Herzenskind
Roman
Willkommen in der Welt von Maeve Binchy, in der trotz aller Katastrophen Wärme und Lebensklugheit regieren! Noel lebt mit seiner Tochter Frankie in einer kleinen Wohnung in Dublin, die sie sich mit der Gestrandeten Lisa teilen. Noel versprach...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
Fr. 28.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Herzenskind “
Willkommen in der Welt von Maeve Binchy, in der trotz aller Katastrophen Wärme und Lebensklugheit regieren! Noel lebt mit seiner Tochter Frankie in einer kleinen Wohnung in Dublin, die sie sich mit der Gestrandeten Lisa teilen. Noel versprach Frankies Mutter auf dem Sterbebett, für ihre gemeinsame Tochter zu sorgen. Das Zusammenleben der drei klappt perfekt. Bis Moira auftaucht, eine übereifrige Sozialarbeiterin.
Klappentext zu „Herzenskind “
Die Eltern der kleinen Frankie sind nicht wie die Eltern anderer Kinder: Zwar ist Noel ihr leiblicher Vater, der ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprach, für die Tochter zu sorgen, Lisa aber ist eine Gestrandete, die sich mit Noel lediglich die Wohnung in Dublin teilt. Doch alle beide lieben das Kind von ganzem Herzen bis Moira auftaucht, eine übereifrige Sozialarbeiterin, die nicht glauben kann, dass Noel und Lisa Frankie ein echtes Heim bieten können. Heimlich hat sie sogar schon nach Adoptiveltern für die Kleine gesucht. Als Noel dies erfährt, droht er zu verzweifeln, doch dann stellt das Leben die Weichen noch einmal ganz neu auch für Moira
Lese-Probe zu „Herzenskind “
Herzenskind von Maeve BinchyKAPITEL 1
... mehr
Für Katie Finglas neigte sich ein anstrengender Arbeitstag dem Ende zu. Alles, was schiefgehen konnte, war schiefgegangen. Eine Kundin hatte ihnen nichts von ihrer Allergie gegen Färbemittel erzählt und war mit verfilztem Haar und roten Pusteln auf der Stirn aus dem Salon gestürmt. Eine Brautmutter hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen und sie beschimpft, dass sie mit der neuen Frisur wie eine Witzfigur aussehe. Ein junger Mann, der sich blonde Strähnen gewünscht hatte, war vollkommen ausgerastet, als er sich nach der Hälfte der Einwirkzeit erkundigte, was die Behandlung kostete. Und Katies Mann hatte einer sechzigjährigen Kundin arglos beide Hände auf die Schultern gelegt, um postwendend von ihr erklärt zu bekommen, dass sie ihn wegen sexueller Belästigung anzuzeigen gedenke.
Katie betrachtete den Mann, der vor ihr stand - ein beleibter Geistlicher mit blondem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar.
»Sie müssen Katie Finglas sein, und Ihnen gehört wohl dieses Etablissement hier«, sagte der Priester und sah sich nervös in dem harmlosen Frisiersalon um, als befände er sich in einem Edelbordell.
»Ganz recht, Father«, erwiderte Katie seufzend. Was gab es nun schon wieder?
»Äh, also, ich habe unten im Zentrum am Kai mit ein paar der Mädchen gesprochen, die hier bei Ihnen arbeiten, und sie haben mir erzählt ... «
Katie war unendlich müde. Sie beschäftigte in ihrem Salon tatsächlich mehrere Schulabgängerinnen, die sie anständig bezahlte und ausbildete. Worüber konnten sie sich bei einem Pfarrer beklagt haben?
»Ja, Father, und wo liegt das Problem?«, fragte sie.
Verlegen trat er von einem Bein auf das andere. »Tja, es gibt in der Tat ein kleines Problem, und deshalb dachte ich mir, ich wende mich direkt an Sie.«
»Sehr richtig, Father«, erwiderte Katie. »Dann verraten Sie mir doch mal, worum es geht.«
»Es geht um diese Frau, Stella Dixon. Sie liegt im Krankenhaus ...«
»Im Krankenhaus?«
Katie erschrak. Was hatte das zu bedeuten? Hatte die Frau vielleicht zu viel Wasserstoffsuperoxid inhaliert?
»Das tut mir leid.« Sie versuchte, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen.
»Ja, und diese Frau wünscht sich, dass jemand zu ihr kommt und ihr die Haare schneidet.«
»Sie meinen, sie hat trotz allem noch Vertrauen zu uns?« Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte.
»Äh, ich denke nicht, dass sie schon einmal hier war ... « Der Pfarrer schien verwirrt.
»Und was haben Sie mit alledem zu tun, Father?«
»Also, mein Name ist Brian Flynn, und ich vertrete zurzeit den Krankenhausseelsorger im St.-Brigid-Hospital, der auf Pilgerreise in Rom ist. Das ist das erste Mal, dass sich jemand mit einem wirklich ernsthaften Anliegen an mich wendet. Bisher wollten die Patienten immer nur, dass ich ihnen Zigaretten und Alkohol ins Krankenhaus schmuggle.«
»Sie wollen also, dass ich ins Krankenhaus fahre und dieser Frau die Haare schneide?«
»Sie ist schwer krank. Sie liegt im Sterben, und ich könnte mir vorstellen, dass sie jemanden zum Reden braucht, der schon ein wenig älter ist. Nein, nein, nicht dass Sie alt aussehen würden. Sie sind ja fast noch ein junges Mädchen«, wiegelte der Priester ab.
»Guter Gott, da haben die irischen Frauen aber einen herben Verlust erlitten, als Sie sich für das Priesteramt entschieden«, meinte Katie lachend. »Sagen Sie mir, um wen es sich handelt, und ich werde meine Trickkiste einpacken und diese Frau besuchen.«
»Vielen Dank, Ms. Finglas. Ich habe alles hier aufgeschrieben.« Father Flynn reichte ihr einen Zettel.
In dem Moment näherte sich eine Frau mittleren Alters dem Verkaufstresen. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und sie wirkte ein wenig unsicher.
»Aha, Sie bringen den Leuten also Tricks bei, was sie mit ihren Haaren machen sollen«, sagte sie.
»Ja, auch, aber wir bezeichnen das, was wir tun, lieber als Kunst«, antwortete Katie.
