Fredrika Bergman Band 3: Sterntaler
Thriller
Manche Geheimnisse sind so grausam, dass sie einen für immer verstummen lassen - Fredrika Bergman
ermittelt wieder!
Jede Woche bekommt die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin Blumen und eine Karte, auf der steht: Danke....
ermittelt wieder!
Jede Woche bekommt die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin Blumen und eine Karte, auf der steht: Danke....
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Produktinformationen zu „Fredrika Bergman Band 3: Sterntaler “
Manche Geheimnisse sind so grausam, dass sie einen für immer verstummen lassen - Fredrika Bergman
ermittelt wieder!
Jede Woche bekommt die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin Blumen und eine Karte, auf der steht: Danke. Eines Tages bekommt Thea, die seit vielen Jahren nicht mehr gesprochen hat, Besuch von einer Studentin. Anschließend verschwindet die junge Frau spurlos.
ermittelt wieder!
Jede Woche bekommt die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin Blumen und eine Karte, auf der steht: Danke. Eines Tages bekommt Thea, die seit vielen Jahren nicht mehr gesprochen hat, Besuch von einer Studentin. Anschließend verschwindet die junge Frau spurlos.
Klappentext zu „Fredrika Bergman Band 3: Sterntaler “
Manche Geheimnisse sind so grausam, dass sie einen verstummen lassen ...Seit vielen Jahren hat die einst gefeierte Kinderbuchautorin Thea Aldrin mit niemandem mehr gesprochen. Doch jeden Samstag schickt ihr ein Fremder einen Strauss Blumen und eine Karte, auf der ein einziges Wort steht: Danke. Dann besucht eine Studentin sie im Pflegeheim - und verschwindet kurz danach spurlos. Zwei Jahre später wird die Leiche der jungen Frau in einem Waldstück in Midsommarkransen gefunden. Daneben: eine weitere Leiche, die schon deutlich länger tief in der Erde liegt. Und schliesslich: eine dritte. Welches Geheimnis verschweigt die stumme Autorin?
Lese-Probe zu „Fredrika Bergman Band 3: Sterntaler “
Sterntaler von Kristina Ohlsson Als der Film anfängt, hat sie keine Ahnung, was sie zu sehen bekommen wird. Ebenso wenig weiß sie, welche schrecklichen Konsequenzen für ihr weiteres Leben der Film und die Entscheidungen haben, die sie hinterher treffen wird.
Sie hat den Projektor auf den Sofatisch gestellt. Die Leinwand hat sie aus der Abstellkammer hervorgekramt und mitten im Zimmer aufgestellt. Damit der Projektor im richtigen Winkel steht, hat sie ein Buch unter den vorderen Teil des Apparats gelegt. Es ist Ira Levins »Der Kuss vor dem Tode«. Sie hat es von einer Freundin zu Weihnachten geschenkt bekommen und sich immer noch nicht getraut, es zu lesen.
Der Projektor zieht den Film ein, und es klingt wie Hagel, der gegen eine Fensterscheibe schlägt. Im Zimmer ist es dunkel, sie ist allein. Warum hat dieser Film sie neugierig gemacht? Sie kann es sich nicht erklären; vielleicht weil sie sich nicht daran erinnern kann, ihn schon einmal gesehen zu haben. Oder weil sie spürt, dass dieser Film nicht ohne Grund vor ihr versteckt worden ist.
Das erste Bild zeigt einen Raum, der ihr bekannt vorkommt. Das Licht ist gedämpft, das Bild nicht ganz scharf. Vor die Fenster des Raumes sind Tücher gehängt; trotzdem findet das Tageslicht seinen Weg hinein. Es sind viele Fenster, und sie scheinen bis zur Decke zu reichen. Der Film läuft weiter, das Bild wird klarer. Eine Tür geht auf, eine junge Frau ist zu sehen. Sie zögert auf der Schwelle, scheint etwas zu sagen. Sie sieht in Richtung Kamera und lächelt unsicher. Das Bild hüpft. Offensichtlich steht die Kamera nicht auf einem Stativ. Jemand scheint sie in der Hand zu halten.
Die Frau betritt das Zimmer und drückt die Tür hinter sich zu.
... mehr
Als die Tür sich schließt, erkennt sie endlich, wo der Film aufgenommen wurde: im Gartenpavillon ihrer Eltern. Ohne zu wissen, warum, hat sie plötzlich Angst. Sie will den Projektor ausschalten, schafft es aber nicht.
Dann geht die Tür des Pavillons erneut auf, und ein maskierter Mann tritt ein. Er hält eine Axt in der Hand. Als die Frau ihn erblickt, schreit sie und weicht zurück. Sie verschwindet in einem der Tücher, doch der Mann packt sie, damit sie nicht durchs Fenster in den Garten fällt. Er zieht sie in die Mitte des Raumes. Die Kamera wackelt ein wenig.
Dann kommen Bilder, die sie nicht versteht. Der Mann schwingt seine Axt und schlägt sie in die Brust der Frau. Einmal, zweimal. Einmal gegen den Kopf. Dann macht er mit einem Messer weiter und ... o mein Gott ... Sie liegt leblos auf dem Boden.
Der Film läuft noch ein, zwei Sekunden, dann ist er vorbei. Der Projektor schnattert ungeduldig und verlangt, dass sie ihn ausschaltet und den Film in die Kassette zurückspult.
Doch das kann sie nicht. Ihr Blick bleibt auf die Leinwand geheftet. Was hat sie da gesehen?
Mit steifen Fingern schaltet sie den Projektor ab. Spult den Film zurück. Spielt ihn noch einmal ab. Und noch einmal.
Sie ist sich nicht sicher, ob er echt ist, doch das ist eigentlich ohne Bedeutung. Der Inhalt ist widerlich, und den Mann hinter der Maske hat sie bereits beim zweiten Ansehen erkannt.
Wann wurde er aufgenommen? Wer ist die Frau? Und wo waren ihre Eltern, als jemand in ihren Gartenpavillon ein drang, Tücher vor sämtliche Fenster hängte und dort einen Gewaltfilm drehte?
Es wird Abend, ehe sie einen Entschluss fasst. Sie hat mehr Fragen als Antworten, doch das ändert nichts mehr. Als er den Schlüssel in die Tür steckt und »Hallo, Liebling!« ruft, hat sie sich längst entschieden.
Sie wird nie wieder irgendjemandes Liebling sein.
Und ihr Kind wird niemals einen Vater haben.
