Gene sind kein Schicksal
Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können
Wir sind nicht die Marionetten unserer Gene.
Gene bestimmen unser Leben weit weniger, als wir glauben und als uns nur zu gerne suggeriert wird.
Das Mathe-Gen, das Glücks-Gen, das biologisch vorbestimmte Übergewicht: alles Mythen. Wir selbst haben den...
Gene bestimmen unser Leben weit weniger, als wir glauben und als uns nur zu gerne suggeriert wird.
Das Mathe-Gen, das Glücks-Gen, das biologisch vorbestimmte Übergewicht: alles Mythen. Wir selbst haben den...
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Produktinformationen zu „Gene sind kein Schicksal “
Klappentext zu „Gene sind kein Schicksal “
Wir sind nicht die Marionetten unserer Gene.Gene bestimmen unser Leben weit weniger, als wir glauben und als uns nur zu gerne suggeriert wird.
Das Mathe-Gen, das Glücks-Gen, das biologisch vorbestimmte Übergewicht: alles Mythen. Wir selbst haben den grössten Einfluss auf unser Leben und unsere Gesundheit.
Tatsächlich bestimmen unsere Gene nur zum Teil unsere Geschicke. Grösseren Einfluss haben Erfahrungen, Gedanken, soziale Beziehungen und Umweltfaktoren. So werden unsere Gene durch unseren Lebensstil wie Ton geknetet und geformt.
Der Bestsellerautor und Biologe Jörg Blech zeigt, wie wunderbar wandelbar unsere Gene sind und wie sehr wir selbst unser Leben und unsere Erbanlagen steuern können. Seine Schlussfolgerungen, die sich aus dem neuesten Zweig der Genforschung, der Epigenetik, ergeben, sind revolutionär und werden erstaunliche Auswirkungen auf unsere persönliche wie auch gesellschaftliche Lebensweise haben.
Lese-Probe zu „Gene sind kein Schicksal “
Gene sind kein Schicksal von Jörg BlechVorwort
Das Geheimnis der Seenomaden
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Meist sind es sechs bis zehn Holzboote, die am Horizont der Andamanensee auftauchen. Die Menschen an Bord sind schlank und haben dunkle Haare. Ihr gesamtes Leben spielt sich auf den Booten ab, sogar ihre Kinder kommen dort auf die Welt. Das Volk der Moken ist vor Jahrtausenden aufs Meer gezogen und gehört zu den letzten Seenomaden. Sie kreuzen über den Ozean und ernähren sich von Fischen und anderem Meeresgetier. Die Kinder schwimmen, noch bevor sie laufen können. Ihr Spielplatz sind die warmen Fluten. Muscheln und Seegurken klauben sie problemlos vom Meeresgrund. Denn wenn die kleinen Fischmenschen in ihrem Element sind, dann sehen sie scharf. Eine Taucherbrille brauchen sie nicht.
Dabei ist das menschliche Auge eigentlich für das Sehen an Land konzipiert. Die Lichtstrahlen aus der Luft werden durch die Linse und den Augapfel so gebrochen, dass auf der Netzhaut ein scharfes Bild entsteht. Unter Wasser funktioniert das nicht. Weil das Wasser fast die gleiche Dichte hat wie die Flüssigkeit im Innern des Auges, wird das eintreffende Licht kaum mehr gebrochen und nicht scharf auf die Netzhaut geworfen. Es entsteht ein verschwommenes Bild.
Das gilt für die meisten Menschen, aber nicht für die Kinder der Moken. Als die Biologin Anna Gislén in Schweden davon hörte, entschloss sie sich, das Geheimnis der Seenomaden zu lüften. Mit ihrer sechs Jahre alten Tochter flog sie von Kopenhagen ins thailändische Phuket, reiste im Bus weiter und fuhr mit einem Boot aufs azurblaue Meer hinaus. Nach vielen Stunden erreichten die beiden die Koh-Surin-Inseln, einen paradiesischen Archipel. Hier trafen sie auf einige Moken-Familien, die als Halbnomaden lebten: Wenn sie nicht draußen auf dem Meer waren, hielten sie sich in Bambushütten auf, die auf Stelzen am Strand standen.
Die Moken waren entzückt von dem blonden und blauäugigen Mädchen aus Schweden, das da mit seiner Mutter ankam. Wohl deshalb fassten sie Vertrauen und erlaubten zwei Jungen und vier Mädchen die Teilnahme an einem Sehtest in der See. Anna Gislén versenkte ein Gestell mit einer Kopfstütze im flachen Wasser und positionierte einen halben Meter entfernt Scheiben, die entweder waagerecht oder senkrecht gestreift waren. Auf ihren Tauchgängen legten die kleinen Seenomaden nun den Kopf auf das Gestell und verrieten der Schwedin anschließend, was sie gesehen hatten. Die Forscherin zeigte ihnen immer feinere Muster, bis die Kinder nichts mehr erkennen konnten. Auf diese Weise konnte sie die Sehschärfe bestimmen.
Als Vergleichspersonen rekrutierte Anna Gislén 28 Mädchen und Jungen aus Europa, die dort und auf den Nachbarinseln Urlaub machten. Die Touristenkinder waren zwar begeistert bei der Sache, starrten aber halb blind durch das Meerwasser. Die jungen Seenomaden konnten mehr als doppelt so scharf sehen und Muster im Bereich von 1,5 Millimetern erkennen. Der Unterschied lag an einer Besonderheit, die Anna Gislén erst mit einer Unterwasserkamera entdeckte. Die kleinen Europäer bekamen unter Wasser größere Pupillen (2,5 Millimeter im Durchmesser), weil das Licht schwächer wurde. Die Moken-Kinder dagegen zogen ihre Pupillen unter Wasser zusammen, so dass deren Durchmesser nur noch 1,96 Millimeter betrug, was anatomisch gar nicht möglich schien. Sie können ihre Linse zu einer kugeligen Form zusammendrücken. Wie bei einer Fotokamera mit kleinerer Blendeneinstellung verbessern sich dadurch Auflösung und Tiefenschärfe.