»Meine Nichte aus Amerika ist für ein paar Wochen zu Besuch bei uns. Sie hat mir erzählt, dass es in Amerika Läden gibt, wo man sich für fast umsonst die Haare schneiden lassen kann, wenn man als Modell den Kopf hinhält.«
»Nun, wir haben ein spezielles Angebot für Schüler und Studenten am Dienstagabend nach Ladenschluss. Die Kunden bringen ihre eigenen Handtücher mit, und wir schneiden ihnen die Haare. Normalerweise spenden sie fünf Euro für einen guten Zweck.«
»Heute ist Dienstag!«, sagte die Frau triumphierend. Katie seufzte innerlich. »So ist es.«
»Also, könnte ich einen Termin bekommen? Mein Name ist Josie Lynch.«
»Sehr gern, Mrs. Lynch. Dann bis sieben Uhr«, sagte Katie und notiert sich den Namen.
Als sie aufschaute, traf sich Katies Blick mit dem des Priesters, der sie voller Mitgefühl und Verständnis ansah.
Einen eigenen Frisiersalon zu leiten war kein Honigschlecken.
Josie und Charles Lynch hatten seit ihrer Hochzeit vor zweiunddreißig Jahren im St. Jarlath's Crescent Nummer dreiundzwanzig gewohnt und in dieser Zeit viele Veränderungen im Viertel miterlebt. Der Tante-Emma-Laden um die Ecke hatte sich in einen Mini-Supermarkt verwandelt, und die alte Wäscherei, in die man früher die Bettwäsche zum Bügeln und Zusammenlegen gebracht hatte, war nun ein moderner Waschsalon, in dem die Leute unförmige Tüten voller Schmutzwäsche ablieferten. Wo früher der alte Dr. Gillespie praktizierte - er hatte fast alle Geburten und Todesfälle im Viertel betreut - , hatte jetzt eine Gemeinschaftspraxis mit vier Ärzten eröffnet. Zu Zeiten des wirtschaftlichen Booms hatten die Immobilien im St. Jarlath's Crescent für schwindelerregende Summen die Besitzer gewechselt. Kleinere Häuser mit Gärten in Citynähe waren sehr gefragt gewesen. Jetzt natürlich nicht mehr - die Rezession hatte sich als großer Gleichmacher erwiesen, auch wenn das Stadtviertel noch immer bedeutend besser dastand als vor dreißig Jahren.
Man brauchte sich nur Molly und Paddy Carroll mit ihrem Sohn Declan ansehen. Der war jetzt Arzt, ein richtiger, echter Doktor! Und dann Muttie und Lizzy Scarlets Tochter Cathy. Sie betrieb eine Catering-Firma, die Top-Events ausrichtete.
Doch vieles hatte sich auch zum Schlechteren gewendet. Heutzutage gab es keinen Gemeinschaftssinn und keine kirchlichen Prozessionen mehr, wie sie noch vor drei Jahrzehnten an Fronleichnam den Crescent auf und ab gezogen waren. Wenn Josie und Charles Lynch sich abends hinknieten und den Rosenkranz beteten, hatten sie das Gefühl, die Einzigen auf dieser Welt zu sein, die das taten - und ganz gewiss im St. Jarlath's Crescent.
So war das immer schon gewesen.
Bei ihrer Hochzeit hatten sie sich vorgestellt, ein Leben nach dem Grundsatz zu führen, dass eine Familie, die gemeinsam betet, auch stets zusammenhält. Sie hatten mit mindestens acht oder neun Kindern gerechnet, da Gott nie ein Wesen in die Welt setzt, das er nicht ernähren kann. Doch es kam alles anders. Nach Noels Geburt hatte man Josie eröffnet, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen könne. Das war nur schwer zu akzeptieren gewesen. Sie und Charles entstammten beide großen Familien, und ihre Geschwister hatten alle viele Kinder in die Welt gesetzt. Doch vielleicht sollte es so sein.
Josie und Charles hatten immer gehofft, dass ihr Sohn Noel eines Tages Priester werden würde. Noch vor seinem dritten Geburtstag hatten sie begonnen, einen Teil von Josies Lohn in der Keksfabrik abzuzweigen und für das Priesterseminar auf die Seite zu legen. Jede Woche sammelte sich ein wenig mehr auf dem Konto bei der Post an, und sobald Charles am Freitag seine Lohntüte von dem Hotel bekam, in dem er als Portier arbeitete, wurde davon ebenfalls eine bestimmte Summe bei dem Postamt eingezahlt. Wenn die Zeit gekommen war, sollte Noel die beste Ausbildung erhalten.
Deshalb war es eine große Überraschung und eine herbe Enttäuschung für die Eltern, als sie erfuhren, dass ihr schweigsamer Sohn keinerlei Interesse an einem Leben in Gott zeigte. Die Patres an seiner Schule erklärten ihnen, keinerlei Anzeichen für eine Berufung an ihm feststellen zu können. Auf ihren entsprechenden Vorschlag hin habe Noel geantwortet, dass ein Priesteramt auf keinen Fall für ihn in Frage käme, und sei dies der letzte Job auf Erden. Da war er gerade mal vierzehn Jahre alt gewesen.
Deutlicher hatte er sich wohl nicht ausdrücken können. Weniger deutlich war Noel jedoch in Bezug auf das, was er tatsächlich machen wollte. Er blieb vage und meinte lediglich, dass es ihm gefallen könne, ein Büro zu leiten. Nicht in einem zu arbeiten, wohlgemerkt, es zu leiten. Dabei zeigte er nicht das geringste Interesse, Büromanagement, Buchführung, Rechnungswesen oder sonst etwas zu studieren, was die Berufsberatung beim Arbeitsamt ihm schmackhaft zu machen versuchte. Er mochte Kunst, aber Maler wollte er auch nicht werden, und erst auf mehrmalige Nachfrage erklärte er, dass er sich gern Gemälde anschaue und darüber nachdenke. Er war ein recht begabter Zeichner und führte stets einen Block und einen Bleistift bei sich; oft konnte man ihn dabei beobachten, wie er sich in eine ruhige Ecke zurückzog und ein Gesicht oder ein Tier skizzierte. Selbstverständlich mündete auch diese Vorliebe nicht in einer beruflichen Laufbahn, doch dies war auch nie Noels Intention gewesen. Seine Hausaufgaben erledigte er nebenbei am Küchentisch, hin und wieder laut seufzend, aber selten besonders engagiert oder begeistert. Beim Elternsprechtag hatten Josie und Charles dieses Thema einmal angesprochen und wissen wollen, ob es denn wenigstens in der Schule etwas gebe, für das der Junge sich begeisterte.
