, verbessert, und jedes hat einen schwachen Rückstand hinterlassen. Ich frage mich, was ich wohl finden würde, wenn ich in der Zeit zurückgehen und die Schichten entziffern könnte, ob es möglich wäre, auf diese Weise in meine Vergangenheit einzutauchen, doch mir wird klar, dass es zwecklos wäre, selbst wenn es mir gelänge. Ich bin sicher, dass ich lediglich Botschaften und Listen finden würde, einzukaufende Lebensmittel, zu verrichtende Aufgaben.
Ist das wirklich mein Leben?, denke ich. Ist das alles, was ich bin? Ich nehme den Stift und schreibe eine weitere Notiz auf die Tafel. Für heute Abend packen?, lautet sie. Nichts Weltbewegendes, aber von mir.
Ich höre ein Geräusch. Eine Melodie, die aus meiner Handtasche kommt. Ich öffne sie und kippe den Inhalt aufs Sofa. Mein Portemonnaie, ein paar Taschentücher, Stifte, ein Lippenstift. Eine Puderdose, eine Quittung für zwei Kaffee. Ein Notizbuch, sehr klein, mit einem Blumenmuster auf dem Deckel und einem eingesteckten Stift.
Ich finde etwas, von dem ich annehme, dass es das Telefon sein muss, von dem Ben gesprochen hat - es ist klein, aus Plastik und mit einer Tastatur, die es wie ein Spielzeug aussehen lässt. Während es weiterklingelt, blinkt ein kleiner Bildschirm. Ich drücke einen Knopf, von dem ich hoffe, dass er der richtige ist.
»Hallo?«, sage ich. Die Stimme, die antwortet, ist nicht Bens.
»Hi«, sagt sie. »Christine? Spreche ich mit Christine Lucas?«
Ich will nicht antworten. Mein Nachname kommt mir so fremd vor wie heute Morgen mein Vorname. Ich habe das Gefühl, dass das bisschen fester Boden, das ich mühsam gewonnen habe, wieder verschwunden ist, durch Treibsand ersetzt.
»Christine? Sind Sie das?«
Wer kann das sein? Wer weiß, wo ich bin, wer ich bin? Ich begreife, dass es Gott weiß wer sein könnte. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Schon schwebt mein Finger über dem Knopf, der das Gespräch beenden wird.
»Christine? Ich bin's. Dr. Nash. Bitte sagen Sie doch was.«
Der Name ist mir fremd, aber ich sage trotzdem: »Wer ist da?« Die Stimme nimmt einen anderen Tonfall an. Erleichterung? »Hier
spricht Dr. Nash«, sagt er. »Ihr Arzt.«
Ein neuer Panikschub. »Mein Arzt?«, frage ich. Ich bin nicht krank, will ich hinzufügen, aber noch nicht mal das weiß ich. Ich merke, wie mein Verstand ins Trudeln gerät.
»Ja«, sagt er. »Aber keine Angst. Wir arbeiten nur zusammen an Ihrem Gedächtnis. Ihnen fehlt nichts.«
Ich registriere seine Wortwahl. Wir arbeiten zusammen. Er ist also noch jemand, an den ich mich nicht erinnere.
»Was meinen Sie mit arbeiten?«, frage ich.
»Ich versuche, Ihnen dabei zu helfen, Fortschritte zu machen«, sagt er. »Herauszubekommen, was genau Ihre Gedächtnislücken hervorgerufen hat und ob wir irgendwas dagegen tun können.«
Das klingt vernünftig, aber mir kommt ein anderer Gedanke. Warum hat Ben mir nichts von diesem Arzt erzählt, ehe er heute Morgen zur Arbeit ging?
»Und wie?«, frage ich. »Was machen wir?«
»Wir treffen uns seit einigen Monaten häufiger. Etwa zweimal die Woche.«
Es scheint unmöglich. Noch jemand, den ich regelmäßig sehe und der bei mir keinerlei Eindruck hinterlassen hat.
Aber ich bin Ihnen noch nie begegnet, möchte ich sagen. Sie könnten Gott weiß wer sein.
Ich sage nichts. Dasselbe trifft auf den Mann zu, neben dem ich heute Morgen aufgewacht bin, und der hat sich als mein Ehemann entpuppt.
»Ich erinnere mich nicht«, sage ich stattdessen.
Seine Stimme wird weich. »Keine Sorge. Das weiß ich.« Wenn das stimmt, was er sagt, dann weiß er es nur allzu gut. Er erklärt mir, dass unser nächster Termin heute ist.
»Heute?«, frage ich. Ich überlege, was Ben mir am Morgen gesagt hat, denke an die Liste von Aufgaben an der Tafel in der Küche. »Aber mein Mann hat mir kein Wort davon gesagt.« Mir fällt auf, dass ich den Mann, neben dem ich aufgewacht bin, zum ersten Mal so bezeichne.
Ein kurzes Zögern am anderen Ende, dann sagt Dr. Nash: »Ich glaube nicht, dass Ben von unseren Treffen weiß.«
Ich registriere, dass er den Namen meines Mannes kennt, sage aber: »Das ist doch absurd! Wieso sollte er nicht? Er hätte es mir gesagt!«
Ein Seufzer. »Sie müssen mir vertrauen«, sagt er. »Ich kann Ihnen alles erklären, wenn wir uns sehen. Wir machen wirklich Fortschritte.«
Wenn wir uns sehen. Wie soll das gehen? Der Gedanke, ohne Ben das Haus zu verlassen, ohne dass er auch nur weiß, wo ich bin oder bei wem, macht mir Angst.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich kann nicht.«
»Christine«, sagt er. »Es ist wichtig. Wenn Sie in Ihrem Notizbuch nachsehen, werden Sie feststellen, dass ich die Wahrheit sage. Haben Sie es da? Es müsste in Ihrer Tasche sein.«
Ich nehme das Büchlein mit dem Blumenmuster vom Sofa und sehe erschrocken die Jahreszahl, die in goldenen Lettern auf dem Einband steht. Zweitausendsieben. Zwanzig Jahre weiter, als es sein sollte.
