Goethe-Handbuch Supplemente
Band 2: Naturwissenschaften
Goethe und die Naturforschung. In vielen Fällen eröffnet erst die Auseinandersetzung mit dem Naturforscher Goethe den Blick auf seine Dichtungen, in denen die zeitgenössischen Naturwissenschaften in zahlreichen Facetten vorkommen. Das Handbuch liefert einen...
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Goethe und die Naturforschung. In vielen Fällen eröffnet erst die Auseinandersetzung mit dem Naturforscher Goethe den Blick auf seine Dichtungen, in denen die zeitgenössischen Naturwissenschaften in zahlreichen Facetten vorkommen. Das Handbuch liefert einen fundierten Einblick in sämtliche Bereiche von Goethes Schaffen auf diesem Gebiet und in den zeitgenössischen Kontext.
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Goethe Handbuch - Supplemente Band 2 - Naturwissenschaften von Manfred Wenzel (Hrsg.)Einführung
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Bevor die einzelnen Bereiche von Goethes Naturforschung in Übersichtsartikeln vorgestellt werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf den wissenschaftshistorischen Hintergrund geworfen. Die Geschichte der Naturwissenschaften in der Goethezeit ist gekennzeichnet durch einen grundlegenden Wandel in den Vorstellungen des Menschen über die Natur, die Begründung neuer wissenschaftlicher Disziplinen sowie eine zunehmende Spezialisierung der einzelnen Fachwissenschaften. Goethe nahm an diesen Entwicklungen nicht nur regen Anteil, sondern er lieferte in einigen Bereichen selbst maßgebliche Beiträge. Er wusste in diesem Zusammenhang zwar um seine Außenseiterrolle als naturwissenschaftlicher Dilettant, doch schätzte er gerade dessen Funktion - im Gegensatz zum Dilettanten in der Kunst - als sehr positiv ein und wollte durchaus als Naturforscher ernstgenommen werden (> Dilettantismus). Seine Vorstellungen von der Natur und ihren Ordnungsmustern waren das Resultat lebenslanger intensiver Bemühungen, gestützt auf die gründliche Aneignung des Wissensstandes der Vorgänger und der Zeitgenossen, sei es mithilfe von Literatur, sei es im persönlichen Umgang mit Gelehrten in Weimar und >Jena sowie auf zahlreichen >Reisen. Die Antwort darauf, welchen Positionen sich Goethe anschloss und welchen er widersprach, wo er der gültigen Lehrmeinung Abweichendes entgegensetzte oder darüber Hinausgehendes vortrug, setzt voraus, sich die beherrschenden Standpunkte im naturwissenschaftlichen Weltbild des 18. Jh.s, die Streitpunkte und Wandlungen klar zu machen.
Die wesentlichen Anschauungen der zeitgenössischen Naturgeschichte und Naturlehre, wie sie im Kontext von Goethes Arbeiten vor allem durch Carl von >Linné, Georges Louis de
>Buffon, Albrecht von >Haller, Charles >Bonnet und Isaac >Newton bestimmt wurden, kannte Goethe seit seiner Studienzeit in Leipzig und Straßburg. Linné hatte mit seiner Systematik versucht, den Naturreichen der Pflanzen, der Tiere und der Mineralien eine Ordnung zu geben. Der Glaube an die Schöpfungsgeschichte der Bibel und an kirchliche Dogmen machte die Vorstellung einer Artenkonstanz plausibel. Auf der Ebene der Individualentwicklung wurde diese Anschauung flankiert von der Theorie der >Evolution oder >Präformation (Einschachtelung der Lebewesen in Miniaturform im Keim oder Ei); dagegen konnten sich die >Epigenesevorstellungen Caspar Friedrich >Wolffs und Johann Friedrich >Blumenbachs zunächst nicht durchsetzen. Buffon hatte sein Augenmerk der sich selbst bildenden, durch einen einheitlichen Typus zu kennzeichnenden Natur und der Frage nach dem Charakter von organischen Kräften zugewandt, ein Problem, dem sich auch Johann Gottfried
>Herder, zum Teil in enger Zusammenarbeit mit Goethe, widmen sollte. Haller wählte als Ausgangspunkt die mögliche Definition von Leben; er untersuchte die Reizbarkeit des Organismus und unterschied nach den Reaktionen (Bewegung oder Empfindung) Muskeln und Nerven voneinander. Bonnet schließlich hatte aufgrund der abgestuften Ähnlichkeit der Lebewesen und der nicht organischen Bildungen eine von anderen Autoren wiederum abgewandelte Stufenleitervorstellung entwickelt, nach der sich die Erscheinungsformen in der Natur nach dem Kriterium der Vollkommenheit ordnen ließen. Eine wichtige Grundannahme über die Wirkungsweise der Natur war durch das auf René >Descartes zurückgehende Maschinenmodell bezeichnet, nach dem die Natur insgesamt sowie das einzelne Individuum wie eine Maschine mit zahlreichen Triebrädern konstruiert sei und funktionieren sollte. Die Physikotheologie des 18. Jh.s postulierte Gott als Schöpfer der reibungslos funktionierenden Maschine, deren Perfektion umgekehrt zu einem Gottesbeweis gemacht wurde. Andere Strömungen wie der französische Materialismus verbannten Gott aus diesem Maschinenmodell und entwarfen eine atheistische, mit absolut materiellen Erklärungen arbeitende Theorie. Am Ende des 18. Jh.s wurde das Bild der Maschine für Natur, Lebewesen und Mensch zunehmend von der Anschauungsweise einer Organisation oder eines >Organismus abgelöst (Haller, Herder, >Kielmeyer, >Schelling), wodurch gleichermaßen die auf organischen Kräften oder einem Bildungstrieb (.>Bildung/Bildungstrieb) basierende Theorie der Epigenese (Wolff, Blumenbach) an Raum gewann.
Untersucht man Goethes Positionen, wie sie sich vor allem zwischen 1780 und 1800 entwickelten, so fällt auf, dass sie sich selten vorbehaltlos einer der gängigen Vorstellungen von der Natur anschlossen. Linné, dessen Einfluss auf die eigenen Naturanschauungen Goethe deutlich herausstellte, nutzte gerade durch den Widerspruch, zu dem er aufforderte. Goethe behagte das schematische Sondern der Merkmale im Rahmen des künstlichen Systems von Linné überhaupt nicht, da er in der Natur fließende Übergänge beobachtete und sein Augenmerk insgesamt mehr auf das Werdende und Bewegliche als auf die abgeschlossene Gestalt legte. In der Betonung des Beweglichen und Dynamischen ging Goethe mit einem eigenständigen Metamorphosekonzept deutlich über Linné hinaus und ersetzte die Konstanz der Arten durch eine Typenkonstanz, was ihn wiederum von einem Evolutionismus im Sinne Lamarcks oder Darwins trennte, dessen Feststellung eines historischen Wandels der biologischen Erscheinungswelt über Generationen hinweg außerhalb von Goethes Horizont lag. Zu den widerstreitenden Entwicklungstheorien, der Präformation und der Epigenese, ging Goethe gleichermaßen auf Distanz und hielt sie beide für unzureichend. Vielmehr wollte er ein eigenes Konzept entwickeln, das beide Vorstellungen auf einer morphologischen Ebene vereinigte. Eine kontinuierliche Stufenleiter, wie sie Bonnet vorgestellt hatte, lehnte Goethe nach seiner Rückkehr von der ersten Italienreise 1788 ausdrücklich ab, da sie ihm die Übergänge zwischen dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich zu verwischen schien. Und auch die Einheitlichkeit des Bauplans, wie sie Buffon in seinem Typus- Konzept postuliert hatte, wurde ihm zur Veranlassung, sich selbst intensiv mit diesem Problem auseinanderzusetzen und eine eigene Lösung zu erarbeiten, die schließlich 1796/1797 in der Begründung der Morphologie als einer Wissenschaft von den organischen Gestalten einen besonderen Stellenwert erhielt - wenige Jahre bevor Gottfried Reinhold Treviranus, Karl Friedrich >Burdach und Jean Baptiste de Lamarck um 1800 den übergreifenden Begriff >›Biologie‹ prägten.
Goethes Beschäftigung mit der Farbenlehre dagegen war weniger eine wohlüberlegte Reaktion auf die zeitgenössische, von Newton geprägte >Optik, zumal Goethes Gegenposition durch einen spontanen Gedanken von der Unhaltbarkeit der ihm zunächst nur ungenügend bekannten Newtonschen Theorie begründet wurde (>Prismenaperçu) und alle nachfolgenden Studien nur noch das Ziel hatten, die vorgefasste, gleichwohl irrige Meinung zu bestätigen. Die bereits 1791 anklingende Überzeugung, dass Farben letztlich nur aus einer Polarität von >Licht und Finsternis und deren Repräsentanten Gelb und Blau zu erklären seien, ließ den Erklärungen für Farbentstehung der zeitgenössischen >Physik keinen Raum und scheint in Teilen mit diesen auch prinzipiell nicht vergleichbar. Das unbefangene Herantreten an die natürlichen >Phänomene, das unmittelbare Anschauen und Beobachten, wie es schon in den frühen Zeugnissen für Goethes Naturinteresse zum Ausdruck kommt, ist im Übrigen auch in den späteren Zeiten intensiver Naturforschung Grundlage seiner Methodik geblieben.
Man kann weitgehend rekonstruieren, wie Goethes überwiegend autodidaktische naturwissenschaftliche Ausbildung in der frühen Weimarer Zeit ausgesehen hat und welchen Autoren und Gelehrten er sich später, teilweise im persönlichen Umgang, zuwandte. Insgesamt ergibt sich der Sachverhalt eines umfassenden Kenntnisstandes, der Goethe durchaus in die Lage versetzte, selbst Naturforschung zu betreiben. Zunächst wandte er sich der >Anatomie, speziell der >Osteologie zu, die er zwischen 1780 und 1784 intensiv studierte, dann aber erst 1790 wieder aufnahm, nun im Vorfeld der Aufstellung des >Typus (1795) und der Begründung der Morphologie (1796/1797). Botanische Studien trieb Goethe ab 1784 und vor allem während und nach der ersten Italienreise (1786-88). Sie führten zur Anschauung von der >Metamorphose der Pflanzen (1790), gleichsam dem flexiblen Element des botanischen Typus.