Doch sogar die Lehrer wussten sich nicht mehr zu helfen. Die meisten Jungen im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren stellten ihre Umwelt vor ein Rätsel, aber irgendwann waren alle ihre Schüler wieder zu Sinnen gekommen und hatten begonnen, etwas Vernünftiges zu tun. Oder auch nicht. Noel Lynch war nur noch schweigsamer und introvertierter als bisher schon, wie sie den Eltern erklärten.
Josie und Charles quälten sich mit Zweifeln.
Gewiss, Noel war ein ruhiger Junge, und im Grunde waren sie erleichtert gewesen, dass er nie Horden lauter junger Burschen ins Haus geschleppt hatte, die sich gegenseitig verprügelten. Aber sie hatten dies als Ausdruck seines spirituellen Lebens angesehen, sozusagen als Vorbereitung auf eine Zukunft als Priester. Nun schienen sie einsehen zu müssen, dass dies definitiv nicht der Fall war.
Vielleicht war es die Ordensausrichtung der Brüder, die Noel nicht lag. Vielleicht fühlte er eine andere Berufung in sich und wollte lieber Jesuit oder Missionar werden, wie Josie in ihrer Verzweiflung mutmaßte.
Offenbar jedoch nicht.
Als Noel fünfzehn Jahre alt war, verkündete er, dass er auf keinen Fall weiterhin mit der Familie den Rosenkranz beten wolle; dies sei lediglich ein sinnentleertes, in endloser Wiederholung vor sich hingeplappertes Ritual. Er habe nichts dagegen, Gutes zu tun und zu versuchen, Menschen zu helfen, die weniger Glück im Leben hatten, aber gewiss würde kein Gott verlangen, fünfzehn Minuten lang belanglose Silben herunterzuleiern.
Als ihr Sohn sechzehn Jahre alt wurde, mussten Josie und Charles feststellen, dass er sonntags nicht länger den Gottesdienst besuchte. Er war unten am Kanal gesehen worden, als er eigentlich in der Frühmesse in der Kirche um die Ecke hätte sein sollen. Und schließlich erklärte Noel den Eltern, dass er keinen Sinn mehr darin sehe, weiterhin zur Schule zu gehen, da er dort nichts mehr lernen könne. Bei Hall's stelle man gerade Personal ein, und man würde ihn dort zum Bürokaufmann ausbilden. Statt noch länger Zeit mit der Schule zu verlieren, könne er ebenso gut gleich zu arbeiten anfangen.
Die Patres und Lehrer an Noels Schule bedauerten es sehr, wieder einen Schüler ohne qualifizierten Abschluss zu verlieren, aber noch immer wollte es ihnen nicht gelingen, den Jungen für irgendetwas zu begeistern, wie sie den Eltern erklärten. Er schien nur sehnsüchtig darauf zu warten, dass der Schultag zu Ende ging. Vielleicht war es sogar zu seinem Besten, wenn er die Schule verließ und bei Hall's, dem großen Baustoffhändler, eine Stellung annahm und jede Woche regelmäßig sein Geld bekam. Dann würde man schon sehen, wo seine Interessen lagen.
Traurig dachten Josie und Charles an das kleine Vermögen, das sich im Lauf der Jahre auf dem Sparkonto bei der Post angesammelt hatte. Nie würde dieses Geld ausgegeben werden, um Noel Lynch zum Priester auszubilden. Ein mitfühlender Pater schlug vor, dass sie sich damit einen Urlaub gönnen sollten, aber Charles und Josie wiegelten schockiert ab. Sie hatten dieses Geld gespart, um Gottes Werk zu unterstützen, und dafür würden sie es auch ausgeben.
Noel bekam den Ausbildungsplatz bei Hall's, doch auch dort gestaltete sich sein Kontakt zu seinen Arbeitskollegen eher zurückhaltend. Noel befreundete sich mit niemandem. Er legte es aber auch nicht darauf an, ständig allein zu sein. Allerdings war es so oft einfacher.
In den folgenden Jahren hatte Noel sich mit seiner Mutter darauf geeinigt, an den gemeinsamen Familienmahlzeiten nicht mehr teilzunehmen. Mittags aß er in der Firma, und abends nahm er nur noch einen kleinen Imbiss zu sich, den er sich selbst zubereitete. So ging er nicht nur dem Rosenkranzbeten aus dem Weg, sondern auch frommen Nachbarn und neugierigen Nachfragen darüber, womit er seinen Tag verbracht habe - dem üblichen Gesprächsthema am Essenstisch der Familie Lynch.
Noel gewöhnte es sich an, jeden Tag später nach Hause zu kommen, und war bald Stammgast in Casey's Pub, wo er auf dem Heimweg immer einkehrte. In dem großen Lokal konnte er in der anonymen Menge untertauchen und fühlte sich dennoch geborgen. Hier war er kein Fremder, da ihn alle beim Namen kannten.
»Hey, Noel, altes Haus«, schallte ihm schon an der Tür die Begrüßung durch den Sohn des Hauses entgegen.
Der alte Casey, der wenig sprach, aber alles sah, linste über seine Brillengläser zu ihm hinüber, während er mit einem sauberen Leinentuch die Biergläser polierte.
»'n Abend, Noel.« Unter der routinierten Höflichkeit des Wirts klang die Missbilligung durch, die er für Noel empfand. Schließlich kannte er Noels Vater gut. Einerseits schien der Wirt in ihm das Geld nicht zu verachten, das Noel für sein Bier - oder mehrere Biere - bei Casey's ließ, andererseits schien er enttäuscht, dass der junge Mann nicht vernünftiger mit seinem Lohn wirtschaftete. Aber Noel gefiel es hier. Es war ein altmodisches Pub mit moderaten Preisen und ohne Grüppchen kichernder Mädchen, die einen Mann beim Biertrinken störten. Hier hatte man seine Ruhe.
Und das war viel wert.
Als Noel an diesem Abend nach Haus kam, f el ihm sofort auf, dass seine Mutter irgendwie anders aussah. Er vermochte jedoch nicht gleich zu sagen, woran es lag. Sie hatte das rote Strickkostüm an, das sie nur zu besonderen Gelegenheiten aus dem Schrank holte. In der Keksfabrik musste sie eine Uniform tragen, was ihr ganz recht war, da sie so ihre guten Sachen schonen konnte. Noels Mutter war nicht geschminkt, also lag es daran auch nicht.
Schließlich bemerkte Noel, dass ihr Haar anders aussah. Seine Mutter war beim Friseur gewesen.