»Ja. «
»Schauen Sie auf das Datum von heute«, sagt er. »Dreißigster November. Da müsste unser Termin stehen.«
Ich begreife nicht, wie es November sein kann - morgen Dezember -, aber ich blättere trotzdem die hauchdünnen Seiten bis zum heutigen Datum durch. Dort steckt zwischen den Blättern ein gelber Zettel, und darauf steht in einer Handschrift, die ich nicht kenne: 30. November - Termin bei Dr. Nash. Darunter steht: Nicht Ben sagen. Ich frage mich, ob er das gelesen hat, ob er meine Sachen durchsieht.
Ich befinde, dass es dafür keinen Grund gibt. Die anderen Tage sind ohne Einträge. Keine Geburtstage, keine abendlichen Verabredungen, keine Partys. Gibt das hier wirklich mein Leben wieder?
»Okay«, sage ich.
Er erklärt, dass er herkommen und mich abholen wird, dass er weiß, wo ich wohne, und dass er in einer Stunde da sein wird. »Aber mein Mann«, sage ich.
»Das geht in Ordnung. Wir sind längst wieder zurück, wenn er nach Hause kommt. Versprochen. Vertrauen Sie mir.«
Die Uhr auf dem Kaminsims schlägt, und ich schaue zu ihr rüber. Sie ist altmodisch, ein großes Zifferblatt mit römischen Zahlen in einem Holzgehäuse. Sie zeigt halb zwölf an. Daneben liegt ein silberner Schlüssel, um sie aufzuziehen, etwas, woran Ben bestimmt jeden Abend denkt. Sie sieht beinahe aus wie eine Antiquität, und ich frage mich, wie wir an so eine Uhr gekommen sind. Vielleicht hat sie keine Geschichte, oder zumindest keine mit uns, sondern ist einfach nur ein Stück, das wir irgendwo gesehen haben, in einem Geschäft oder auf dem Flohmarkt, und einem von uns gefiel sie. Wahrscheinlich Ben, denke ich. Ich merke, dass sie mir nicht gefällt.
Ich treffe mich nur dieses eine Mal mit ihm, denke ich. Und dann, wenn Ben heute Abend nach Hause kommt, werde ich es ihm erzählen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihm so etwas verschwiegen habe. Wo ich doch völlig abhängig von ihm bin.
Aber Dr. Nashs Stimme hat etwas seltsam Vertrautes. Anders als Ben kommt er mir nicht absolut fremd vor. Irgendwie fällt es mir bei ihm sogar fast leichter zu glauben, dass ich ihm schon mal begegnet bin, als bei meinem Mann.
Wir machen Fortschritte, hat er gesagt. Ich muss wissen, was für Fortschritte er meint.
»Okay«, sage ich. »Kommen Sie her.«
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Das Schlafzimmer ist seltsam. Fremd. Ich weiß nicht, wo ich bin, wie ich hier gelandet bin. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll.
Ich habe die Nacht hier verbracht. Die Stimme einer Frau hat mich geweckt - zuerst dachte ich, sie läge mit mir zusammen im Bett, doch dann merkte ich, dass sie die Nachrichten verlas und ich einen Radiowecker hörte -, und als ich die Augen aufschlug, war ich hier. In diesem Zimmer, das ich nicht kenne.
Meine Augen gewöhnen sich an das Halbdunkel, und ich schaue mich um. Ein Morgenmantel hängt an der Kleiderschranktür- für eine Frau, aber eine, die viel älter ist als ich -, und eine marineblaue Hose liegt ordentlich über der Lehne eines Stuhls am Frisiertisch, aber sonst kann ich wenig erkennen. Der Radiowecker sieht kompliziert aus, aber ich finde den Knopf, der ihn hoffentlich zum Verstummen bringt. Es klappt.
Auf einmal höre ich hinter mir ein zittriges Einatmen und merke, dass ich nicht allein bin. Ich drehe mich um. Ich sehe nackte Haut und dunkles, graugesprenkeltes Haar. Ein Mann. Sein linker Arm liegt auf der Decke, und am Ringfinger der Hand steckt ein goldener Ring. Ich unterdrücke ein Stöhnen. Der Typ ist also nicht nur alt und grau, denke ich, sondern auch noch verheiratet. Ich habe nicht nur mit einem verheirateten Mann gevögelt, sondern vermutlich noch dazu bei ihm zu Hause, in dem Bett, das er normalerweise mit seiner Frau teilt. Ich sinke zurück, um mich zu sammeln. Ich sollte mich schämen.
Ich frage mich, wo die Ehefrau ist. Muss ich befürchten, dass sie jeden Augenblick hereingeschneit kommt? Ich stelle mir vor, wie sie am anderen Ende des Zimmers steht, kreischt, mich als Schlampe beschimpft. Eine Medusa. Ein Schlangenhaupt. Ich überlege, wie ich mich verteidigen soll, falls sie tatsächlich auftaucht, und ob ich dazu überhaupt imstande bin. Der Typ im Bett wirkt jedoch völlig unbesorgt. Er hat sich auf die andere Seite gerollt und schnarcht weiter.
Ich versuche, ganz still zu liegen. Normalerweise kann ich mich erinnern, wie ich in eine derartige Situation geraten bin, aber heute nicht. Ich muss auf einer Party gewesen sein, in einer Bar oder einem Club. Ich muss ganz schön betrunken gewesen sein. So betrunken, dass ich mich an gar nichts erinnere. So betrunken, dass ich mit einem Mann nach Hause gegangen bin, der einen Ehering trägt und Haare auf dem Rücken hat.
So behutsam wie möglich schlage ich die Decke zurück und setze mich auf die Bettkante. Zuallererst muss ich auf die Toilette. Ich ignoriere die Hausschuhe vor meinen Füßen - mit dem Ehemann zu vögeln, ist eine Sache, aber ich könnte niemals die Schuhe einer anderen Frau tragen - und schleiche barfuß auf den Flur. Ich bin mir meiner Nacktheit bewusst, habe Angst, die falsche Tür zu erwischen, in das Zimmer eines Untermieters zu platzen, eines halbwüchsigen Sohnes. Erleichtert sehe ich die Badezimmertür halboffen stehen, gehe hinein und schließe ab. Ich setze mich, benutze die Toilette, drücke die Spülung und wende mich zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Ich greife nach der Seife, aber irgendetwas stimmt nicht. Zuerst kann ich nicht benennen, was es ist, aber dann sehe ich es. Die Hand, die die Seife gefasst hat, sieht nicht wie meine aus. Die Haut ist faltig, die Finger dick. Die Nägel sind nicht lackiert und abgekaut, und wie bei dem Mann, neben dem ich vorhin aufgewacht bin, steckt ein schlichter goldener Ehering an der Hand.