Diese Gabe schien biologisch verdrahtet zu sein, vermutete die Biologin. Weil die Seenomaden »Tausende von Jahren am und im Wasser gelebt haben, könnte die Evolution diejenigen begünstigt haben, die besser darin waren, unter Wasser zu akkomodieren«, notierte sie nach ihrer Rückkehr ins schwedische Lund. »Die Fähigkeit, unter Wasser gut sehen zu können, könnte zu einer genetischen Veranlagung geworden sein.«1
Anna Gislén veröffentliche ihre Vermutung in einer Fachzeitschrift, doch irgendwie spürte sie: Das war noch nicht die ganze Geschichte. Sie entschied sich, das Unterwasser-Gucken mit vier schwedischen Mädchen zu üben, und zwar in einem Hallenbad im heimischen Lund. Während andere Kinder die Wasserrutsche hinuntersausten, absolvierten die Mädchen innerhalb von 33 Tagen elf Trainingseinheiten. Vier Monate später gab es noch ein Training, und nach vier weiteren Monaten, der schwedische Sommer war endlich da, gingen die vier Mädchen an einem strahlenden Tag in ein Freibad in Lund. Es war der Tag des großen Sehtests unter Wasser. Aufgrund des gleißenden Sonnenlichts waren die Pupillen der jungen Schwedinnen schon sehr klein (Durchmesser von 2,1 Millimeter), als sie am Beckenrand standen. Doch auf ihren Tauchgängen verengten sich ihre Pupillen noch weiter (auf 1,9 Millimeter), und sie konnten somit genauso gut sehen wie die Kinder der Seenomaden.2
Die Biologin musste ihre anfängliche Vermutung zurücknehmen. Durch das Training hatten die Kinder aus Lund die optische Wahrnehmung verändert und sich gleichsam einen zusätzlichen Sinn erschlossen. »Wir können lernen, unter Wasser zu sehen«, sagt Anna Gislén. »Der Körper ist viel wandlungsfähiger, als wir uns das vorstellen konnten.«
Es gibt noch mehr Geschichten wie die vom Geheimnis der Seenomaden, und sie werden hier erzählt. Die Gene sind gar nicht die Marionettenspieler, für die wir sie gehalten haben, und wir sind keine Marionetten. Die Gene steuern uns - aber auch wir steuern sie.
1
Die neue Lehre von den Genen
Kapitel 1
X ist ein Gen für Y
Mehr als 2000 Männer haben sich vor einiger Zeit in Schweden zusammengetan, weil sie wissen wollten, warum es ausgerechnet sie getroffen hat. Sie waren an Krebs erkrankt; die Vorsteherdrüse eines jeden der Männer war bösartig entartet und damit zu einer tickenden Zeitbombe geworden. Mal bricht die Erkrankung gar nicht oder erst in vielen Jahren aus, mal kommen die Metastasen in wenigen Wochen. Keiner der Männer wollte die Ungewissheit hinnehmen. Sie wollten etwas tun, sie meldeten sich als Testpersonen und ließen sich von ihren Ärzten Blut abnehmen.
Niemals zuvor haben Mediziner das Erbgut so vieler Patienten mit Prostatakrebs so gründlich untersucht: Aus den weißen Blutkörperchen isolierten sie das genetische Material, die DNA, fahndeten nach auffälligen Erbfaktoren, entwarfen die genetischen Profile von insgesamt 2149 Männern und verglichen sie mit Profilen von 1781 gesunden Männern gleichen Alters. Das angesehene New England Journal of Medicine vermeldet das Ergebnis auf zehn Seiten, weil es von einer bis dahin nicht vorstellbar großen Erblast kündet: Wer vier verschiedene Risikogene von seinen Eltern geerbt hat, der hat eine fast fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorsteherdrüse zu einem Krebsherd mutieren wird.
Die erkrankten Männer macht der Befund zwar nicht mehr gesund, jedoch können die Väter unter ihnen erfahren, ob sie das bedrohliche Erbe an ihre Kinder gegeben haben. Einen Test auf die Krebsgene haben die Ärzte bereits zum Patent angemeldet und wollen ihn mit einer privaten Firma vermarkten. Da Frauen keine Vorsteherdrüse haben, erkranken sie selbst nicht an dem Leiden. Gleichwohl dürfte der Test sie ebenfalls interessieren, weil auch sie die Risikogene für Prostatakrebs tragen und an Söhne vererben können.
Es vergeht kaum eine Woche, in der Forscher nicht die Entdeckung neuer Krankheitsgene verkünden. Mehr als 300 Forschungsinstitute auf fünf Kontinenten haben, in der bisher weltweit größten Studie dieser Art, das Erbgut von mehr als 100 000 Menschen analysiert - und fünf veränderte Gene als Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes mellitus identifiziert.1 Mediziner von der Technischen Universität München wiederum haben mit Kollegen von 48 Forschungszentren das Erbgut von mehr als 28 000 Menschen europäischer Abstammung gemustert - und wollen auf neun Gene gestoßen sein, die uns anfällig für Vorhofflimmern machen. Wer die Erkrankung hat, dem drohen Herzrasen und Schlaganfall.
Die Suche nach Genen erobert die Medizin. Die treibende Kraft sind die enormen Fortschritte der Labortechnik, fraglos eine Revolution: Das Erbmaterial DNA können Genetiker heutzutage schneller und preisgünstiger entziffern als jemals zuvor. Nach dem Humangenomprojekt, der Entzifferung des menschlichen Erbguts, zu Beginn des neuen Jahrtausends haben Wissenschaftler die Ära der personalisierten Medizin eingeläutet. In Vergleichsstudien wollen sie die Gene für alle erdenklichen Volksleiden finden. Der Ansatz beruht darauf, dass es im Genom Millionen Stellen gibt, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden können. Diese »SNPs« (sprich Snips, für single nucleotide polymorphisms) sind wie Wegmarken in den Weiten des Genoms.
Forscher suchen nun in riesigen Reihenuntersuchungen systematisch nach SNPs, die gehäuft bei bestimmten Erkrankungen auftreten. Findet sich ein auffälliges SNP, so die Überlegung der Molekularbiologen, dann müsste in der Nähe dieser Wegmarke ein Gen liegen, das mit der jeweiligen Erkrankung zusammenhängt. Diese mathematischen Häufungen nennen sie »Assoziationen«. Die Erwartung ist, dass auf assoziierten DNA-Abschnitten Gene liegen, die für Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Alzheimer, Krebs und krankhaftes Übergewicht verantwortlich sind. Am Ende könnte man das Erbgut eines beliebigen Menschen testen und ihm mitteilen, welche Assoziationen er hat und inwiefern sie sein persönliches Krankheitsrisiko beeinflussen. Das ist die Vision der personalisierten Medizin: Wenn ein Mensch seine persönliche Erblast erst einmal kennt, dann können Ärzte mit maßgeschneiderter Vorsorge und zielgerichteter Therapie dagegen angehen.