»Du hast ja einen neuen Haarschnitt, Mam! «, sagte er. Zufrieden nickte Josie Lynch. »Das haben sie dieses Mal gut hingekriegt, nicht wahr?« Sie hörte sich an, als ginge sie regelmäßig zum Friseur.
»Sieht hübsch aus, Mam«, erwiderte er.
»Willst du Tee? Ich mache rasch Wasser heiß«, erbot sie sich. »Nein, Mam, ist schon in Ordnung.«
Noel konnte es kaum erwarten, die Küche zu verlassen und sich in die Sicherheit seines Zimmers zu flüchten. Und dann fiel ihm ein, dass für den nächsten Tag der Besuch seiner Cousine Emily aus Amerika angekündigt war. Seine Mutter bereitete sich also auf ihre Ankunft vor. Diese Emily wollte offenbar einige Wochen bleiben. Bisher war noch nicht entschieden, wie lange ... Noel hatte sich nicht sehr mit diesem Besuch auseinandergesetzt, sondern lediglich getan, was unumgänglich war. Er hatte seinem Vater geholfen, Emilys Zimmer zu streichen und die Abstellkammer im Erdgeschoss auszuräumen, in der sie die Wände gefliest und eine Dusche eingebaut hatten. Noel wusste nicht viel über seine Cousine; sie war schon ein wenig älter, in den Fünfzigern vielleicht, und die einzige Tochter des ältesten Bruders seines Vaters, Martin. Sie hatte als Kunsterzieherin gearbeitet, aber unerwartet ihre Anstellung verloren und wollte nun mit ihrem Ersparten die Welt bereisen. Ihre erste Etappe war Dublin. Von hier aus war ihr Vater vor vielen Jahren aufgebrochen, um in Amerika sein Glück zu machen.
Viel Glück war ihm nicht beschieden gewesen, vor allem nicht in materieller Hinsicht, wie Charles zu erzählen wusste. Der älteste Sohn der Familie hatte zuletzt in einer Bar gearbeitet, wo er selbst sein bester Kunde war, und sich nie mehr bei seiner Familie gemeldet. Jedes Jahr zu Weihnachten hatte Emily die Karten geschrieben, und sie war es auch, die sie vor Jahren über den Tod ihres Vaters und schließlich über den ihrer Mutter informiert hatte. In nüchternem Tonfall ließ sie nun ihre Verwandten wissen, dass sie selbstverständlich gedenke, sich während ihres Aufenthalts in Dublin an den Haushaltsausgaben zu beteiligen. Dies sei ihr auch ohne weiteres möglich, da sie beabsichtige, ihr kleines New Yorker Apartment in der Zeit ihrer Abwesenheit zu vermieten. Außerdem sei sie als rücksichtsvoll und zurückhaltend bekannt, wie sie Josie und Charles versicherte, und würde ihnen bestimmt nicht auf die Nerven gehen oder gar von ihnen unterhalten werden wollen. Sie wisse sich schon zu beschäftigen.
Noel seufzte.
Wie immer würden seine Mutter und sein Vater dieses banale Ereignis in höchsten Tönen dramatisieren. Die Frau hätte noch nicht den Fuß über die Türschwelle gesetzt, wüsste sie bereits alles über seine großartige Karriere bei Hall's, über die Tätigkeit seiner Mutter in der Keksfabrik und über die gewichtige Rolle, die sein Vater als dienstältester Portier in dem großen Hotel spielte, in dem er arbeitete. Man würde sie umgehend über den Verfall der moralischen Werte in Irland, die mangelnde Beteiligung an der Sonntagsmesse und über das exzessive Komasaufen aufklären, das jedes Wochenende die Ambulanzen der Krankenhäuser mit Alkoholleichen überschwemmte. Und ganz sicher würden sie Emily auffordern, gemeinsam mit ihnen den Rosenkranz zu beten.
Noels Mutter hatte bereits lange Zeit unschlüssig hin und her überlegt, ob sie ein Bild des Heiligsten Herzens Jesu oder doch lieber das von Unserer lieben Mutter von der Immerwährenden Hilfe in das frisch gestrichene Zimmer hängen sollte. Immerhin hatte Noel es mit seinem Vorschlag, bis zu Emilys Ankunft zu warten, geschafft, jede weitere Diskussion dieses schrecklichen Themas zu unterbinden.
»Sie hat Kunst unterrichtet an der Schule, Mam. Vielleicht bringt sie ja ihre eigenen Bilder mit«, hatte er gesagt, und zu seinem Erstaunen hatte sich seine Mutter sofort umstimmen lassen.
»Du hast recht, Noel. Ich weiß, ich neige dazu, immer alles regeln zu wollen. Aber ich freue mich schon darauf, wenn eine Frau im Haus ist, mit der ich auch mal solche Dinge besprechen kann.«
Noel konnte nur hoffen, dass seine Mutter recht hatte und dass diese Frau nicht ihr häusliches Leben durcheinanderwirbeln würde. Es standen ohnehin einige Veränderungen bevor. In ein, zwei Jahren würde sein Vater in Rente gehen. Seine Mutter hatte in der Keksfabrik zwar noch ein paar Jahre vor sich, aber auch sie überlegte bereits, baldmöglichst aufzuhören und Charles dabei zu unterstützen, gute Werke zu tun. Noel hoffte, dass Emily ihr Leben vereinfachen und nicht verkomplizieren würde.
Aber meistens dachte er kaum an den bevorstehenden Besuch. Dies war generell Noels Art der Lebensbewältigung: sich nur nicht allzu viele Gedanken machen - nicht über seinen Job bei Hall' s, der ihm keinerlei Aufstiegschancen bot; nicht über die vielen Stunden, die er in Old Man Casey's Pub verbrachte, und das viele Geld, das er dort versoff; nicht über den religiösen Wahn seiner Eltern, die im Rosenkranzgebet die Antwort auf alle Probleme dieser Welt sahen. Ebenso blendete Noel einfach aus, dass er keine feste Freundin hatte. Er hatte bisher eben noch nicht die Richtige kennengelernt, das war alles. Auch der Mangel an Freunden generell bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Es gab Orte, an denen man leicht Freundschaften schließen konnte; Hall's Baustoffhandlung zählte gewiss nicht dazu. Die beste Art, mit unbefriedigenden Lebensumständen umzugehen, bestand darin, sie einfach zu ignorieren. Und bisher hatte Noel mit seiner Einstellung Erfolg gehabt.