Ich starre einen Moment darauf und wackele dann mit den Fingern. Prompt bewegen sich die Finger der Hand, die die Seife hält. Ich schnappe nach Luft, und die Seife flutscht ins Waschbecken. Ich blicke in den Spiegel.
Das Gesicht, das mich daraus ansieht, ist nicht meines. Das Haar hat keine Fülle und ist viel kürzer geschnitten, als ich es trage, die Haut der Wangen und unter dem Kinn ist schlaff, die Lippen sind dünn, der Mund nach unten gezogen. Ich schreie auf, ein wortloses Keuchen, das in ein entsetztes Kreischen übergehen würde, wenn ich es zuließe, und dann bemerke ich die Augen. Sie sind von Falten umgeben, ja, aber trotz allem erkenne ich sie: Es sind meine. Die Person im Spiegel bin ich, aber zwanzig Jahre zu alt. Fünfundzwanzig. Noch mehr.
Das kann nicht sein. Ich beginne zu zittern und halte mich am Waschbeckenrand fest. Ein weiterer Schrei drängt aus meiner Brust, und dieser bricht als ersticktes Keuchen hervor. Ich trete zurück, weg vom Spiegel, und erst jetzt sehe ich sie. Fotos. An die Wand geklebt, an den Spiegel. Bilder, dazwischen gelbe Haftzettel, Notizen mit Filzstift geschrieben, feucht und wellig.
Ich lese wahllos eine. Christine, steht da, und ein Pfeil zeigt auf ein Foto von mir - ein Foto von diesem neuen Ich, diesem alten Ich -, auf dem ich an einem Kai auf einer Bank sitze, neben einem Mann. Der Name kommt mir bekannt vor, aber nur vage, als müsste ich mich anstrengen zu glauben, dass es meiner ist. Auf dem Foto lächeln wir beide in die Kamera und halten Händchen. Er ist gutaussehend, attraktiv, und als ich genauer hinsehe, erkenne ich in ihm den Mann, mit dem ich geschlafen habe, der noch im Bett liegt. Darunter steht das Wort Ben, und daneben Dein Mann.
Ich keuche auf und reiße es von der Wand. Nein, denke ich. Nein! Das kann nicht sein ... Ich überfliege die übrigen Fotos. Sie alle zeigen mich und ihn. Auf einem trage ich ein hässliches Kleid und bin dabei, ein Geschenk auszupacken, ein anderes zeigt uns beide im Partnerlook in wetterfesten Jacken, wie wir vor einem Wasserfall stehen, während ein kleiner Hund unsere Füße beschnüffelt. Daneben ist ein Bild, auf dem ich neben ihm sitze, an einem Glas Orangensaft nippe und den Morgenmantel trage, den ich vorhin in dem Schlafzimmer gesehen habe.
Ich trete noch weiter zurück, bis ich kalte Fliesen im Rücken spüre. Im selben Moment erfasst mich eine schwache Ahnung, die ich mit Erinnerung assoziiere. Als mein Verstand versucht, sie zu ergreifen, schwebt sie davon, wie Asche in einem Lufthauch, und mir wird klar, dass es in meinem Leben ein Früher gibt, ein Vorher, doch ich kann nicht sagen, vor was, und dass es ein Jetzt gibt und dass zwischen diesen beiden Polen nur eine lange stumme Leere ist, die mich hierher geführt hat, zu mir und ihm, in dieses Haus.
***
Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Noch immer habe ich das Bild in der Hand - das von mir und dem Mann, neben dem ich aufgewacht bin -, und ich halte es vor mich. »Was geht hier vor?«, sage ich, schreie ich. Tränen strömen mir übers Gesicht. Der Mann setzt sich im Bett auf, die Augen halb geschlossen. »Wer bist du?«
»Ich bin dein Mann«, sagt er. Sein Gesicht ist verschlafen, zeigt keine Spur von Verärgerung. Er sieht meinen nackten Körper nicht an. »Wir sind seit vielen Jahren verheiratet.«
»Was soll das heißen?«, sage ich. Ich will weglaufen, weiß aber nicht, wohin. »›Seit vielen Jahren verheiratet‹? Was soll das heißen?«
Er steht auf. »Hier«, sagt er und reicht mir den Morgenmantel, wartet, während ich ihn anziehe. Er trägt eine Pyjamahose, die ihm zu groß ist, ein weißes Unterhemd. Er erinnert mich an meinen Vater.
»Wir haben 1985 geheiratet«, sagt er. »Vor zweiundzwanzig Jahren. Du -«
Ich falle ihm ins Wort. »Was -?« Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht, das Zimmer beginnt, sich zu drehen. Eine Uhr tickt, irgendwo im Haus, und es klingt so laut wie Hammerschläge. »Aber -?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Wie -?«
»Christine, du bist jetzt siebenundvierzig«, sagt er. Ich sehe ihn an, diesen Fremden, der mich anlächelt. Ich will ihm nicht glauben, will nicht mal hören, was er da sagt, aber er redet weiter. »Du hattest einen Unfall«, sagt er. »Einen schlimmen Unfall. Mit Kopfverletzungen. Es fällt dir schwer, dich an Dinge zu erinnern.«
»Was für Dinge?«, sage ich und meine eigentlich, Doch bestimmt nicht die letzten fünfundzwanzig Jahre? »Was für Dinge?«
Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu, nähert sich mir, als wäre ich ein verängstigtes Tier. »Alles«, sagt er. »Manchmal schon seit du Anfang zwanzig warst. Manchmal sogar noch früher.«
Daten und Altersangaben schwirren mir durch den Kopf. Ich will nicht fragen, aber ich weiß, ich muss. »Wann ... wann war der Unfall?«
Er sieht mich an, und sein Gesicht ist eine Mischung aus Mitgefühl und Furcht.
