Herr Jensen steigt aus
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Herr Jensen steigt aus von Jakob Hein
LESEPROBE
Herr Jensen wird vorgestellt
Der Brief in seiner Hand war wie üblich nicht für ihn. Herr Jensen strichmit dem Umschlag knapp unterhalb der Schlitze über die Türen der Briefkästen,so dass sich das vordere Drittel des Umschlags an die Metallgehäuse drückte. Anjeder Lücke zwischen zwei Kästen gab es einen kleinen Sprung, und das Adressfeldschien vor seinen Augen leicht zu tanzen. Dabei murmelte Herr Jensen immerfortden Namen auf dem Briefumschlag fast unhörbar vor sich hin. Stimmte der Name indem Adressfeld schliesslich mit dem Namen auf dem Kasten überein, murmelte HerrJensen diesen Namen ein klein wenig lauter. »Meyer, Meyer, Meyer, Meyer MEYER!« Dann schob er den Brief durch den Schlitz inden Kasten und nahm den nächsten Brief zur Hand. Das war sein System, dasSystem Jensen.
Schon seit mehr als zehn Jahren stellte Herr Jensen im gleichen Vierteldie Post zu. An den Tagen, an denen er die Ratgeberzeitschriften in dieBriefkästen warf, dachte er jedesmal, dass andere mehr Sorgfalt auf die Wahlihrer Waschmaschine verwendeten, als er das bei der Wahl seines Berufs getanhatte. Wenn seine Mitschüler früher davon geredet hatten, dass sie späterBerufsfussballer, Rockstars oder Robotertechniker werden wollten und miternsthafter Miene ihre Chancen und Möglichkeiten diskutierten, man musste nichtin der ersten Liga spielen, auch in der zweiten wurden Leute gebraucht, dannkonnte Herr Jensen nicht mitreden. Er hatte keinen Traumberuf. Er ging jedenTag in die Schule, weil man das musste, und er hatte die vage Vorstellunggehabt, dass es immer so weitergehen würde.
In den Sommerferien zwischen der achten und der neunten Klasse arbeiteteer zum ersten Mal bei der Post. Den Job hatte er damals über Matthias Gertloffaus seiner Klasse bekommen. Herr Jensen allein hätte überhaupt nicht gewusst,wie er sich nach einem Ferienjob auch nur hätte erkundigen sollen. Aber einesTages verkündete Matthias, dass er einfach zur Post gegangen sei, eine Bewerbungabgegeben habe und nun im Sommer dort jobben werde. Bald darauf gab Herr Jenseneine Bewerbung bei der Post ab.
Als der Job dann anfing, arbeiteten Matthias und er in verschiedenenBereichen, so dass man sich selten sah. Matthias hatte sich in diePaketabteilung setzen lassen, weil dort öfter mal etwas abfiel, wie er grinsendmeinte. Bei Herrn Jensen fiel nichts ab, er holte morgens seine Post ab,verteilte sie in die entsprechenden Briefkästen und fertig. Das war besser, alsin den Ferien zu Hause herumzusitzen, und er bekam am Ende sogar noch Gelddafür.
Im folgenden Frühjahr ging Herr Jensen wieder zum selben Büro und bewarbsich für den Sommer. Er hatte immer noch keine Ahnung, wo sonst man sich nacheinem Ferienjob erkundigen sollte.
Er kannte die, die kannten ihn, er konnte wieder bei der Post arbeiten.Später, als Student, hatte er den Job natürlich auch nicht aufgegeben, wo er sogut eingearbeitet war und das Geld noch besser gebrauchen konnte. Und als HerrJensen mit dem Studium dann so abrupt aufhörte, wie andere sich das Rauchenabgewöhnen, brauchte er das Geld noch dringender. Und genau deshalb trug erinzwischen schon seit mehr als zehn Jahren hier die Post aus.
Matthias, der machte längst etwas anderes. Der hatte damals nicht einmalin den Sommerferien darauf wieder bei der Post gearbeitet. Das ist mir danndoch zu langweilig, hatte er zu Herrn Jensen gesagt und in irgendeinem Hotel inden Bergen gekellnert. Hätte Matthias rechtzeitig etwas gesagt und ihn damalsmitgenommen, möglicherweise würde Herr Jensen jetzt dort ein Tablett vollerKaffeetassen auf die Terrasse tragen.