Warum etwas reparieren wollen, das nicht kaputt war?
...
Übersetzung: Gabriela Schönberger
© 2012 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Für Katie Finglas neigte sich ein anstrengender Arbeitstag dem Ende zu. Alles, was schiefgehen konnte, war schiefgegangen. Eine Kundin hatte ihnen nichts von ihrer Allergie gegen Färbemittel erzählt und war mit verfilztem Haar und roten Pusteln auf der Stirn aus dem Salon gestürmt. Eine Brautmutter hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen und sie beschimpft, dass sie mit der neuen Frisur wie eine Witzfigur aussehe. Ein junger Mann, der sich blonde Strähnen gewünscht hatte, war vollkommen ausgerastet, als er sich nach der Hälfte der Einwirkzeit erkundigte, was die Behandlung kostete. Und Katies Mann hatte einer sechzigjährigen Kundin arglos beide Hände auf die Schultern gelegt, um postwendend von ihr erklärt zu bekommen, dass sie ihn wegen sexueller Belästigung anzuzeigen gedenke.
Katie betrachtete den Mann, der vor ihr stand - ein beleibter Geistlicher mit blondem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar.
»Sie müssen Katie Finglas sein, und Ihnen gehört wohl dieses Etablissement hier«, sagte der Priester und sah sich nervös in dem harmlosen Frisiersalon um, als befände er sich in einem Edelbordell.
»Ganz recht, Father«, erwiderte Katie seufzend. Was gab es nun schon wieder?
»Äh, also, ich habe unten im Zentrum am Kai mit ein paar der Mädchen gesprochen, die hier bei Ihnen arbeiten, und sie haben mir erzählt ... «
Katie war unendlich müde. Sie beschäftigte in ihrem Salon tatsächlich mehrere Schulabgängerinnen, die sie anständig bezahlte und ausbildete. Worüber konnten sie sich bei einem Pfarrer beklagt haben?
»Ja, Father, und wo liegt das Problem?«, fragte sie.
Verlegen trat er von einem Bein auf das andere. »Tja, es gibt in der Tat ein kleines Problem, und deshalb dachte ich mir, ich wende mich direkt an Sie.«
»Sehr richtig, Father«, erwiderte Katie. »Dann verraten Sie mir doch mal, worum es geht.«
»Es geht um diese Frau, Stella Dixon. Sie liegt im Krankenhaus ...«
»Im Krankenhaus?«
Katie erschrak. Was hatte das zu bedeuten? Hatte die Frau vielleicht zu viel Wasserstoffsuperoxid inhaliert?
»Das tut mir leid.« Sie versuchte, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen.
»Ja, und diese Frau wünscht sich, dass jemand zu ihr kommt und ihr die Haare schneidet.«
»Sie meinen, sie hat trotz allem noch Vertrauen zu uns?« Schon seltsam, wie das Leben manchmal spielte.
»Äh, ich denke nicht, dass sie schon einmal hier war ... « Der Pfarrer schien verwirrt.
»Und was haben Sie mit alledem zu tun, Father?«
»Also, mein Name ist Brian Flynn, und ich vertrete zurzeit den Krankenhausseelsorger im St.-Brigid-Hospital, der auf Pilgerreise in Rom ist. Das ist das erste Mal, dass sich jemand mit einem wirklich ernsthaften Anliegen an mich wendet. Bisher wollten die Patienten immer nur, dass ich ihnen Zigaretten und Alkohol ins Krankenhaus schmuggle.«
»Sie wollen also, dass ich ins Krankenhaus fahre und dieser Frau die Haare schneide?«
»Sie ist schwer krank. Sie liegt im Sterben, und ich könnte mir vorstellen, dass sie jemanden zum Reden braucht, der schon ein wenig älter ist. Nein, nein, nicht dass Sie alt aussehen würden. Sie sind ja fast noch ein junges Mädchen«, wiegelte der Priester ab.
»Guter Gott, da haben die irischen Frauen aber einen herben Verlust erlitten, als Sie sich für das Priesteramt entschieden«, meinte Katie lachend. »Sagen Sie mir, um wen es sich handelt, und ich werde meine Trickkiste einpacken und diese Frau besuchen.«
»Vielen Dank, Ms. Finglas. Ich habe alles hier aufgeschrieben.« Father Flynn reichte ihr einen Zettel.
In dem Moment näherte sich eine Frau mittleren Alters dem Verkaufstresen. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und sie wirkte ein wenig unsicher.
»Aha, Sie bringen den Leuten also Tricks bei, was sie mit ihren Haaren machen sollen«, sagte sie.
»Ja, auch, aber wir bezeichnen das, was wir tun, lieber als Kunst«, antwortete Katie.
»Meine Nichte aus Amerika ist für ein paar Wochen zu Besuch bei uns. Sie hat mir erzählt, dass es in Amerika Läden gibt, wo man sich für fast umsonst die Haare schneiden lassen kann, wenn man als Modell den Kopf hinhält.«
»Nun, wir haben ein spezielles Angebot für Schüler und Studenten am Dienstagabend nach Ladenschluss. Die Kunden bringen ihre eigenen Handtücher mit, und wir schneiden ihnen die Haare. Normalerweise spenden sie fünf Euro für einen guten Zweck.«
»Heute ist Dienstag!«, sagte die Frau triumphierend. Katie seufzte innerlich. »So ist es.«
»Also, könnte ich einen Termin bekommen? Mein Name ist Josie Lynch.«
»Sehr gern, Mrs. Lynch. Dann bis sieben Uhr«, sagte Katie und notiert sich den Namen.
Als sie aufschaute, traf sich Katies Blick mit dem des Priesters, der sie voller Mitgefühl und Verständnis ansah.
Einen eigenen Frisiersalon zu leiten war kein Honigschlecken.
Josie und Charles Lynch hatten seit ihrer Hochzeit vor zweiunddreißig Jahren im St. Jarlath's Crescent Nummer dreiundzwanzig gewohnt und in dieser Zeit viele Veränderungen im Viertel miterlebt. Der Tante-Emma-Laden um die Ecke hatte sich in einen Mini-Supermarkt verwandelt, und die alte Wäscherei, in die man früher die Bettwäsche zum Bügeln und Zusammenlegen gebracht hatte, war nun ein moderner Waschsalon, in dem die Leute unförmige Tüten voller Schmutzwäsche ablieferten. Wo früher der alte Dr. Gillespie praktizierte - er hatte fast alle Geburten und Todesfälle im Viertel betreut - , hatte jetzt eine Gemeinschaftspraxis mit vier Ärzten eröffnet. Zu Zeiten des wirtschaftlichen Booms hatten die Immobilien im St. Jarlath's Crescent für schwindelerregende Summen die Besitzer gewechselt. Kleinere Häuser mit Gärten in Citynähe waren sehr gefragt gewesen. Jetzt natürlich nicht mehr - die Rezession hatte sich als großer Gleichmacher erwiesen, auch wenn das Stadtviertel noch immer bedeutend besser dastand als vor dreißig Jahren.