»Als du neunundzwanzig warst ...«
Ich schließe die Augen. Noch während mein Verstand versucht, diese Information abzulehnen, weiß ich irgendwo, dass sie der Wahrheit entspricht. Ich höre mich selbst, wie ich wieder anfange zu weinen, und sogleich kommt dieser Mann, dieser Ben, zu mir an die Tür. Ich spüre seine Nähe, bewege mich nicht, als er die Arme um meine Taille legt, leiste keinen Widerstand, als er mich an sich zieht. Er hält mich. Gemeinsam wiegen wir uns sacht, und ich merke, dass mir diese Bewegung irgendwie vertraut vorkommt. Sie tröstet mich.
»Ich liebe dich, Christine«, sagt er, und obwohl ich weiß, dass ich jetzt eigentlich das Gleiche zu ihm sagen sollte, schweige ich. Ich sage nichts. Wie kann ich ihn lieben? Er ist ein Fremder. Nichts ergibt irgendeinen Sinn. Ich will so vieles wissen. Wie ich hier gelandet bin, wie ich mit dem Leben zurechtkomme. Aber ich weiß nicht, wie ich fragen soll.
»Ich habe Angst«, sage ich.
»Ich weiß«, erwidert er. »Ich weiß. Aber das brauchst du nicht, Chris. Ich bin für dich da. Ich werde immer für dich da sein. Alles wird gut. Vertrau mir.«
***
Er sagt, er will mir das Haus zeigen. Ich fühle mich ruhiger. Ich habe einen Slip und ein altes T-Shirt angezogen, das er mir gegeben hat, mir dann den Morgenmantel um die Schultern gelegt. Wir treten auf den Flur. »Das Bad hast du ja schon gesehen«, sagt er und öffnet die Tür daneben. »Hier ist das Arbeitszimmer.«
Ich sehe einen Schreibtisch mit einer Glasplatte und darauf etwas, das ein Computer sein muss, obwohl es lächerlich klein ist, eher wie ein Spielzeug. Daneben steht ein Aktenschrank in Stahlgrau, darüber hängt ein Wandplaner. Alles ist sauber, ordentlich. »Hier arbeite ich manchmal«, sagt er und schließt die Tür. Wir überqueren den Flur, und er öffnet eine andere Tür. Ein Bett, eine Frisierkommode, Kleiderschränke. Alles sieht fast genauso aus wie in dem Zimmer, in dem ich aufgewacht bin. »Manchmal schläfst du hier«, sagt er, »wenn dir danach ist. Aber normalerweise wachst du nicht gern allein auf. Du kriegst Panik, wenn du nicht erkennen kannst, wo du bist.« Ich nicke. Ich fühle mich wie eine Mietinteressentin, der man eine neue Wohnung zeigt. Eine mögliche Mitbewohnerin. »Gehen wir nach unten.«
Ich folge ihm die Treppe hinab. Er zeigt mir ein Wohnzimmer - braunes Sofa mit passenden Sesseln, ein flacher, an der Wand befestigter Bildschirm, der, wie er mir erklärt, ein Fernseher ist -, Esszimmer, Küche. Alles ist mir fremd. Ich empfinde gar nichts, nicht mal, als ich auf einem Sideboard ein gerahmtes Foto von uns beiden sehe. »Hinterm Haus haben wir einen Garten«, sagt er, und ich schaue durch die Glastür in der Küche nach draußen. Es wird gerade erst hell, der Nachthimmel färbt sich tintenblau, und ich kann die Silhouette eines großen Baumes und eine Hütte am hinteren Ende eines kleinen Gartens erkennen, aber sonst nichts. Mir wird klar, dass ich nicht mal weiß, in welchem Teil der Welt wir sind.
»Wo sind wir hier?«, frage ich.
Er tritt hinter mich. Ich kann uns beide als Spiegelung in der Scheibe sehen. Mich. Meinen Mann. Beide mittleren Alters.
»Nordlondon«, antwortet er. »Crouch End.«
Ich trete zurück. Panik steigt hoch. »Verdammt«, sage ich. »Ich weiß noch nicht mal, wo ich lebe ...«
Er nimmt meine Hand. »Keine Sorge. Alles wird gut.« Ich drehe mich zu ihm um, sehe ihn an und warte darauf, dass er mir erklärt, wie, wie denn alles gut werden soll, aber er tut es nicht. »Soll ich dir deinen Kaffee machen?«
Einen Moment lang bin ich wütend auf ihn, doch dann sage ich: »Ja. Ja, bitte.« Er füllt einen Wasserkessel. »Schwarz bitte«, sage ich. »Ohne Zucker.«
»Ich weiß«, sagt er und lächelt mich an. »Möchtest du Toast?«
Ich sage ja. Er muss so viel über mich wissen, trotzdem fühle ich mich wie am Morgen nach einem One-Night-Stand: Frühstück mit einem Fremden in seinem Haus, abtaxieren, wann man endlich die Flucht antreten und nach Hause gehen kann.
Aber das ist der Unterschied. Angeblich ist das hier mein Zuhause.
»Ich glaube, ich muss mich hinsetzen«, sage ich. Er sieht mich an.
»Mach es dir doch schon mal im Wohnzimmer bequem«, sagt er.
»Ich bring den Kaffee dann rüber.«
Ich gehe aus der Küche.
Einige Augenblicke später kommt Ben mir nach. Er gibt mir ein Buch. »Das ist ein Album«, sagt er. »Es könnte dir helfen.« Ich nehme es ihm aus der Hand. Es hat einen Plastikeinband, der wie altes Leder aussehen soll, es aber nicht tut, und drum herum ist eine unordentlich gebundene Schleife. »Bin gleich wieder da«, sagt er und geht aus dem Raum.
Ich setze mich auf das Sofa. Das Album liegt schwer auf meinem Schoß. Es mir anzusehen, kommt mir vor, als würde ich rumschnüffeln. Ich sage mir, dass das, was da drin ist, mit mir zu tun hat. Mein Mann hat es mir gegeben.
Ich löse die Schleife und schlage eine beliebige Seite auf. Ein Foto von mir und Ben, auf dem wir sehr viel jünger aussehen.
Ich knalle das Album zu. Ich fahre mit den Händen über den Einband, fächere die Seiten auf. Das muss ich jeden Tag machen.
Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich bin sicher, dass da ein schreckliches Versehen vorliegt, und doch kann das nicht sein. Die Beweise sind da - in dem Spiegel oben, in den Falten an den Händen, die das Album vor mir streicheln. Ich bin nicht der Mensch, für den ich mich hielt, als ich heute Morgen aufwachte.