Das Erbgut von Abertausenden Menschen haben die Genforscher bereits durchgesehen, und es sind die Früchte dieser Großanstrengung, die gegenwärtig die medizinischen Fachblätter füllen und den Eindruck erwecken, die Genforscher hätten ihr Heilsversprechen einlösen können. Mehr als 300 DNA-Assoziationen haben sie ausgemacht, die angeblich mit mehr als 70 häufigen Krankheiten zusammenhängen.2 »Eine erfolgversprechende Methode hält weltweit Einzug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen«, sagen Mitarbeiter der Technischen Universität München, die an der Suche nach den Genen für Vorhofflimmern beteiligt sind. »In genomweiten Assoziationsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen« - für die Gelehrten »ein Forschungsansatz mit Erfolgsgarantie«.3
Mit Erfolg kann klinischer Nutzen allerdings nicht gemeint sein, sondern wohl eher die Kunst, das Datenmaterial so lange zu bearbeiten, bis ein statistisch relevant erscheinender Zusammenhang herauskommen mag. Es ist nur eine Frage der Mathematik, eine Assoziation herbeizuzaubern, die dann in der Öffentlichkeit das Gen der Woche abgibt. Ein Blick in Tageszeitungen und Nachrichtenportale offenbart, wie lustvoll Journalisten mitmachen, wenn es gilt, die vermeintlichen Fundstücke der Genforscher im Volk bekannt zu machen. So gibt es angeblich das Gen
für Herzinfarkt,
für Übergewicht, für unruhige Beine, für Legasthenie,
für lockiges Haar, für Haarausfall,
für vorzeitiges Altern,
für weiblichen Bauchspeck,
für Schweißgeruch,
für Narkolepsie (Schlummersucht),
für das biologische Altern,
für Gallensteine,
für Verfolgungswahn, für Transsexualität, für Treue,
für Langzeitgedächtnis,
für drei Prozent Intelligenz,
für Starrsinn,
für schlechtes Autofahren.
Es ist eine Liste, die sich nach einer einfachen Formel verlängern lässt: »X ist ein Gen für Y.« Für das X setzte man einen Abschnitt aus dem menschlichen Erbgut ein; für das Y greife man sich ein Syndrom aus dem Füllhorn der Erkrankungen und Verhaltensweisen heraus, wie etwa Fettsucht, Depression, Untreue, sexuelle Vorlieben, Stressanfälligkeit, Alkoholsucht oder Schizophrenie.
Im Laienpublikum treffen die neuen Erklärungen aus den Laboratorien der Genetiker einen Nerv und scheinen zu bestätigen, was viele Menschen sich schon immer gedacht haben mögen. Eine bekannte TV-Moderatorin und erfolgreiche Autorin führt die kreative Neigung in ihrer Familie auch auf biologische Faktoren zurück. Offenbar »werden die Gene irgendwie doch weitergegeben«, sagt sie in einem Zeitungsinterview und bekräftigt: »Aber ich glaube schon, dass da auch Vererbung dazukommt, dass da bestimmte Talente weitergegeben werden.«4 In der Sportpsychologie werden Sieg und Niederlage immer häufiger mit angeborenen Eigenschaften erklärt. »Ich habe aber vor dem Spiel gespürt, dass jeder das Sieger-Gen in sich hat«, sagt der Trainer der Fußballnationalmannschaft nach einem wichtigen Sieg.
Gene werden aufgebauscht
Wenn Ihnen bei dem einen oder anderen Beispiel vielleicht doch Zweifel gekommen sein sollten, dann stehen Sie nicht alleine da. Einigen Wissenschaftlern ergeht es ähnlich, und sie haben sich die Mühe gemacht, die ein oder andere Behauptung der Genforscher einmal gründlich zu prüfen. Einer von ihnen arbeitet an der Harvard School of Public Health. Der Mann heißt Peter Kraft. Er verdankt seinen Namen Vorfahren aus Deutschland und hat an der University of Michigan in Ann Arbor Deutsch und Mathematik studiert. An seine Tür hat er das Brecht-Gedicht Der Zweifler gehängt. Das passt ausgezeichnet zu der Art und Weise, wie Kraft seinen Beruf als Biostatistiker ausübt. Er weiß nur zu gut, wie man mit Statistik lügen kann - das hat den jungenhaft wirkenden Forscher zum Skeptiker gemacht.
Als er auf der ersten Seite der New York Times einen Artikel über die Studie zu den 2149 schwedischen Männern mit Prostatakrebs entdeckte, war das Misstrauen des Peter Kraft geweckt, und er las sich die Originalarbeit im New England Journal of Medicine durch.
Dass die Daten redlich erhoben wurden und so weit stimmen, daran mag Kraft gar nicht zweifeln. Aber aufgefallen ist ihm, wie geschickt die Autoren ihre Zahlen präsentieren - damit die von ihnen gefundenen Gene für Prostatakrebs als besonders bedeutsam und bedrohlich erscheinen. Dazu haben sie diejenigen schwedischen Männer, die gar keine der angeblichen Risiko-Gene tragen, ganz bewusst mit jenen Männern verglichen, die vier oder fünf Assoziationen haben. Nur indem sie diese beiden extremen Gruppen miteinander vergleichen, kommen die Forscher auf die Risikoerhöhung um den Faktor vier bis fünf.
Über die Männer mit ein, zwei oder drei Assoziationen breiten sie dagegen den Mantel des Schweigens - dabei fallen die allermeisten Männer in der Normalbevölkerung genau in diese Kategorie. Rund 90 Prozent der männlichen Europäer haben nämlich eine, zwei oder drei dieser Assoziationen - und die Risikounterschiede zwischen diesen Gruppen sind denkbar gering. Umgekehrt macht die angebliche Risikogruppe - also Männer mit vier oder fünf der Genvarianten - gerade einmal zwei Prozent aller untersuchten schwedischen Männer aus. »Auf die übergroße Mehrheit der Männer trifft das erhöhte Risiko also gar nicht zu«, sagt Peter Kraft.
