Herzenssturm
Roman
Samantha spielt in der Südsee in einem Film mit: in der Rolle einer englischen Missionarin. Bis die Vergangenheit Besitz von ihr ergreift.
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Produktinformationen zu „Herzenssturm “
Samantha spielt in der Südsee in einem Film mit: in der Rolle einer englischen Missionarin. Bis die Vergangenheit Besitz von ihr ergreift.
Klappentext zu „Herzenssturm “
Sie greift nach den Sternen die junge Samantha bekommt ihre erste Hauptrolle in einem Hollywoodfilm. Schauplatz: die zauberische Insel Vanuatu im Südpazifik.Die Frau, die Samantha darstellen soll sie war eine Legende: Jane, die englische Missionarsfrau, die sich für das Wohl der Insulaner von Vanuatu einsetzte. Als der Sturm des Zweiten Weltkrieges das Inselparadies erreichte, begegnete Jane dem amerikanischen Piloten Charles. Eine verbotene Liebe flammte zwischen ihnen auf, die Jane um jeden Preis verborgen halten musste.
Je mehr sich Samantha mit Janes Leben beschäftigt, desto mehr ergreift die Vergangenheit von der jungen Schauspielerin Besitz. Ihr scheint, als sei sie nicht das erste Mal auf der Insel. Welches Geheimnis verbindet sie mit Janes Schicksal?
Lese-Probe zu „Herzenssturm “
Herzenssturm von Judy Nunn LESEPROBE
Es war Freitagabend, und im Reids war bereits lebhafter Betrieb, als sie eintrafen. Chinesische Kellner bedienten an grün bezogenen Tischen, an denen die Gäste mit importiertem australischem Bier oder einem Gin Tonic aus Bombay in hohen, eisgekühlten Gläsern saßen und plauderten. Raue Männerstimmen und Gelächter bildeten die Geräuschkulisse, und trotz der geöffneten Schlagläden zur Veranda und der warmen Brise, die vom Hafen hereinwehte, hing der Geruch von Pfeifentabak und Zigarren in der Luft.
Innerhalb weniger Minuten hatte Jane eine erstaunliche Versammlung aus Reisenden, Ausgewanderten und Kolonialbeamten kennen gelernt. Einige Neuseeländer, zwei Australier, eine Reihe Franzosen und Briten und ein holländisches Ehepaar, das auf einer Yacht lebte, die im Hafen lag. Reids war bestimmt der Ort, der alle magisch anzog, dachte sie, aber es waren nur wenige Frauen anwesend. Sie schüttelte jedoch alle Befangenheit ab und vertraute auf Godfrey. Er war jedenfalls ihre Visitenkarte. Godfrey wartete einfach, bis die anderen auf ihn zukamen. Und das geschah auch.
»Mr Tomlinson.« Ein Mann, den Jane auf Ende dreißig schätzte, hatte Godfrey auf die Schulter geklopft. »Wollen Sie mich nicht Ihrer bezaubernden Begleiterin vorstellen?«, fragte er in perfektem Englisch, wenn auch mit starkem Akzent. Der Mann sah gut aus, war von durchschnittlicher Größe, aber stabil gebaut, hatte das Gesicht eines Patriziers, einen gepflegten Haarschopf, der an den Schläfen erste graue Stellen zeigte, und trat mit der Selbstsicherheit eines Wohlhabenden auf.
»Mrs Thackeray, Msieur Marat«, sagte Godfrey folgsam, aber ohne rechte Begeisterung, was Jane ein wenig überraschte.
»Madame Thackeray.« Der Franzose verbeugte sich und küsste ihre Hand, wobei seine
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Lippen etwas länger als notwendig darüber verweilten, jedoch nicht lange genug, um kränkend zu sein.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Jane.
»Ich habe mich darauf gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und die Ihres Mannes.« Jean-François Marat sah sich im Clubraum um.
»Ist er nicht bei Ihnen?«
»Dr. Thackeray ist in Lakatoro«, erwiderte Godfrey barsch, bevor Jane antworten konnte. Sie war erstaunt über seinen Ton; Godfrey war sonst so verbindlich. Es war deutlich, dass Godfrey Tomlinson Msieur Marat nicht leiden konnte und aus der Tatsache auch keinen Hehl machte.
»Ach ja, natürlich«, sagte der Franzose. »Ich habe gehört, dass es medizinische Probleme auf Malekula gibt. Wollen Sie mit an meinen Tisch kommen?«, fragte er Jane. »Sie beide natürlich«, fügte er, an Godfrey gewandt, hinzu. »Auf ein Glas Champagner zur Begrüßung von Mrs Thackeray?«
»Mit Vergnügen«, sagte Godfrey und meinte das genaue Gegenteil, »danke.« Dann reichte er Jane den Arm, bevor der Franzose zum Zuge kam.
Unter normalen Umständen hätte Godfrey die Einladung weder akzeptiert noch angenommen. Er und Marat konnten sich nicht ausstehen. Für Jane indes war es die ideale Gelegenheit, die Mitglieder »des anderen Lagers« kennen zu lernen, wie er sie bezeichnete. An Marats Tisch saßen der französische residierende Kommissar und einige seiner höheren Beamten.
In der nächsten halben Stunde war Jean-François Marat derart um Jane bemüht, dass es ihr schon peinlich wurde. Am Tisch wurde nur Französisch gesprochen, dennoch lenkte er die Unterhaltung wiederholt ins Englische; an einem Punkt tadelte er sogar die Anwesenden, als sie wieder einmal in eine schnell geführte Unterhaltung in ihrer Muttersprache abglitten.
»Wollen wir denn Madame Thackeray nicht ein wenig Höflichkeit erweisen?«, schlug er mit eisigem Lächeln und einem Tonfall vor, der den gesamten Tisch zum Schweigen brachte. Jean-François Marat war einer der mächtigsten Männer in der Kolonie, und auch der residierende Kommissar tanzte anscheinend nach seiner Pfeife.
»Bitte, Msieur Marat«, sagte sie mit Nachdruck und spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete, »lassen Sie sich durch mich nicht in der Unterhaltung stören. Im Übrigen«, fuhr sie fort und versuchte, den peinlichen Moment mit Lachen zu überbrücken, da aller Augen auf sie gerichtet waren, »ist es eine ausgezeichnete Übung für mich. Ich spreche ein wenig Schulfranzösisch«, gab sie zu, »so schrecklich es sich auch anhört, und ich muss wirklich lernen, um darin geübter zu werden, solange ich hier bin.«
»Unbedingt«, stimmte Jean-François ihr aalglatt zu, »aber es ist Ihr erster Abend in unserer Gesellschaft.« Den anderen am Tisch schenkte er keinerlei Beachtung, als wäre er mit Jane allein, und »unsere« Gesellschaft sollte »meine« heißen. Jane fand seine prüfenden Blicke höchst provozierend und beunruhigend.