Geologische Arbeiten waren in den 1780er Jahren auf den Ilmenauer Bergbau sowie die Kenntnis der Gebirge in Thüringen und im Harz konzentriert. Mit den Reisen nach Böhmen (1785/1786, 1797, vor allem 1806-1823) verlagerten sich die Interessen auf die geologischen Verhältnisse in der Umgebung von >Karlsbad, >Marienbad, >Teplitz und im Egerland.
Die Farbenlehre beschäftigte Goethe intensiv ab 1791. Bis 1800 waren alle wesentlichen Grundlagen geklärt, 1810 erschienen Goethes Ergebnisse im umfangreichsten Werk seines gesamten Schaffens. Mit der Wetterkunde setzte Goethe sich erst ab 1815 auseinander.
Obwohl Goethe vor allem zwischen 1780 und 1810 zahlreiche naturwissenschaftliche Abhandlungen niedergeschrieben hatte, waren bis dahin doch nur einzelne davon (vor allem Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, 1790; Beyträge zur Optik, 1791/1792; Zur Farbenlehre, 1810) publiziert worden. In erster Linie fehlte ein umfassendes Werk zur Morphologie. Goethe hatte mehrfach (1795, 1798, 1806) geplant, seine Studien zur Naturgeschichte und Naturlehre zu
veröffentlichen. Aber erst 1816 konnte dieses Vorhaben mit der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817-1824) realisiert werden, in der Goethe frühere Arbeiten, Nachträge, autobiographische und historische Anmerkungen sowie eine Reihe von neuen Beiträgen aus allen Bereichen der Naturwissenschaft publizierte.
Und auch nach 1824, vor allem in der Zeit von 1828 bis zum Lebensende am 22.3.1832, griff Goethe die Naturforschung immer wieder auf, mit dem Versuch einer Witterungslehre (1825), der deutsch-französischen Ausgabe Versuch über die Metamorphose der Pflanzen (1831) und deren zahlreichen Vorarbeiten sowie mit der differenzierten Beschäftigung mit dem >Pariser Akademiestreit zwischen Georges Cuvier und Étienne >Geoffroy Saint-Hilaire. Wenige Stunden vor seinem Tod ließ er sich von der Schwiegertochter Ottilie eine Mappe zur Farbenlehre bringen.
Schriften zur Morphologie
Der Begriff der Morphologie ist mit G.s Namen in der Wissenschaftsgeschichte untrennbar verbunden. Bevor er ihn 1817 im Titel seiner Hefte Zur Morphologie und in deren Einleitung (speziell im 1806 entstandenen Aufsatz Die Absicht eingeleitet) verwendete und definierte, tauchte er erstmals bereits in seinem Tagebuch vom 25.9.1796 auf. Die Korrespondenz mit >Schiller vom 12. und 13.11.1796 deutet jedoch darauf hin, dass G. zunächst einen umfassenden Morphologie- Begriff unter Einschluss des Anorganischen (Geologie und Mineralogie) im Sinn hatte; erst in Zeugnissen aus der Zeit um 1807 wird der Terminus eindeutig auf organische Bildungen, also Lebewesen, bezogen. Da der Mediziner Karl Friedrich Burdach ebenfalls auf diese Begriffsbildung kam, sie in einem Werk aus dem Jahr 1800 benutzte und in die Öffentlichkeit brachte, kommt diesem und nicht G. die Priorität zu. Als G. den Begriff der Morphologie als Bezeichnung für die Lehre von der Gestalt 1796 einführte, lagen bereits wichtige Arbeiten zum Gegenstand vor, so der Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre daß der Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Thieren gemein sey (1784), der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), die Vorstudien zur Gestalt- und Vergleichungslehre aus den Jahren 1790 bis 1794 sowie die Manuskripte zur vergleichenden Anatomie, die auf die Aufstellung eines Typus der höheren Tiere zielten (1795/1796). Erst in den folgenden Überlegungen zur eigenen Methodik, mit denen sich G. darüber klar werden wollte, wie eine Lehre der Lebewesen im Einzelnen zu begründen sei, wurde der Begriff Morphologie zunehmend relevant und im Vorsatztitel der Zeitschrift Zur Morphologie schließlich als »Bildung und Umbildung organischer Naturen« (FA I, 24, 399) gefasst. Als G. sich mit der Ausarbeitung seiner Morphologie auseinandersetzte (vgl. dazu die Texte in FA I, 24, 347-373), hatte er nicht nur die genannten Aufsätze vorliegen, sondern weiterhin zahlreiche Tabellen, Materialien und >Schemata, die er nun an den neuen Gedanken überprüfte und feststellte, dass seine Lehre der Morphologie zwar mit vielen zeitgenössischen Vorstellungen in Übereinstimmung zu bringen sei, aber auch darüber hinausgehe und somit etwas Eigenständiges darstelle. Und er konstatierte über die Morphologie, dass »die Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt höchst bedeutend sind und daß die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so daß auch ein fehlgeschlagener Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut verbinden könnte« (Betrachtung über Morphologie überhaupt; ebd. 368 f.).
Die Morphologie beschäftigt sich mit der (Individual-) Entwicklung des einzelnen Lebewesens, der grenzenlosen Vielfalt der in Erscheinung tretenden Naturen, aber auch den für alle gemeinsam geltenden Gesetzen. Den nahezu unendlichen Formenreichtum in der Natur fasste G. in seinem Konzept der Metamorphose, die ordnenden Gesetzmäßigkeiten, die der Metamorphose schließlich eine Grenze ziehen, kamen in seinem Typus-Konzept zum Ausdruck; beides gilt es im Einzelnen in Botanik, Osteologie, Zoologie und Anatomie zu verfolgen. Als grundlegendes Ordnungsverfahren wandte G. die vergleichende Methode an. Ähnliche Formen zu vergleichen und den Grad der Ähnlichkeit für die Einordnung in ein System zu nutzen (verkürzt: die vergleichende Methode anzuwenden), war konstitutives Element in G.s Naturforschung. Das Studium der organischen Naturen hat G. sein gesamtes Leben begleitet, und im Folgenden werden diese manchmal mehr der Botanik, dann wieder der Anatomie und Osteologie gewidmeten Phasen nach chronologischer Abfolge abgehandelt. Übersehen werden darf dabei nicht, dass die im engeren Kontext der Anschauungen von den Phänomenen des Lebendigen entwickelten Vorstellungen immer auch G.s allgemeiner Naturauffassung entsprachen, dass er also Gesetzen und Leitprinzipien nachspürte, die auch für die anderen Bereiche seiner naturwissenschaftlichen Interessen, für die Farbenlehre, die Geologie und die Meteorologie fruchtbar und anwendbar sein sollten. So erscheinen auch grundlegende Begriffe wie Typus und Metamorphose oder Polarität und Steigerung immer wieder von neuem, zwar in zahlreichen Facetten, aber auch immer wieder als Ordnungsmuster nutzbar.
In der Morphologie galten für G. bestimmte Gesetze und Leitvorstellungen, die er zwar nie programmatisch geschlossen niedergelegt hat, die aber den einzelnen Schriften parallel zum Voranschreiten seiner Forschungen zu entnehmen sind. Diese Grundlinien seien hier einleitend nachgezogen:
Bereits im Kontext der Studien zum menschlichen >Zwischenkieferknochen um 1784, in der Auseinandersetzung mit >Spinoza und in der gemeinsamen Arbeit mit Herder (1783/1784), hatte G. eine durchgehende Stetigkeit in den Bildungen der Natur festgestellt, die ihm zur Basis einer umfassenden Ordnung und Harmonie der gesamten Natur wurde. Das System der Natur ist durch abgestufte Ähnlichkeiten charakterisiert, die eine bestimmte Gruppierung von Lebewesen erlauben. G. fand bei Beginn seiner Studien hierzu die zeitgenössisch dominierende künstliche Systematik von Linné vor. Später zog er Autoren vor, die Pflanzen und Tieren nach einem natürlichen System ordnen wollten.
Die augenscheinlichen Ähnlichkeiten der Lebewesen bildeten die Grundlage dafür, sie miteinander vergleichen zu können. Je näher die Lebewesen im natürlichen System beieinander stehen, um so evidenter ist ihre Ähnlichkeit. Aber auch Lebewesen, die auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit aufweisen, lassen sich durch eine Reihe vermittelnder Zwischenglieder aufeinander beziehen. So stellte G. beispielsweise beim Zwischenkieferknochen bei den einzelnen Arten große Unterschiede in der Gestalt fest, die aber um so weniger auffällig wurden, je mehr zwischen die Extreme die Glieder einer Reihe von Zwischenformen gestellt wurden, womit gleichzeitig eine Stufenfolge gebildet wurde: »Welch eine Kluft von dem Os intermaxillare [Zwischenkieferknochen] der Schildkröte und des Elefanten, und doch läßt sich eine Reihe Wesen dazwischen stellen die beide verbindet« (FA I, 24, 23). Ist eine bestimmte Bildung bei einer Art nicht (mehr) festzustellen, so wird sie aber durch die Konsequenz der Stufenfolge voraussagbar oder deutbar. So hatte G. die Frage gestellt, warum ausgerechnet dem Menschen der Zwischenkieferknochen fehlen sollte, wenn er bei den anderen von ihm untersuchten Wirbeltieren vorhanden sei.
