Himmel und Hölle
In neun Geschichten, die vordergründig alltäglich-harmlos wirken wie ein Kinderspiel, lässt Alice Munro rätselvolle Beziehungen und verdrängte Schuld aufblitzen. Sie erzählt von bestürzend kühnen Momenten des Ausbrechens...
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In neun Geschichten, die vordergründig alltäglich-harmlos wirken wie ein Kinderspiel, lässt Alice Munro rätselvolle Beziehungen und verdrängte Schuld aufblitzen. Sie erzählt von bestürzend kühnen Momenten des Ausbrechens aus dem eigenen Leben: das ist der Stoff, aus dem ihre Erzählungen sind.
Die Geschichten entführen den Leser an jenen einzigartigen Ort, an dem eine unerwartete Wendung den Bogen eines ganzen Lebens zum Aufleuchten bringen kann.
Himmel und Hölle von Alice Munro
LESEPROBE
Johanna hatte sich noch etwas vorgenommen und immer wieder hinausgeschoben. Sie musste in das Modengeschäft Milady`s und sich etwas zum Anziehen kaufen. Sie hatte dieses Geschäft noch nie betreten - wenn sie etwa Socken kaufen musste, ging sie zu Callaghans Herren-, Damen- und Kinderkleidung. Sie hatte viele Sachen von Mrs Willets geerbt, Sachen wie diesen Mantel, der unverwüstlich war. Und Sabitha - das Mädchen, für das sie in Mr McCauleys Haus sorgte - wurde von ihren Kusinen mit teuren abgelegten Kleidern überschüttet.
In der Auslage vom Milady`s standen zwei Schaufensterpuppen in Kostümen mit ziemlich kurzem Rock und kastenförmiger Jacke. Ein Kostüm hatte die Farbe von rostigem Gold, das andere war grün, ein weiches Dunkelgrün. Große grelle Ahornblätter aus Papier lagen um die Füße der Puppen verstreut und pappten hier und da an der Scheibe. Zu einer Jahreszeit, in der die meisten Menschen bemüht waren, die Blätter zusammenzuharken und zu verbrennen, waren sie hier der Clou. Ein Schild mit schwarzer Schreibschrift klebte diagonal auf dem Glas. Darauf stand: Schlichte Eleganz, die Mode für den Herbst.
Sie machte die Tür auf und ging hinein.
Direkt vor ihr zeigte ein Standspiegel sie in Mrs Willets gutem, aber unförmigem langen Mantel, mit ein paar Zentimetern stämmiger, bloßer Beine über den Söckchen.
Das machten die Ladenbesitzer natürlich mit Absicht. Sie stellten den Spiegel da hin, damit man gleich eine Vorstellung von seinen Mängeln bekam und sofort - so hofften sie - daraus den Schluss zog, dass man etwas kaufen musste, um das Bild zu verändern. Ein so durchsichtiger Trick, dass er sie veranlasst hätte, auf dem Absatz kehrtzumachen, wenn sie nicht mit einem festen Ziel hereingekommen wäre und gewusst hätte, was sie brauchte.
Entlang einer Wand war eine Stange mit Abendkleidern, alle passend für Ballköniginnen mit ihrem Tüll und Taft, ihren träumerischen Farben. Und dahinter, in einer Vitrine, damit profane Finger sie nicht berühren konnten, ein halbes Dutzend Hochzeitskleider, rein weißer Schaum oder vanillegelber Satin oder elfenbeinfarbene Spitze, bestickt mit silbrigen Perlen oder mit Staubperlen. Winzige Oberteile, langettierte Ausschnitte, verschwenderische Röcke. Auch als sie noch jünger war, wäre eine solche Extravaganz nie in Betracht gekommen, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch wegen der Erwartungen, der unsinnigen Hoffnung auf Verwandlung und Seligkeit.
Es dauerte zwei oder drei Minuten, bis jemand kam. Vielleicht hatten sie ein Guckloch und musterten sie, meinten, sie sei nicht ihre Art von Kundin, und hofften, sie würde wieder gehen.