»Ich habe die Absicht, mir jede Sprache anzueignen, die in Vila gesprochen wird, Msieur Marat«, sagte sie und wusste mit ihrem Blick nicht wohin. »Ich lerne gerade Bislama.«
»Ach, tatsächlich?« Es klang wie »wozu bloß?« Marat selbst beherrschte diese Sprache, was allerdings für die Kommunikation mit den Arbeitern auf seiner Plantage notwendig war. »Wie bewundernswert «, sagte er. Was für eine Zeitverschwendung, dachte er. Eine Frau, die so aussah wie Jane Thackeray, sollte sich nicht mit den Schwarzen abgeben.
Jean-François Marat hatte den Blick nicht von Jane abwenden können, seitdem sie am Arm des störenden alten Narren Godfrey Tomlinson ins Reids gekommen war. Das war also die Frau des neuen Missionsarztes. Er hatte schon gehört, dass sie hübsch war, doch sie war weit mehr als das, dachte er, nachdem er sie in angeregter Unterhaltung beobachtet hatte. Sie war erlesen. Helle Haare, blaue Augen, eine Haut wie Porzellan und ein Lächeln, frisch wie der junge Morgen. Jane Thackeray war eine englische Rose.
Nun, da sie an seinem Tisch saß und er sie mit den Augen verschlang, fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich mit ihrem freudlosen englischen Mann langweilen würde. Ein Missionsarzt? Unter dem Joch der Kirche für einen Hungerlohn arbeitend? So eine Frau hatte etwas viel Besseres verdient. Jedenfalls musste sie unweigerlich während der langen Abwesenheiten ihres Mannes nervös werden, und Jean-François war durchaus bereit abzuwarten. Er hatte so manche heimliche Affäre mit der Frau eines abwesenden Mannes gehabt. Es war nur eine Frage der Zeit, hatte er festgestellt, bis Frauen, die allein gelassen wurden, die Unruhe packte. Den Rest erledigten dann die Hitze und die Sinnlichkeit der Tropen.
»Ich freue mich sehr darauf, Dr. Thackeray kennen zu lernen«, sagte er zehn Minuten später, als Godfrey und Jane sich verabschiedeten. Wieder küsste er ihr die Hand, und wieder verlängerte er den Moment. »Wenn Ihr Mann zurückkommt, müssen Sie unbedingt ins Chanson de Mer zum Essen kommen«, beharrte er.
Er ließ ihre Hand nicht los, und Jane schaute ihn unverwandt an, nervös und unsicher.
»Mein Haus«, sagte er. »Der Name ist meine kleine Schwäche.« Er lächelte, und seine dunklen Augen waren anscheinend darauf aus, sie zu verführen. »Ich wohne direkt am Meer«, erklärte er mit weicher Stimme, als erzähle er ihr ein persönliches Geheimnis. »Und der Pazifik singt mir sein Lied. Sein ganz besonderes.«
»Vielen Dank für Ihre Einladung, Msieur Marat.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Au revoir, meine Herren«, sagte sie zu den anderen, die sich vom Tisch erhoben hatten.
»Vor Marat müssen Sie sich in Acht nehmen«, warnte Godfrey sie, als sie draußen vor dem Restaurant entlanggingen, »er kann gefährlich sein.« Er unterließ es, das abscheuliche Verhalten des Mannes zu erwähnen, denn er wollte sie nicht weiter in Verlegenheit bringen. Godfrey hatte Marats kaum verhohlene Begierde als verachtenswert und kränkend empfunden.
»Er ist einfach arrogant«, stimmte Jane ihm zu. Ihre Reaktion auf Marats Aufmerksamkeit war mehr als nur bloße Verlegenheit gewesen. Sie hatte ihn außerordentlich beunruhigend gefunden. Noch nie hatte sie jemand derart angestarrt, als wäre sie eine Art Beute. »Wer ist der Mann, Godfrey?«
»Er ist Plantagenbesitzer, sehr reich und sehr mächtig, und er hat die offiziellen Vertreter Frankreichs unter seiner Fuchtel. Marat besitzt die größte Kokosplantage auf der Insel, und er verwendet sein Geld auf jede nur denkbare korrupte Art und Weise. Ich würde vorschlagen, dass du und Martin ihm wohlweislich aus dem Weg geht.«
Ein paar Tage danach bestand Godfrey darauf, dass sie ihn auf einer Fahrt mit dem Pferdewagen begleitete. »Ich werde Ihnen das echte Efate zeigen«, sagte er. »Aber ich fürchte, Sie werden Ronnie bei Mary lassen müssen, ein Auslegerkanu ist nicht der sicherste Platz für ein Kind in seinem Alter.«
Bei dieser beunruhigenden Aussicht riss Jane die Augen weit auf, doch sie sagte nichts dagegen, was Godfrey über alle Maßen freute. Die ungepflasterten Straßen von Vila erstreckten sich nur ein paar Meilen nach Norden und Osten, und Godfrey hielt es für unsinnig, ein Motorfahrzeug zu besitzen. »Man kann nirgendwo hinfahren. Ein Pferdewagen ist entschieden vorzuziehen.«
Das Pferd, ein zuverlässiger, zwölfjähriger brauner Wallach namens Luke, ging im Schritt den Weg hinunter, und als sie am Fuß des Hügels ankamen, bogen sie in die Hauptstraße ein. Es war Montagmorgen, und in Vila herrschte reger Betrieb. Einheimische waren auf dem Weg zur Arbeit, Frauen in geblümten Kleidern, die unter den Inselbewohnerinnen üblich waren, und Männer in abgetragenen Shorts und Hemden, abgelegten Stücken von ihren kolonialen Arbeitgebern. Tonkinesische Arbeiter, Immigranten aus Indochina, unter breiten Strohhüten balancierten zwei Körbe an Schulterträgern, und am Lagerhaus der Firma Burns Philp & Company Ltd. schleppten einheimische Arbeiter Säcke mit Kopra, die auf Rollwagen von den Plantagen hergebracht worden waren, zu dem Schiff, das an der firmeneigenen Pier lag.