1
Als Jörgen zum ersten Mal einen toten Menschen sah, war die Sonne noch nicht einmal eine Stunde am Himmel. Die andauernden Schneefälle des Winters und all die Regenschauer des Frühjahrs hatten die Erde aufgeweicht und die Bäche steigen lassen. Wind und Wetter hatten sich mit vereinten Kräften durch eine Schicht Erde nach der anderen gearbeitet, die die Leiche bedeckte, und schließlich hatte sich zwischen Steinen und Bäumen ein kleiner Krater gebildet.
Dennoch war die Leiche nicht offen sichtbar gewesen. Der Hund war es, der sie ausgrub. Und Jörgen stand wartend im Dickicht.
»Komm, Svante.«
Es war ihm schon immer schwergefallen, sich Gehör zu verschaffen und Respekt einzufordern. Sein Chef hatte darauf in unzähligen Personalgesprächen hingewiesen, und seine Frau hatte ihn aus genau diesem Grund verlassen. »Du machst dich so verdammt klein, dass du unsichtbar wirst«, hatte sie an dem Abend, als sie auszog, zu ihm gesagt.
Und nun stand er in einem ihm fremden Wald mit einem Hund, der ihm nicht gehörte. Seine Schwester hatte darauf bestanden, dass er bei ihr einzog, solange er auf Svante aufpasste. Es drehe sich schließlich nur um eine Woche, und Jörgen könne es doch eigentlich egal sein, wo er in dieser kurzen Zeit wohnte.
Doch darin hatte sie sich getäuscht, das spürte Jörgen mit jeder Faser seines Körpers. Es war überhaupt nicht egal, wo man wohnte. Weder er noch Svante schienen mit diesem Arrangement besonders glücklich.
Zwischen den Bäumen drangen schwache Sonnenstrahlen hindurch und erleuchteten die morgendlich feuchten Bäume zu goldenen Säulen. Still und friedlich. Das Einzige, was störte, war das ewige Wühlen von Svante in dem Erdhaufen. Die Vorderbeine schlugen wie Trommelschlägel auf den Boden, und die Erde spritzte in alle Richtungen.
»Komm schon«, versuchte Jörgen es erneut.
Das klang schon etwas strenger, doch der Hund war taub für seine Bitten und begann vor Eifer oder Frustration zu jaulen. Jörgen seufzte. Mit müden Schritten ging er zu Svante hinüber und tätschelte ihm linkisch den Rücken.
»Hör mal, wir müssen jetzt nach Hause. Schließlich waren wir gestern auch schon hier. Und morgen kommen wir wieder.«
Er wusste genau, wie er sich anhörte. Als redete er mit einem kleinen Kind. Doch Svante war kein Kind, er war ein fast dreißig Kilo schwerer Schäferhund, der die Witterung von etwas aufgenommen hatte, das weitaus interessanter war als der in einem Mooshaufen vor sich hin stampfende müde Bruder seines Frauchens.
Jörgen streckte wieder seine Hand aus, diesmal, um den Hund an die Leine zu nehmen. Sie würden jetzt nach Hause gehen, und wenn er Svante den ganzen Weg zum Haus hinter sich herziehen müsste.
»Du musst ihm zeigen, wer der Chef ist«, hatte seine Schwester gesagt. »Deutlich sein.«
Vogelgezwitscher ließ Jörgen aufschauen. Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, dass jemand in der Nähe war.
Mit einem Klick war Svante an der Leine, und als sich Jörgen gerade für den letzten Kampf bereitmachen wollte, den Hund nach Hause zu zerren, sah er den Plastiksack, den Svante freigelegt hatte.
Die Kiefer des Hundes gingen auf, die Zähne schlugen durch das Plastik, bissen, zerrten und rissen ein großes Stück heraus.
Eine Leiche?
Ein toter Mensch in der Erde?
»Svante, aus!«, brüllte Jörgen.
Der Hund erstarrte mitten in der Bewegung und trat den Rückzug an. Zum ersten und einzigen Mal gehorchte er seinem zeitweiligen Herrn.
2
Kriminalkommissar Torbjörn Ross stand reglos unter den Bäumen bei der Waldlichtung. Gerader Rücken, die Füße in warm gefütterten Gummistiefeln. Ein kalter Frühlingswind schlich vorbei, Sonnenstrahlen sickerten durch die Bäume. Bald würde es Zeit sein, das Boot aus dem Winterlager zu holen.
Torbjörn betrachtete den makabren Fund, den sie gemacht hatten, nachdem die beiden Plastiksäcke aufgeschnitten worden waren. Ein Rumpf und ein Unterkörper.
»Wie lange hat sie hier schon gelegen?«, fragte er den Rechtsmediziner.
»Unmöglich, das hier vor Ort genau zu sagen. Aber ich würde mal sagen, um die zwei Jahre.«
Torbjörn pfiff durch die Zähne. »Zwei Jahre!«
»Das ist nur geraten.«
Neben Torbjörn räusperte sich ein Polizeiassistent. »Wir können Hände und Kopf nicht finden.«
»Der Fundort ist verhältnismäßig alt«, murmelte Torbjörn. »Ich will, dass wir die Umgebung durchkämmen und nachsehen, ob die anderen Körperteile in der Nähe liegen. Nehmt die Hunde, und seid vorsichtig.«
Er ging davon aus, dass sie weder Hände noch Kopf finden würden, wollte sich seiner Sache aber sicher sein. Derartige Fälle zogen gern ein großes Medienspektakel nach sich. Da war der Spielraum für Fehler sehr gering.
Er wandte sich wieder dem Rechtsmediziner zu. »Was glauben Sie, wie alt sie ist?«
»Ich kann derzeit nur sagen, dass sie jung war.«
»Und kein Stückchen Stoff am Leib?«
»Nein, ich sehe hier keine Spuren von verrotteter Kleidung. «
»Ein Sexualmord.«
»Oder ein Mord, bei dem es wichtig war, dass das Opfer nicht sofort identifiziert wird.«
Torbjörn nickte gedankenverloren. »Das könnte auch sein.«
Der Rechtsmediziner hielt ihm ein kleines Objekt hin. »Sehen Sie mal!«
»Was ist das?«
»Ein Bauchnabelpiercing.«
»Igitt!«
Er hielt das Schmuckstück zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein silberner Ring an einem kleinen Steg. Torbjörn rieb ihn am Jackenärmel. »Da steht was.« Er kniff die Augen zusammen, drehte sich aus dem Licht. »Ich glaube, da steht ›Freiheit‹.« Als er das Wort aussprach, glitt ihm der Ring aus der Hand und verschwand in der Erde. »Verdammte Scheiße!«
Der Rechtsmediziner sah traurig aus.
Torbjörn nahm den Ring wieder auf und zog eine Beweis- mitteltüte aus der Tasche. Die Identifizierung dürfte mithilfe dieses Schmuckstücks kein größeres Problem darstellen. Seltsam, dass ein Mörder, der ansonsten große Sorgfalt an den Tag gelegt hatte, ein so entscheidendes Detail übersah.