Das tat sie nicht. Sie ging an ihrem Spiegelbild vorbei - vom Linoleum an der Tür auf einen weichen Teppich -, und endlich öffnete sich der Vorhang am Ende des Ladens und Milady persönlich trat hervor, in einem schwarzen Kostüm mit Glitzerknöpfen. Stöckelschuhe, schlanke Fesseln, der Hüftgürtel so eng, dass ihre Nylons schabten, goldenes Haar straff zurückgekämmt von ihrem geschminkten Gesicht.
»Ich würde gern das Kostüm im Schaufenster anprobieren«, sagte Johanna mit einstudiertem Tonfall. »Das grüne.«
»Ach, das ist ein reizendes Kostüm«, sagte die Frau. »Das im Schaufenster ist zufällig eine Achtunddreißig. Sie sehen eher aus wie - vielleicht eine Zweiundvierzig?«
Sie schabte voran in den hinteren Teil des Ladens, wo die gewöhnlichen Sachen hingen, die Kostüme und Kleider für den Tag.
»Sie haben Glück. Da ist die Zweiundvierzig.«
Als Erstes sah Johanna auf das Preisschild. Mehr als doppelt so viel, wie sie erwartet hatte, und sie dachte nicht daran, das zu verbergen.
»Es ist reichlich teuer.«
»Es ist sehr feine Wolle.« Die Frau suchte herum, bis sie das Etikett fand, dann las sie eine Materialbeschreibung vor, der Johanna nicht richtig zuhörte, weil sie sich den Saum vorgenommen hatte, um die Verarbeitung zu prüfen.
»Es fühlt sich leicht wie Seide an, aber es trägt sich wie aus Eisen. Wie Sie sehen, ist es ganz gefüttert, ein hübsches Seidemit- Kunstseide-Futter. Sie werden feststellen, dass es sich nicht aussitzt oder die Form verliert wie die billigen Kostüme. Sehen Sie den Samt an den Ärmelaufschlägen und am Kragen und die Samtknöpfchen an den Ärmeln.«
»Ich seh sie.«
»Das sind die Feinheiten, für die Sie bezahlen, die sind anders einfach nicht zu bekommen. Ich liebe diese Samtbesätze. Die sind übrigens nur am grünen - das aprikosenfarbene hat sie nicht, obwohl der Preis genau derselbe ist.«
Es war tatsächlich der Samt auf dem Kragen und an den Ärmeln, der dem Kostüm in Johannas Augen diesen dezenten Hauch von Luxus verlieh und sie zum Kauf reizte. Aber sie dachte nicht daran, das zu sagen.
»Ich kann es ja mal anprobieren.«
Darauf hatte sie sich schließlich vorbereitet. Saubere Unterwäsche und frischer Körperpuder unter den Achseln.
Die Frau besaß genug Takt, sie in der hellen Kabine allein zu lassen. Johanna mied den Spiegel wie Gift, bis sie den Rock zurechtgezogen und die Jacke zugeknöpft hatte.
Anfangs betrachtete sie nur das Kostüm. Es war gut. Es passte gut - der Rock ungewohnt kurz, aber an der ungewohnten Machart lag es nicht. Das Problem war nicht das Kostüm, sondern das, was daraus hervorschaute. Ihr Hals und ihr Gesicht und ihre Haare und ihre großen Hände und ihre dicken Beine. »Wie kommen Sie zurecht? Darf ich mal schauen?«
Schauen Sie, so viel Sie wollen, dachte Johanna, aus grober Wolle wird nie ein feines Tuch, das werden Sie gleich sehen.
Die Frau betrachtete sie erst von einer Seite, dann von der anderen.
»Dazu brauchen Sie natürlich Ihre Nylons und Ihre hohen Absätze. Wie fühlt es sich an? Bequem?«
»Das Kostüm fühlt sich gut an«, sagte Johanna. »An dem Kostüm ist nichts auszusetzen.«
Das Gesicht der Frau veränderte sich im Spiegel. Sie hörte auf zu lächeln. Sie sah enttäuscht und müde aus, aber freundlicher.