Man brauchte sich nur Molly und Paddy Carroll mit ihrem Sohn Declan ansehen. Der war jetzt Arzt, ein richtiger, echter Doktor! Und dann Muttie und Lizzy Scarlets Tochter Cathy. Sie betrieb eine Catering-Firma, die Top-Events ausrichtete.
Doch vieles hatte sich auch zum Schlechteren gewendet. Heutzutage gab es keinen Gemeinschaftssinn und keine kirchlichen Prozessionen mehr, wie sie noch vor drei Jahrzehnten an Fronleichnam den Crescent auf und ab gezogen waren. Wenn Josie und Charles Lynch sich abends hinknieten und den Rosenkranz beteten, hatten sie das Gefühl, die Einzigen auf dieser Welt zu sein, die das taten - und ganz gewiss im St. Jarlath's Crescent.
So war das immer schon gewesen.
Bei ihrer Hochzeit hatten sie sich vorgestellt, ein Leben nach dem Grundsatz zu führen, dass eine Familie, die gemeinsam betet, auch stets zusammenhält. Sie hatten mit mindestens acht oder neun Kindern gerechnet, da Gott nie ein Wesen in die Welt setzt, das er nicht ernähren kann. Doch es kam alles anders. Nach Noels Geburt hatte man Josie eröffnet, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen könne. Das war nur schwer zu akzeptieren gewesen. Sie und Charles entstammten beide großen Familien, und ihre Geschwister hatten alle viele Kinder in die Welt gesetzt. Doch vielleicht sollte es so sein.
Josie und Charles hatten immer gehofft, dass ihr Sohn Noel eines Tages Priester werden würde. Noch vor seinem dritten Geburtstag hatten sie begonnen, einen Teil von Josies Lohn in der Keksfabrik abzuzweigen und für das Priesterseminar auf die Seite zu legen. Jede Woche sammelte sich ein wenig mehr auf dem Konto bei der Post an, und sobald Charles am Freitag seine Lohntüte von dem Hotel bekam, in dem er als Portier arbeitete, wurde davon ebenfalls eine bestimmte Summe bei dem Postamt eingezahlt. Wenn die Zeit gekommen war, sollte Noel die beste Ausbildung erhalten.
Deshalb war es eine große Überraschung und eine herbe Enttäuschung für die Eltern, als sie erfuhren, dass ihr schweigsamer Sohn keinerlei Interesse an einem Leben in Gott zeigte. Die Patres an seiner Schule erklärten ihnen, keinerlei Anzeichen für eine Berufung an ihm feststellen zu können. Auf ihren entsprechenden Vorschlag hin habe Noel geantwortet, dass ein Priesteramt auf keinen Fall für ihn in Frage käme, und sei dies der letzte Job auf Erden. Da war er gerade mal vierzehn Jahre alt gewesen.
Deutlicher hatte er sich wohl nicht ausdrücken können. Weniger deutlich war Noel jedoch in Bezug auf das, was er tatsächlich machen wollte. Er blieb vage und meinte lediglich, dass es ihm gefallen könne, ein Büro zu leiten. Nicht in einem zu arbeiten, wohlgemerkt, es zu leiten. Dabei zeigte er nicht das geringste Interesse, Büromanagement, Buchführung, Rechnungswesen oder sonst etwas zu studieren, was die Berufsberatung beim Arbeitsamt ihm schmackhaft zu machen versuchte. Er mochte Kunst, aber Maler wollte er auch nicht werden, und erst auf mehrmalige Nachfrage erklärte er, dass er sich gern Gemälde anschaue und darüber nachdenke. Er war ein recht begabter Zeichner und führte stets einen Block und einen Bleistift bei sich; oft konnte man ihn dabei beobachten, wie er sich in eine ruhige Ecke zurückzog und ein Gesicht oder ein Tier skizzierte. Selbstverständlich mündete auch diese Vorliebe nicht in einer beruflichen Laufbahn, doch dies war auch nie Noels Intention gewesen. Seine Hausaufgaben erledigte er nebenbei am Küchentisch, hin und wieder laut seufzend, aber selten besonders engagiert oder begeistert. Beim Elternsprechtag hatten Josie und Charles dieses Thema einmal angesprochen und wissen wollen, ob es denn wenigstens in der Schule etwas gebe, für das der Junge sich begeisterte.
Doch sogar die Lehrer wussten sich nicht mehr zu helfen. Die meisten Jungen im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren stellten ihre Umwelt vor ein Rätsel, aber irgendwann waren alle ihre Schüler wieder zu Sinnen gekommen und hatten begonnen, etwas Vernünftiges zu tun. Oder auch nicht. Noel Lynch war nur noch schweigsamer und introvertierter als bisher schon, wie sie den Eltern erklärten.
Josie und Charles quälten sich mit Zweifeln.
Gewiss, Noel war ein ruhiger Junge, und im Grunde waren sie erleichtert gewesen, dass er nie Horden lauter junger Burschen ins Haus geschleppt hatte, die sich gegenseitig verprügelten. Aber sie hatten dies als Ausdruck seines spirituellen Lebens angesehen, sozusagen als Vorbereitung auf eine Zukunft als Priester. Nun schienen sie einsehen zu müssen, dass dies definitiv nicht der Fall war.
Vielleicht war es die Ordensausrichtung der Brüder, die Noel nicht lag. Vielleicht fühlte er eine andere Berufung in sich und wollte lieber Jesuit oder Missionar werden, wie Josie in ihrer Verzweiflung mutmaßte.
Offenbar jedoch nicht.
Als Noel fünfzehn Jahre alt war, verkündete er, dass er auf keinen Fall weiterhin mit der Familie den Rosenkranz beten wolle; dies sei lediglich ein sinnentleertes, in endloser Wiederholung vor sich hingeplappertes Ritual. Er habe nichts dagegen, Gutes zu tun und zu versuchen, Menschen zu helfen, die weniger Glück im Leben hatten, aber gewiss würde kein Gott verlangen, fünfzehn Minuten lang belanglose Silben herunterzuleiern.