Die Geschichte von den Prostatakrebs-Genen klingt jetzt nicht mehr nach einem Report über den Fluch der Biologie, sondern sie erinnert eher an das Märchen »Des Kaisers neue Kleider« des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Darin versprechen zwei Betrüger dem Kaiser Gewänder, die nicht nur wunderschön sind, sondern auch eine geheimnisvolle Eigenschaft haben: Sie seien jedem Menschen unsichtbar, der nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. Der eitle Kaiser verschweigt, dass er die Gewänder gar nicht sehen kann, weil er nicht als Dummkopf dastehen will. Ebenso verhalten sich sein alter Minister und andere Untertanen. Am Ende ist es ein Kind, das ausruft: Aber er hat ja gar nichts an!
Mit Blick auf die X-ist-ein-Gen-für-Y-Forschung werden jetzt Stimmen laut, die da rufen: An den Befunden ist in Wahrheit ja nichts dran!
Die Kritik richtet sich freilich nicht gegen die Erforschung der sogenannten monogenen Leiden. Keine Frage, bei ihnen hängt ein bestimmter Gendefekt eindeutig mit zum Teil schweren Symptomen zusammen. Es gibt mehr als 6000 dieser monogenen Erbkrankheiten, wobei ihre Verbreitung in der Bevölkerung allerdings sehr gering ist.
Nein, die Rufer stoßen sich an den Ergebnissen aus der Erforschung der sogenannten polygenen Krankheiten; Volksleiden, die mit einer ganzen Fülle von Faktoren zusammenhängen. Die allermeisten Assoziationen, die der Öffentlichkeit als Krankheitsgene dargeboten werden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als geschickte und klinisch unbedeutende Hervorbringungen der Statistik. Dass Forscher Risikogene gefunden hätten, die diese Bezeichnung auch verdienen, beschränkt sich auf Ausnahmen, die man an einer Hand abzählen kann.
Noch einmal: Niemand bestreitet die Rolle der Gene. Bei den monogenen Leiden führt der Ausfall oder die Mutation eines bestimmten Gens zum Ausbruch einer Krankheit. Um diese Erbleiden geht es hier ebenso wenig wie um jene wenigen Risikogene, die diese Bezeichnung verdienen: brca1 oder brca2 erhöhen das relative Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um das Drei- bis Siebenfache. Und das apoe4-Gen erhöht das Alzheimer-Risiko um das 3- bis 15fache.
»Die Forscher gingen davon aus, noch viel mehr Gene mit einer ähnlich großen Bedeutung zu finden«, sagt Peter Kraft in seinem Büro und nippt an seinem Kaffee. Stattdessen hätten sie bloß einen Wust von vielen hundert Assoziationen zusammengetragen, die gerade noch statistisch nachweisbar sind: Die relative Risikoerhöhung liegt nicht in der Größenordnung von 10 - sondern meist nur bei 1,1. Diese äußerst schwachen Assoziationen werden oft als »Gene« bezeichnet, obwohl sie nur Abschnitte im Erbgut beschreiben, auf denen möglicherweise Gene liegen könnten. Das Hochspielen der mauen Befunde geschieht dann etwa mit dem statistischen Trick, die winzigen Effekte zu einem großen Effekt zu verrechnen: So kommt man auf das berüchtigte Gen für Y.
Die Gründe für dieses Aufbauschen lägen auf der Hand, sagt Peter Kraft mit einem Anflug von Resignation: »Wissenschaftler sind nicht gegen Druck gefeit, ihre Ergebnisse übertrieben darzustellen, um häufiger zitiert zu werden und Forschungsgelder einzutreiben.«
Den gleichen Eindruck hat John Ioannidis von der Universitätsklinik im griechischen Ioannina gewonnen. Der schnauzbärtige Epidemiologe ist mit allen Wassern der Statistik gewaschen, kennt die Rechentricks und kommt so zu erhellenden Erkenntnissen wie der, warum »die meisten entdeckten Assoziationen aufgeblasen« sind. In einer seiner kritischen Bestandsaufnahmen hat John Ioannidis sämtliche verfügbaren genomweiten Assoziationsstudien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgewertet. Bis zum Stichtag (September 2008) hatten Forscher 95 verschiedene Assoziationen angehäuft. Ioannidis prüfte davon nun jene 28 Zusammenhänge, die statistisch noch am besten abgesichert waren. Es ging um genetische Assoziationen, die Forscher für Herzinfarkt, Arteriosklerose, Körpergewicht, Blutfette, Typ-2-Diabetes mellitus und die Nikotinsucht gefunden haben wollten.
Die Zusammenhänge mochten mathematisch »signifikant« sein - einen praktischen Nutzen haben sie nicht. John Ioannidis drückt es so aus: »Verbesserungen in der Vorhersage, die auf den derzeit verfügbaren Markern beruhen, sind klein, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind. Ein klinisches Omen ist noch nicht ausreichend abgesichert. Obwohl man sich über die neuen Möglichkeiten für mehr Entdeckungen begeistern könnte, kann man es gegenwärtig nicht rechtfertigen, diese Marker in der täglichen klinischen Praxis und in der Gesundheitsvorsorge einzusetzen.«
Vor kurzem war es das Kettenraucher-Gen, das Aufsehen erregte. In gleich drei Studien mit mehr als 140 000 Menschen glauben Forscher eine biologische Wurzel für das Qualmen gefunden zu haben: Die Gene würden entscheiden, wie viele Zigaretten sich ein Mensch am Tag ansteckt.5 Rauchen sei ein »genetisch bedingtes Laster«, »Gene geben den Rauchern den Takt vor«, »Forscher finden Kettenraucher-Gen« und »Gene schuld an Rauchverhalten« - diese und ähnliche Schlagzeilen haben die Runde gemacht. Nachfragen bei einem der beteiligten Wissenschaftler, beim Mediziner Hans-Jörgen Grabe von der Universität Greifswald, ergeben ein anderes Bild. Entscheiden die Gene, ob ein Mensch zum Raucher wird? »Bei aller Liebe«, räumt Grabe ein, »da hat man wohl nichts gefunden.« Was ist mit dem Einfluss der Gene auf die Menge der täglich gerauchten Zigaretten? Hier verweisen die Forscher auf einen »signifikanten« Effekt: Wer zwei bestimmte Genvarianten (von Mutter und Vater) hat, der raucht am Tag 0,75 Zigaretten mehr als ein Mensch mit einer dieser Varianten und 1,5 Zigaretten mehr als ein Mensch ohne »Risiko-Varianten«. Dieses Ergebnis ist ein Witz: Zwei Raucher haben in der Kneippe jeweils zwei Schachteln weggequalmt. Der eine drückt die letzte Kippe aus, der andere hingegen öffnet eine weitere Schachtel, zündet noch Zigarette Nummer 41 an, raucht sie und sagt entschuldigend: »Was sollte ich machen? Ich habe doch dieses blöde Kettenraucher-Gen.«
Meist sind es sechs bis zehn Holzboote, die am Horizont der Andamanensee auftauchen. Die Menschen an Bord sind schlank und haben dunkle Haare. Ihr gesamtes Leben spielt sich auf den Booten ab, sogar ihre Kinder kommen dort auf die Welt. Das Volk der Moken ist vor Jahrtausenden aufs Meer gezogen und gehört zu den letzten Seenomaden. Sie kreuzen über den Ozean und ernähren sich von Fischen und anderem Meeresgetier. Die Kinder schwimmen, noch bevor sie laufen können. Ihr Spielplatz sind die warmen Fluten. Muscheln und Seegurken klauben sie problemlos vom Meeresgrund. Denn wenn die kleinen Fischmenschen in ihrem Element sind, dann sehen sie scharf. Eine Taucherbrille brauchen sie nicht.