Die Leichenteile wurden mit großer Vorsicht auf eine Bahre gehoben, zugedeckt und davongetragen. Torbjörn blieb zurück und tätigte noch einen Telefonanruf. »Alex«, sagte er, »entschuldige bitte, dass ich dich so früh am Morgen störe, aber ich habe hier einen Fall, der garantiert auf deinem Tisch landen wird.«
Langsam war es Zeit fürs Mittagessen. Eigentlich hatte Spencer Lagergren keinen Hunger, aber weil er um eins einen Termin hatte und nicht wusste, wie lange es dauern würde, wollte er lieber vorher noch etwas zu sich nehmen.
Im Restaurant Kung Krål am Gamla torget in Uppsala brachte man ihm Hühnchen und Reis, und danach spazierte er in fottem Tempo durch die Stadt zur Carolina Rediviva hinauf an der majestätischen Bibliothek vorbei und dann weiter zum Engelska parken, in dem die Gebäude des Instituts für Literaturwissenschaft lagen. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen? Manchmal meinte er, ihn mit verbundenen Augen zurücklegen zu können.
Auf der Hälfte des Weges begannen das Bein und die Hüfte zu schmerzen. Die Ärzte hatten ihm versprochen, dass er nach dem Autounfall seine volle Beweglichkeit wiedererlangen würde, und er übte sich in Geduld. Aber zu Anfang hatte er doch sehr mit sich gehadert. Es war so verdammt knapp gewesen. Was für eine teufische Ironie es gewesen wäre, ausgerechnet in dem Moment zu sterben, als gerade alles im Begriff war, sich zu ordnen. Nach Jahrzehnten des Unglücklichseins hatte Spencer sich am eigenen Schopf packen und endlich alles richtig machen wollen. Doch daraus war nur noch mehr Unglück entstanden.
Mehrere Monate lang war er krankgeschrieben gewesen. Als er zum ersten Mal Vater wurde, hatte er gerade erst wieder zu gehen gelernt. Während der Geburt hatte er nicht gewusst, ob er sitzen oder stehen sollte. Die Hebamme hatte ihm angeboten, eine Pritsche für ihn in den Kreißsaal zu rollen. Doch das hatte er freundlich, aber bestimmt abgelehnt.
Mit dem Kind kamen neue Energie und die Kräfte zur Erholung, und auch die Trennung von Eva gestaltete sich in keiner Weise so dramatisch, wie er befürchtet hatte. Sein Umzug wurde zwar von dem Autounfall überschattet, der ihn fast das Leben gekostet hatte, doch seine Exfrau sagte kein Wort, als die Umzugsleute stundenlang seine Habseligkeiten aus ihrem gemeinsamen Haus trugen. Spencer selbst war zugegen, um dafür zu sorgen, dass alles ruhig vonstattenging, und beobachtete die Umzugsarbeiten von seinem Lieblingssessel aus. Als der Laster gepackt war, fühlte es sich wie eine symbolische Handlung an, sich aus dem Sessel zu erheben und ihn als letztes Packstück hinaustragen zu lassen.
»Pass auf dich auf«, sagte er, als er in der Tür stand.
»Du auch«, erwiderte Eva.
»Wir hören voneinander.« Er hob die Hand zu einem zögerlichen Abschiedsgruß.
»Ja, das tun wir.« Sie lächelte, als sie das sagte, doch ihre Augen glänzten von Tränen. Und als er gerade die Eingangstür hinter sich zuziehen wollte, hörte er sie füstern: »Aber manchmal hatten wir es auch gut, oder?«
Er zeigte ihr mit einem Nicken, dass er der gleichen Meinung war, doch der Kloß im Hals war zu dick, als dass er etwas hätte sagen können. Er schloss die Tür zu dem Haus, das fast dreißig Jahre lang ihr gemeinsames Zuhause gewesen war, und ließ sich von einem der Umzugsleute die Treppe hinunterhelfen.
Das war jetzt fast zehn Monate her, und er war seither nicht ein einziges Mal dorthin zurückgekehrt.
Doch das Leben nach dem Autounfall hatte so manche andere Rückkehr für ihn bereitgehalten. Zum Beispiel die Rückkehr zur Arbeit. Das Gerücht, dass der geschätzte Professor Ehefrau und Haus verlassen hatte, um in Stockholm mit einer jungen Frau zusammenzuleben, die soeben ihr gemeinsames Kind zur Welt gebracht hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer an der Fakultät. Dass die Leute nicht wussten, ob es sich schickte, ihm zu seiner Vaterschaft zu gratulieren, quittierte er mit einem Lächeln.
Das Einzige, was ihm, abgesehen von der eingeschränkten Beweglichkeit, in seinem neuen Leben schwerfiel, war der Umzug nach Stockholm. Irgendwie fühlte sich plötzlich alles fremd an. Und immer wenn sein Zug in Uppsala ankam, wollte er am liebsten nie wieder nach Stockholm zurückfahren. Uppsala machte nicht nur berufich, sondern auch privat einen großen Teil seiner Identität aus. Stockholm lag ihm dagegen nicht so sehr. Er vermisste Uppsala mehr, als er zugeben wollte.
Inzwischen hatte er die Universität erreicht. Der Leiter des Instituts für Literaturwissenschaft, Erland Malm, und Spencer kannten einander, seit sie frisch bestellte Doktoranden gewesen waren. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden, waren aber auch nie Feinde, nicht einmal Konkurrenten gewesen. Man konnte sagen, dass die Beziehung gut war, aber auch nicht mehr.
»Setz dich, Spencer«, sagte Erland.
»Danke.«
Es tat Beinen und Hüfte gut, nach dem Marsch auszuruhen. Der Stock durfte an der Armlehne des Stuhls stehen. »Ich fürchte, ich habe eine etwas beklemmende Information für dich«, sagte Erland.
Beklemmend?
»Erinnerst du dich an Tova Eriksson?«
Spencer dachte nach. »Die habe ich im letzten Herbst betreut, und zwar zusammen mit der neuen Doktorandin, Malin. Das war kurz nachdem ich angefangen hatte, halbtags zu arbeiten.«
»Wie hast du die Zusammenarbeit mit Tova Eriksson in Erinnerung?«
Ein Geräusch vom Flur erinnerte sie daran, dass die Tür zu Erlands Zimmer offen stand. Erland erhob sich und schob sie zu.