Als ihr Sohn sechzehn Jahre alt wurde, mussten Josie und Charles feststellen, dass er sonntags nicht länger den Gottesdienst besuchte. Er war unten am Kanal gesehen worden, als er eigentlich in der Frühmesse in der Kirche um die Ecke hätte sein sollen. Und schließlich erklärte Noel den Eltern, dass er keinen Sinn mehr darin sehe, weiterhin zur Schule zu gehen, da er dort nichts mehr lernen könne. Bei Hall's stelle man gerade Personal ein, und man würde ihn dort zum Bürokaufmann ausbilden. Statt noch länger Zeit mit der Schule zu verlieren, könne er ebenso gut gleich zu arbeiten anfangen.
Die Patres und Lehrer an Noels Schule bedauerten es sehr, wieder einen Schüler ohne qualifizierten Abschluss zu verlieren, aber noch immer wollte es ihnen nicht gelingen, den Jungen für irgendetwas zu begeistern, wie sie den Eltern erklärten. Er schien nur sehnsüchtig darauf zu warten, dass der Schultag zu Ende ging. Vielleicht war es sogar zu seinem Besten, wenn er die Schule verließ und bei Hall's, dem großen Baustoffhändler, eine Stellung annahm und jede Woche regelmäßig sein Geld bekam. Dann würde man schon sehen, wo seine Interessen lagen.
Traurig dachten Josie und Charles an das kleine Vermögen, das sich im Lauf der Jahre auf dem Sparkonto bei der Post angesammelt hatte. Nie würde dieses Geld ausgegeben werden, um Noel Lynch zum Priester auszubilden. Ein mitfühlender Pater schlug vor, dass sie sich damit einen Urlaub gönnen sollten, aber Charles und Josie wiegelten schockiert ab. Sie hatten dieses Geld gespart, um Gottes Werk zu unterstützen, und dafür würden sie es auch ausgeben.
Noel bekam den Ausbildungsplatz bei Hall's, doch auch dort gestaltete sich sein Kontakt zu seinen Arbeitskollegen eher zurückhaltend. Noel befreundete sich mit niemandem. Er legte es aber auch nicht darauf an, ständig allein zu sein. Allerdings war es so oft einfacher.
In den folgenden Jahren hatte Noel sich mit seiner Mutter darauf geeinigt, an den gemeinsamen Familienmahlzeiten nicht mehr teilzunehmen. Mittags aß er in der Firma, und abends nahm er nur noch einen kleinen Imbiss zu sich, den er sich selbst zubereitete. So ging er nicht nur dem Rosenkranzbeten aus dem Weg, sondern auch frommen Nachbarn und neugierigen Nachfragen darüber, womit er seinen Tag verbracht habe - dem üblichen Gesprächsthema am Essenstisch der Familie Lynch.
Noel gewöhnte es sich an, jeden Tag später nach Hause zu kommen, und war bald Stammgast in Casey's Pub, wo er auf dem Heimweg immer einkehrte. In dem großen Lokal konnte er in der anonymen Menge untertauchen und fühlte sich dennoch geborgen. Hier war er kein Fremder, da ihn alle beim Namen kannten.
»Hey, Noel, altes Haus«, schallte ihm schon an der Tür die Begrüßung durch den Sohn des Hauses entgegen.
Der alte Casey, der wenig sprach, aber alles sah, linste über seine Brillengläser zu ihm hinüber, während er mit einem sauberen Leinentuch die Biergläser polierte.
»'n Abend, Noel.« Unter der routinierten Höflichkeit des Wirts klang die Missbilligung durch, die er für Noel empfand. Schließlich kannte er Noels Vater gut. Einerseits schien der Wirt in ihm das Geld nicht zu verachten, das Noel für sein Bier - oder mehrere Biere - bei Casey's ließ, andererseits schien er enttäuscht, dass der junge Mann nicht vernünftiger mit seinem Lohn wirtschaftete. Aber Noel gefiel es hier. Es war ein altmodisches Pub mit moderaten Preisen und ohne Grüppchen kichernder Mädchen, die einen Mann beim Biertrinken störten. Hier hatte man seine Ruhe.
Und das war viel wert.
Als Noel an diesem Abend nach Haus kam, f el ihm sofort auf, dass seine Mutter irgendwie anders aussah. Er vermochte jedoch nicht gleich zu sagen, woran es lag. Sie hatte das rote Strickkostüm an, das sie nur zu besonderen Gelegenheiten aus dem Schrank holte. In der Keksfabrik musste sie eine Uniform tragen, was ihr ganz recht war, da sie so ihre guten Sachen schonen konnte. Noels Mutter war nicht geschminkt, also lag es daran auch nicht.
Schließlich bemerkte Noel, dass ihr Haar anders aussah. Seine Mutter war beim Friseur gewesen.
»Du hast ja einen neuen Haarschnitt, Mam! «, sagte er. Zufrieden nickte Josie Lynch. »Das haben sie dieses Mal gut hingekriegt, nicht wahr?« Sie hörte sich an, als ginge sie regelmäßig zum Friseur.
»Sieht hübsch aus, Mam«, erwiderte er.
»Willst du Tee? Ich mache rasch Wasser heiß«, erbot sie sich. »Nein, Mam, ist schon in Ordnung.«
Noel konnte es kaum erwarten, die Küche zu verlassen und sich in die Sicherheit seines Zimmers zu flüchten. Und dann fiel ihm ein, dass für den nächsten Tag der Besuch seiner Cousine Emily aus Amerika angekündigt war. Seine Mutter bereitete sich also auf ihre Ankunft vor. Diese Emily wollte offenbar einige Wochen bleiben. Bisher war noch nicht entschieden, wie lange ... Noel hatte sich nicht sehr mit diesem Besuch auseinandergesetzt, sondern lediglich getan, was unumgänglich war. Er hatte seinem Vater geholfen, Emilys Zimmer zu streichen und die Abstellkammer im Erdgeschoss auszuräumen, in der sie die Wände gefliest und eine Dusche eingebaut hatten. Noel wusste nicht viel über seine Cousine; sie war schon ein wenig älter, in den Fünfzigern vielleicht, und die einzige Tochter des ältesten Bruders seines Vaters, Martin. Sie hatte als Kunsterzieherin gearbeitet, aber unerwartet ihre Anstellung verloren und wollte nun mit ihrem Ersparten die Welt bereisen. Ihre erste Etappe war Dublin. Von hier aus war ihr Vater vor vielen Jahren aufgebrochen, um in Amerika sein Glück zu machen.