»Die allmächtige BP«, sagte Godfrey und zeigte auf das Firmenschild der Export-Firma. »Hier werden sie nur Die Bastarde vom Pazifik genannt. Im Grunde beherrscht Burns Philp die Wirtschaft auf diesen Inseln.«
Das Kopraboot legte alle paar Monate an, wenn eine Ladung abzuholen war. Seitdem die Sandelholzwälder abgeholzt waren, blieb Kopra, das getrocknete Nährgewebe der Kokosnuss, aus dem Seifen und Öle hergestellt wurden, eines der wichtigsten Exportgüter der Neuen Hebriden.
Jane hielt ihren breitrandigen Strohhut fest, während sie die Hauptstraße entlangfuhren. Godfrey gab dem Pferd die Zügel, und Luke fiel gehorsam in einen gemütlichen Trab, ohne sich von den Fahrzeugen beirren zu lassen, die an ihnen vorüberfuhren.
»Anfangs, als die Autos auftauchten«, erzählte Godfrey, »entstand ein ziemlicher Krach darüber, auf welcher Straßenseite sie fahren sollten, wieder ein Wettstreit zwischen Franzosen und Briten. Dann hat ein kluger Beamter vorgeschlagen, man solle doch die Augen offen halten, wenn der nächste Pferdewagen um die Ecke böge, und sich auf die Seite einigen, auf der er fuhr.«
»Offensichtlich haben die Franzosen gewonnen.« Jane lachte.
»Ja, zum Teufel mit ihnen!«
Die Straße hatte sich zu einem einfachen Weg verengt, als sie Malapoa Point erreichten, die nördliche Landspitze von Vilas Hafen, und bald schon fuhren sie an der geschwungenen Küste der Mele Bay entlang. Schließlich lenkte Godfrey den Pferdewagen auf einen Sandstrand gegenüber einer kleinen Koralleninsel, die nur wenige Hundert Meter entfernt war. Zwischen den Bäumen sah man die Hütten einer Eingeborenensiedlung.
»Das ist unser Ziel«, sagte er und bot Jane die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. »Mele Island.« Er winkte mit ausgestrecktem Arm, und kurz darauf sah Jane, wie ein Inselbewohner ein Auslegerkanu ins seichte Wasser schob. Während das Kanu von der Insel ablegte, beobachtete sie Godfrey, der zielstrebig seiner Arbeit nachging. Er spannte Luke aus und band ihn an einen Baum, füllte den großen Zinneimer aus dem Wasserbeutel - beides hatte er hinten auf dem Pferdewagen mitgenommen - und tränkte das Tier. Es war wie ein Ritual, dachte sie fasziniert. Diese Besuche auf Mele Island fanden offenbar regelmäßig statt.
Fünf Minuten später schob sich der Bug des Kanus auf den Strand, und der barfüßige Inselbewohner sprang heraus. Er war ein kräftiger junger Mann in den Zwanzigern. Er trug nur Shorts, die ihm viel zu groß waren und um den Bauch mit einem Seilende festgebunden waren. »Goffry!«, rief er lauthals, und die beiden Männer umamten sich und klopften sich gegenseitig auf die Arme. »Goffry!« Der Rest war für Jane Kauderwelsch. Bislama würde ihr hier nicht weiterhelfen, dachte sie; die beiden sprachen einen melanesischen Dialekt, noch dazu schnell.
Als die stürmische Begrüßung beendet war, stellte Godfrey sie vor.
»Fren blong mi Missus Thackeray«, sagte er in Bislama und trat zurück für die Aufführung, die nun folgen würde.
»Allo, Missus Tackry, aloo. Nem blong mi Rama.« Der Händedruck war kräftig und voller Begeisterung.
»Allo, Rama«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln.
»Goffry besfren blong mi«, sagte er.
»Yo, yo«, nickte sie heftigst zustimmend, »Goffry nambawan.«
»Welkam, Missus Tackry, welkam.«
»Tangkyu tumas, Rama.«
Nachdem sie sich gegenseitig ihre Freundschaft mit Godfrey bestätigt hatten, was für Rama hieß, dass nun auch er und Jane befreundet waren, hatte die offizielle Begrüßung ein Ende, und er schob das Kanu ins Wasser.
Godfrey schenkte Jane ein anerkennendes Lächeln. Ihre Begeisterung war perfekt gewesen; Lebhaftigkeit war immer der Schlüssel für eine solche Begegnung. Er hatte sie nicht vorgewarnt und ihr keinen besonderen Rat gegeben, wie sie sich zu verhalten hatte. »Es sind gute Menschen«, hatte er nur gesagt, »behandeln Sie sie so, wie sie Ihnen entgegenkommen.« Instinktiv hatte sie das Richtige getan. Godfrey war zufrieden.
Jane zog ihre Sandalen aus, und als sie feststellte, dass Godfrey, die Schuhe in der Hand, keinen Versuch unternahm, seine Hosenbeine aufzukrempeln, watete sie knietief ins Wasser, ohne auf ihren wadenlangen Rock zu achten.
Rama hielt das Boot fest, und sie kletterten vorsichtig hinein. Dann setzte er sich in die Mitte und begann zur Insel zu paddeln, wobei er die ganze Zeit in seiner melanesischen Sprache auf Godfrey einredete. Es war ein heißer Tag, die Luft war schwer und bedrohlich feucht. »Heute Abend gibt es ein Gewitter«, hatte Godfrey gesagt. Bisher aber gab es noch keine Anzeichen dafür. Der Himmel war wolkenlos, das Meer vom Wind nicht gekräuselt, und während sich das Kanu dem Sandstrand näherte, schaute Jane in das kristallklare Wasser und erblickte das Korallenriff unter ihr. Sie sah die unendliche Vielfalt der Farben, Formen und Muster der lebenden Korallen und die bunten, exotischen Fische, die in dem komplizierten Gewirr aus Winkeln und Spalten hin und her schossen. Unter ihnen lag eine Welt voller Leben. Am liebsten hätte sie sich über den Bootsrand gebeugt, um sie näher zu betrachten, doch sie wagte es nicht, da sie sich in dem leichten Boot sehr ausgesetzt vorkam.
»Können Sie schwimmen, Jane?« Godfrey war aufgefallen, wie fasziniert sie das Riff beobachtet hatte.