»Meiner Erinnerung nach war die Zusammenarbeit unproblematisch. « Spencer hob kurz die Hände. Er wünschte, er hätte eine Tasse Kaffee bekommen. »Sie war allerdings nicht sonderlich ehrgeizig, und sowohl Malin als auch ich fragten uns, warum sie ein derart kompliziertes Thema für ihre Arbeit gewählt hatte. Es war nicht leicht, sie aufs richtige Gleis zu setzen, und am Ende fiel sie durchs Abschlussseminar. «
»Hattest du viele Treffen mit ihr?«
»Nein, nur ein paar. Um den Rest hat sich Malin gekümmert. Ich glaube, das hat Tova verärgert. Sie wollte keine Doktorandin als Betreuerin.«
Der Stock drohte umzukippen. Spencer lehnte ihn an Erlands Schreibtisch.
»Worum geht es hier eigentlich?«
Erland räusperte sich. »Sie sagt, du habest sie bei ihrer Abschlussarbeit behindert. Und du habest dich geweigert, ihr zu helfen, wenn sie nicht ...«
»Wenn sie nicht ...?«
»Sexuelle Handlungen ausführe. An dir.«
»Wie bitte?« Spencer lachte kurz auf, dann durchfuhr ihn der Zorn. »Wie bitte? Das nehmt ihr doch wohl nicht ernst, oder? Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun. Habt ihr mal mit Malin gesprochen?«
»Wir haben mit Malin gesprochen, und sie sagt das Gleiche wie du. Aber gleichzeitig gibt sie auch an, dass sie bei den wenigen Treffen zwischen dir und Tova nicht zugegen war.«
Der letzte Satz blieb in der Luft hängen.
»Erland, zum Teufel, das Mädchen kann nicht ganz bei Sinnen sein. Ich habe mich meinen Studenten gegenüber niemals schlecht verhalten, das weißt du genau.«
Erland schien peinlich berührt. »Verdammt, du hast ein Kind mit einer ehemaligen Studentin! Es gibt so manch einen an diesem Institut, der das bemerkenswert findet. Ich nicht, das weißt du hoffentlich, aber andere.«
»Wer denn?«
»Also, nun wollen wir uns nicht groß aufregen, ohne ...«
»Wer?«
»Barbro und Manne. Zum Beispiel.« »Barbro und Manne? Derselbe Manne, der mit seiner eigenen Stieftochter zusammenlebt?«
Erland schlug frustriert mit der Hand auf den Tisch. »Im Moment reden wir aber von dir! Das mit Manne war ein schlechtes Beispiel, das nehme ich zurück.« Er seufzte tief. »Eine andere Studentin hat gesehen, wie du Tova bei einer Gelegenheit umarmt hast.«
»Sie hat mir erzählt, dass ihr Vater einen Herzinfarkt gehabt habe und sie sich deshalb nicht konzentrieren könne. Weil sie so viel Zeit an seinem Krankenbett ...«
»Spencer, ihr Vater ist tot. Er war Gemeinderat hier in der Stadt. Er ist schon vor Jahren an Leukämie gestorben.«
Der Stock fiel um. Spencer ließ ihn liegen.
»Bist du dir sicher, dass du sie deshalb umarmt hast?« Spencer sah ihn an, und Erland versuchte es noch einmal. »Ich meine, eine Umarmung ist ja nichts Schlimmes, solange man weiß, weshalb sie erfolgt ist.«
»Erland, sie hat gesagt, ihrem Vater gehe es schlecht. Das hat sie gesagt.« Erland wand sich. »Wir können das hier nicht auf sich beruhen lassen, Spencer.«
Die Aprilsonne bahnte sich einen Weg ins Zimmer und ließ die Schatten der Blumen am Fenster auf dem Boden tanzen. Bald war Walpurgis. Die Studenten würden ihre Feste feiern. Picknicks im Park, Bootsrennen auf dem Fyrisån.
»Spencer, hörst du überhaupt, was ich sage? Die Sache ist ernst. Tovas beste Freundin ist gerade zur Vorsitzenden im Gleichstellungsausschuss der Studentenvertretung gewählt worden. Wenn wir das, was Tova Eriksson sagt, nicht ernst nehmen, dann kann das böse ausgehen.«
»Und was ist mit mir?«
Er sehnte sich nach Fredrika.
»Du hattest ein hartes Jahr. Nimm dir eine Weile frei.«
»Wenn das deine letzten Worte in dieser Sache sind, dann besteht die Gefahr, dass ich nicht wiederkomme.«
Erschrecken auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Jetzt hör mir mal zu. Die Sache wird vorbei sein, noch ehe der Sommer kommt. Mädchen wie Tova fiegen immer auf, wenn sie die Unwahrheit sagen.«
»Wenn sie die Unwahrheit sagen?« Spencer erhob sich mit einem Schnauben. »Ich hätte mehr von dir erwartet, Erland. «
Der Institutsleiter schwieg, ging um den Schreibtisch herum und nahm Spencers Stock auf.
»Grüße an Fredrika.«
Ohne zu antworten und voller Wut verließ Spencer das Zimmer. Doch er war nicht nur wütend, sondern auch besorgt. Wie würde diese Sache weitergehen?
»Es ist Rebecca Trolle.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Torbjörn Ross.
»Weil ich die Ermittlungen geleitet habe, als sie vor zwei Jahren verschwand.«
»Und ihr habt sie nie gefunden?«
Alex Recht starrte den Kollegen an. »Offensichtlich nicht.«
»Es fehlen Hände und Kopf, und der Körper ist übel zugerichtet. Sie wird schwer zu identifizieren sein, aber das kann man natürlich über die DNA machen, sofern wir Vergleichsmaterial haben.«
»Haben wir. Aber du kannst die offizielle Identifizierung als eine Formalität betrachten. Ich weiß, dass es Rebecca ist, die ihr gefunden habt.«
Alex spürte den Blick des Kollegen. Im letzten halben Jahr hatte er mehr solcher Blicke bekommen, als er zählen konnte. Fragende Blicke, die Mitgefühl ausdrücken sollten, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Zweifel aussandten. Kommt er klar?, schienen sie zu fragen. Schafft er es, jetzt da seine Frau tot ist?
Die Personalchefin Margareta Berlin war eine Ausnahme gewesen. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir die Signale senden, die ich brauche«, hatte sie gesagt. »Zögern Sie nicht, um Unterstützung zu bitten. Und zweifeln Sie nicht daran, dass ich hinter Ihnen stehe, denn das tue ich. Zu hundert Prozent.«
Erst da hatte Alex nachgegeben und um unbezahlten Urlaub gebeten.
»Keine Krankschreibung? Ich kann das arrangieren.«
»Nein, Urlaub. Ich will verreisen.«
Nach Bagdad, hätte er hinzufügen können, doch das klang zu spektakulär, als dass er es laut hätte sagen können.
Alex hielt den Piercingring vor sich.