Aber wer war das?, denke ich. Wann war ich diese Person, die im Bett eines Fremden aufwachte und nur an Flucht dachte? Ich schließe die Augen. Ich habe das Gefühl zu schweben. Haltlos. In Gefahr, verlorenzugehen. Ich muss mich irgendwie verankern. Ich schließe die Augen und versuche, mich auf etwas zu konzentrieren, irgendetwas Greifbares. Ich finde nichts. So viele Jahre meines Lebens, denke ich. Einfach weg.
Dieses Album wird mir sagen, wer ich bin, aber ich will es nicht öffnen. Noch nicht. Ich möchte eine Weile hier sitzen, meine gesamte Vergangenheit ein leeres Blatt. Im Schwebezustand, irgendwo zwischen Möglichkeit und Tatsache. Ich habe Angst davor, meine Vergangenheit zu erkunden. Was ich erreicht habe und was nicht.
Ben kommt zurück und stellt ein Tablett vor mir ab. Toast, zwei Tassen Kaffee, ein Kännchen Milch. »Alles in Ordnung?«, fragt er. Ich nicke.
Er setzt sich neben mich. Er hat sich rasiert, trägt Hose, Hemd und Krawatte. Er sieht nicht mehr wie mein Vater aus. Jetzt sieht er aus, als würde er in einer Bank arbeiten oder in irgendeinem Büro. Aber nicht schlecht, denke ich, dann schiebe ich den Gedanken beiseite.
»Ist das jeden Tag so?«, frage ich. Er legt eine Toastscheibe auf einen Teller, bestreicht sie mit Butter.
»So ziemlich«, sagt er. »Möchtest du auch?« Ich schüttele den Kopf, und er nimmt einen Bissen. »Du scheinst Informationen speichern zu können, solange du wach bist«, sagt er. »Aber dann, wenn du schläfst, geht das meiste verloren. Schmeckt dir der Kaffee?«
Ich bejahe, und er nimmt mir das Album aus den Händen. »Das hier ist eine Art Sammelalbum«, sagt er und schlägt es auf. »Vor ein paar Jahren hat es bei uns gebrannt, und dabei haben wir viele alte Fotos und Sachen verloren, aber hier drin ist noch so einiges.« Er zeigt auf die erste Seite. »Das ist dein Abschlusszeugnis«, sagt er. »Und das ist ein Foto von dir auf deiner Abschlussfeier.« Ich schaue hin. Auf dem Bild lächele ich, blinzele in die Sonne, ich trage ein schwarzes Gewand und einen Filzhut mit einer goldenen Quaste. Dicht hinter mir steht ein Mann in Anzug und Krawatte, den Kopf von der Kamera abgewandt.
»Bist du das?«, frage ich.
Er schmunzelt. »Nein. Ich hab meinen Abschluss nicht zur selben Zeit gemacht wie du. Damals hab ich noch studiert. Chemie.«
Ich schaue zu ihm hoch. »Wann haben wir geheiratet?«, frage ich.
Er dreht sich zu mir und nimmt meine Hand mit beiden Händen. Ich bin ein wenig überrascht, wie rau seine Haut ist, vermutlich noch an die Weichheit der Jugend gewöhnt. »In dem Jahr, nachdem du deinen Doktor gemacht hattest. Da waren wir schon ein paar Jahre zusammen, aber du - wir - wir wollten beide warten, bis du mit der Promotion fertig warst.«
Klingt sinnvoll, denke ich, obwohl es mir ein wenig zu vernünftig vorkommt. Ich frage mich, ob ich überhaupt wild darauf war, ihn zu heiraten.
Als könnte er meine Gedanken lesen, sagt er: »Wir waren sehr verliebt«, und schiebt dann nach: »Wir sind es noch immer.«
Dazu fällt mir nichts ein. Er lächelt. Er trinkt einen Schluck Kaffee, ehe er wieder das Album auf seinem Schoß mustert. Er blättert ein paar Seiten weiter.
»Du hast englische Literatur studiert«, sagt er. »Dann hast du verschiedene Jobs gehabt, nach der Uni. Nur Gelegenheitsjobs. Als Sekretärin. Verkäuferin. Ich glaube, eigentlich wusstest du nicht so recht, was du machen wolltest. Ich hab meinen Bachelor gemacht und dann eine Lehrerausbildung. Ein paar Jahre lang mussten wir uns ziemlich nach der Decke strecken, aber dann bekam ich eine Beförderung, und na ja, so haben wir's bis hierher geschafft.«
Ich schaue mich im Wohnzimmer um. Es ist elegant, behaglich. Bürgerliche Langeweile. Über dem Kamin eine gerahmte Waldlandschaft, neben der Uhr auf dem Kaminsims Porzellanfigürchen. Ich frage mich, ob ich diese Deko mit ausgesucht habe.
Ben redet weiter. »Ich unterrichte an der Mittelschule, hier ganz in der Nähe. Ich bin jetzt Fachbereichsleiter.« Er sagt das ohne einen Anflug von Stolz.
»Und ich?«, frage ich, obwohl ich die einzig mögliche Antwort in Wahrheit schon weiß. Er drückt meine Hand.
»Du konntest nicht mehr arbeiten. Nach dem Unfall. Du bist nicht berufstätig.« Offenbar spürt er meine Enttäuschung. »Musst du auch nicht. Ich verdiene nicht schlecht. Wir kommen zurecht. Es geht uns gut.«
Ich schließe die Augen, lege eine Hand an die Stirn. Das wird mir alles zu viel, und ich möchte, dass er den Mund hält. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht so viel auf einmal verarbeiten kann, und wenn er immer noch mehr draufpackt, fahre ich irgendwann aus der Haut.
Aber was mache ich denn den lieben langen Tag?, möchte ich fragen, aber weil ich die Antwort fürchte, sage ich nichts.
Er hat seinen Toast aufgegessen und bringt das Tablett in die Küche. Als er zurückkommt, trägt er einen Mantel.
»Ich muss zur Arbeit«, sagt er. Ich merke, wie ich mich innerlich verkrampfe.
»Keine Sorge«, sagt er. »Alles wird gut. Ich ruf dich an. Versprochen. Denk immer dran, heute unterscheidet sich in nichts von irgendeinem anderen Tag. Alles wird gut.«
»Aber -«, setze ich an.