Die variierende Ähnlichkeit von Lebewesen und die daraus resultierende Möglichkeit eines vergleichenden Verfahrens wird durch gemeinsame Baupläne bedingt. Insbesondere zeigt sich die Lage eines bestimmten Teils (in G.s Horizont: Knochen) im Gesamtbauplan stets konstant, so dass es anhand dieses Kriteriums möglich wird, auch schwach ausgebildete Teile oder Organe aufzuspüren. So folgt das Wirbeltierskelett in seiner Anordnung, so verschieden die einzelnen Knochen auch ausgebildet sein mögen, stets einem gemeinsamen Grundplan. Bei den Samenpflanzen ist die Folge der Blätter stets durch die Abfolge von Keimblättern, Laubblättern, Kelch-, Blüten-, Staub- und Fruchtblättern gegeben. Ein Bauplan (Typus) lässt sich empirisch-induktiv durch Untersuchungen am Objekt oder gedanklich-deduktiv ableiten; für G.s Typus-Begriff ist gerade eine Wechselperspektive charakteristisch, die den reellen Befund am gedanklichen Leitprinzip orientiert und dieses wiederum am konkreten Merkmal überprüft. G.s Typusbegriff schwankt zwischen realem Zugriff und idealer Bestimmung.
Während der Typus in seiner Gesamtheit letzten Endes konstant bleibt, erscheint die Bildung eines einzelnen Teils oder Organs (z. B. des >Blatts oder des Wirbels) dagegen variabel; es kann in verschiedenen Größen und Formen erscheinen, im Extremfall völlig rückgebildet oder auch außergewöhnlich groß sein, je nach dem Lebensraum im Wasser, in der Luft oder an der Erde.
Als regulierendes Gesetz des Vorherigen sah G. das Prinzip eines Naturhaushalts zwischen den einzelnen Bildungen eines Lebewesens. Nach diesem Etat kann ein Lebewesen ein Organ nur dann besonders ausprägen oder kompliziert gestalten, wenn dafür ein anderes unterdurchschnittlich entwickelt ist (Kompensationsprinzip).
Die Verhältnisse in der Natur unterliegen einem ständigen Wandel, einer Bildung und Umbildung, die G. durch den Begriff der Metamorphose bezeichnete. Im Verlauf der Lebensphasen zeigt sich die Metamorphose durch einen ständig pulsierenden Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung, wie er auch dem Aus- und Einatmen oder der Systole und Diastole des Herzens zugrunde liegt. Als Grundelement, das durch Metamorphosen in verschiedene Richtungen abgewandelt und in jeder konkreten Bildung wiedergefunden werden könne, galt G. in der Botanik das Blatt, in der Anatomie der Wirbel.
Für die Lebewesen gilt als doppeltes Gesetz: Durch Umwelteinflüsse können sich die Merkmale von Lebewesen verändern, die sich als Metamorphosen der ursprünglichen Bildung zeigen. Doch können äußere Umstände nie das durch den Typus gegebene Grundmuster verändern, das als innere Natur einem Wandel entgegenwirkt. Ein in der Realität vorhandener Bauplan oder auch ein gedanklich gefasstes Grundmuster, ein idealer Typus, umfasst sämtliche Metamorphosen, die in Erscheinung treten können. Keine auch noch so ausgeprägte Metamorphose ist allerdings in der Lage, die durch den Typus gesetzten Grenzen zu überschreiten oder den Typus zu verändern.
Die hier knapp vorgestellten Leitprinzipien stellen den Hintergrund für G.s morphologische Arbeiten dar, in denen sie schrittweise entwickelt wurden. Dabei liefen botanische und zoologisch-osteologische Studien teilweise parallel, teilweise phasenweise versetzt. Über erste Annäherungen an die Natur wird in Dichtung und Wahrheit berichtet: beispielsweise über das Interesse des jungen G. an der Seidenraupenzucht des Vaters (um 1760), ferner über Gartenarbeit und einen Altar mit Naturprodukten, der zur Verehrung Gottes aufgebaut wurde. In Leipzig und Straßburg hörte G. nicht nur naturwissenschaftliche Vorlesungen, sondern befand sich überdies im Kreise medizinisch-naturwissenschaftlich orientierter Kommilitonen in den Tischgesellschaften (1765/1766 und 1770/1771). Zwischen 1768 und 1770 beschäftigte G. sich mit Alchimie und der Frage nach den Anfängen des Lebens.
Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften seiner Zeit begann für G. Ende der 1770er Jahre in Weimar, als er, durch amtliche Pflichten genötigt, »in die Sphäre der Wissenschaft trat« (FA I, 24, 733), um als kompetenter Berater in Fragen des Forstwesens, des Wege- und Wasserbaues, der Anlage von Gärten und Parks sowie des Bergbaues mitreden zu können.
Osteologische, anatomische und zoologische Schriften (Übersicht)
G.s Arbeiten zu diesem Themenbereich lassen sich gut verschiedenen Schaffensphasen zuordnen. Die erste, 1776 und 1781 bis 1788, umfasste die Auseinandersetzung mit Johann Kaspar >Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1776), die Studien im Umkreis der Wiederentdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens (1783-1785), Arbeiten über > Infusionstiere (1786) bis hin zu Reflexionen über auch für die Botanik relevante Entwicklungserscheinungen von Organismen (Präformation, Epigenese) auf der ersten italienischen Reise (1786-1788). Die Arbeiten zur Gestalt-, Verwandlungs- und Vergleichungslehre (1790-1794), die mit Beobachtungen zur Wirbeltheorie des Schädels in >Venedig begannen (1790) und auch ästhetische Fragen mit einbezogen, mündeten in osteologische Vorlesungen in Jena (1794-1796) und die zentrale Abhandlung über den osteologischen Typus (1795), deren erste Kapitel im Folgejahr weiter ausgebaut wurden. Der 1795 gefasste Plan zur Herausgabe von Beobachtungen und Betrachtungen aus der Naturlehre und Naturgeschichte wurde indes aufgegeben. Zwischen 1796 und 1798 betrieb G. einerseits spezielle zoologische Untersuchungen, so Entomologische Studien zur Metamorphose der Raupe, Naturhistorische Studien zur Anatomie der Schnecke und zu den Eingeweiden des Frosches, vor allem aber versuchte er, eine Methodik der Wissenschaft von den Lebewesen zu etablieren, die schließlich in sein umfassendes Morphologie- Konzept mündete, wobei G. den Begriff »Morphologie « in die Wissenschaft einführte. Am 12. und 13.11.1796 kam es zum schon genannten Dialog über Morphologie im Briefwechsel mit Schiller, 1797 fasste G. den nicht ausgeführten Plan, naturwissenschaftliche Beiträge in den Propyläen zu veröffentlichen. Gemeinsame Studien mit Schelling in Jena schlossen sich 1798 an, in dieser Zeit wurde auch G.s Idee eines ausführlichen >Naturgedichts bekannt, die immer wieder einmal aufschimmerte, ohne dass es zu solch einer literarischen Produktion gekommen wäre. 1804 erregte Franz Joseph >Galls Schädellehre G.s Aufmerksamkeit, im Folgejahr wurden Galls Vorlesungen in >Halle besucht. Abgesehen von wenigen kurzen Beiträgen zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1805/1806) und bald nicht weiter verfolgten einleitenden Bemerkungen zur Morphologie in G.s Ideen über organische Bildung (1806/1807) kam es zu einer längeren Pause, die erst durch die Herausgabe der Hefte Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817- 1824) überwunden wurde. Hier lieferte G. bereits vorliegende ältere Arbeiten, oft ergänzt durch Nachträge, wissenschaftsmethodische und -theoretische Reflexionen, die seine Art, Naturforschung zu betreiben, deutlich machten, auch aktuelle Beiträge und Rezensionen, in denen klar wurde, wie G. die Studien von Zeitgenossen mit Wohlwollen (vor allem bei Christian Gottfried Daniel >Nees von Esenbeck, Eduard Joseph d'>Alton oder Carl Gustav >Carus), aber auch mit Unbehagen (so z. B. bei Johann Baptist von >Spix und Lorenz >Oken) begleitete. Von sehr wenigen Stücken nach 1824 abgesehen, kam es erst ab 1828 noch einmal zu umfangreicherer morphologischer Tätigkeit, vorwiegend mit botanischem Schwerpunkt. Am Ende standen die Anteilnahme am Pariser Akademiestreit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire im Jahr 1830, eine erneute Publikation der Zwischenkieferabhandlung, deren Redaktion G. aber nicht mehr selbst übernahm und Johannes >Müller überließ, und ein kleiner Text zur plastischen Anatomie, der zur lebhaften Diskussion Stellung bezog, ob man das anatomische Studium an Leichen oder Wachspräparaten betreiben solle, eine Thematik, der sich G. bereits im Wilhelm Meister zugewandt hatte.