»Ihre Mutter hat ihr diesen Ring zum Abitur geschenkt. Deshalb weiß ich, dass sie es ist.«
»Na, das ist ja vielleicht ein Geschenk.«
»Außerdem hat sie fünfundzwanzigtausend Kronen als Startkapital für ihr Studium bekommen. Rebecca war die Erste in der Familie, die zur Uni ging, und ihre Mutter war sehr stolz auf sie.«
»Hat jemand sie benachrichtigt? Also, die Mutter?«
Alex hob den Blick von dem Ring. »Noch nicht. Ich wollte es morgen machen.«
»Nicht heute?«
»Nein, ich will erst sehen, ob wir im Laufe des Tages noch den Kopf und die Hände finden. Es gibt keinen Anlass zur Eile. Die Mutter hat schon so lange gewartet, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.«
Noch während er das sagte, spürte er den Schmerz. Ein Tag konnte eine Ewigkeit bedeuten. Er würde zehn Jahre seines Lebens hergeben, um nur einen weiteren Tag mit Lena zusammen sein zu können. Einen einzigen Tag.
Dass Sehnsucht so wehtun kann.
Mit leicht zitternden Händen steckte Alex den Ring wieder in die Tüte.
»Wie ist dein Team derzeit besetzt? Könnt ihr einen derart großen Fall übernehmen?«, fragte Torbjörn.
»Ich denke schon.«
Torbjörn sah ihn fragend an. »Ist Rydh noch dabei?«
»Ja, das ist er. Und Bergman, aber die ist momentan noch in Elternzeit.«
»Stimmt, verdammt.« Der Kollege grinste. »Die hat sich anscheinend von einem alten Professor ein Kind machen lassen.«
Das Grinsen verging ihm, als er Alex' Gesichtsausdruck sah.
»Derartiges blödes Gerede musst du mit jemand anderem teilen. Das interessiert mich wirklich nicht.«
Torbjörn ruderte zurück. »Sie müsste aber doch bald wieder zurückkommen, oder?«
»Natürlich. Ich habe zwar noch andere Ermittler, die ich in Anspruch nehmen könnte, aber es wäre großartig, Fredrika wieder dabeizuhaben. Lieber heute als morgen.« Alex lächelte schwach.
»Man weiß nie«, sagte Torbjörn, »vielleicht ist sie es ja leid, zu Hause zu sitzen.«
»Vielleicht«, sagte Alex.
3
»Morgen?«, fragte Fredrika Bergman.
»Warum nicht?«, erwiderte Spencer.
Erstaunt ließ sie sich am Küchentisch nieder. »Ist irgendetwas passiert?« »Nein.« »Hör schon auf, Spencer!« Der Herd klickte, als er das Gas einschaltete, um Wasser
für den Tee zu kochen. Der Anblick seines Rückens sagte ihr alles. Irgendetwas stimmte nicht.
Sie war einverstanden gewesen, dass sie die Elternzeit nicht zwischen sich aufteilen würden. Die Voraussetzungen waren glasklar gewesen: Spencer war weiterhin mit Eva verheiratet, und Fredrika war verantwortlich für die Versorgung des Kindes, das sie erwarteten. Doch dann kam alles anders.
Nach und nach hatte Spencer seine Geschichte erzählt. Ein Schwiegervater, der den Schwiegersohn erpresste. Eine Ehefrau, die einen Lebensstil pflegte, den er nicht länger finanzieren konnte. Ein Fehler in seiner Jugend, der letztendlich sein ganzes Leben bestimmt hatte. Und dann - aus dem Nichts - die Kraft, sich loszumachen.
»Wenn du willst«, hatte er gesagt, als sie ihn nach dem Autounfall im vorigen Winter im Krankenhaus besucht hatte.
»Wenn ich was will?«
»Wenn du mit mir leben willst. Ganz richtig.«
Aus verschiedenen Gründen war es ihr schwergefallen, sofort mit Ja zu antworten. Spencer und sie waren mehr als zehn Jahre lang insgeheim ein Paar gewesen. Es würde Zeit brauchen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er ihr jetzt ganz gehören sollte.
Will ich das?, hatte sie sich gefragt. Will ich wirklich mit ihm leben, oder habe ich das nur geglaubt, solange er unerreichbar für mich war?
Die Frage ließ ihr Herz stocken.
Ich will. Ich will, ich will, ich will.
Seine Behinderung nach dem Unglück hatte ihr Angst gemacht. Er durfte nicht noch schneller altern, als er es ohnehin schon tat. Er durfte keine Belastung werden, wenn sie sich gleichzeitig um ein kleines Kind kümmern musste.
Vielleicht spürte er ihre Angst, denn er arbeitete mit irrsinniger Kraft daran, wieder gesund zu werden. Den Stock hatte er immer noch dabei, doch auch den würde er bald ablegen.
Das Mädchen erwachte aus seinem Mittagsschlaf und fing an, im Kinderzimmer Laute von sich zu geben. Spencer kam Fredrika zuvor und nahm es auf den Arm. Saga weinte nur selten, wenn sie aufwachte. Sie redete stattdessen. Oder brabbelte und gab kleine Spuckebläschen von sich. Sie war Fredrika so ähnlich, dass es fast unheimlich war.
Spencer kam wieder in die Küche, die lächelnde Saga im Arm. »Du hast doch gesagt, dass du gern wieder arbeiten würdest.«
»Ja, natürlich habe ich das gesagt, aber so etwas muss man doch planen. Wie lange willst du denn zu Hause sein?«
»Einen Monat«, antwortete Spencer. »Maximal zwei.«
»Und dann?«
»Dann geht sie in die Tagesstätte.«
»Den Platz in der Tagesstätte haben wir erst ab August, Spencer.«
»Genau. Und vorher machen wir Urlaub. Das passt doch ausgezeichnet, wenn ich bis zum Sommer zu Hause bin.«
Fredrika verstummte und betrachtete sein zerfurchtes Gesicht. Sie hatte gesehen, wie die Liebe zu Saga ihn überrascht hatte, wie erstaunt er darüber gewesen war, dass man für ein Kind derart starke Gefühle haben konnte. Aber er hatte kein einziges Mal Interesse daran gezeigt, Elternzeit zu nehmen.
»Was ist passiert, Spencer?«
»Nichts.«
»Lüg mich nicht an.«
Seine Pupillen weiteten sich. »Im Institut ist der Wahnsinn los«, sagte er schließlich.
Sie runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, dass er von einem Streit zwischen zwei Kollegen gesprochen hatte. Da hatte es aber nicht so gewirkt, als wäre er ein Teil des Problems.