Viel Glück war ihm nicht beschieden gewesen, vor allem nicht in materieller Hinsicht, wie Charles zu erzählen wusste. Der älteste Sohn der Familie hatte zuletzt in einer Bar gearbeitet, wo er selbst sein bester Kunde war, und sich nie mehr bei seiner Familie gemeldet. Jedes Jahr zu Weihnachten hatte Emily die Karten geschrieben, und sie war es auch, die sie vor Jahren über den Tod ihres Vaters und schließlich über den ihrer Mutter informiert hatte. In nüchternem Tonfall ließ sie nun ihre Verwandten wissen, dass sie selbstverständlich gedenke, sich während ihres Aufenthalts in Dublin an den Haushaltsausgaben zu beteiligen. Dies sei ihr auch ohne weiteres möglich, da sie beabsichtige, ihr kleines New Yorker Apartment in der Zeit ihrer Abwesenheit zu vermieten. Außerdem sei sie als rücksichtsvoll und zurückhaltend bekannt, wie sie Josie und Charles versicherte, und würde ihnen bestimmt nicht auf die Nerven gehen oder gar von ihnen unterhalten werden wollen. Sie wisse sich schon zu beschäftigen.
Noel seufzte.
Wie immer würden seine Mutter und sein Vater dieses banale Ereignis in höchsten Tönen dramatisieren. Die Frau hätte noch nicht den Fuß über die Türschwelle gesetzt, wüsste sie bereits alles über seine großartige Karriere bei Hall's, über die Tätigkeit seiner Mutter in der Keksfabrik und über die gewichtige Rolle, die sein Vater als dienstältester Portier in dem großen Hotel spielte, in dem er arbeitete. Man würde sie umgehend über den Verfall der moralischen Werte in Irland, die mangelnde Beteiligung an der Sonntagsmesse und über das exzessive Komasaufen aufklären, das jedes Wochenende die Ambulanzen der Krankenhäuser mit Alkoholleichen überschwemmte. Und ganz sicher würden sie Emily auffordern, gemeinsam mit ihnen den Rosenkranz zu beten.
Noels Mutter hatte bereits lange Zeit unschlüssig hin und her überlegt, ob sie ein Bild des Heiligsten Herzens Jesu oder doch lieber das von Unserer lieben Mutter von der Immerwährenden Hilfe in das frisch gestrichene Zimmer hängen sollte. Immerhin hatte Noel es mit seinem Vorschlag, bis zu Emilys Ankunft zu warten, geschafft, jede weitere Diskussion dieses schrecklichen Themas zu unterbinden.
»Sie hat Kunst unterrichtet an der Schule, Mam. Vielleicht bringt sie ja ihre eigenen Bilder mit«, hatte er gesagt, und zu seinem Erstaunen hatte sich seine Mutter sofort umstimmen lassen.
»Du hast recht, Noel. Ich weiß, ich neige dazu, immer alles regeln zu wollen. Aber ich freue mich schon darauf, wenn eine Frau im Haus ist, mit der ich auch mal solche Dinge besprechen kann.«
Noel konnte nur hoffen, dass seine Mutter recht hatte und dass diese Frau nicht ihr häusliches Leben durcheinanderwirbeln würde. Es standen ohnehin einige Veränderungen bevor. In ein, zwei Jahren würde sein Vater in Rente gehen. Seine Mutter hatte in der Keksfabrik zwar noch ein paar Jahre vor sich, aber auch sie überlegte bereits, baldmöglichst aufzuhören und Charles dabei zu unterstützen, gute Werke zu tun. Noel hoffte, dass Emily ihr Leben vereinfachen und nicht verkomplizieren würde.
Aber meistens dachte er kaum an den bevorstehenden Besuch. Dies war generell Noels Art der Lebensbewältigung: sich nur nicht allzu viele Gedanken machen - nicht über seinen Job bei Hall' s, der ihm keinerlei Aufstiegschancen bot; nicht über die vielen Stunden, die er in Old Man Casey's Pub verbrachte, und das viele Geld, das er dort versoff; nicht über den religiösen Wahn seiner Eltern, die im Rosenkranzgebet die Antwort auf alle Probleme dieser Welt sahen. Ebenso blendete Noel einfach aus, dass er keine feste Freundin hatte. Er hatte bisher eben noch nicht die Richtige kennengelernt, das war alles. Auch der Mangel an Freunden generell bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Es gab Orte, an denen man leicht Freundschaften schließen konnte; Hall's Baustoffhandlung zählte gewiss nicht dazu. Die beste Art, mit unbefriedigenden Lebensumständen umzugehen, bestand darin, sie einfach zu ignorieren. Und bisher hatte Noel mit seiner Einstellung Erfolg gehabt.
Warum etwas reparieren wollen, das nicht kaputt war?
...
Übersetzung: Gabriela Schönberger
© 2012 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
... weniger
Autoren-Porträt von Maeve Binchy
Maeve Binchy wurde in der Nähe von Dublin geboren. Nach ihrem Studium war sie zunächst als Redakteurin für die Irish Times tätig. Seit Ende der siebziger Jahre arbeitete sie als freie Schriftstellerin. Ihre Romane, darunter Cathys Traum, Echo vergangener Tage, Der grüne See, Ein Haus in Irland und Im Kreis der Freunde wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Maeve Binchy lebte in Dublin und London. Sie verstarb im Juli 2012 im Alter von 72 Jahren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maeve Binchy
- 2012, 472 Seiten, Masse: 15 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schönberger, Gabriela
- Übersetzer: Gabriela Schönberger
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426652706
- ISBN-13: 9783426652701
Rezension zu „Herzenskind “
"'Herzenskind' öffnet einem das Herz und man bekommt immer wieder feuchte Augen. Ein Geschichte voller grosser Emotionen und Gefühlen. Maeve Binchys Bücher sind auch immer wie ein Spaziergang durch Irland - frisch, stürmisch, volle Farben und bleibenden Momente. Leider ist Maeve Binchy im Juli 2012 verstorben. Die literarische Welt verliert eine ihrer grossen romantischen Stimmen." -- Denglers-buchkritik.de, Alex Dengler, 20.08.2012
Kommentare zu "Herzenskind"
0 Gebrauchte Artikel zu „Herzenskind“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Herzenskind".
Kommentar verfassen