Botanische Schriften (Übersicht)
Bereits 1776-1778 hatte sich G. der Anlage seines >Gartens am Stern in Weimar gewidmet und sich in diesem Zusammenhang mit Parkanlagen beschäftigt, 1779 studierte er die botanische Terminologie und Systematik gemeinsam mit August Johann Georg Karl >Batsch. 1784/1785 begann G., sich systematisch der Botanik zuzuwenden und nach Linnés Terminologie Pflanzen zu bestimmen. Unterstützung fand er bei Friedrich Gottlieb >Dietrich, der aus einer seit Generationen besonders pflanzenkundlich engagierten Familie stammte und ihn 1785 nach Karlsbad begleitete, sowie wiederum bei Batsch, der ab 1786 als Dozent und ab 1788 als Professor der Naturgeschichte in Jena wirkte. War G. beim Zwischenkiefer von einem einzelnen Merkmal ausgegangen, vom Besonderen und Vereinzelten gleichsam, so schlug er in der Botanik den umgekehrten Weg ein und nahm den allgemeinen Bauplan und den Gesamthabitus der Pflanze als Ausgangspunkt. 1786 glaubte G., sich in der Pflanzenwelt bereits gut auszukennen. In >Italien (1786-1788) stellte er die Frage, was die Pflanze zur Pflanze mache, und beantwortete sie mit der Hypothese »Alles ist Blatt, und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich« (FA I, 24, 84). Die gesamte Pflanze in ihrem Habitus, der allgemeine Bauplan, bestand für ihn in einer charakteristischen Folge von verschiedenen Blattformen, die vom Keimblatt bis zur Blüte unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren. G. verwendete für diese Vorstellung einer botanischen, alle bezeichnenden Merkmale enthaltenden Zentralform den Begriff >›Urpflanze‹, der freilich nicht phylogenetisch im Sinne der Evolutionstheorie des 19. Jh.s gedeutet werden darf. 1787 erschien die Urpflanze ihm kurzzeitig als ein real in der Natur existierender Typus, dann aber bald als eine gedankliche Leitfigur, die in der konkreten Natur nur in immer wieder neuen Ausgestaltungen in Erscheinung treten kann. Durch das Prinzip der Metamorphose, durch Metamorphosen des Blattes, ließ G. aus dem Pflanzenmodell, dem Typus oder der Urpflanze, die zahlreichen in der Natur tatsächlich vorkommenden Pflanzen entstehen. Diese Überlegungen standen im Mittelpunkt des Versuchs die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790). Am 20.7.1794 kam es zum denkwürdigen Gespräch mit Schiller über die Metamorphose der Pflanzen, das die Annäherung und fruchtbare Zusammenarbeit besonders in den Jahren 1798/1799 einleitete. 1796 untersuchte G. die Wirkung des Lichts auf organische Körper, und die bereits genannten umfangreichen Auseinandersetzungen mit einem Morphologiekonzept zwischen 1796 und 1798 berücksichtigten freilich auch die Pflanzenwelt. Kurze Beiträge zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1805/1806), Botanische Vorträge (1806/1807), die Untersuchung der Pietra fungaja (1811) und gemeinsam mit Friedrich Siegmund >Voigt unternommene Studien zu den Pflanzenfarben (1815/1816) waren weitere botanische Stationen, bevor dieser Gegenstand dann intensive Berücksichtigung in den Heften Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817-1824) fand (s. u. S. 37-56), wobei besonders Nees von Esenbeck, Ernst >Meyer und Carl Friedrich Philipp von >Martius als Korrespondenten und botanische Autoren bedeutsam wurden. 1828, nach dem Tod von Herzog >Carl August, betrieb G. morphologische Studien in
>Dornburg, verfasste mehrere botanische Monographien zu einzelnen Pflanzenarten und fasste den Plan zu einer deutsch-französischen Ausgabe des Versuchs über die Metamorphose der Pflanzen gemeinsam mit Frédéric >Soret. Diese wurde schließlich - nach dem Tod des Sohnes August in Rom und eigener schwerer Erkrankung (Oktober/November 1830) - 1831 stark gekürzt veröffentlicht, nachdem G. sich in den Vorjahren ab 1829 auch intensiv mit Studien zur >Spiraltendenz der Vegetation beschäftigt hatte.
Nach diesen summarischen Überblicken seien die einzelnen Texte nun genauer ins Auge gefasst.
1776, 1781-1788: Naturgeschichtlicher Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten - Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre daß der Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Thieren gemein sey - Arbeiten zum Zwischenkieferknochen - Studien in Italien: Evolution und Epigenese
Sieht man von ersten Begegnungen mit der Anatomie in der Leipziger und vor allem Straßburger Studienzeit ab, war G.s Interesse an der Wirbeltieranatomie zunächst 1776 in seinem Naturgeschichtlichen Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten angeklungen. Den Züricher Theologen Johann Kaspar Lavater hatte G. im Sommer 1774 auf einer Rheinreise näher kennengelernt. In seinem Werk Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775-1778) vertrat dieser die These, dass aus Merkmalen der Gesichtszüge auf die Charaktereigenschaften eines Menschen zu schließen sei.
G. versuchte in seinem im Januar 1776 bearbeiteten und im gleichen Jahr in Bd. 2 von Lavaters Werk erschienenen Beitrag, dieses Postulat auch für Tierschädel nachzuweisen, anhand einer Tafel, die auf Abbildungen aus Buffons Histoire naturelle (Paris 1749 ff.; speziell Bd. 10, 1763: Quadrupèdes) zurückgreift. Im Einzelnen untersuchte G. >Pferd, >Elefant, Esel, Ochse (>Stier), Hirsch, Schwein, Kamel, Tiger, >Löwe, Bär, Fischotter, Fuchs, Hund, Wolf, Widder, >Biber, Katze, Hyäne, Feldmaus und Stachelschwein. Beispielhaft zur Feldmaus: »[...] Leichtigkeit der Bemerkung des sinnlichen Gegenstandes, schnelles Ergreifen, Begierde und Furchtsamkeit, daher List. Der oft schwache Unterkiefer, die vordern, spitzig gebognen Zähne haben ihre Bestimmung zum Nagen und Kosten; sie sind fähig, das angepackte Leblose sich kräftig schmecken zu lassen; aber nichts Widerstehendes, Lebendiges, gewaltig zu fassen und zu verderben« (FA I, 24, 13). Später stand G. der physiognomischen Sichtweise auf den Menschen kritisch gegenüber, da er einen wissenschaftlichen Ansatzpunkt vermisste und er Lavaters Wirken vor allem im Sittlichen und Religiösen festmachte. Johann Peter >Eckermann äußerte sich über ein Gespräch mit G. vom 17.2.1829: »Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur Natur gehabt, wie man fast wegen seiner Physiognomik schließen sollte. ›Durchaus nicht, antwortete Goethe, seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religiöse. Was in Lavaters Physiognomik über Tierschädel vorkommt, ist von mir‹ « (FA II, 12, 310).
Im Herbst 1781 begann G. ein systematisches Studium der Anatomie in Jena unter Justus Christian >Loder, der 1778 als 25jähriger den Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Hebammenwesen an der Universität Jena er halten hatte. G. ging es zunächst darum, Kenntnisse der menschlichen Anatomie als Zeichner umzusetzen, und konsequenterweise vermittelte G. das erworbene Wissen als Lehrer an der Zeichenakademie in Weimar (7.11.1781-16.1.1782). Loder war bereits 1780 mehrfach an den Weimarer Hof geladen worden, um anatomische Demonstrationen und Sektionen (so am 19.7.1780 an einer Kindesleiche) vorzuführen. Angehörige des Hofes und Staatsbeamte besuchten, zum Teil in G.s Begleitung, Loder zu ähnlichen Veranstaltungen in Jena. G. berichtete wiederholt von seinen anatomischen Studien: »Heute Abend habe ich Anatomie gezeichnet und bin fleisig« (an Charlotte von Stein, 19.10.1781). - »Loder erklärt mir alle Beine und Musklen und ich werde in wenig Tagen vieles fassen« (an dieselbe, 29.10.1781). - »Mir hat er [Loder] in diesen 8 Tagen [...] Osteologie und Müologie durch demonstrirt. Zwey Unglückliche waren uns eben zum Glück gestorben die wir denn auch ziemlich abgeschält und ihnen von dem sündigen Fleische geholfen haben« (an Carl August, 4.11.1781).
Der anatomisch geschulte G. nahm sich keineswegs gezielt der Thematik des menschlichen Zwischenkieferknochens an. Vielmehr war er seit 1780 mehrfach auf diesen Knochen und sein angebliches Fehlen beim Menschen hingewiesen worden, so beispielsweise durch Johann Heinrich
>Merck (in seinem Beitrag Ueber einige Merkwürdigkeiten von Cassel im Teutschen Merkur), ohne dass sein Interesse geweckt worden wäre.
Konkreter Anlass, sich dem Zwischenkieferknochen zuzuwenden, war G.s gemeinsame Arbeit mit Herder in den Wintermonaten 1783/1784. Herder schrieb an den ersten Büchern seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, deren viertes Buch Mensch und Orang-Utan und damit die Zwischenkieferproblematik im engeren Sinne behandelt. G. erhielt zu dieser Zeit zunehmend Einblick in die Fachliteratur und erfuhr immer wieder, dass viele Anatomen, darunter die zeitgenössisch führenden Gelehrten Pieter >Camper in Holland sowie Samuel Thomas >Soemmerring und Johann Friedrich Blumenbach in Deutschland, das anatomische Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und (Wirbel-)Tier im Zwischenkieferknochen sahen, der einzig dem Menschen fehlen sollte.
Der paarige Zwischenkieferknochen (Os intermaxillare, Os praemaxillare, Os incisivum) schließt den Oberkiefer nach vorne ab und trägt stets die oberen Schneidezähne. Auch bei Tieren, denen Letztere fehlen, ist er vorhanden. Aufgrund der beim Menschen unterschiedlichen Sichtbarkeit der verschiedenen Trennungsnähte zum Oberkiefer - beim Erwachsenen nicht mehr vorhanden, bei Embryonen und Missbildungen noch nachweisbar - durchzieht die Medizingeschichte seit der Antike eine jahrhundertelange Kontroverse um die Existenz eines menschlichen Zwischenkiefers, an der sich namhafte Anatomen beteiligten (>Galen, Vesal, Coiter u.v. a.). In der G.zeit sprach sich die Mehrheit der Gelehrten, darunter die genannten Fachgrößen, gegen die Existenz eines menschlichen Zwischenkiefers aus, obwohl der französische Anatom Félix Vicq d'Azyr 1780 (im Druck 1784) das Vorhandensein erneut bestätigt hatte. G. musste das Ableugnen des menschlichen Zwischenkiefers, dessen Fehlen auch als Voraussetzung für die Sprachfähigkeit des Menschen angesehen wurde, als Bruch im biologischen System erscheinen, zumal die Gedankenwelt Spinozas, aber auch das von Her
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Bevor die einzelnen Bereiche von Goethes Naturforschung in Übersichtsartikeln vorgestellt werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf den wissenschaftshistorischen Hintergrund geworfen. Die Geschichte der Naturwissenschaften in der Goethezeit ist gekennzeichnet durch einen grundlegenden Wandel in den Vorstellungen des Menschen über die Natur, die Begründung neuer wissenschaftlicher Disziplinen sowie eine zunehmende Spezialisierung der einzelnen Fachwissenschaften. Goethe nahm an diesen Entwicklungen nicht nur regen Anteil, sondern er lieferte in einigen Bereichen selbst maßgebliche Beiträge. Er wusste in diesem Zusammenhang zwar um seine Außenseiterrolle als naturwissenschaftlicher Dilettant, doch schätzte er gerade dessen Funktion - im Gegensatz zum Dilettanten in der Kunst - als sehr positiv ein und wollte durchaus als Naturforscher ernstgenommen werden (> Dilettantismus). Seine Vorstellungen von der Natur und ihren Ordnungsmustern waren das Resultat lebenslanger intensiver Bemühungen, gestützt auf die gründliche Aneignung des Wissensstandes der Vorgänger und der Zeitgenossen, sei es mithilfe von Literatur, sei es im persönlichen Umgang mit Gelehrten in Weimar und >Jena sowie auf zahlreichen >Reisen. Die Antwort darauf, welchen Positionen sich Goethe anschloss und welchen er widersprach, wo er der gültigen Lehrmeinung Abweichendes entgegensetzte oder darüber Hinausgehendes vortrug, setzt voraus, sich die beherrschenden Standpunkte im naturwissenschaftlichen Weltbild des 18. Jh.s, die Streitpunkte und Wandlungen klar zu machen.