»O ja, gewiss. Ich schwimme gern.«
»Wenn wir das nächste Mal nach Mele Island kommen, nehme ich eine Taucherbrille für Sie mit. Sie werden da unten ein Märchenland vorfinden, das verspreche ich.«
»Das würde mir gefallen.«
Am Strand hatte sich eine Gruppe von etwa einem Dutzend Inselbewohnern versammelt, um sie willkommen zu heißen, als Godfrey und Jane an Land wateten.
Die Männer schlugen Godfrey freundschaftlich auf den Rücken und auf die Arme, die Frauen kicherten und reichten ihm die Hand, und die Kinder sprangen um ihn herum und zerrten an seiner Kleidung. Rama stellte Jane vor, und alle Inselbewohner gaben ihr die Hand. »Welkam, Missus Tackry, welkam«, sagten alle. Eine Bekannte von Goffry kennen zu lernen kam nicht oft vor und war ein besonderes Vergnügen.
Als die Gesellschaft sich geschlossen auf den Weg vom Strand ins Dorf machte, nahm ein kleines Mädchen Jane bei der Hand und führte sie mit strahlendem Lächeln über den Pfad. Diese Inbesitznahme war mehr, als die anderen Kinder vertragen konnten. Plötzlich war Jane umringt, jedes Kind ergriff einen Teil von ihr. Sie hängten sich zu mehreren an die andere Hand, zerrten an ihrem Rock, packten ihren Arm und schnatterten dabei aufgeregt, große braune Augen in freundlichen kleinen Gesichtern, die Jane anstrahlten. Jane war von jedem einzelnen Kind bezaubert, hielt jedoch die Hand des kleinen Mädchens fest, und sie tauschten ein verstohlenes Lächeln aus.
Die Bewohner von Mele Island waren eigentlich eine große Familie, und ihr Dorf war sehr klein, nur ein paar Bambushütten mit Strohdächern aus Sagopalmenblättern; die Wände bestanden aus natangora, einem Ge. echt aus Kokospalmen, Schraubenpalmen oder Zuckerrohrblättern. Sie konnten mit dem Wellblech der Europäer nicht viel anfangen, das überall erhältlich und bei den Einheimischen in den größeren Orten von Efate sehr beliebt war.
Als Godfrey und Jane mit ihrem Begrüßungskomitee eintrafen, winkten ihnen die Dorfbewohner, die auf ihren geflochtenen Matten vor den offenen Eingängen ihrer Hütten saßen, laut rufend zu. Godfrey winkte zurück, und diejenigen, die ihn vom Strand hierher be- gleitet hatten, blieben in respektvoller Entfernung stehen, während er sich der größten Hütte näherte.
Ein hoch aufgeschossener Mann mit grauem Haarschopf, der eine Handbreit von seinem Kopf abstand und wie ein ungeheuerlicher Schein wirkte, tauchte im Eingang auf. Mit Ende sechzig war er für einen Inselbewohner alt, aber offenbar bei bester Gesundheit.
»Goffry!«, rief er und breitete seine langen Arme weit aus. Wieder gab es ausführliches Schulterklopfen, als die beiden Männer sich auf Melanesisch begrüßten. Dann winkte Godfrey Jane hinzu.
»Brata blong mi Moli«, sagte er in Bislama, nachdem er sie dem großen Mann vorgestellt hatte.
»Welkam, Missus Tackry.« Moli schüttelte ihr die Hand.
»Tangkyu tumas, Moli«, erwiderte sie. Dass Godfrey den Mann als seinen Bruder bezeichnet hatte, sollte wohl eine respektvolle Geste sein.
Moli bestand darauf, dass Godfrey ihr das Dorf zeigte, und sie war zunächst etwas gehemmt. Sie wollte nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, denn die Männer waren offenbar gute Freunde.
Bestimmt wollten sie miteinander reden. Sie sagte es Godfrey.
»Moli ist der Dorfälteste und prahlt gern«, erwiderte Godfrey. »Er wäre entsetzlich gekränkt, wenn Sie sein Dorf nicht erkunden wollten.« »Sie haben ihn Ihren Bruder genannt«, sagte sie.
»Ja.« Er legte eine kurze Pause ein. »Er ist es eigentlich nicht.«
Jane lächelte und nahm an, dass er scherzte, doch Godfreys Miene war rätselhaft. »Er ist mein tawian.«
Sie schüttelte den Kopf. Offenbar prüfte er ihre Kenntnisse in Bislama, und die reichten so weit nicht.
»Mein Schwager.« Godfrey lächelte, als Jane der Mund offen stehen blieb. »Kommen Sie, Moli beobachtet uns. Wir sind sehr unhöflich, wenn wir hier herumstehen und Englisch reden.«
Eine Stunde lang wurde Jane eine faszinierende Einsicht in das Leben der Dorfbewohner gewährt. Sie sah Frauen zu, die das komplizierte natangora flochten, Männern, die einen Baumstamm aushöhlten, der ein Kanu werden sollte. Man zeigte ihr den stolzen Fang von jenem Morgen, einen riesigen Mahi-Mahi-Fisch, hellgelb und fast zwei Meter lang. Sie würden sich noch am selben Abend daran gütlich tun, nachdem sie ihn über einem offenen Feuer am Strand geröstet hatten. Dazu würde es gebackene Taros und Süßkartoffeln geben. Sie sah den Frauen zu, wie sie das Wurzelgemüse ausgruben und zubereiteten, und sie luden sie ein, zum Essen zu bleiben, doch sie erklärte, das sei nicht möglich. Sie habe ein pikinini, sagte sie, und sie müsse nach Hause. Sie zeigten sich sofort interessiert. Wie alt ihr pikinini sei? Junge oder Mädchen? Dann sagte eine Frau, ihr pikinini sei krank.
Wie krank?, erkundigte sich Jane.
»Sik long samting«, antwortete die Frau kopfschüttelnd, »mi no save.«
Jane tauschte einen Blick mit Godfrey. »Soem mi«, sagte sie zu der Frau. Dann folgten Godfrey und sie ihr zu einer Hütte am anderen Ende des Dorfes.
Ein Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren saß auf dem Boden, und neben ihr auf einer geflochtenen Matte lag ein Junge von fünf oder sechs Jahren. Sein Kopf ruhte im Schoß des Mädchens. Das Mädchen summte leise und strich dem Jungen über die Stirn, während er teilnahmslos vor sich hin starrte.