Dabei ist das menschliche Auge eigentlich für das Sehen an Land konzipiert. Die Lichtstrahlen aus der Luft werden durch die Linse und den Augapfel so gebrochen, dass auf der Netzhaut ein scharfes Bild entsteht. Unter Wasser funktioniert das nicht. Weil das Wasser fast die gleiche Dichte hat wie die Flüssigkeit im Innern des Auges, wird das eintreffende Licht kaum mehr gebrochen und nicht scharf auf die Netzhaut geworfen. Es entsteht ein verschwommenes Bild.
Das gilt für die meisten Menschen, aber nicht für die Kinder der Moken. Als die Biologin Anna Gislén in Schweden davon hörte, entschloss sie sich, das Geheimnis der Seenomaden zu lüften. Mit ihrer sechs Jahre alten Tochter flog sie von Kopenhagen ins thailändische Phuket, reiste im Bus weiter und fuhr mit einem Boot aufs azurblaue Meer hinaus. Nach vielen Stunden erreichten die beiden die Koh-Surin-Inseln, einen paradiesischen Archipel. Hier trafen sie auf einige Moken-Familien, die als Halbnomaden lebten: Wenn sie nicht draußen auf dem Meer waren, hielten sie sich in Bambushütten auf, die auf Stelzen am Strand standen.
Die Moken waren entzückt von dem blonden und blauäugigen Mädchen aus Schweden, das da mit seiner Mutter ankam. Wohl deshalb fassten sie Vertrauen und erlaubten zwei Jungen und vier Mädchen die Teilnahme an einem Sehtest in der See. Anna Gislén versenkte ein Gestell mit einer Kopfstütze im flachen Wasser und positionierte einen halben Meter entfernt Scheiben, die entweder waagerecht oder senkrecht gestreift waren. Auf ihren Tauchgängen legten die kleinen Seenomaden nun den Kopf auf das Gestell und verrieten der Schwedin anschließend, was sie gesehen hatten. Die Forscherin zeigte ihnen immer feinere Muster, bis die Kinder nichts mehr erkennen konnten. Auf diese Weise konnte sie die Sehschärfe bestimmen.
Als Vergleichspersonen rekrutierte Anna Gislén 28 Mädchen und Jungen aus Europa, die dort und auf den Nachbarinseln Urlaub machten. Die Touristenkinder waren zwar begeistert bei der Sache, starrten aber halb blind durch das Meerwasser. Die jungen Seenomaden konnten mehr als doppelt so scharf sehen und Muster im Bereich von 1,5 Millimetern erkennen. Der Unterschied lag an einer Besonderheit, die Anna Gislén erst mit einer Unterwasserkamera entdeckte. Die kleinen Europäer bekamen unter Wasser größere Pupillen (2,5 Millimeter im Durchmesser), weil das Licht schwächer wurde. Die Moken-Kinder dagegen zogen ihre Pupillen unter Wasser zusammen, so dass deren Durchmesser nur noch 1,96 Millimeter betrug, was anatomisch gar nicht möglich schien. Sie können ihre Linse zu einer kugeligen Form zusammendrücken. Wie bei einer Fotokamera mit kleinerer Blendeneinstellung verbessern sich dadurch Auflösung und Tiefenschärfe.
Diese Gabe schien biologisch verdrahtet zu sein, vermutete die Biologin. Weil die Seenomaden »Tausende von Jahren am und im Wasser gelebt haben, könnte die Evolution diejenigen begünstigt haben, die besser darin waren, unter Wasser zu akkomodieren«, notierte sie nach ihrer Rückkehr ins schwedische Lund. »Die Fähigkeit, unter Wasser gut sehen zu können, könnte zu einer genetischen Veranlagung geworden sein.«1
Anna Gislén veröffentliche ihre Vermutung in einer Fachzeitschrift, doch irgendwie spürte sie: Das war noch nicht die ganze Geschichte. Sie entschied sich, das Unterwasser-Gucken mit vier schwedischen Mädchen zu üben, und zwar in einem Hallenbad im heimischen Lund. Während andere Kinder die Wasserrutsche hinuntersausten, absolvierten die Mädchen innerhalb von 33 Tagen elf Trainingseinheiten. Vier Monate später gab es noch ein Training, und nach vier weiteren Monaten, der schwedische Sommer war endlich da, gingen die vier Mädchen an einem strahlenden Tag in ein Freibad in Lund. Es war der Tag des großen Sehtests unter Wasser. Aufgrund des gleißenden Sonnenlichts waren die Pupillen der jungen Schwedinnen schon sehr klein (Durchmesser von 2,1 Millimeter), als sie am Beckenrand standen. Doch auf ihren Tauchgängen verengten sich ihre Pupillen noch weiter (auf 1,9 Millimeter), und sie konnten somit genauso gut sehen wie die Kinder der Seenomaden.2
Die Biologin musste ihre anfängliche Vermutung zurücknehmen. Durch das Training hatten die Kinder aus Lund die optische Wahrnehmung verändert und sich gleichsam einen zusätzlichen Sinn erschlossen. »Wir können lernen, unter Wasser zu sehen«, sagt Anna Gislén. »Der Körper ist viel wandlungsfähiger, als wir uns das vorstellen konnten.«
Es gibt noch mehr Geschichten wie die vom Geheimnis der Seenomaden, und sie werden hier erzählt. Die Gene sind gar nicht die Marionettenspieler, für die wir sie gehalten haben, und wir sind keine Marionetten. Die Gene steuern uns - aber auch wir steuern sie.