Die wesentlichen Anschauungen der zeitgenössischen Naturgeschichte und Naturlehre, wie sie im Kontext von Goethes Arbeiten vor allem durch Carl von >Linné, Georges Louis de
>Buffon, Albrecht von >Haller, Charles >Bonnet und Isaac >Newton bestimmt wurden, kannte Goethe seit seiner Studienzeit in Leipzig und Straßburg. Linné hatte mit seiner Systematik versucht, den Naturreichen der Pflanzen, der Tiere und der Mineralien eine Ordnung zu geben. Der Glaube an die Schöpfungsgeschichte der Bibel und an kirchliche Dogmen machte die Vorstellung einer Artenkonstanz plausibel. Auf der Ebene der Individualentwicklung wurde diese Anschauung flankiert von der Theorie der >Evolution oder >Präformation (Einschachtelung der Lebewesen in Miniaturform im Keim oder Ei); dagegen konnten sich die >Epigenesevorstellungen Caspar Friedrich >Wolffs und Johann Friedrich >Blumenbachs zunächst nicht durchsetzen. Buffon hatte sein Augenmerk der sich selbst bildenden, durch einen einheitlichen Typus zu kennzeichnenden Natur und der Frage nach dem Charakter von organischen Kräften zugewandt, ein Problem, dem sich auch Johann Gottfried
>Herder, zum Teil in enger Zusammenarbeit mit Goethe, widmen sollte. Haller wählte als Ausgangspunkt die mögliche Definition von Leben; er untersuchte die Reizbarkeit des Organismus und unterschied nach den Reaktionen (Bewegung oder Empfindung) Muskeln und Nerven voneinander. Bonnet schließlich hatte aufgrund der abgestuften Ähnlichkeit der Lebewesen und der nicht organischen Bildungen eine von anderen Autoren wiederum abgewandelte Stufenleitervorstellung entwickelt, nach der sich die Erscheinungsformen in der Natur nach dem Kriterium der Vollkommenheit ordnen ließen. Eine wichtige Grundannahme über die Wirkungsweise der Natur war durch das auf René >Descartes zurückgehende Maschinenmodell bezeichnet, nach dem die Natur insgesamt sowie das einzelne Individuum wie eine Maschine mit zahlreichen Triebrädern konstruiert sei und funktionieren sollte. Die Physikotheologie des 18. Jh.s postulierte Gott als Schöpfer der reibungslos funktionierenden Maschine, deren Perfektion umgekehrt zu einem Gottesbeweis gemacht wurde. Andere Strömungen wie der französische Materialismus verbannten Gott aus diesem Maschinenmodell und entwarfen eine atheistische, mit absolut materiellen Erklärungen arbeitende Theorie. Am Ende des 18. Jh.s wurde das Bild der Maschine für Natur, Lebewesen und Mensch zunehmend von der Anschauungsweise einer Organisation oder eines >Organismus abgelöst (Haller, Herder, >Kielmeyer, >Schelling), wodurch gleichermaßen die auf organischen Kräften oder einem Bildungstrieb (.>Bildung/Bildungstrieb) basierende Theorie der Epigenese (Wolff, Blumenbach) an Raum gewann.
Untersucht man Goethes Positionen, wie sie sich vor allem zwischen 1780 und 1800 entwickelten, so fällt auf, dass sie sich selten vorbehaltlos einer der gängigen Vorstellungen von der Natur anschlossen. Linné, dessen Einfluss auf die eigenen Naturanschauungen Goethe deutlich herausstellte, nutzte gerade durch den Widerspruch, zu dem er aufforderte. Goethe behagte das schematische Sondern der Merkmale im Rahmen des künstlichen Systems von Linné überhaupt nicht, da er in der Natur fließende Übergänge beobachtete und sein Augenmerk insgesamt mehr auf das Werdende und Bewegliche als auf die abgeschlossene Gestalt legte. In der Betonung des Beweglichen und Dynamischen ging Goethe mit einem eigenständigen Metamorphosekonzept deutlich über Linné hinaus und ersetzte die Konstanz der Arten durch eine Typenkonstanz, was ihn wiederum von einem Evolutionismus im Sinne Lamarcks oder Darwins trennte, dessen Feststellung eines historischen Wandels der biologischen Erscheinungswelt über Generationen hinweg außerhalb von Goethes Horizont lag. Zu den widerstreitenden Entwicklungstheorien, der Präformation und der Epigenese, ging Goethe gleichermaßen auf Distanz und hielt sie beide für unzureichend. Vielmehr wollte er ein eigenes Konzept entwickeln, das beide Vorstellungen auf einer morphologischen Ebene vereinigte. Eine kontinuierliche Stufenleiter, wie sie Bonnet vorgestellt hatte, lehnte Goethe nach seiner Rückkehr von der ersten Italienreise 1788 ausdrücklich ab, da sie ihm die Übergänge zwischen dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich zu verwischen schien. Und auch die Einheitlichkeit des Bauplans, wie sie Buffon in seinem Typus- Konzept postuliert hatte, wurde ihm zur Veranlassung, sich selbst intensiv mit diesem Problem auseinanderzusetzen und eine eigene Lösung zu erarbeiten, die schließlich 1796/1797 in der Begründung der Morphologie als einer Wissenschaft von den organischen Gestalten einen besonderen Stellenwert erhielt - wenige Jahre bevor Gottfried Reinhold Treviranus, Karl Friedrich >Burdach und Jean Baptiste de Lamarck um 1800 den übergreifenden Begriff >›Biologie‹ prägten.
Goethes Beschäftigung mit der Farbenlehre dagegen war weniger eine wohlüberlegte Reaktion auf die zeitgenössische, von Newton geprägte >Optik, zumal Goethes Gegenposition durch einen spontanen Gedanken von der Unhaltbarkeit der ihm zunächst nur ungenügend bekannten Newtonschen Theorie begründet wurde (>Prismenaperçu) und alle nachfolgenden Studien nur noch das Ziel hatten, die vorgefasste, gleichwohl irrige Meinung zu bestätigen. Die bereits 1791 anklingende Überzeugung, dass Farben letztlich nur aus einer Polarität von >Licht und Finsternis und deren Repräsentanten Gelb und Blau zu erklären seien, ließ den Erklärungen für Farbentstehung der zeitgenössischen >Physik keinen Raum und scheint in Teilen mit diesen auch prinzipiell nicht vergleichbar. Das unbefangene Herantreten an die natürlichen >Phänomene, das unmittelbare Anschauen und Beobachten, wie es schon in den frühen Zeugnissen für Goethes Naturinteresse zum Ausdruck kommt, ist im Übrigen auch in den späteren Zeiten intensiver Naturforschung Grundlage seiner Methodik geblieben.
Man kann weitgehend rekonstruieren, wie Goethes überwiegend autodidaktische naturwissenschaftliche Ausbildung in der frühen Weimarer Zeit ausgesehen hat und welchen Autoren und Gelehrten er sich später, teilweise im persönlichen Umgang, zuwandte. Insgesamt ergibt sich der Sachverhalt eines umfassenden Kenntnisstandes, der Goethe durchaus in die Lage versetzte, selbst Naturforschung zu betreiben. Zunächst wandte er sich der >Anatomie, speziell der >Osteologie zu, die er zwischen 1780 und 1784 intensiv studierte, dann aber erst 1790 wieder aufnahm, nun im Vorfeld der Aufstellung des >Typus (1795) und der Begründung der Morphologie (1796/1797). Botanische Studien trieb Goethe ab 1784 und vor allem während und nach der ersten Italienreise (1786-88). Sie führten zur Anschauung von der >Metamorphose der Pflanzen (1790), gleichsam dem flexiblen Element des botanischen Typus.
Geologische Arbeiten waren in den 1780er Jahren auf den Ilmenauer Bergbau sowie die Kenntnis der Gebirge in Thüringen und im Harz konzentriert. Mit den Reisen nach Böhmen (1785/1786, 1797, vor allem 1806-1823) verlagerten sich die Interessen auf die geologischen Verhältnisse in der Umgebung von >Karlsbad, >Marienbad, >Teplitz und im Egerland.
Die Farbenlehre beschäftigte Goethe intensiv ab 1791. Bis 1800 waren alle wesentlichen Grundlagen geklärt, 1810 erschienen Goethes Ergebnisse im umfangreichsten Werk seines gesamten Schaffens. Mit der Wetterkunde setzte Goethe sich erst ab 1815 auseinander.
Obwohl Goethe vor allem zwischen 1780 und 1810 zahlreiche naturwissenschaftliche Abhandlungen niedergeschrieben hatte, waren bis dahin doch nur einzelne davon (vor allem Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, 1790; Beyträge zur Optik, 1791/1792; Zur Farbenlehre, 1810) publiziert worden. In erster Linie fehlte ein umfassendes Werk zur Morphologie. Goethe hatte mehrfach (1795, 1798, 1806) geplant, seine Studien zur Naturgeschichte und Naturlehre zu
veröffentlichen. Aber erst 1816 konnte dieses Vorhaben mit der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817-1824) realisiert werden, in der Goethe frühere Arbeiten, Nachträge, autobiographische und historische Anmerkungen sowie eine Reihe von neuen Beiträgen aus allen Bereichen der Naturwissenschaft publizierte.