Jane kniete sich neben ihn, und das Mädchen warf seiner Mutter einen ängstlichen Blick zu. Die Mutter nickte, um zu zeigen, dass sie einverstanden war, und als Jane den Kopf des Kindes in die Hände nahm, rückte das Mädchen zur Seite.
Jane legte den Kopf des kleinen Jungen sanft auf die Matte und befühlte seine schweißnasse Stirn; er hatte hohes Fieber. Sie zog das Tuch ab, unter dem er lag, und legte ihr Ohr an seine bloße Brust, um die Lunge abzuhören. Er atmete schwer. Dann stützte sie ihn im Rücken ab und richtete ihn auf. Sie bat ihn zu husten.
»Olsem mi«, sagte sie, und sie hustete laut, um es ihm zu zeigen. Der Junge ahmte sie folgsam nach. Sein Husten war tief und keuchend. »Es ist eine Bronchitis«, sagte sie zu Godfrey. »Ich glaube nicht, dass es Lungenentzündung ist. Zumindest noch nicht«, fügte sie hinzu und schaute zweifelnd zu dem Strohdach der Hütte hoch. Heute Abend würde es ein Gewitter geben, hatte Godfrey gesagt. Das Kind durfte den Naturgewalten nicht ausgesetzt werden. »Meinen Sie, sie lassen zu, dass ich ihn mit nach Hause nehme?«, fragte sie.
»Ich halte das nicht für klug, Jane«, erwiderte Godfrey. Sie hatte keine Ahnung, was sie da machte. Wenn das Kind nun starb?
© S. Fischer Verlag
Übersetzung: Marion Balkenhol
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Jane.
»Ich habe mich darauf gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und die Ihres Mannes.« Jean-François Marat sah sich im Clubraum um.
»Ist er nicht bei Ihnen?«
»Dr. Thackeray ist in Lakatoro«, erwiderte Godfrey barsch, bevor Jane antworten konnte. Sie war erstaunt über seinen Ton; Godfrey war sonst so verbindlich. Es war deutlich, dass Godfrey Tomlinson Msieur Marat nicht leiden konnte und aus der Tatsache auch keinen Hehl machte.
»Ach ja, natürlich«, sagte der Franzose. »Ich habe gehört, dass es medizinische Probleme auf Malekula gibt. Wollen Sie mit an meinen Tisch kommen?«, fragte er Jane. »Sie beide natürlich«, fügte er, an Godfrey gewandt, hinzu. »Auf ein Glas Champagner zur Begrüßung von Mrs Thackeray?«
»Mit Vergnügen«, sagte Godfrey und meinte das genaue Gegenteil, »danke.« Dann reichte er Jane den Arm, bevor der Franzose zum Zuge kam.
Unter normalen Umständen hätte Godfrey die Einladung weder akzeptiert noch angenommen. Er und Marat konnten sich nicht ausstehen. Für Jane indes war es die ideale Gelegenheit, die Mitglieder »des anderen Lagers« kennen zu lernen, wie er sie bezeichnete. An Marats Tisch saßen der französische residierende Kommissar und einige seiner höheren Beamten.
In der nächsten halben Stunde war Jean-François Marat derart um Jane bemüht, dass es ihr schon peinlich wurde. Am Tisch wurde nur Französisch gesprochen, dennoch lenkte er die Unterhaltung wiederholt ins Englische; an einem Punkt tadelte er sogar die Anwesenden, als sie wieder einmal in eine schnell geführte Unterhaltung in ihrer Muttersprache abglitten.
»Wollen wir denn Madame Thackeray nicht ein wenig Höflichkeit erweisen?«, schlug er mit eisigem Lächeln und einem Tonfall vor, der den gesamten Tisch zum Schweigen brachte. Jean-François Marat war einer der mächtigsten Männer in der Kolonie, und auch der residierende Kommissar tanzte anscheinend nach seiner Pfeife.
»Bitte, Msieur Marat«, sagte sie mit Nachdruck und spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete, »lassen Sie sich durch mich nicht in der Unterhaltung stören. Im Übrigen«, fuhr sie fort und versuchte, den peinlichen Moment mit Lachen zu überbrücken, da aller Augen auf sie gerichtet waren, »ist es eine ausgezeichnete Übung für mich. Ich spreche ein wenig Schulfranzösisch«, gab sie zu, »so schrecklich es sich auch anhört, und ich muss wirklich lernen, um darin geübter zu werden, solange ich hier bin.«
»Unbedingt«, stimmte Jean-François ihr aalglatt zu, »aber es ist Ihr erster Abend in unserer Gesellschaft.« Den anderen am Tisch schenkte er keinerlei Beachtung, als wäre er mit Jane allein, und »unsere« Gesellschaft sollte »meine« heißen. Jane fand seine prüfenden Blicke höchst provozierend und beunruhigend.
»Ich habe die Absicht, mir jede Sprache anzueignen, die in Vila gesprochen wird, Msieur Marat«, sagte sie und wusste mit ihrem Blick nicht wohin. »Ich lerne gerade Bislama.«
»Ach, tatsächlich?« Es klang wie »wozu bloß?« Marat selbst beherrschte diese Sprache, was allerdings für die Kommunikation mit den Arbeitern auf seiner Plantage notwendig war. »Wie bewundernswert «, sagte er. Was für eine Zeitverschwendung, dachte er. Eine Frau, die so aussah wie Jane Thackeray, sollte sich nicht mit den Schwarzen abgeben.
Jean-François Marat hatte den Blick nicht von Jane abwenden können, seitdem sie am Arm des störenden alten Narren Godfrey Tomlinson ins Reids gekommen war. Das war also die Frau des neuen Missionsarztes. Er hatte schon gehört, dass sie hübsch war, doch sie war weit mehr als das, dachte er, nachdem er sie in angeregter Unterhaltung beobachtet hatte. Sie war erlesen. Helle Haare, blaue Augen, eine Haut wie Porzellan und ein Lächeln, frisch wie der junge Morgen. Jane Thackeray war eine englische Rose.
Nun, da sie an seinem Tisch saß und er sie mit den Augen verschlang, fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich mit ihrem freudlosen englischen Mann langweilen würde. Ein Missionsarzt? Unter dem Joch der Kirche für einen Hungerlohn arbeitend? So eine Frau hatte etwas viel Besseres verdient. Jedenfalls musste sie unweigerlich während der langen Abwesenheiten ihres Mannes nervös werden, und Jean-François war durchaus bereit abzuwarten. Er hatte so manche heimliche Affäre mit der Frau eines abwesenden Mannes gehabt. Es war nur eine Frage der Zeit, hatte er festgestellt, bis Frauen, die allein gelassen wurden, die Unruhe packte. Den Rest erledigten dann die Hitze und die Sinnlichkeit der Tropen.