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Die neue Lehre von den Genen
Kapitel 1
X ist ein Gen für Y
Mehr als 2000 Männer haben sich vor einiger Zeit in Schweden zusammengetan, weil sie wissen wollten, warum es ausgerechnet sie getroffen hat. Sie waren an Krebs erkrankt; die Vorsteherdrüse eines jeden der Männer war bösartig entartet und damit zu einer tickenden Zeitbombe geworden. Mal bricht die Erkrankung gar nicht oder erst in vielen Jahren aus, mal kommen die Metastasen in wenigen Wochen. Keiner der Männer wollte die Ungewissheit hinnehmen. Sie wollten etwas tun, sie meldeten sich als Testpersonen und ließen sich von ihren Ärzten Blut abnehmen.
Niemals zuvor haben Mediziner das Erbgut so vieler Patienten mit Prostatakrebs so gründlich untersucht: Aus den weißen Blutkörperchen isolierten sie das genetische Material, die DNA, fahndeten nach auffälligen Erbfaktoren, entwarfen die genetischen Profile von insgesamt 2149 Männern und verglichen sie mit Profilen von 1781 gesunden Männern gleichen Alters. Das angesehene New England Journal of Medicine vermeldet das Ergebnis auf zehn Seiten, weil es von einer bis dahin nicht vorstellbar großen Erblast kündet: Wer vier verschiedene Risikogene von seinen Eltern geerbt hat, der hat eine fast fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorsteherdrüse zu einem Krebsherd mutieren wird.
Die erkrankten Männer macht der Befund zwar nicht mehr gesund, jedoch können die Väter unter ihnen erfahren, ob sie das bedrohliche Erbe an ihre Kinder gegeben haben. Einen Test auf die Krebsgene haben die Ärzte bereits zum Patent angemeldet und wollen ihn mit einer privaten Firma vermarkten. Da Frauen keine Vorsteherdrüse haben, erkranken sie selbst nicht an dem Leiden. Gleichwohl dürfte der Test sie ebenfalls interessieren, weil auch sie die Risikogene für Prostatakrebs tragen und an Söhne vererben können.
Es vergeht kaum eine Woche, in der Forscher nicht die Entdeckung neuer Krankheitsgene verkünden. Mehr als 300 Forschungsinstitute auf fünf Kontinenten haben, in der bisher weltweit größten Studie dieser Art, das Erbgut von mehr als 100 000 Menschen analysiert - und fünf veränderte Gene als Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes mellitus identifiziert.1 Mediziner von der Technischen Universität München wiederum haben mit Kollegen von 48 Forschungszentren das Erbgut von mehr als 28 000 Menschen europäischer Abstammung gemustert - und wollen auf neun Gene gestoßen sein, die uns anfällig für Vorhofflimmern machen. Wer die Erkrankung hat, dem drohen Herzrasen und Schlaganfall.
Die Suche nach Genen erobert die Medizin. Die treibende Kraft sind die enormen Fortschritte der Labortechnik, fraglos eine Revolution: Das Erbmaterial DNA können Genetiker heutzutage schneller und preisgünstiger entziffern als jemals zuvor. Nach dem Humangenomprojekt, der Entzifferung des menschlichen Erbguts, zu Beginn des neuen Jahrtausends haben Wissenschaftler die Ära der personalisierten Medizin eingeläutet. In Vergleichsstudien wollen sie die Gene für alle erdenklichen Volksleiden finden. Der Ansatz beruht darauf, dass es im Genom Millionen Stellen gibt, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden können. Diese »SNPs« (sprich Snips, für single nucleotide polymorphisms) sind wie Wegmarken in den Weiten des Genoms.
Forscher suchen nun in riesigen Reihenuntersuchungen systematisch nach SNPs, die gehäuft bei bestimmten Erkrankungen auftreten. Findet sich ein auffälliges SNP, so die Überlegung der Molekularbiologen, dann müsste in der Nähe dieser Wegmarke ein Gen liegen, das mit der jeweiligen Erkrankung zusammenhängt. Diese mathematischen Häufungen nennen sie »Assoziationen«. Die Erwartung ist, dass auf assoziierten DNA-Abschnitten Gene liegen, die für Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Alzheimer, Krebs und krankhaftes Übergewicht verantwortlich sind. Am Ende könnte man das Erbgut eines beliebigen Menschen testen und ihm mitteilen, welche Assoziationen er hat und inwiefern sie sein persönliches Krankheitsrisiko beeinflussen. Das ist die Vision der personalisierten Medizin: Wenn ein Mensch seine persönliche Erblast erst einmal kennt, dann können Ärzte mit maßgeschneiderter Vorsorge und zielgerichteter Therapie dagegen angehen.
Das Erbgut von Abertausenden Menschen haben die Genforscher bereits durchgesehen, und es sind die Früchte dieser Großanstrengung, die gegenwärtig die medizinischen Fachblätter füllen und den Eindruck erwecken, die Genforscher hätten ihr Heilsversprechen einlösen können. Mehr als 300 DNA-Assoziationen haben sie ausgemacht, die angeblich mit mehr als 70 häufigen Krankheiten zusammenhängen.2 »Eine erfolgversprechende Methode hält weltweit Einzug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen«, sagen Mitarbeiter der Technischen Universität München, die an der Suche nach den Genen für Vorhofflimmern beteiligt sind. »In genomweiten Assoziationsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen« - für die Gelehrten »ein Forschungsansatz mit Erfolgsgarantie«.3
Mit Erfolg kann klinischer Nutzen allerdings nicht gemeint sein, sondern wohl eher die Kunst, das Datenmaterial so lange zu bearbeiten, bis ein statistisch relevant erscheinender Zusammenhang herauskommen mag. Es ist nur eine Frage der Mathematik, eine Assoziation herbeizuzaubern, die dann in der Öffentlichkeit das Gen der Woche abgibt. Ein Blick in Tageszeitungen und Nachrichtenportale offenbart, wie lustvoll Journalisten mitmachen, wenn es gilt, die vermeintlichen Fundstücke der Genforscher im Volk bekannt zu machen. So gibt es angeblich das Gen
für Herzinfarkt,
für Übergewicht, für unruhige Beine, für Legasthenie,
für lockiges Haar, für Haarausfall,
für vorzeitiges Altern,
für weiblichen Bauchspeck,
für Schweißgeruch,
für Narkolepsie (Schlummersucht),
für das biologische Altern,
für Gallensteine,
für Verfolgungswahn, für Transsexualität, für Treue,
für Langzeitgedächtnis,
für drei Prozent Intelligenz,
für Starrsinn,
für schlechtes Autofahren.