»Derselbe Konflikt wie schon einmal?«
»Ja, nur noch schlimmer. Die Stimmung ist schlecht, und es greift schon auf die Studenten über.«
Er verzog das Gesicht und setzte Saga auf den Boden. Fredrika sah, dass die Bewegung ihn schmerzte.
»Schaffst du es denn, ganze Tage mit Saga allein zu sein? Ich könnte vielleicht in Teilzeit anfangen ...«
Er nickte. »Gute Idee. Ich werde ja trotzdem noch nach Uppsala fahren und an einer Reihe von Sitzungen teilnehmen müssen.«
Er wich ihrem Blick aus. Es gab irgendein Geheimnis, das er ihr vorenthielt, das spürte sie deutlich.
»Okay«, sagte sie schließlich.
»Okay?«
»Ich werde mit Alex reden. Heute Nachmittag fahre ich im Büro vorbei und frage ihn, was er davon hält. Vielleicht hat er gerade eine neue Ermittlung am Laufen.«
Eine zerstückelte Leiche in zwei Plastiksäcken. Nach Alex' Ansicht handelte es sich um Rebecca Trolle.
Peder Rydh sah misstrauisch auf die Körperteile hinab. Kopf und Hände fehlten, aber Alex hatte den Schmuck erkannt, den sie im Nabel gehabt hatte. DNA-Proben würden diese Theorie entweder bestätigen oder widerlegen. Peder hatte Zweifel. Sicherlich war das Schmuckstück ungewöhnlich, vor allem mit dem Text auf dem kleinen Steg, doch dieses Ding konnte wohl kaum allein zur Identifizierung genügen.
Die feuchte Erde und das Plastik hatten das ihrige getan, um die Leiche zu erhalten, doch nach den Fotos zu urteilen, konnte man sich nur schwer vorstellen, wie die Frau einmal ausgesehen hatte, als sie noch lebte. War sie dick oder eher schlank gewesen? Hatte sie einen geraden Rücken gehabt, oder war sie so eine gewesen, die immer die Schultern ein wenig zu hoch zog und deshalb beinahe bucklig aussah?
Peder schlug die Akte auf, die er von Alex bekommen hatte. Darin lag ein Bild von Rebecca Trolle, kurz bevor sie verschwunden war. Süß. Frisch. Sommersprossen und ein breites Lächeln für die Kamera. Ein pfaumenfarbener Pullover, der das Blau in ihren Augen verstärkte. Dunkelblonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Selbstsicher.
Und jetzt tot.
Sie hatte viele Eisen im Feuer gehabt. Dreiundzwanzig Jahre alt, auf dem besten Wege hin zu einem Abschluss in Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Nach dem Abitur hatte sie ein Jahr in Frankreich gelebt, war Mitglied in einem französischen Buchzirkel gewesen. Hatte im Kirchenchor gesungen und abends einen Babyschwimmkurs geleitet.
Peder seufzte. Wie schafften diese jungen Menschen es nur, so verdammt viele Sachen gleichzeitig zu unternehmen? Diese Tausendsassa, immer auf dem Weg zu einer neuen Aktivität.
Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie Single gewesen. Es gab eine Exfreundin, die die Polizei mehrmals verhört hatte, und es war das Gerücht von einer neuen Beziehung umgegangen, doch hatte sich niemand gemeldet, und die Polizei hatte keinen Namen herausfinden können. Sie hatte einen großen Freundeskreis gehabt, und es schien, als wären alle mindestens einmal von der Polizei verhört worden. Das Gleiche galt für ihre Tutoren an der Universität, die Kollegen im Schwimmbad und die Mitglieder des Kirchenchors.
Die Ermittlungen hatten in einer Sackgasse geendet, und Peder war erleichtert, nicht ein Teil dieses trostlosen Falles gewesen zu sein. Er überflog Alex' Notizen und ahnte, dass die Lage verzweifelt gewesen sein musste. Am Ende hatten die Polizisten darüber nachgedacht, ob sie vielleicht freiwillig verschwunden sein könnte. Hatte ein Streit mit der Mutter sie verärgert und ihre Pläne konkretisieren lassen, eine Zeit lang ins Ausland zu gehen? Der Vater wohnte nicht mehr in Stockholm, sondern war nach Göteborg gezogen, als Rebecca zwölf gewesen war. Die Polizei hatte auch ihn verhört.
Rebecca Trolle war an einem ganz normalen Werktag auf dem Weg zu einem Mentorenfest an der Universität verschwunden. Gegen achtzehn Uhr hatte sie noch mit ihrer Mutter telefoniert und von dem Fest erzählt. Danach hatte sie einen Anruf von einem Handy mit nicht registrierter Prepaidkarte entgegengenommen. Um neunzehn Uhr war ihr Nachbar im Studentenwohnheim Nyponet am Körsbärsvägen ihr im Flur begegnet. Da hatte sie einen Mantel angehabt und angeblich unter Stress gestanden. Um Viertel nach sieben hatten Zeugen sie in einem Bus der Linie 4 gesehen, der zum Radiohaus fuhr. Das hatte die Polizisten nachdenklich gemacht, denn die Universität lag in der entgegengesetzten Richtung. Die Freunde, die auf dem Fest auf sie warteten, berichteten, dass sie dort nie ankam. Und niemand wusste, wohin sie mit dem Bus Nummer 4 unterwegs gewesen sein könnte.
Kurz vor halb acht wurde sie noch einmal gesehen, als sie aus dem Bus ausstieg und in Richtung Gärdet ging. Danach gab es keine Zeugen mehr, und Rebecca blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Peder zog eine Karte hervor, die bei der Ermittlung benutzt worden war. Sämtliche Personen, die in irgendeiner Weise mit der Ermittlung in Berührung gekommen waren und die in der Nähe des Radiohauses wohnten, waren auf dem Plan markiert worden. Niemand von ihnen war verdächtig gewesen. Es handelte sich um eine Handvoll Personen, und sie alle hatten ein glaubhaftes Alibi. Niemand von ihnen war an jenem Abend mit Rebecca verabredet gewesen. Niemand hatte sie seither gesehen. Bis jetzt - wenn sie es denn tatsächlich war, die in den Plastiksäcken lag.
Der Fundort lag am Rand des in den Fünfzigerjahren errichteten Wohngebiets Midsommarkransen. Wer in dem Fall hatte eine Verbindung zu diesem Stadtteil? Wahrscheinlich nicht viele, aber dennoch wäre es wert, das zu kontrollieren.