»Ich freue mich sehr darauf, Dr. Thackeray kennen zu lernen«, sagte er zehn Minuten später, als Godfrey und Jane sich verabschiedeten. Wieder küsste er ihr die Hand, und wieder verlängerte er den Moment. »Wenn Ihr Mann zurückkommt, müssen Sie unbedingt ins Chanson de Mer zum Essen kommen«, beharrte er.
Er ließ ihre Hand nicht los, und Jane schaute ihn unverwandt an, nervös und unsicher.
»Mein Haus«, sagte er. »Der Name ist meine kleine Schwäche.« Er lächelte, und seine dunklen Augen waren anscheinend darauf aus, sie zu verführen. »Ich wohne direkt am Meer«, erklärte er mit weicher Stimme, als erzähle er ihr ein persönliches Geheimnis. »Und der Pazifik singt mir sein Lied. Sein ganz besonderes.«
»Vielen Dank für Ihre Einladung, Msieur Marat.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Au revoir, meine Herren«, sagte sie zu den anderen, die sich vom Tisch erhoben hatten.
»Vor Marat müssen Sie sich in Acht nehmen«, warnte Godfrey sie, als sie draußen vor dem Restaurant entlanggingen, »er kann gefährlich sein.« Er unterließ es, das abscheuliche Verhalten des Mannes zu erwähnen, denn er wollte sie nicht weiter in Verlegenheit bringen. Godfrey hatte Marats kaum verhohlene Begierde als verachtenswert und kränkend empfunden.
»Er ist einfach arrogant«, stimmte Jane ihm zu. Ihre Reaktion auf Marats Aufmerksamkeit war mehr als nur bloße Verlegenheit gewesen. Sie hatte ihn außerordentlich beunruhigend gefunden. Noch nie hatte sie jemand derart angestarrt, als wäre sie eine Art Beute. »Wer ist der Mann, Godfrey?«
»Er ist Plantagenbesitzer, sehr reich und sehr mächtig, und er hat die offiziellen Vertreter Frankreichs unter seiner Fuchtel. Marat besitzt die größte Kokosplantage auf der Insel, und er verwendet sein Geld auf jede nur denkbare korrupte Art und Weise. Ich würde vorschlagen, dass du und Martin ihm wohlweislich aus dem Weg geht.«
Ein paar Tage danach bestand Godfrey darauf, dass sie ihn auf einer Fahrt mit dem Pferdewagen begleitete. »Ich werde Ihnen das echte Efate zeigen«, sagte er. »Aber ich fürchte, Sie werden Ronnie bei Mary lassen müssen, ein Auslegerkanu ist nicht der sicherste Platz für ein Kind in seinem Alter.«
Bei dieser beunruhigenden Aussicht riss Jane die Augen weit auf, doch sie sagte nichts dagegen, was Godfrey über alle Maßen freute. Die ungepflasterten Straßen von Vila erstreckten sich nur ein paar Meilen nach Norden und Osten, und Godfrey hielt es für unsinnig, ein Motorfahrzeug zu besitzen. »Man kann nirgendwo hinfahren. Ein Pferdewagen ist entschieden vorzuziehen.«
Das Pferd, ein zuverlässiger, zwölfjähriger brauner Wallach namens Luke, ging im Schritt den Weg hinunter, und als sie am Fuß des Hügels ankamen, bogen sie in die Hauptstraße ein. Es war Montagmorgen, und in Vila herrschte reger Betrieb. Einheimische waren auf dem Weg zur Arbeit, Frauen in geblümten Kleidern, die unter den Inselbewohnerinnen üblich waren, und Männer in abgetragenen Shorts und Hemden, abgelegten Stücken von ihren kolonialen Arbeitgebern. Tonkinesische Arbeiter, Immigranten aus Indochina, unter breiten Strohhüten balancierten zwei Körbe an Schulterträgern, und am Lagerhaus der Firma Burns Philp & Company Ltd. schleppten einheimische Arbeiter Säcke mit Kopra, die auf Rollwagen von den Plantagen hergebracht worden waren, zu dem Schiff, das an der firmeneigenen Pier lag.
»Die allmächtige BP«, sagte Godfrey und zeigte auf das Firmenschild der Export-Firma. »Hier werden sie nur Die Bastarde vom Pazifik genannt. Im Grunde beherrscht Burns Philp die Wirtschaft auf diesen Inseln.«
Das Kopraboot legte alle paar Monate an, wenn eine Ladung abzuholen war. Seitdem die Sandelholzwälder abgeholzt waren, blieb Kopra, das getrocknete Nährgewebe der Kokosnuss, aus dem Seifen und Öle hergestellt wurden, eines der wichtigsten Exportgüter der Neuen Hebriden.
Jane hielt ihren breitrandigen Strohhut fest, während sie die Hauptstraße entlangfuhren. Godfrey gab dem Pferd die Zügel, und Luke fiel gehorsam in einen gemütlichen Trab, ohne sich von den Fahrzeugen beirren zu lassen, die an ihnen vorüberfuhren.
»Anfangs, als die Autos auftauchten«, erzählte Godfrey, »entstand ein ziemlicher Krach darüber, auf welcher Straßenseite sie fahren sollten, wieder ein Wettstreit zwischen Franzosen und Briten. Dann hat ein kluger Beamter vorgeschlagen, man solle doch die Augen offen halten, wenn der nächste Pferdewagen um die Ecke böge, und sich auf die Seite einigen, auf der er fuhr.«
»Offensichtlich haben die Franzosen gewonnen.« Jane lachte.
»Ja, zum Teufel mit ihnen!«
Die Straße hatte sich zu einem einfachen Weg verengt, als sie Malapoa Point erreichten, die nördliche Landspitze von Vilas Hafen, und bald schon fuhren sie an der geschwungenen Küste der Mele Bay entlang. Schließlich lenkte Godfrey den Pferdewagen auf einen Sandstrand gegenüber einer kleinen Koralleninsel, die nur wenige Hundert Meter entfernt war. Zwischen den Bäumen sah man die Hütten einer Eingeborenensiedlung.