»Manchmal ist das eben so. Man merkt es erst, wenn man etwas anprobiert. Der Haken ist«, sagte sie, wobei in ihrer Stimme neue, wenn auch gemäßigtere Überzeugung aufklang, »der Haken ist, Sie haben eine gute Figur, aber eine kräftige Figur. Sie sind grobknochig, na und? Zierliche Samtknöpfchen sind nichts für Sie. Quälen Sie sich nicht mehr damit. Ziehen Sie es einfach aus.«
Dann, als Johanna wieder in ihrer Unterwäsche dastand, pochte es, und eine Hand reichte durch den Vorhang. »Ziehen Sie das mal über, einfach so.«
Ein braunes Wollkleid, gefüttert, mit hübsch gerafftem Glockenrock, Dreiviertelärmeln und schlichtem runden Ausschnitt. Schlichter ging es nicht, bis auf den schmalen goldenen Gürtel. Nicht so teuer wie das Kostüm, dennoch ein stolzer Preis, wenn man bedachte, dass so gut wie nichts dran war. Wenigstens hatte der Rock eine schicklichere Länge, und der Stoff wirbelte elegant um ihre Beine. Sie wappnete sich und schaute in den Spiegel.
Diesmal sah sie nicht aus, als wäre sie zum Scherz in dieses Kleidungsstück gesteckt worden.
Die Frau kam und stand neben ihr und lachte, aber vor Erleichterung.
»Es liegt an der Farbe Ihrer Augen. Sie brauchen keinen Samt zu tragen. Sie haben Samtaugen.«
Solchem Schmus wäre Johanna sonst mit Hohn begegnet, in diesem Moment allerdings schien er zu stimmen. Ihre Augen waren nicht groß, und wenn sie nach der Farbe gefragt worden wäre, hätte sie gesagt: »Wohl so ein Braunton.« Aber jetzt sahen sie wirklich dunkelbraun aus, weich und leuchtend.
Nicht, dass ihr plötzlich in den Kopf gekommen wäre, sie sei hübsch oder dergleichen. Nur, dass ihre Augen eine hübsche Farbe hätten, wenn sie ein Stück Stoff wären. »Ich möchte wetten, dass Sie nicht oft Pumps tragen«, sagte die Frau. »Aber wenn Sie Nylons anhätten und nur ein bisschen Absatz ... Und ich wette, Sie tragen auch keinen Schmuck, und Sie haben ganz Recht, das brauchen Sie auch nicht bei dem Gürtel.«
Um das Verkaufsgeschwafel zu beenden, sagte Johanna: »Dann ziehe ich es mal aus, damit Sie es einpacken können.« Sie bedauerte, dass sie das sanfte Gewicht des Rocks und das dezente goldene Band um ihre Taille nicht mehr spürte. Sie hatte noch nie in ihrem Leben dieses komische Gefühl gehabt, von dem, was sie anzog, verschönt zu werden. »Ich hoffe doch, es ist für einen besonderen Anlass«, rief die Frau, als Johanna rasch in ihre jetzt schäbig wirkenden Alltagssachen schlüpfte. »Es ist wahrscheinlich das Kleid, in dem ich heiraten werde«, sagte Johanna. Sie war überrascht, das aus ihrem Mund kommen zu hören. Es war kein schlimmer Fehler - die Frau wusste nicht, wer sie war, und würde wahrscheinlich auch mit niemandem reden, der es wusste. Trotzdem, sie hatte sich vorgenommen, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Es war wohl das Gefühl, dieser Person etwas zu schulden - dass sie zusammen die Katastrophe des grünen Kostüms und die Entdeckung des braunen Kleides erlebt hatten und dadurch einander verbunden waren. Was Unsinn war. Diese Frau hatte die Aufgabe, Kleidung zu verkaufen, und das war ihr gerade gelungen.
»Oh!«, rief die Frau aus. »Oh, das ist ja wunderbar.« (...)
© Fischer Verlag
Übersetzung: Heidi Zerning
- Autor: Alice Munro
- 2013, 7. Aufl., 544 Seiten, Masse: 9,5 x 14,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596510252
- ISBN-13: 9783596510252
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