Potenzielle Täter waren in der gesamten Ermittlung zu Rebeccas Verschwinden Mangelware gewesen. Die Analyse ihrer Handyaktivitäten hatte nichts erbracht, die letzte Verbindung zum Sendemast bestätigte nichts anderes, als dass sie sich in der Nähe des Radiohauses befunden hatte, und dann verlief sich jegliche Spur. Man hatte keine dezidierten Feinde ausmachen können, aber das musste nicht heißen, dass es keine gab. Rebeccas Mutter hatte sich an einen Konflikt mit einem Arbeitskollegen im Schwimmbad erinnern können, doch diese Spur war schnell abgekühlt. Der Kollege war ehrlich erstaunt über die Information und nannte den Konflikt eine Bagatelle. Außerdem hatte er ein Alibi für den Abend, an dem Rebecca als vermisst gemeldet wurde.
Peder hielt inne. Wer vermisste eine alleinstehende junge Frau noch am selben Abend, an dem sie verschwand?
Der erste Bericht, der in der Sache geschrieben worden war, besagte, dass ein befreundeter junger Mann gegen elf Uhr abends die Polizei angerufen hatte. Rebecca war nicht wie versprochen zu dem Fest gekommen, und sie ging auch nicht ans Telefon. Die Reaktion der Polizei war zunächst eher kühl. Routinemäßig rief man die Eltern an, die auch nichts von ihr gehört hatten. Ihre Mutter war zunächst nicht einmal besorgt, sie meinte, ihre Tochter könne selbst auf sich aufpassen.
Um zwei Uhr war die Lage dann eine andere. Die Mutter hatte herausbekommen, dass ihre Tochter sich nach wie vor nicht bei ihren Freunden gemeldet hatte und dass ihr Telefon ausgeschaltet war.
Am frühen Morgen ging dann die Vermisstenanzeige raus, und damit war die Ermittlung eröffnet.
Håkan Nilsson hieß der Typ, der zuerst die Polizei angerufen hatte. Warum die Polizei und nicht die Eltern? Vielleicht weil er die Eltern nicht kannte. Aber warum hatte er nicht den nächsten Tag abgewartet, weshalb hatte er sich Sorgen gemacht?
Peder blätterte ein Dokument nach dem anderen durch. Håkan Nilsson war der Polizei im Grunde die ganzen Ermittlungen hindurch behilfich gewesen. Ein Kommilitone, der das Verschwinden des Mädchens unerträglich fand und gern helfen wollte. Aber warum ausgerechnet er - und warum mehr als die anderen Freunde? Håkan hatte Handzettel gedruckt und sich von der Studentenzeitung interviewen lassen. Er redete immerzu davon, dass »wir« besorgt seien, es war jedoch nicht festzustellen, wer hinter dem »wir« steckte.
Peder beschloss, die Sache mit Alex zu besprechen. Er öffnete das Polizeiregister im Computer und rief Håkan Nilson auf. Er hatte im selben Studentenwohnheim gewohnt wie Rebecca. Inzwischen war er in der Tellusgatan gemeldet. In Hägersten. Sprich: Midsommarkransen.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Limes Verlag, München
Als die Tür sich schließt, erkennt sie endlich, wo der Film aufgenommen wurde: im Gartenpavillon ihrer Eltern. Ohne zu wissen, warum, hat sie plötzlich Angst. Sie will den Projektor ausschalten, schafft es aber nicht.
Dann geht die Tür des Pavillons erneut auf, und ein maskierter Mann tritt ein. Er hält eine Axt in der Hand. Als die Frau ihn erblickt, schreit sie und weicht zurück. Sie verschwindet in einem der Tücher, doch der Mann packt sie, damit sie nicht durchs Fenster in den Garten fällt. Er zieht sie in die Mitte des Raumes. Die Kamera wackelt ein wenig.
Dann kommen Bilder, die sie nicht versteht. Der Mann schwingt seine Axt und schlägt sie in die Brust der Frau. Einmal, zweimal. Einmal gegen den Kopf. Dann macht er mit einem Messer weiter und ... o mein Gott ... Sie liegt leblos auf dem Boden.
Der Film läuft noch ein, zwei Sekunden, dann ist er vorbei. Der Projektor schnattert ungeduldig und verlangt, dass sie ihn ausschaltet und den Film in die Kassette zurückspult.
Doch das kann sie nicht. Ihr Blick bleibt auf die Leinwand geheftet. Was hat sie da gesehen?
Mit steifen Fingern schaltet sie den Projektor ab. Spult den Film zurück. Spielt ihn noch einmal ab. Und noch einmal.
Sie ist sich nicht sicher, ob er echt ist, doch das ist eigentlich ohne Bedeutung. Der Inhalt ist widerlich, und den Mann hinter der Maske hat sie bereits beim zweiten Ansehen erkannt.
Wann wurde er aufgenommen? Wer ist die Frau? Und wo waren ihre Eltern, als jemand in ihren Gartenpavillon ein drang, Tücher vor sämtliche Fenster hängte und dort einen Gewaltfilm drehte?
Es wird Abend, ehe sie einen Entschluss fasst. Sie hat mehr Fragen als Antworten, doch das ändert nichts mehr. Als er den Schlüssel in die Tür steckt und »Hallo, Liebling!« ruft, hat sie sich längst entschieden.
Sie wird nie wieder irgendjemandes Liebling sein.
Und ihr Kind wird niemals einen Vater haben.
1
Als Jörgen zum ersten Mal einen toten Menschen sah, war die Sonne noch nicht einmal eine Stunde am Himmel. Die andauernden Schneefälle des Winters und all die Regenschauer des Frühjahrs hatten die Erde aufgeweicht und die Bäche steigen lassen. Wind und Wetter hatten sich mit vereinten Kräften durch eine Schicht Erde nach der anderen gearbeitet, die die Leiche bedeckte, und schließlich hatte sich zwischen Steinen und Bäumen ein kleiner Krater gebildet.
Dennoch war die Leiche nicht offen sichtbar gewesen. Der Hund war es, der sie ausgrub. Und Jörgen stand wartend im Dickicht.
»Komm, Svante.«
Es war ihm schon immer schwergefallen, sich Gehör zu verschaffen und Respekt einzufordern. Sein Chef hatte darauf in unzähligen Personalgesprächen hingewiesen, und seine Frau hatte ihn aus genau diesem Grund verlassen. »Du machst dich so verdammt klein, dass du unsichtbar wirst«, hatte sie an dem Abend, als sie auszog, zu ihm gesagt.
Und nun stand er in einem ihm fremden Wald mit einem Hund, der ihm nicht gehörte. Seine Schwester hatte darauf bestanden, dass er bei ihr einzog, solange er auf Svante aufpasste. Es drehe sich schließlich nur um eine Woche, und Jörgen könne es doch eigentlich egal sein, wo er in dieser kurzen Zeit wohnte.
Doch darin hatte sie sich getäuscht, das spürte Jörgen mit jeder Faser seines Körpers. Es war überhaupt nicht egal, wo man wohnte. Weder er noch Svante schienen mit diesem Arrangement besonders glücklich.