»Das ist unser Ziel«, sagte er und bot Jane die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. »Mele Island.« Er winkte mit ausgestrecktem Arm, und kurz darauf sah Jane, wie ein Inselbewohner ein Auslegerkanu ins seichte Wasser schob. Während das Kanu von der Insel ablegte, beobachtete sie Godfrey, der zielstrebig seiner Arbeit nachging. Er spannte Luke aus und band ihn an einen Baum, füllte den großen Zinneimer aus dem Wasserbeutel - beides hatte er hinten auf dem Pferdewagen mitgenommen - und tränkte das Tier. Es war wie ein Ritual, dachte sie fasziniert. Diese Besuche auf Mele Island fanden offenbar regelmäßig statt.
Fünf Minuten später schob sich der Bug des Kanus auf den Strand, und der barfüßige Inselbewohner sprang heraus. Er war ein kräftiger junger Mann in den Zwanzigern. Er trug nur Shorts, die ihm viel zu groß waren und um den Bauch mit einem Seilende festgebunden waren. »Goffry!«, rief er lauthals, und die beiden Männer umamten sich und klopften sich gegenseitig auf die Arme. »Goffry!« Der Rest war für Jane Kauderwelsch. Bislama würde ihr hier nicht weiterhelfen, dachte sie; die beiden sprachen einen melanesischen Dialekt, noch dazu schnell.
Als die stürmische Begrüßung beendet war, stellte Godfrey sie vor.
»Fren blong mi Missus Thackeray«, sagte er in Bislama und trat zurück für die Aufführung, die nun folgen würde.
»Allo, Missus Tackry, aloo. Nem blong mi Rama.« Der Händedruck war kräftig und voller Begeisterung.
»Allo, Rama«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln.
»Goffry besfren blong mi«, sagte er.
»Yo, yo«, nickte sie heftigst zustimmend, »Goffry nambawan.«
»Welkam, Missus Tackry, welkam.«
»Tangkyu tumas, Rama.«
Nachdem sie sich gegenseitig ihre Freundschaft mit Godfrey bestätigt hatten, was für Rama hieß, dass nun auch er und Jane befreundet waren, hatte die offizielle Begrüßung ein Ende, und er schob das Kanu ins Wasser.
Godfrey schenkte Jane ein anerkennendes Lächeln. Ihre Begeisterung war perfekt gewesen; Lebhaftigkeit war immer der Schlüssel für eine solche Begegnung. Er hatte sie nicht vorgewarnt und ihr keinen besonderen Rat gegeben, wie sie sich zu verhalten hatte. »Es sind gute Menschen«, hatte er nur gesagt, »behandeln Sie sie so, wie sie Ihnen entgegenkommen.« Instinktiv hatte sie das Richtige getan. Godfrey war zufrieden.
Jane zog ihre Sandalen aus, und als sie feststellte, dass Godfrey, die Schuhe in der Hand, keinen Versuch unternahm, seine Hosenbeine aufzukrempeln, watete sie knietief ins Wasser, ohne auf ihren wadenlangen Rock zu achten.
Rama hielt das Boot fest, und sie kletterten vorsichtig hinein. Dann setzte er sich in die Mitte und begann zur Insel zu paddeln, wobei er die ganze Zeit in seiner melanesischen Sprache auf Godfrey einredete. Es war ein heißer Tag, die Luft war schwer und bedrohlich feucht. »Heute Abend gibt es ein Gewitter«, hatte Godfrey gesagt. Bisher aber gab es noch keine Anzeichen dafür. Der Himmel war wolkenlos, das Meer vom Wind nicht gekräuselt, und während sich das Kanu dem Sandstrand näherte, schaute Jane in das kristallklare Wasser und erblickte das Korallenriff unter ihr. Sie sah die unendliche Vielfalt der Farben, Formen und Muster der lebenden Korallen und die bunten, exotischen Fische, die in dem komplizierten Gewirr aus Winkeln und Spalten hin und her schossen. Unter ihnen lag eine Welt voller Leben. Am liebsten hätte sie sich über den Bootsrand gebeugt, um sie näher zu betrachten, doch sie wagte es nicht, da sie sich in dem leichten Boot sehr ausgesetzt vorkam.
»Können Sie schwimmen, Jane?« Godfrey war aufgefallen, wie fasziniert sie das Riff beobachtet hatte.
»O ja, gewiss. Ich schwimme gern.«
»Wenn wir das nächste Mal nach Mele Island kommen, nehme ich eine Taucherbrille für Sie mit. Sie werden da unten ein Märchenland vorfinden, das verspreche ich.«
»Das würde mir gefallen.«
Am Strand hatte sich eine Gruppe von etwa einem Dutzend Inselbewohnern versammelt, um sie willkommen zu heißen, als Godfrey und Jane an Land wateten.
Die Männer schlugen Godfrey freundschaftlich auf den Rücken und auf die Arme, die Frauen kicherten und reichten ihm die Hand, und die Kinder sprangen um ihn herum und zerrten an seiner Kleidung. Rama stellte Jane vor, und alle Inselbewohner gaben ihr die Hand. »Welkam, Missus Tackry, welkam«, sagten alle. Eine Bekannte von Goffry kennen zu lernen kam nicht oft vor und war ein besonderes Vergnügen.
Als die Gesellschaft sich geschlossen auf den Weg vom Strand ins Dorf machte, nahm ein kleines Mädchen Jane bei der Hand und führte sie mit strahlendem Lächeln über den Pfad. Diese Inbesitznahme war mehr, als die anderen Kinder vertragen konnten. Plötzlich war Jane umringt, jedes Kind ergriff einen Teil von ihr. Sie hängten sich zu mehreren an die andere Hand, zerrten an ihrem Rock, packten ihren Arm und schnatterten dabei aufgeregt, große braune Augen in freundlichen kleinen Gesichtern, die Jane anstrahlten. Jane war von jedem einzelnen Kind bezaubert, hielt jedoch die Hand des kleinen Mädchens fest, und sie tauschten ein verstohlenes Lächeln aus.
Die Bewohner von Mele Island waren eigentlich eine große Familie, und ihr Dorf war sehr klein, nur ein paar Bambushütten mit Strohdächern aus Sagopalmenblättern; die Wände bestanden aus natangora, einem Ge. echt aus Kokospalmen, Schraubenpalmen oder Zuckerrohrblättern. Sie konnten mit dem Wellblech der Europäer nicht viel anfangen, das überall erhältlich und bei den Einheimischen in den größeren Orten von Efate sehr beliebt war.