Es ist eine Liste, die sich nach einer einfachen Formel verlängern lässt: »X ist ein Gen für Y.« Für das X setzte man einen Abschnitt aus dem menschlichen Erbgut ein; für das Y greife man sich ein Syndrom aus dem Füllhorn der Erkrankungen und Verhaltensweisen heraus, wie etwa Fettsucht, Depression, Untreue, sexuelle Vorlieben, Stressanfälligkeit, Alkoholsucht oder Schizophrenie.
Im Laienpublikum treffen die neuen Erklärungen aus den Laboratorien der Genetiker einen Nerv und scheinen zu bestätigen, was viele Menschen sich schon immer gedacht haben mögen. Eine bekannte TV-Moderatorin und erfolgreiche Autorin führt die kreative Neigung in ihrer Familie auch auf biologische Faktoren zurück. Offenbar »werden die Gene irgendwie doch weitergegeben«, sagt sie in einem Zeitungsinterview und bekräftigt: »Aber ich glaube schon, dass da auch Vererbung dazukommt, dass da bestimmte Talente weitergegeben werden.«4 In der Sportpsychologie werden Sieg und Niederlage immer häufiger mit angeborenen Eigenschaften erklärt. »Ich habe aber vor dem Spiel gespürt, dass jeder das Sieger-Gen in sich hat«, sagt der Trainer der Fußballnationalmannschaft nach einem wichtigen Sieg.
Gene werden aufgebauscht
Wenn Ihnen bei dem einen oder anderen Beispiel vielleicht doch Zweifel gekommen sein sollten, dann stehen Sie nicht alleine da. Einigen Wissenschaftlern ergeht es ähnlich, und sie haben sich die Mühe gemacht, die ein oder andere Behauptung der Genforscher einmal gründlich zu prüfen. Einer von ihnen arbeitet an der Harvard School of Public Health. Der Mann heißt Peter Kraft. Er verdankt seinen Namen Vorfahren aus Deutschland und hat an der University of Michigan in Ann Arbor Deutsch und Mathematik studiert. An seine Tür hat er das Brecht-Gedicht Der Zweifler gehängt. Das passt ausgezeichnet zu der Art und Weise, wie Kraft seinen Beruf als Biostatistiker ausübt. Er weiß nur zu gut, wie man mit Statistik lügen kann - das hat den jungenhaft wirkenden Forscher zum Skeptiker gemacht.
Als er auf der ersten Seite der New York Times einen Artikel über die Studie zu den 2149 schwedischen Männern mit Prostatakrebs entdeckte, war das Misstrauen des Peter Kraft geweckt, und er las sich die Originalarbeit im New England Journal of Medicine durch.
Dass die Daten redlich erhoben wurden und so weit stimmen, daran mag Kraft gar nicht zweifeln. Aber aufgefallen ist ihm, wie geschickt die Autoren ihre Zahlen präsentieren - damit die von ihnen gefundenen Gene für Prostatakrebs als besonders bedeutsam und bedrohlich erscheinen. Dazu haben sie diejenigen schwedischen Männer, die gar keine der angeblichen Risiko-Gene tragen, ganz bewusst mit jenen Männern verglichen, die vier oder fünf Assoziationen haben. Nur indem sie diese beiden extremen Gruppen miteinander vergleichen, kommen die Forscher auf die Risikoerhöhung um den Faktor vier bis fünf.
Über die Männer mit ein, zwei oder drei Assoziationen breiten sie dagegen den Mantel des Schweigens - dabei fallen die allermeisten Männer in der Normalbevölkerung genau in diese Kategorie. Rund 90 Prozent der männlichen Europäer haben nämlich eine, zwei oder drei dieser Assoziationen - und die Risikounterschiede zwischen diesen Gruppen sind denkbar gering. Umgekehrt macht die angebliche Risikogruppe - also Männer mit vier oder fünf der Genvarianten - gerade einmal zwei Prozent aller untersuchten schwedischen Männer aus. »Auf die übergroße Mehrheit der Männer trifft das erhöhte Risiko also gar nicht zu«, sagt Peter Kraft.
Die Geschichte von den Prostatakrebs-Genen klingt jetzt nicht mehr nach einem Report über den Fluch der Biologie, sondern sie erinnert eher an das Märchen »Des Kaisers neue Kleider« des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Darin versprechen zwei Betrüger dem Kaiser Gewänder, die nicht nur wunderschön sind, sondern auch eine geheimnisvolle Eigenschaft haben: Sie seien jedem Menschen unsichtbar, der nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. Der eitle Kaiser verschweigt, dass er die Gewänder gar nicht sehen kann, weil er nicht als Dummkopf dastehen will. Ebenso verhalten sich sein alter Minister und andere Untertanen. Am Ende ist es ein Kind, das ausruft: Aber er hat ja gar nichts an!
Mit Blick auf die X-ist-ein-Gen-für-Y-Forschung werden jetzt Stimmen laut, die da rufen: An den Befunden ist in Wahrheit ja nichts dran!
Die Kritik richtet sich freilich nicht gegen die Erforschung der sogenannten monogenen Leiden. Keine Frage, bei ihnen hängt ein bestimmter Gendefekt eindeutig mit zum Teil schweren Symptomen zusammen. Es gibt mehr als 6000 dieser monogenen Erbkrankheiten, wobei ihre Verbreitung in der Bevölkerung allerdings sehr gering ist.