»Ich muss los«, sagt er. »Tut mir leid. Aber vorher zeig ich dir noch rasch ein paar Dinge, die du vielleicht brauchst.«
In der Küche erklärt er, in welchen Schränken ich was finde, zeigt mir ein paar Reste im Kühlschrank, die ich am Mittag essen kann, und deutet auf eine an die Wand geschraubte Wischtafel neben einem schwarzen Textmarker an einem Stück Kordel. »Hier schreibe ich manchmal Nachrichten für dich auf«, sagt er. Ich sehe, dass er das Wort Freitag in akkuraten, gleichmäßigen Großbuchstaben hingeschrieben hat und darunter die Worte Wäsche? Spaziergang? (Telefon mitnehmen!) Fernsehen? Unter dem Wort Lunch hat er notiert, dass im Kühlschrank noch etwas Lachs vom Vortag ist, und Salat? hinzugefügt. Am Schluss hat er geschrieben, dass er gegen sechs wieder zu Hause sein müsste. »Du hast auch ein Notizbuch«, sagt er. »In deiner Handtasche. Hinten drin stehen wichtige Telefonnummern und unsere Adresse, falls du dich verläufst. Außerdem ist ein Handy drin -«
»Ein was?«, sage ich.
»Ein Telefon«, sagt er. »Schnurlos. Mobil. Du kannst es überall benutzen. Außerhalb des Hauses, überall. Es ist in deiner Handtasche. Schau aber lieber noch mal nach, falls du weggehst.«
»Mach ich«, sage ich.
»Prima«, sagt er. Wir gehen in die Diele, und er nimmt eine abgegriffene Ledertasche, die neben der Tür steht. »Dann geh ich jetzt.«
»Okay«, sage ich. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich fühle mich wie ein Kind, das nicht zur Schule darf und allein zu Hause bleibt, während die Eltern zur Arbeit gehen. Fass nichts an, höre ich ihn im Kopf sagen. Vergiss nicht, deine Medizin zu nehmen.
Er kommt zu mir herüber. Er küsst mich, auf die Wange. Ich hindere ihn nicht daran, aber ich erwidere den Kuss auch nicht. Er wendet sich zur Tür und will sie schon öffnen, als er verharrt.
»Ach ja!«, sagt er und dreht sich zu mir um. »Das hätte ich beinah vergessen!« Seine Stimme klingt plötzlich gezwungen, die Begeisterung gespielt. Er strengt sich richtig an, natürlich zu wirken; offensichtlich hat er sich schon länger innerlich darauf vorbereitet, das zu sagen, was nun kommt.
Und dann ist es doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. »Heute Abend fahren wir weg«, sagt er. »Nur übers Wochenende. Es ist unser Jahrestag, und da hab ich mir gedacht, ich buch uns ein Zimmer. Ist das in Ordnung?«
Ich nicke. »Klingt doch nett«, sage ich.
Er lächelt, wirkt erleichtert. »Mal was, worauf man sich freuen kann, nicht? Ein bisschen Seeluft? Wird uns guttun.« Er wendet sich wieder zur Tür und öffnet sie. »Ich ruf dich später an«, sagt er. »Frag nach, wie du zurechtkommst, ja?«
»Ja«, sage ich. »Mach das. Bitte.«
»Ich liebe dich, Christine«, sagt er. »Vergiss das nie.«
Er schließt die Tür hinter sich, und ich drehe mich um. Ich gehe zurück in die Küche.
***
Später am Vormittag sitze ich in einem Sessel. Der Abwasch ist erledigt und steht ordentlich auf dem Abtropfständer, die Wäsche ist in der Maschine. Ich habe mich beschäftigt.
Aber jetzt fühle ich mich leer. Es stimmt, was Ben sagt. Ich habe keine Erinnerung. Nichts. Es gibt keinen Gegenstand in diesem Haus, den ich meine, schon einmal gesehen zu haben. Kein einziges Foto - weder rings um den Spiegel oben im Bad noch in dem Album vor mir - löst eine Erinnerung daran aus, wann es aufgenommen wurde. Ich kann mich an keinen Moment mit Ben erinnern außer heute Morgen, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Mein Kopf fühlt sich vollkommen leer an.
Ich schließe die Augen, versuche, mich auf etwas zu konzentrieren. Irgendetwas. Gestern. Letztes Weihnachten. Irgendein Weihnachten. Meine Hochzeit. Da ist nichts.
Ich stehe auf. Ich gehe durchs Haus, von Zimmer zu Zimmer. Langsam. Ziellos, wie ein Gespenst. Ich lasse meine Hand an den Wänden entlanggleiten, über Tische und Möbel, ohne jedoch etwas richtig zu berühren. Wie bin ich hier gelandet?, denke ich. Ich sehe mir die Teppiche an, die gemusterten Läufer, die Porzellanfigürchen auf dem Kaminsims und die Zierteller auf den Regalen im Esszimmer. Ich versuche, mir einzureden, dass das mir gehört. Alles mir gehört. Mein Zuhause, mein Mann, mein Leben. Aber diese Dinge gehören nicht zu mir. Sie sind nicht Teil von mir. Im Schlafzimmer öffne ich die Kleiderschranktür und sehe Reihen von Kleidungsstücken, die ich nicht kenne, ordentlich aufgehängt, wie leere Versionen einer Frau, der ich nie begegnet bin. Einer Frau, durch deren Haus ich wandere, deren Seife und Shampoo ich benutzt habe, deren Morgenmantel ich ausgezogen habe und deren Hausschuhe ich trage. Sie bleibt mir verborgen, eine geisterhafte Präsenz, distanziert und unberührbar. Heute Morgen habe ich mit schlechtem Gewissen meine Unterwäsche ausgewählt, habe zwischen Slips, Socken und Strumpfhosen gekramt, als hätte ich Angst, ertappt zu werden. Ich hielt die Luft an, als ich ganz hinten in der Schublade Dessous aus Seide und Spitze fand, die eindeutig nicht nur getragen, sondern auch gesehen werden sollen. Ich sortierte alles wieder genauso, wie ich es vorgefunden hatte, nahm nur einen blassblauen Slip heraus, zu dem es einen ähnlichfarbigen BH gab, und zog beides an, ehe ich dicke Socken überstreifte, dann eine Hose und eine Bluse.