Und auch nach 1824, vor allem in der Zeit von 1828 bis zum Lebensende am 22.3.1832, griff Goethe die Naturforschung immer wieder auf, mit dem Versuch einer Witterungslehre (1825), der deutsch-französischen Ausgabe Versuch über die Metamorphose der Pflanzen (1831) und deren zahlreichen Vorarbeiten sowie mit der differenzierten Beschäftigung mit dem >Pariser Akademiestreit zwischen Georges Cuvier und Étienne >Geoffroy Saint-Hilaire. Wenige Stunden vor seinem Tod ließ er sich von der Schwiegertochter Ottilie eine Mappe zur Farbenlehre bringen.
Schriften zur Morphologie
Der Begriff der Morphologie ist mit G.s Namen in der Wissenschaftsgeschichte untrennbar verbunden. Bevor er ihn 1817 im Titel seiner Hefte Zur Morphologie und in deren Einleitung (speziell im 1806 entstandenen Aufsatz Die Absicht eingeleitet) verwendete und definierte, tauchte er erstmals bereits in seinem Tagebuch vom 25.9.1796 auf. Die Korrespondenz mit >Schiller vom 12. und 13.11.1796 deutet jedoch darauf hin, dass G. zunächst einen umfassenden Morphologie- Begriff unter Einschluss des Anorganischen (Geologie und Mineralogie) im Sinn hatte; erst in Zeugnissen aus der Zeit um 1807 wird der Terminus eindeutig auf organische Bildungen, also Lebewesen, bezogen. Da der Mediziner Karl Friedrich Burdach ebenfalls auf diese Begriffsbildung kam, sie in einem Werk aus dem Jahr 1800 benutzte und in die Öffentlichkeit brachte, kommt diesem und nicht G. die Priorität zu. Als G. den Begriff der Morphologie als Bezeichnung für die Lehre von der Gestalt 1796 einführte, lagen bereits wichtige Arbeiten zum Gegenstand vor, so der Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre daß der Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Thieren gemein sey (1784), der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), die Vorstudien zur Gestalt- und Vergleichungslehre aus den Jahren 1790 bis 1794 sowie die Manuskripte zur vergleichenden Anatomie, die auf die Aufstellung eines Typus der höheren Tiere zielten (1795/1796). Erst in den folgenden Überlegungen zur eigenen Methodik, mit denen sich G. darüber klar werden wollte, wie eine Lehre der Lebewesen im Einzelnen zu begründen sei, wurde der Begriff Morphologie zunehmend relevant und im Vorsatztitel der Zeitschrift Zur Morphologie schließlich als »Bildung und Umbildung organischer Naturen« (FA I, 24, 399) gefasst. Als G. sich mit der Ausarbeitung seiner Morphologie auseinandersetzte (vgl. dazu die Texte in FA I, 24, 347-373), hatte er nicht nur die genannten Aufsätze vorliegen, sondern weiterhin zahlreiche Tabellen, Materialien und >Schemata, die er nun an den neuen Gedanken überprüfte und feststellte, dass seine Lehre der Morphologie zwar mit vielen zeitgenössischen Vorstellungen in Übereinstimmung zu bringen sei, aber auch darüber hinausgehe und somit etwas Eigenständiges darstelle. Und er konstatierte über die Morphologie, dass »die Phänomene, mit denen sie sich beschäftigt höchst bedeutend sind und daß die Operationen des Geistes, wodurch sie die Phänomene zusammenstellt, der menschlichen Natur angemessen und angenehm sind, so daß auch ein fehlgeschlagener Versuch darin selbst noch Nutzen und Anmut verbinden könnte« (Betrachtung über Morphologie überhaupt; ebd. 368 f.).
Die Morphologie beschäftigt sich mit der (Individual-) Entwicklung des einzelnen Lebewesens, der grenzenlosen Vielfalt der in Erscheinung tretenden Naturen, aber auch den für alle gemeinsam geltenden Gesetzen. Den nahezu unendlichen Formenreichtum in der Natur fasste G. in seinem Konzept der Metamorphose, die ordnenden Gesetzmäßigkeiten, die der Metamorphose schließlich eine Grenze ziehen, kamen in seinem Typus-Konzept zum Ausdruck; beides gilt es im Einzelnen in Botanik, Osteologie, Zoologie und Anatomie zu verfolgen. Als grundlegendes Ordnungsverfahren wandte G. die vergleichende Methode an. Ähnliche Formen zu vergleichen und den Grad der Ähnlichkeit für die Einordnung in ein System zu nutzen (verkürzt: die vergleichende Methode anzuwenden), war konstitutives Element in G.s Naturforschung. Das Studium der organischen Naturen hat G. sein gesamtes Leben begleitet, und im Folgenden werden diese manchmal mehr der Botanik, dann wieder der Anatomie und Osteologie gewidmeten Phasen nach chronologischer Abfolge abgehandelt. Übersehen werden darf dabei nicht, dass die im engeren Kontext der Anschauungen von den Phänomenen des Lebendigen entwickelten Vorstellungen immer auch G.s allgemeiner Naturauffassung entsprachen, dass er also Gesetzen und Leitprinzipien nachspürte, die auch für die anderen Bereiche seiner naturwissenschaftlichen Interessen, für die Farbenlehre, die Geologie und die Meteorologie fruchtbar und anwendbar sein sollten. So erscheinen auch grundlegende Begriffe wie Typus und Metamorphose oder Polarität und Steigerung immer wieder von neuem, zwar in zahlreichen Facetten, aber auch immer wieder als Ordnungsmuster nutzbar.
In der Morphologie galten für G. bestimmte Gesetze und Leitvorstellungen, die er zwar nie programmatisch geschlossen niedergelegt hat, die aber den einzelnen Schriften parallel zum Voranschreiten seiner Forschungen zu entnehmen sind. Diese Grundlinien seien hier einleitend nachgezogen:
Bereits im Kontext der Studien zum menschlichen >Zwischenkieferknochen um 1784, in der Auseinandersetzung mit >Spinoza und in der gemeinsamen Arbeit mit Herder (1783/1784), hatte G. eine durchgehende Stetigkeit in den Bildungen der Natur festgestellt, die ihm zur Basis einer umfassenden Ordnung und Harmonie der gesamten Natur wurde. Das System der Natur ist durch abgestufte Ähnlichkeiten charakterisiert, die eine bestimmte Gruppierung von Lebewesen erlauben. G. fand bei Beginn seiner Studien hierzu die zeitgenössisch dominierende künstliche Systematik von Linné vor. Später zog er Autoren vor, die Pflanzen und Tieren nach einem natürlichen System ordnen wollten.
Die augenscheinlichen Ähnlichkeiten der Lebewesen bildeten die Grundlage dafür, sie miteinander vergleichen zu können. Je näher die Lebewesen im natürlichen System beieinander stehen, um so evidenter ist ihre Ähnlichkeit. Aber auch Lebewesen, die auf den ersten Blick keine Ähnlichkeit aufweisen, lassen sich durch eine Reihe vermittelnder Zwischenglieder aufeinander beziehen. So stellte G. beispielsweise beim Zwischenkieferknochen bei den einzelnen Arten große Unterschiede in der Gestalt fest, die aber um so weniger auffällig wurden, je mehr zwischen die Extreme die Glieder einer Reihe von Zwischenformen gestellt wurden, womit gleichzeitig eine Stufenfolge gebildet wurde: »Welch eine Kluft von dem Os intermaxillare [Zwischenkieferknochen] der Schildkröte und des Elefanten, und doch läßt sich eine Reihe Wesen dazwischen stellen die beide verbindet« (FA I, 24, 23). Ist eine bestimmte Bildung bei einer Art nicht (mehr) festzustellen, so wird sie aber durch die Konsequenz der Stufenfolge voraussagbar oder deutbar. So hatte G. die Frage gestellt, warum ausgerechnet dem Menschen der Zwischenkieferknochen fehlen sollte, wenn er bei den anderen von ihm untersuchten Wirbeltieren vorhanden sei.
Die variierende Ähnlichkeit von Lebewesen und die daraus resultierende Möglichkeit eines vergleichenden Verfahrens wird durch gemeinsame Baupläne bedingt. Insbesondere zeigt sich die Lage eines bestimmten Teils (in G.s Horizont: Knochen) im Gesamtbauplan stets konstant, so dass es anhand dieses Kriteriums möglich wird, auch schwach ausgebildete Teile oder Organe aufzuspüren. So folgt das Wirbeltierskelett in seiner Anordnung, so verschieden die einzelnen Knochen auch ausgebildet sein mögen, stets einem gemeinsamen Grundplan. Bei den Samenpflanzen ist die Folge der Blätter stets durch die Abfolge von Keimblättern, Laubblättern, Kelch-, Blüten-, Staub- und Fruchtblättern gegeben. Ein Bauplan (Typus) lässt sich empirisch-induktiv durch Untersuchungen am Objekt oder gedanklich-deduktiv ableiten; für G.s Typus-Begriff ist gerade eine Wechselperspektive charakteristisch, die den reellen Befund am gedanklichen Leitprinzip orientiert und dieses wiederum am konkreten Merkmal überprüft. G.s Typusbegriff schwankt zwischen realem Zugriff und idealer Bestimmung.
Während der Typus in seiner Gesamtheit letzten Endes konstant bleibt, erscheint die Bildung eines einzelnen Teils oder Organs (z. B. des >Blatts oder des Wirbels) dagegen variabel; es kann in verschiedenen Größen und Formen erscheinen, im Extremfall völlig rückgebildet oder auch außergewöhnlich groß sein, je nach dem Lebensraum im Wasser, in der Luft oder an der Erde.