Nein, die Rufer stoßen sich an den Ergebnissen aus der Erforschung der sogenannten polygenen Krankheiten; Volksleiden, die mit einer ganzen Fülle von Faktoren zusammenhängen. Die allermeisten Assoziationen, die der Öffentlichkeit als Krankheitsgene dargeboten werden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als geschickte und klinisch unbedeutende Hervorbringungen der Statistik. Dass Forscher Risikogene gefunden hätten, die diese Bezeichnung auch verdienen, beschränkt sich auf Ausnahmen, die man an einer Hand abzählen kann.
Noch einmal: Niemand bestreitet die Rolle der Gene. Bei den monogenen Leiden führt der Ausfall oder die Mutation eines bestimmten Gens zum Ausbruch einer Krankheit. Um diese Erbleiden geht es hier ebenso wenig wie um jene wenigen Risikogene, die diese Bezeichnung verdienen: brca1 oder brca2 erhöhen das relative Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um das Drei- bis Siebenfache. Und das apoe4-Gen erhöht das Alzheimer-Risiko um das 3- bis 15fache.
»Die Forscher gingen davon aus, noch viel mehr Gene mit einer ähnlich großen Bedeutung zu finden«, sagt Peter Kraft in seinem Büro und nippt an seinem Kaffee. Stattdessen hätten sie bloß einen Wust von vielen hundert Assoziationen zusammengetragen, die gerade noch statistisch nachweisbar sind: Die relative Risikoerhöhung liegt nicht in der Größenordnung von 10 - sondern meist nur bei 1,1. Diese äußerst schwachen Assoziationen werden oft als »Gene« bezeichnet, obwohl sie nur Abschnitte im Erbgut beschreiben, auf denen möglicherweise Gene liegen könnten. Das Hochspielen der mauen Befunde geschieht dann etwa mit dem statistischen Trick, die winzigen Effekte zu einem großen Effekt zu verrechnen: So kommt man auf das berüchtigte Gen für Y.
Die Gründe für dieses Aufbauschen lägen auf der Hand, sagt Peter Kraft mit einem Anflug von Resignation: »Wissenschaftler sind nicht gegen Druck gefeit, ihre Ergebnisse übertrieben darzustellen, um häufiger zitiert zu werden und Forschungsgelder einzutreiben.«
Den gleichen Eindruck hat John Ioannidis von der Universitätsklinik im griechischen Ioannina gewonnen. Der schnauzbärtige Epidemiologe ist mit allen Wassern der Statistik gewaschen, kennt die Rechentricks und kommt so zu erhellenden Erkenntnissen wie der, warum »die meisten entdeckten Assoziationen aufgeblasen« sind. In einer seiner kritischen Bestandsaufnahmen hat John Ioannidis sämtliche verfügbaren genomweiten Assoziationsstudien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgewertet. Bis zum Stichtag (September 2008) hatten Forscher 95 verschiedene Assoziationen angehäuft. Ioannidis prüfte davon nun jene 28 Zusammenhänge, die statistisch noch am besten abgesichert waren. Es ging um genetische Assoziationen, die Forscher für Herzinfarkt, Arteriosklerose, Körpergewicht, Blutfette, Typ-2-Diabetes mellitus und die Nikotinsucht gefunden haben wollten.
Die Zusammenhänge mochten mathematisch »signifikant« sein - einen praktischen Nutzen haben sie nicht. John Ioannidis drückt es so aus: »Verbesserungen in der Vorhersage, die auf den derzeit verfügbaren Markern beruhen, sind klein, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind. Ein klinisches Omen ist noch nicht ausreichend abgesichert. Obwohl man sich über die neuen Möglichkeiten für mehr Entdeckungen begeistern könnte, kann man es gegenwärtig nicht rechtfertigen, diese Marker in der täglichen klinischen Praxis und in der Gesundheitsvorsorge einzusetzen.«
Vor kurzem war es das Kettenraucher-Gen, das Aufsehen erregte. In gleich drei Studien mit mehr als 140 000 Menschen glauben Forscher eine biologische Wurzel für das Qualmen gefunden zu haben: Die Gene würden entscheiden, wie viele Zigaretten sich ein Mensch am Tag ansteckt.5 Rauchen sei ein »genetisch bedingtes Laster«, »Gene geben den Rauchern den Takt vor«, »Forscher finden Kettenraucher-Gen« und »Gene schuld an Rauchverhalten« - diese und ähnliche Schlagzeilen haben die Runde gemacht. Nachfragen bei einem der beteiligten Wissenschaftler, beim Mediziner Hans-Jörgen Grabe von der Universität Greifswald, ergeben ein anderes Bild. Entscheiden die Gene, ob ein Mensch zum Raucher wird? »Bei aller Liebe«, räumt Grabe ein, »da hat man wohl nichts gefunden.« Was ist mit dem Einfluss der Gene auf die Menge der täglich gerauchten Zigaretten? Hier verweisen die Forscher auf einen »signifikanten« Effekt: Wer zwei bestimmte Genvarianten (von Mutter und Vater) hat, der raucht am Tag 0,75 Zigaretten mehr als ein Mensch mit einer dieser Varianten und 1,5 Zigaretten mehr als ein Mensch ohne »Risiko-Varianten«. Dieses Ergebnis ist ein Witz: Zwei Raucher haben in der Kneippe jeweils zwei Schachteln weggequalmt. Der eine drückt die letzte Kippe aus, der andere hingegen öffnet eine weitere Schachtel, zündet noch Zigarette Nummer 41 an, raucht sie und sagt entschuldigend: »Was sollte ich machen? Ich habe doch dieses blöde Kettenraucher-Gen.«
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Autoren-Porträt von Jörg Blech
Seit seinem Enthüllungsbuch 'Die Krankheitserfinder' hat sich der studierte Biochemiker Jörg Blech als Autor etabliert, der den Dingen auf den Grund geht. Sein Buch löste eine bundesweite Debatte über das Ausufern der Medizin aus und stand auf Platz 1 der Bestsellerliste. Das Schreiben hat Jörg Blech an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg gelernt. Er war Wissenschaftsredakteur der 'Zeit' und ist nunmehr Mitglied der SPIEGEL-Redaktion. Seine Bestseller 'Heillose Medizin' und 'Die Heilkraft der Bewegung' sowie sein zum Klassiker gewordener Erstling 'Das Leben auf dem Menschen' erscheinen im Fischer Taschenbuch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Blech
- 2012, 1. Auflage, 288 Seiten, 9 Abbildungen, Masse: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596186196
- ISBN-13: 9783596186198
- Erscheinungsdatum: 07.03.2012
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