Als Godfrey und Jane mit ihrem Begrüßungskomitee eintrafen, winkten ihnen die Dorfbewohner, die auf ihren geflochtenen Matten vor den offenen Eingängen ihrer Hütten saßen, laut rufend zu. Godfrey winkte zurück, und diejenigen, die ihn vom Strand hierher be- gleitet hatten, blieben in respektvoller Entfernung stehen, während er sich der größten Hütte näherte.
Ein hoch aufgeschossener Mann mit grauem Haarschopf, der eine Handbreit von seinem Kopf abstand und wie ein ungeheuerlicher Schein wirkte, tauchte im Eingang auf. Mit Ende sechzig war er für einen Inselbewohner alt, aber offenbar bei bester Gesundheit.
»Goffry!«, rief er und breitete seine langen Arme weit aus. Wieder gab es ausführliches Schulterklopfen, als die beiden Männer sich auf Melanesisch begrüßten. Dann winkte Godfrey Jane hinzu.
»Brata blong mi Moli«, sagte er in Bislama, nachdem er sie dem großen Mann vorgestellt hatte.
»Welkam, Missus Tackry.« Moli schüttelte ihr die Hand.
»Tangkyu tumas, Moli«, erwiderte sie. Dass Godfrey den Mann als seinen Bruder bezeichnet hatte, sollte wohl eine respektvolle Geste sein.
Moli bestand darauf, dass Godfrey ihr das Dorf zeigte, und sie war zunächst etwas gehemmt. Sie wollte nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, denn die Männer waren offenbar gute Freunde.
Bestimmt wollten sie miteinander reden. Sie sagte es Godfrey.
»Moli ist der Dorfälteste und prahlt gern«, erwiderte Godfrey. »Er wäre entsetzlich gekränkt, wenn Sie sein Dorf nicht erkunden wollten.« »Sie haben ihn Ihren Bruder genannt«, sagte sie.
»Ja.« Er legte eine kurze Pause ein. »Er ist es eigentlich nicht.«
Jane lächelte und nahm an, dass er scherzte, doch Godfreys Miene war rätselhaft. »Er ist mein tawian.«
Sie schüttelte den Kopf. Offenbar prüfte er ihre Kenntnisse in Bislama, und die reichten so weit nicht.
»Mein Schwager.« Godfrey lächelte, als Jane der Mund offen stehen blieb. »Kommen Sie, Moli beobachtet uns. Wir sind sehr unhöflich, wenn wir hier herumstehen und Englisch reden.«
Eine Stunde lang wurde Jane eine faszinierende Einsicht in das Leben der Dorfbewohner gewährt. Sie sah Frauen zu, die das komplizierte natangora flochten, Männern, die einen Baumstamm aushöhlten, der ein Kanu werden sollte. Man zeigte ihr den stolzen Fang von jenem Morgen, einen riesigen Mahi-Mahi-Fisch, hellgelb und fast zwei Meter lang. Sie würden sich noch am selben Abend daran gütlich tun, nachdem sie ihn über einem offenen Feuer am Strand geröstet hatten. Dazu würde es gebackene Taros und Süßkartoffeln geben. Sie sah den Frauen zu, wie sie das Wurzelgemüse ausgruben und zubereiteten, und sie luden sie ein, zum Essen zu bleiben, doch sie erklärte, das sei nicht möglich. Sie habe ein pikinini, sagte sie, und sie müsse nach Hause. Sie zeigten sich sofort interessiert. Wie alt ihr pikinini sei? Junge oder Mädchen? Dann sagte eine Frau, ihr pikinini sei krank.
Wie krank?, erkundigte sich Jane.
»Sik long samting«, antwortete die Frau kopfschüttelnd, »mi no save.«
Jane tauschte einen Blick mit Godfrey. »Soem mi«, sagte sie zu der Frau. Dann folgten Godfrey und sie ihr zu einer Hütte am anderen Ende des Dorfes.
Ein Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren saß auf dem Boden, und neben ihr auf einer geflochtenen Matte lag ein Junge von fünf oder sechs Jahren. Sein Kopf ruhte im Schoß des Mädchens. Das Mädchen summte leise und strich dem Jungen über die Stirn, während er teilnahmslos vor sich hin starrte.
Jane kniete sich neben ihn, und das Mädchen warf seiner Mutter einen ängstlichen Blick zu. Die Mutter nickte, um zu zeigen, dass sie einverstanden war, und als Jane den Kopf des Kindes in die Hände nahm, rückte das Mädchen zur Seite.
Jane legte den Kopf des kleinen Jungen sanft auf die Matte und befühlte seine schweißnasse Stirn; er hatte hohes Fieber. Sie zog das Tuch ab, unter dem er lag, und legte ihr Ohr an seine bloße Brust, um die Lunge abzuhören. Er atmete schwer. Dann stützte sie ihn im Rücken ab und richtete ihn auf. Sie bat ihn zu husten.
»Olsem mi«, sagte sie, und sie hustete laut, um es ihm zu zeigen. Der Junge ahmte sie folgsam nach. Sein Husten war tief und keuchend. »Es ist eine Bronchitis«, sagte sie zu Godfrey. »Ich glaube nicht, dass es Lungenentzündung ist. Zumindest noch nicht«, fügte sie hinzu und schaute zweifelnd zu dem Strohdach der Hütte hoch. Heute Abend würde es ein Gewitter geben, hatte Godfrey gesagt. Das Kind durfte den Naturgewalten nicht ausgesetzt werden. »Meinen Sie, sie lassen zu, dass ich ihn mit nach Hause nehme?«, fragte sie.
»Ich halte das nicht für klug, Jane«, erwiderte Godfrey. Sie hatte keine Ahnung, was sie da machte. Wenn das Kind nun starb?
© S. Fischer Verlag
Übersetzung: Marion Balkenhol
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Autoren-Porträt von Judy Nunn
Judy Nunn ist eine der bekanntesten Schauspielerinnen Australiens und spielte Hauptrollen in zahlreichen TV-Serien. Auch als Bühnenschauspielerin machte sie sich in England und Australien einen Namen. Inzwischen ist sie als Romanautorin international erfolgreich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judy Nunn
- 2008, 573 Seiten, Masse: 12,2 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marion Balkenhol
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596168716
- ISBN-13: 9783596168712
- Erscheinungsdatum: 08.04.2008
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