Ich setzte mich an den Frisiertisch und musterte mein Gesicht im Spiegel, näherte mich vorsichtig meinem Bild an. Ich strich über die Linien auf meiner Stirn, die Hautfalten unter den Augen. Ich lächelte und betrachtete meine Zähne, die Fältchen, die sich um die Mundwinkel zusammenzogen, die Krähenfüße, die sichtbar wurden. Ich bemerkte Flecken auf meiner Haut, eine Verfärbung auf der Stirn, die aussah wie ein nicht ganz verblasster Bluterguss. Ich sah mich nach Make-up um und schminkte mich ein bisschen. Ein wenig Puder, ein Hauch Rouge. Ich stellte mir eine Frau vor- meine Mutter, wie mir nun klar ist -, die dasselbe tat und es ihre Kriegsbemalung nannte, und heute Morgen, als ich meinen Lippenstift mit einem Kosmetiktuch betupfte und den Lidstrich noch einmal nachzog, schien das Wort genau passend. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in einen Kampf ziehen oder als würde ein Kampf auf mich zukommen.
Mich zur Schule schicken. Make-up auflegen. Ich versuchte, mir meine Mutter vorzustellen, wie sie etwas anderes tat. Irgendetwas. Vergeblich. Ich sah nur konturlose riesige Lücken zwischen winzigen Inseln der Erinnerung, Jahre der Leere.
Jetzt bin ich in der Küche und öffne Schränke: Nudeltüten, Reispackungen mit der Aufschrift Arborio, Dosen mit Kidneybohnen. Ich erkenne diese Nahrungsmittel nicht. Ich erinnere mich, Käse auf Toast gegessen zu haben, Fisch aus dem Kochbeutel, Sandwichs mit Corned Beef. Ich nehme eine Dose heraus, auf der Kichererbsen steht, ein Beutelchen mit etwas, das Couscous heißt. Ich weiß nicht, was diese Dinge sind, und erst recht nicht, wie man sie kocht. Wie überlebe ich denn dann, als Ehefrau?
Ich sehe zu der Wischtafel hoch, die Ben mir gezeigt hat, bevor er ging. Sie hat eine schmutziggraue Farbe, Worte sind daraufgeschrieben und weggewischt worden, ersetzt, verbessert, und jedes hat einen schwachen Rückstand hinterlassen. Ich frage mich, was ich wohl finden würde, wenn ich in der Zeit zurückgehen und die Schichten entziffern könnte, ob es möglich wäre, auf diese Weise in meine Vergangenheit einzutauchen, doch mir wird klar, dass es zwecklos wäre, selbst wenn es mir gelänge. Ich bin sicher, dass ich lediglich Botschaften und Listen finden würde, einzukaufende Lebensmittel, zu verrichtende Aufgaben.
Ist das wirklich mein Leben?, denke ich. Ist das alles, was ich bin? Ich nehme den Stift und schreibe eine weitere Notiz auf die Tafel. Für heute Abend packen?, lautet sie. Nichts Weltbewegendes, aber von mir.
Ich höre ein Geräusch. Eine Melodie, die aus meiner Handtasche kommt. Ich öffne sie und kippe den Inhalt aufs Sofa. Mein Portemonnaie, ein paar Taschentücher, Stifte, ein Lippenstift. Eine Puderdose, eine Quittung für zwei Kaffee. Ein Notizbuch, sehr klein, mit einem Blumenmuster auf dem Deckel und einem eingesteckten Stift.
Ich finde etwas, von dem ich annehme, dass es das Telefon sein muss, von dem Ben gesprochen hat - es ist klein, aus Plastik und mit einer Tastatur, die es wie ein Spielzeug aussehen lässt. Während es weiterklingelt, blinkt ein kleiner Bildschirm. Ich drücke einen Knopf, von dem ich hoffe, dass er der richtige ist.
»Hallo?«, sage ich. Die Stimme, die antwortet, ist nicht Bens.
»Hi«, sagt sie. »Christine? Spreche ich mit Christine Lucas?«
Ich will nicht antworten. Mein Nachname kommt mir so fremd vor wie heute Morgen mein Vorname. Ich habe das Gefühl, dass das bisschen fester Boden, das ich mühsam gewonnen habe, wieder verschwunden ist, durch Treibsand ersetzt.
»Christine? Sind Sie das?«
Wer kann das sein? Wer weiß, wo ich bin, wer ich bin? Ich begreife, dass es Gott weiß wer sein könnte. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Schon schwebt mein Finger über dem Knopf, der das Gespräch beenden wird.
»Christine? Ich bin's. Dr. Nash. Bitte sagen Sie doch was.«
Der Name ist mir fremd, aber ich sage trotzdem: »Wer ist da?« Die Stimme nimmt einen anderen Tonfall an. Erleichterung? »Hier
spricht Dr. Nash«, sagt er. »Ihr Arzt.«
Ein neuer Panikschub. »Mein Arzt?«, frage ich. Ich bin nicht krank, will ich hinzufügen, aber noch nicht mal das weiß ich. Ich merke, wie mein Verstand ins Trudeln gerät.
»Ja«, sagt er. »Aber keine Angst. Wir arbeiten nur zusammen an Ihrem Gedächtnis. Ihnen fehlt nichts.«
Ich registriere seine Wortwahl. Wir arbeiten zusammen. Er ist also noch jemand, an den ich mich nicht erinnere.
»Was meinen Sie mit arbeiten?«, frage ich.
»Ich versuche, Ihnen dabei zu helfen, Fortschritte zu machen«, sagt er. »Herauszubekommen, was genau Ihre Gedächtnislücken hervorgerufen hat und ob wir irgendwas dagegen tun können.«
Das klingt vernünftig, aber mir kommt ein anderer Gedanke. Warum hat Ben mir nichts von diesem Arzt erzählt, ehe er heute Morgen zur Arbeit ging?
»Und wie?«, frage ich. »Was machen wir?«
»Wir treffen uns seit einigen Monaten häufiger. Etwa zweimal die Woche.«
Es scheint unmöglich. Noch jemand, den ich regelmäßig sehe und der bei mir keinerlei Eindruck hinterlassen hat.
Aber ich bin Ihnen noch nie begegnet, möchte ich sagen. Sie könnten Gott weiß wer sein.
Ich sage nichts. Dasselbe trifft auf den Mann zu, neben dem ich heute Morgen aufgewacht bin, und der hat sich als mein Ehemann entpuppt.