Als regulierendes Gesetz des Vorherigen sah G. das Prinzip eines Naturhaushalts zwischen den einzelnen Bildungen eines Lebewesens. Nach diesem Etat kann ein Lebewesen ein Organ nur dann besonders ausprägen oder kompliziert gestalten, wenn dafür ein anderes unterdurchschnittlich entwickelt ist (Kompensationsprinzip).
Die Verhältnisse in der Natur unterliegen einem ständigen Wandel, einer Bildung und Umbildung, die G. durch den Begriff der Metamorphose bezeichnete. Im Verlauf der Lebensphasen zeigt sich die Metamorphose durch einen ständig pulsierenden Wechsel von Ausdehnung und Zusammenziehung, wie er auch dem Aus- und Einatmen oder der Systole und Diastole des Herzens zugrunde liegt. Als Grundelement, das durch Metamorphosen in verschiedene Richtungen abgewandelt und in jeder konkreten Bildung wiedergefunden werden könne, galt G. in der Botanik das Blatt, in der Anatomie der Wirbel.
Für die Lebewesen gilt als doppeltes Gesetz: Durch Umwelteinflüsse können sich die Merkmale von Lebewesen verändern, die sich als Metamorphosen der ursprünglichen Bildung zeigen. Doch können äußere Umstände nie das durch den Typus gegebene Grundmuster verändern, das als innere Natur einem Wandel entgegenwirkt. Ein in der Realität vorhandener Bauplan oder auch ein gedanklich gefasstes Grundmuster, ein idealer Typus, umfasst sämtliche Metamorphosen, die in Erscheinung treten können. Keine auch noch so ausgeprägte Metamorphose ist allerdings in der Lage, die durch den Typus gesetzten Grenzen zu überschreiten oder den Typus zu verändern.
Die hier knapp vorgestellten Leitprinzipien stellen den Hintergrund für G.s morphologische Arbeiten dar, in denen sie schrittweise entwickelt wurden. Dabei liefen botanische und zoologisch-osteologische Studien teilweise parallel, teilweise phasenweise versetzt. Über erste Annäherungen an die Natur wird in Dichtung und Wahrheit berichtet: beispielsweise über das Interesse des jungen G. an der Seidenraupenzucht des Vaters (um 1760), ferner über Gartenarbeit und einen Altar mit Naturprodukten, der zur Verehrung Gottes aufgebaut wurde. In Leipzig und Straßburg hörte G. nicht nur naturwissenschaftliche Vorlesungen, sondern befand sich überdies im Kreise medizinisch-naturwissenschaftlich orientierter Kommilitonen in den Tischgesellschaften (1765/1766 und 1770/1771). Zwischen 1768 und 1770 beschäftigte G. sich mit Alchimie und der Frage nach den Anfängen des Lebens.
Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften seiner Zeit begann für G. Ende der 1770er Jahre in Weimar, als er, durch amtliche Pflichten genötigt, »in die Sphäre der Wissenschaft trat« (FA I, 24, 733), um als kompetenter Berater in Fragen des Forstwesens, des Wege- und Wasserbaues, der Anlage von Gärten und Parks sowie des Bergbaues mitreden zu können.
Osteologische, anatomische und zoologische Schriften (Übersicht)
G.s Arbeiten zu diesem Themenbereich lassen sich gut verschiedenen Schaffensphasen zuordnen. Die erste, 1776 und 1781 bis 1788, umfasste die Auseinandersetzung mit Johann Kaspar >Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1776), die Studien im Umkreis der Wiederentdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens (1783-1785), Arbeiten über > Infusionstiere (1786) bis hin zu Reflexionen über auch für die Botanik relevante Entwicklungserscheinungen von Organismen (Präformation, Epigenese) auf der ersten italienischen Reise (1786-1788). Die Arbeiten zur Gestalt-, Verwandlungs- und Vergleichungslehre (1790-1794), die mit Beobachtungen zur Wirbeltheorie des Schädels in >Venedig begannen (1790) und auch ästhetische Fragen mit einbezogen, mündeten in osteologische Vorlesungen in Jena (1794-1796) und die zentrale Abhandlung über den osteologischen Typus (1795), deren erste Kapitel im Folgejahr weiter ausgebaut wurden. Der 1795 gefasste Plan zur Herausgabe von Beobachtungen und Betrachtungen aus der Naturlehre und Naturgeschichte wurde indes aufgegeben. Zwischen 1796 und 1798 betrieb G. einerseits spezielle zoologische Untersuchungen, so Entomologische Studien zur Metamorphose der Raupe, Naturhistorische Studien zur Anatomie der Schnecke und zu den Eingeweiden des Frosches, vor allem aber versuchte er, eine Methodik der Wissenschaft von den Lebewesen zu etablieren, die schließlich in sein umfassendes Morphologie- Konzept mündete, wobei G. den Begriff »Morphologie « in die Wissenschaft einführte. Am 12. und 13.11.1796 kam es zum schon genannten Dialog über Morphologie im Briefwechsel mit Schiller, 1797 fasste G. den nicht ausgeführten Plan, naturwissenschaftliche Beiträge in den Propyläen zu veröffentlichen. Gemeinsame Studien mit Schelling in Jena schlossen sich 1798 an, in dieser Zeit wurde auch G.s Idee eines ausführlichen >Naturgedichts bekannt, die immer wieder einmal aufschimmerte, ohne dass es zu solch einer literarischen Produktion gekommen wäre. 1804 erregte Franz Joseph >Galls Schädellehre G.s Aufmerksamkeit, im Folgejahr wurden Galls Vorlesungen in >Halle besucht. Abgesehen von wenigen kurzen Beiträgen zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1805/1806) und bald nicht weiter verfolgten einleitenden Bemerkungen zur Morphologie in G.s Ideen über organische Bildung (1806/1807) kam es zu einer längeren Pause, die erst durch die Herausgabe der Hefte Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817- 1824) überwunden wurde. Hier lieferte G. bereits vorliegende ältere Arbeiten, oft ergänzt durch Nachträge, wissenschaftsmethodische und -theoretische Reflexionen, die seine Art, Naturforschung zu betreiben, deutlich machten, auch aktuelle Beiträge und Rezensionen, in denen klar wurde, wie G. die Studien von Zeitgenossen mit Wohlwollen (vor allem bei Christian Gottfried Daniel >Nees von Esenbeck, Eduard Joseph d'>Alton oder Carl Gustav >Carus), aber auch mit Unbehagen (so z. B. bei Johann Baptist von >Spix und Lorenz >Oken) begleitete. Von sehr wenigen Stücken nach 1824 abgesehen, kam es erst ab 1828 noch einmal zu umfangreicherer morphologischer Tätigkeit, vorwiegend mit botanischem Schwerpunkt. Am Ende standen die Anteilnahme am Pariser Akademiestreit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire im Jahr 1830, eine erneute Publikation der Zwischenkieferabhandlung, deren Redaktion G. aber nicht mehr selbst übernahm und Johannes >Müller überließ, und ein kleiner Text zur plastischen Anatomie, der zur lebhaften Diskussion Stellung bezog, ob man das anatomische Studium an Leichen oder Wachspräparaten betreiben solle, eine Thematik, der sich G. bereits im Wilhelm Meister zugewandt hatte.
Botanische Schriften (Übersicht)
Bereits 1776-1778 hatte sich G. der Anlage seines >Gartens am Stern in Weimar gewidmet und sich in diesem Zusammenhang mit Parkanlagen beschäftigt, 1779 studierte er die botanische Terminologie und Systematik gemeinsam mit August Johann Georg Karl >Batsch. 1784/1785 begann G., sich systematisch der Botanik zuzuwenden und nach Linnés Terminologie Pflanzen zu bestimmen. Unterstützung fand er bei Friedrich Gottlieb >Dietrich, der aus einer seit Generationen besonders pflanzenkundlich engagierten Familie stammte und ihn 1785 nach Karlsbad begleitete, sowie wiederum bei Batsch, der ab 1786 als Dozent und ab 1788 als Professor der Naturgeschichte in Jena wirkte. War G. beim Zwischenkiefer von einem einzelnen Merkmal ausgegangen, vom Besonderen und Vereinzelten gleichsam, so schlug er in der Botanik den umgekehrten Weg ein und nahm den allgemeinen Bauplan und den Gesamthabitus der Pflanze als Ausgangspunkt. 1786 glaubte G., sich in der Pflanzenwelt bereits gut auszukennen. In >Italien (1786-1788) stellte er die Frage, was die Pflanze zur Pflanze mache, und beantwortete sie mit der Hypothese »Alles ist Blatt, und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich« (FA I, 24, 84). Die gesamte Pflanze in ihrem Habitus, der allgemeine Bauplan, bestand für ihn in einer charakteristischen Folge von verschiedenen Blattformen, die vom Keimblatt bis zur Blüte unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren. G. verwendete für diese Vorstellung einer botanischen, alle bezeichnenden Merkmale enthaltenden Zentralform den Begriff >›Urpflanze‹, der freilich nicht phylogenetisch im Sinne der Evolutionstheorie des 19. Jh.s gedeutet werden darf. 1787 erschien die Urpflanze ihm kurzzeitig als ein real in der Natur existierender Typus, dann aber bald als eine gedankliche Leitfigur, die in der konkreten Natur nur in immer wieder neuen Ausgestaltungen in Erscheinung treten kann. Durch das Prinzip der Metamorphose, durch Metamorphosen des Blattes, ließ G. aus dem Pflanzenmodell, dem Typus oder der Urpflanze, die zahlreichen in der Natur tatsächlich vorkommenden Pflanzen entstehen. Diese Überlegungen standen im Mittelpunkt des Versuchs die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790). Am 20.7.1794 kam es zum denkwürdigen Gespräch mit Schiller über die Metamorphose der Pflanzen, das die Annäherung und fruchtbare Zusammenarbeit besonders in den Jahren 1798/1799 einleitete. 1796 untersuchte G. die Wirkung des Lichts auf organische Körper, und die bereits genannten umfangreichen Auseinandersetzungen mit einem Morphologiekonzept zwischen 1796 und 1798 berücksichtigten freilich auch die Pflanzenwelt. Kurze Beiträge zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1805/1806), Botanische Vorträge (1806/1807), die Untersuchung der Pietra fungaja (1811) und gemeinsam mit Friedrich Siegmund >Voigt unternommene Studien zu den Pflanzenfarben (1815/1816) waren weitere botanische Stationen, bevor dieser Gegenstand dann intensive Berücksichtigung in den Heften Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie (1817-1824) fand (s. u. S. 37-56), wobei besonders Nees von Esenbeck, Ernst >Meyer und Carl Friedrich Philipp von >Martius als Korrespondenten und botanische Autoren bedeutsam wurden. 1828, nach dem Tod von Herzog >Carl August, betrieb G. morphologische Studien in
>Dornburg, verfasste mehrere botanische Monographien zu einzelnen Pflanzenarten und fasste den Plan zu einer deutsch-französischen Ausgabe des Versuchs über die Metamorphose der Pflanzen gemeinsam mit Frédéric >Soret. Diese wurde schließlich - nach dem Tod des Sohnes August in Rom und eigener schwerer Erkrankung (Oktober/November 1830) - 1831 stark gekürzt veröffentlicht, nachdem G. sich in den Vorjahren ab 1829 auch intensiv mit Studien zur >Spiraltendenz der Vegetation beschäftigt hatte.