»Düring, Düring, Düring, Düring, DÜRING!«
Mitnehmen war ein wichtiges Thema für seine Mutter. Frau Jensen war derAnsicht, dass ihr Sohn schon immer jemanden gebraucht habe, der ihn mitnahm, injeder Hinsicht. Du bist nicht einmal im Hochsommer allein ins Freibad gegangen,wenn nicht auch jemand anderes dorthin ging. Wenn du in der Schule mit einemschlechten Schüler befreundet warst, hattest du die zweitschlechtesten Noten,warst du mit dem Klassenbesten befreundet, warst du der Zweitbeste, sagte sie.Aber das bildete sie sich nur ein. Herr Jensen war niemals der Zweitbeste oderder Zweitschlechteste bei irgendwas gewesen. Ausserdem hatte Herr Jensen andieser Stelle immer gedacht, dass er ohnehin nie besonders viele Freunde gehabthatte. Er war zufrieden damit gewesen, sich unbehelligt im Mittelfeldaufzuhalten, ohne dass ihn jemand störte. Als Kind hatte er vieleSelbstgespräche geführt, so dass sich die anderen oft über ihn lustig machten.In späteren Jahren bekam er das Problem der Selbstgespräche besser in denGriff, er liess die anderen nicht mehr merken, wenn er mit sich selbst sprach.Aber neue Freunde gewann er dadurch auch keine. Herr Jensen nahm an, dass ereinfach den richtigen Zeitpunkt dafür verpasst hatte. Wer in der Grundschulekeine Freunde gefunden hatte, der fand wahrscheinlich so schnell keine mehr.
Jedenfalls dauerte es nie lange, bis Frau Jensen auf den eigentlichenPunkt ihrer Rede kam, nämlich dass ihr Sohn wohl auch darauf hoffte, dass ihn jemandzu einer Frau mitnehmen würde. Worauf wartest du nur? Glaubst du, dassirgendwann einmal einer von deinen Freunden kommt und sagt, heute gehen wir malnicht ins Kino, heute werde ich dich mal mit deiner zukünftigen Frau bekanntmachen. Das glaub mal nicht. Ichkann auch nicht losgehen und jemanden für dich aussuchen. Du musst dir selbstetwas einfallen lassen, beschwor sie ihn. Seine Mutter war der Überzeugung, dassMenschen im allgemeinen und sie im besonderen nur aus einem Grund Kinder in dieWelt setzten: um baldmöglichst Enkelkinder zu bekommen, und dass allesdazwischen nur der unvermeidliche, entbehrungsreiche und qualvolle Weg zudiesem Ziel war. Weil Herr Jensen das einzige Kind seiner Eltern war, konnte erdiese Bürde, von der seine Mutter im Verlauf der Zeit immer eindringlichersprach, auch mit niemandem teilen.
Der alte Herr Jensen sass in seinem Sessel und sagte dankenswerterweisemeistens nichts. Gelegentlich verschwand er in der Küche und holte zweiFlaschen Bier, von denen er eine wortlos seinem Sohn reichte. Dann setzte ersich wieder hin. So dankbar der junge Herr Jensen seinem Vater für diesesSchweigen war, so genau wusste er, dass auch sein alter Herr von ihm enttäuschtwar. Als er damals mit dem Studium angefangen hatte, schien es, als würde derBrustumfang seines Vaters um mehrere Zentimeter wachsen. Der alte Herr Jensenhatte sich dann bei jedem Besuch seines Sohnes ausführlich über den Fortgangdes Studiums erkundigt und sogar seiner Frau den Mund verboten, wenn die wiedervon irgendwelchen Frauengeschichten anfangen wollte. Er hatte nie viele Ideenin bezug auf seinen Sohn gehabt, aber doch den Wunsch, dass er unbedingt einmalstudieren sollte. Der alte Herr Jensen selbst hatte nur das Abitur machendürfen, bevor er im Betrieb seines Vaters angefangen hatte. Die Zeiten seienandere gewesen.
Jensen Hydraulik KG hatteHydraulikzylinder für Grossfahrzeuge hergestellt. Hydraulikzylinder fürDreiseitenkipper, Hochlöffelbagger und Planierraupen. Grosse, mit Hydraulikölgefüllte, kommunizierende Röhrensysteme, die abhängig von ihrer Grösse soziemlich jede Last nach oben drücken konnten. Die Firma Jensen Hydraulik hatte einen Namen auf dem Markt. Aber dieKonkurrenz aus Asien war im Lauf der Jahre erdrückend geworden. Ihre Preisekonnte Jensen Hydraulik nichtunterbieten. Der alte Jensen war ein zu guter Geschäftsmann, um auch nur daranzu denken, seinem Sohn die Firma zu übergeben. Er schloss Jensen Hydraulik, als sie anfing,unrentabel zu werden. Dadurch hatte sein Ruhestand zwar ein paar Jahre früherals geplant eingesetzt, aber der alte Herr Jensen bewahrte sich und seineFamilie damit vor einem finanziellen Verlust. Falsche Sentimentalität war ihmfremd.
© Piper Verlag
- Autor: Jakob Hein
- 2007, 66. Aufl., 144 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492250769
- ISBN-13: 9783492250764
- Erscheinungsdatum: 01.12.2007
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