»Ich erinnere mich nicht«, sage ich stattdessen.
Seine Stimme wird weich. »Keine Sorge. Das weiß ich.« Wenn das stimmt, was er sagt, dann weiß er es nur allzu gut. Er erklärt mir, dass unser nächster Termin heute ist.
»Heute?«, frage ich. Ich überlege, was Ben mir am Morgen gesagt hat, denke an die Liste von Aufgaben an der Tafel in der Küche. »Aber mein Mann hat mir kein Wort davon gesagt.« Mir fällt auf, dass ich den Mann, neben dem ich aufgewacht bin, zum ersten Mal so bezeichne.
Ein kurzes Zögern am anderen Ende, dann sagt Dr. Nash: »Ich glaube nicht, dass Ben von unseren Treffen weiß.«
Ich registriere, dass er den Namen meines Mannes kennt, sage aber: »Das ist doch absurd! Wieso sollte er nicht? Er hätte es mir gesagt!«
Ein Seufzer. »Sie müssen mir vertrauen«, sagt er. »Ich kann Ihnen alles erklären, wenn wir uns sehen. Wir machen wirklich Fortschritte.«
Wenn wir uns sehen. Wie soll das gehen? Der Gedanke, ohne Ben das Haus zu verlassen, ohne dass er auch nur weiß, wo ich bin oder bei wem, macht mir Angst.
»Tut mir leid«, sage ich. »Ich kann nicht.«
»Christine«, sagt er. »Es ist wichtig. Wenn Sie in Ihrem Notizbuch nachsehen, werden Sie feststellen, dass ich die Wahrheit sage. Haben Sie es da? Es müsste in Ihrer Tasche sein.«
Ich nehme das Büchlein mit dem Blumenmuster vom Sofa und sehe erschrocken die Jahreszahl, die in goldenen Lettern auf dem Einband steht. Zweitausendsieben. Zwanzig Jahre weiter, als es sein sollte.
»Ja. «
»Schauen Sie auf das Datum von heute«, sagt er. »Dreißigster November. Da müsste unser Termin stehen.«
Ich begreife nicht, wie es November sein kann - morgen Dezember -, aber ich blättere trotzdem die hauchdünnen Seiten bis zum heutigen Datum durch. Dort steckt zwischen den Blättern ein gelber Zettel, und darauf steht in einer Handschrift, die ich nicht kenne: 30. November - Termin bei Dr. Nash. Darunter steht: Nicht Ben sagen. Ich frage mich, ob er das gelesen hat, ob er meine Sachen durchsieht.
Ich befinde, dass es dafür keinen Grund gibt. Die anderen Tage sind ohne Einträge. Keine Geburtstage, keine abendlichen Verabredungen, keine Partys. Gibt das hier wirklich mein Leben wieder?
»Okay«, sage ich.
Er erklärt, dass er herkommen und mich abholen wird, dass er weiß, wo ich wohne, und dass er in einer Stunde da sein wird. »Aber mein Mann«, sage ich.
»Das geht in Ordnung. Wir sind längst wieder zurück, wenn er nach Hause kommt. Versprochen. Vertrauen Sie mir.«
Die Uhr auf dem Kaminsims schlägt, und ich schaue zu ihr rüber. Sie ist altmodisch, ein großes Zifferblatt mit römischen Zahlen in einem Holzgehäuse. Sie zeigt halb zwölf an. Daneben liegt ein silberner Schlüssel, um sie aufzuziehen, etwas, woran Ben bestimmt jeden Abend denkt. Sie sieht beinahe aus wie eine Antiquität, und ich frage mich, wie wir an so eine Uhr gekommen sind. Vielleicht hat sie keine Geschichte, oder zumindest keine mit uns, sondern ist einfach nur ein Stück, das wir irgendwo gesehen haben, in einem Geschäft oder auf dem Flohmarkt, und einem von uns gefiel sie. Wahrscheinlich Ben, denke ich. Ich merke, dass sie mir nicht gefällt.
Ich treffe mich nur dieses eine Mal mit ihm, denke ich. Und dann, wenn Ben heute Abend nach Hause kommt, werde ich es ihm erzählen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihm so etwas verschwiegen habe. Wo ich doch völlig abhängig von ihm bin.
Aber Dr. Nashs Stimme hat etwas seltsam Vertrautes. Anders als Ben kommt er mir nicht absolut fremd vor. Irgendwie fällt es mir bei ihm sogar fast leichter zu glauben, dass ich ihm schon mal begegnet bin, als bei meinem Mann.
Wir machen Fortschritte, hat er gesagt. Ich muss wissen, was für Fortschritte er meint.
»Okay«, sage ich. »Kommen Sie her.«
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von S. J. Watson
Watson, S.J.Von Null auf Welterfolg: S. J. Watson wurde gleich mit seinem ersten Thriller weltweit bekannt. Der Londoner Autor wurde in den Midlands geboren, hat viele Jahre für den britischen Gesundheitsdienst gearbeitet und an der Faber Academy kreatives Schreiben studiert. Sein Debüt 'Ich. Darf. Nicht. Schlafen.' erschien in über 40 Ländern und wurde mit Nicole Kidman und Colin Firth fürs Kino verfilmt. Auch Watsons zweiter Thriller 'Tu es. Tu es nicht.' ist ein internationaler Bestseller.Literaturpreise:CWA John Creasey (New Blood) Dagger Award 2011Best Read TV Book Club 2012
Bibliographische Angaben
- Autor: S. J. Watson
- 2012, 8. Aufl., 400 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191467
- ISBN-13: 9783596191468
- Erscheinungsdatum: 24.09.2012
Rezension zu „Ich. Darf. Nicht. Schlafen. “
ein Thriller, der fast ohne physische Gewalt auskommt, aber dennoch wahnsinnig spannend ist. [...] Für mich auf jeden Fall ein 'Vier-Sterne-Roman'. Ilka Petersen Norddeutscher Rundfunk, NDR 2 20111023
Pressezitat
ein Thriller, der fast ohne physische Gewalt auskommt, aber dennoch wahnsinnig spannend ist. [...] Für mich auf jeden Fall ein 'Vier-Sterne-Roman'. Ilka Petersen Norddeutscher Rundfunk, NDR 2 20111023
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