Nach diesen summarischen Überblicken seien die einzelnen Texte nun genauer ins Auge gefasst.
1776, 1781-1788: Naturgeschichtlicher Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten - Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre daß der Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Thieren gemein sey - Arbeiten zum Zwischenkieferknochen - Studien in Italien: Evolution und Epigenese
Sieht man von ersten Begegnungen mit der Anatomie in der Leipziger und vor allem Straßburger Studienzeit ab, war G.s Interesse an der Wirbeltieranatomie zunächst 1776 in seinem Naturgeschichtlichen Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten angeklungen. Den Züricher Theologen Johann Kaspar Lavater hatte G. im Sommer 1774 auf einer Rheinreise näher kennengelernt. In seinem Werk Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775-1778) vertrat dieser die These, dass aus Merkmalen der Gesichtszüge auf die Charaktereigenschaften eines Menschen zu schließen sei.
G. versuchte in seinem im Januar 1776 bearbeiteten und im gleichen Jahr in Bd. 2 von Lavaters Werk erschienenen Beitrag, dieses Postulat auch für Tierschädel nachzuweisen, anhand einer Tafel, die auf Abbildungen aus Buffons Histoire naturelle (Paris 1749 ff.; speziell Bd. 10, 1763: Quadrupèdes) zurückgreift. Im Einzelnen untersuchte G. >Pferd, >Elefant, Esel, Ochse (>Stier), Hirsch, Schwein, Kamel, Tiger, >Löwe, Bär, Fischotter, Fuchs, Hund, Wolf, Widder, >Biber, Katze, Hyäne, Feldmaus und Stachelschwein. Beispielhaft zur Feldmaus: »[...] Leichtigkeit der Bemerkung des sinnlichen Gegenstandes, schnelles Ergreifen, Begierde und Furchtsamkeit, daher List. Der oft schwache Unterkiefer, die vordern, spitzig gebognen Zähne haben ihre Bestimmung zum Nagen und Kosten; sie sind fähig, das angepackte Leblose sich kräftig schmecken zu lassen; aber nichts Widerstehendes, Lebendiges, gewaltig zu fassen und zu verderben« (FA I, 24, 13). Später stand G. der physiognomischen Sichtweise auf den Menschen kritisch gegenüber, da er einen wissenschaftlichen Ansatzpunkt vermisste und er Lavaters Wirken vor allem im Sittlichen und Religiösen festmachte. Johann Peter >Eckermann äußerte sich über ein Gespräch mit G. vom 17.2.1829: »Ich fragte Goethe, ob Lavater eine Tendenz zur Natur gehabt, wie man fast wegen seiner Physiognomik schließen sollte. ›Durchaus nicht, antwortete Goethe, seine Richtung ging bloß auf das Sittliche, Religiöse. Was in Lavaters Physiognomik über Tierschädel vorkommt, ist von mir‹ « (FA II, 12, 310).
Im Herbst 1781 begann G. ein systematisches Studium der Anatomie in Jena unter Justus Christian >Loder, der 1778 als 25jähriger den Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Hebammenwesen an der Universität Jena er halten hatte. G. ging es zunächst darum, Kenntnisse der menschlichen Anatomie als Zeichner umzusetzen, und konsequenterweise vermittelte G. das erworbene Wissen als Lehrer an der Zeichenakademie in Weimar (7.11.1781-16.1.1782). Loder war bereits 1780 mehrfach an den Weimarer Hof geladen worden, um anatomische Demonstrationen und Sektionen (so am 19.7.1780 an einer Kindesleiche) vorzuführen. Angehörige des Hofes und Staatsbeamte besuchten, zum Teil in G.s Begleitung, Loder zu ähnlichen Veranstaltungen in Jena. G. berichtete wiederholt von seinen anatomischen Studien: »Heute Abend habe ich Anatomie gezeichnet und bin fleisig« (an Charlotte von Stein, 19.10.1781). - »Loder erklärt mir alle Beine und Musklen und ich werde in wenig Tagen vieles fassen« (an dieselbe, 29.10.1781). - »Mir hat er [Loder] in diesen 8 Tagen [...] Osteologie und Müologie durch demonstrirt. Zwey Unglückliche waren uns eben zum Glück gestorben die wir denn auch ziemlich abgeschält und ihnen von dem sündigen Fleische geholfen haben« (an Carl August, 4.11.1781).
Der anatomisch geschulte G. nahm sich keineswegs gezielt der Thematik des menschlichen Zwischenkieferknochens an. Vielmehr war er seit 1780 mehrfach auf diesen Knochen und sein angebliches Fehlen beim Menschen hingewiesen worden, so beispielsweise durch Johann Heinrich
>Merck (in seinem Beitrag Ueber einige Merkwürdigkeiten von Cassel im Teutschen Merkur), ohne dass sein Interesse geweckt worden wäre.
Konkreter Anlass, sich dem Zwischenkieferknochen zuzuwenden, war G.s gemeinsame Arbeit mit Herder in den Wintermonaten 1783/1784. Herder schrieb an den ersten Büchern seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, deren viertes Buch Mensch und Orang-Utan und damit die Zwischenkieferproblematik im engeren Sinne behandelt. G. erhielt zu dieser Zeit zunehmend Einblick in die Fachliteratur und erfuhr immer wieder, dass viele Anatomen, darunter die zeitgenössisch führenden Gelehrten Pieter >Camper in Holland sowie Samuel Thomas >Soemmerring und Johann Friedrich Blumenbach in Deutschland, das anatomische Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und (Wirbel-)Tier im Zwischenkieferknochen sahen, der einzig dem Menschen fehlen sollte.
Der paarige Zwischenkieferknochen (Os intermaxillare, Os praemaxillare, Os incisivum) schließt den Oberkiefer nach vorne ab und trägt stets die oberen Schneidezähne. Auch bei Tieren, denen Letztere fehlen, ist er vorhanden. Aufgrund der beim Menschen unterschiedlichen Sichtbarkeit der verschiedenen Trennungsnähte zum Oberkiefer - beim Erwachsenen nicht mehr vorhanden, bei Embryonen und Missbildungen noch nachweisbar - durchzieht die Medizingeschichte seit der Antike eine jahrhundertelange Kontroverse um die Existenz eines menschlichen Zwischenkiefers, an der sich namhafte Anatomen beteiligten (>Galen, Vesal, Coiter u.v. a.). In der G.zeit sprach sich die Mehrheit der Gelehrten, darunter die genannten Fachgrößen, gegen die Existenz eines menschlichen Zwischenkiefers aus, obwohl der französische Anatom Félix Vicq d'Azyr 1780 (im Druck 1784) das Vorhandensein erneut bestätigt hatte. G. musste das Ableugnen des menschlichen Zwischenkiefers, dessen Fehlen auch als Voraussetzung für die Sprachfähigkeit des Menschen angesehen wurde, als Bruch im biologischen System erscheinen, zumal die Gedankenwelt Spinozas, aber auch das von Her
© 2012 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
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Autoren-Porträt
Manfred Wenzel, Wissenschaftshistoriker an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz
Bibliographische Angaben
- 2012, 852 Seiten, Masse: 17,5 x 25 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Gabriele Busch-Salmen, Manfred Wenzel, Andreas Beyer, Ernst Osterkamp
- Verlag: J.B. Metzler
- ISBN-10: 3476019837
- ISBN-13: 9783476019837
- Erscheinungsdatum: 14.12.2012
Rezension zu „Goethe-Handbuch Supplemente “
Seit langem ist bekannt, dass Johann Wolfgang Goethe nicht nur als literarischer Autor, sondern auch als Naturforscher gearbeitet hat. Einen umfassenden Überblick über die naturwissenschaftlichen Aktivitäten hat jetzt Dr. Manfred Wenzel mit dem zweiten Supplementband des "Goethe-Handbuchs" vorgelegt. Gießener AnzeigerDer jetzt als letzter erschienene Band 2 zum Themenkomplex der Naturwissenschaften gibt auf über 800 Seiten Gelegenheit, sich einen Überblick über das weitgestreute, wenn man will: dichtungskomplementäre Forschungsfeld Goethes zu verschaffen. www.textem.deAuch Goethes naturwissenschaftliche Schriften sind sprachliche Kunstwerke und bieten wunderschöne Leseerlebnisse. Goethe-CafeInsgesamt sechs großangelegte Überblickskapitel ("Schriften zur Morphologie", "Farbenlehre", "Geologie bis 1800", "Schriften zur Meteorologie, "Schriften zur Allgemeinen Naturlehre" und "Rezeptions- und Wirkungsgeschichte") zeigen auf eindrucksvolle Art und Weise, dass einer der bedeutendsten Weltliteraten vielseitig begabt war... www.literaturmarkt.info
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