Zwischen den Bäumen drangen schwache Sonnenstrahlen hindurch und erleuchteten die morgendlich feuchten Bäume zu goldenen Säulen. Still und friedlich. Das Einzige, was störte, war das ewige Wühlen von Svante in dem Erdhaufen. Die Vorderbeine schlugen wie Trommelschlägel auf den Boden, und die Erde spritzte in alle Richtungen.
»Komm schon«, versuchte Jörgen es erneut.
Das klang schon etwas strenger, doch der Hund war taub für seine Bitten und begann vor Eifer oder Frustration zu jaulen. Jörgen seufzte. Mit müden Schritten ging er zu Svante hinüber und tätschelte ihm linkisch den Rücken.
»Hör mal, wir müssen jetzt nach Hause. Schließlich waren wir gestern auch schon hier. Und morgen kommen wir wieder.«
Er wusste genau, wie er sich anhörte. Als redete er mit einem kleinen Kind. Doch Svante war kein Kind, er war ein fast dreißig Kilo schwerer Schäferhund, der die Witterung von etwas aufgenommen hatte, das weitaus interessanter war als der in einem Mooshaufen vor sich hin stampfende müde Bruder seines Frauchens.
Jörgen streckte wieder seine Hand aus, diesmal, um den Hund an die Leine zu nehmen. Sie würden jetzt nach Hause gehen, und wenn er Svante den ganzen Weg zum Haus hinter sich herziehen müsste.
»Du musst ihm zeigen, wer der Chef ist«, hatte seine Schwester gesagt. »Deutlich sein.«
Vogelgezwitscher ließ Jörgen aufschauen. Plötzlich hatte er das unangenehme Gefühl, dass jemand in der Nähe war.
Mit einem Klick war Svante an der Leine, und als sich Jörgen gerade für den letzten Kampf bereitmachen wollte, den Hund nach Hause zu zerren, sah er den Plastiksack, den Svante freigelegt hatte.
Die Kiefer des Hundes gingen auf, die Zähne schlugen durch das Plastik, bissen, zerrten und rissen ein großes Stück heraus.
Eine Leiche?
Ein toter Mensch in der Erde?
»Svante, aus!«, brüllte Jörgen.
Der Hund erstarrte mitten in der Bewegung und trat den Rückzug an. Zum ersten und einzigen Mal gehorchte er seinem zeitweiligen Herrn.
2
Kriminalkommissar Torbjörn Ross stand reglos unter den Bäumen bei der Waldlichtung. Gerader Rücken, die Füße in warm gefütterten Gummistiefeln. Ein kalter Frühlingswind schlich vorbei, Sonnenstrahlen sickerten durch die Bäume. Bald würde es Zeit sein, das Boot aus dem Winterlager zu holen.
Torbjörn betrachtete den makabren Fund, den sie gemacht hatten, nachdem die beiden Plastiksäcke aufgeschnitten worden waren. Ein Rumpf und ein Unterkörper.
»Wie lange hat sie hier schon gelegen?«, fragte er den Rechtsmediziner.
»Unmöglich, das hier vor Ort genau zu sagen. Aber ich würde mal sagen, um die zwei Jahre.«
Torbjörn pfiff durch die Zähne. »Zwei Jahre!«
»Das ist nur geraten.«
Neben Torbjörn räusperte sich ein Polizeiassistent. »Wir können Hände und Kopf nicht finden.«
»Der Fundort ist verhältnismäßig alt«, murmelte Torbjörn. »Ich will, dass wir die Umgebung durchkämmen und nachsehen, ob die anderen Körperteile in der Nähe liegen. Nehmt die Hunde, und seid vorsichtig.«
Er ging davon aus, dass sie weder Hände noch Kopf finden würden, wollte sich seiner Sache aber sicher sein. Derartige Fälle zogen gern ein großes Medienspektakel nach sich. Da war der Spielraum für Fehler sehr gering.
Er wandte sich wieder dem Rechtsmediziner zu. »Was glauben Sie, wie alt sie ist?«
»Ich kann derzeit nur sagen, dass sie jung war.«
»Und kein Stückchen Stoff am Leib?«
»Nein, ich sehe hier keine Spuren von verrotteter Kleidung. «
»Ein Sexualmord.«
»Oder ein Mord, bei dem es wichtig war, dass das Opfer nicht sofort identifiziert wird.«
Torbjörn nickte gedankenverloren. »Das könnte auch sein.«
Der Rechtsmediziner hielt ihm ein kleines Objekt hin. »Sehen Sie mal!«
»Was ist das?«
»Ein Bauchnabelpiercing.«
»Igitt!«
Er hielt das Schmuckstück zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein silberner Ring an einem kleinen Steg. Torbjörn rieb ihn am Jackenärmel. »Da steht was.« Er kniff die Augen zusammen, drehte sich aus dem Licht. »Ich glaube, da steht ›Freiheit‹.« Als er das Wort aussprach, glitt ihm der Ring aus der Hand und verschwand in der Erde. »Verdammte Scheiße!«
Der Rechtsmediziner sah traurig aus.
Torbjörn nahm den Ring wieder auf und zog eine Beweis- mitteltüte aus der Tasche. Die Identifizierung dürfte mithilfe dieses Schmuckstücks kein größeres Problem darstellen. Seltsam, dass ein Mörder, der ansonsten große Sorgfalt an den Tag gelegt hatte, ein so entscheidendes Detail übersah.
Die Leichenteile wurden mit großer Vorsicht auf eine Bahre gehoben, zugedeckt und davongetragen. Torbjörn blieb zurück und tätigte noch einen Telefonanruf. »Alex«, sagte er, »entschuldige bitte, dass ich dich so früh am Morgen störe, aber ich habe hier einen Fall, der garantiert auf deinem Tisch landen wird.«
Langsam war es Zeit fürs Mittagessen. Eigentlich hatte Spencer Lagergren keinen Hunger, aber weil er um eins einen Termin hatte und nicht wusste, wie lange es dauern würde, wollte er lieber vorher noch etwas zu sich nehmen.
Im Restaurant Kung Krål am Gamla torget in Uppsala brachte man ihm Hühnchen und Reis, und danach spazierte er in fottem Tempo durch die Stadt zur Carolina Rediviva hinauf an der majestätischen Bibliothek vorbei und dann weiter zum Engelska parken, in dem die Gebäude des Instituts für Literaturwissenschaft lagen. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen? Manchmal meinte er, ihn mit verbundenen Augen zurücklegen zu können.
Auf der Hälfte des Weges begannen das Bein und die Hüfte zu schmerzen. Die Ärzte hatten ihm versprochen, dass er nach dem Autounfall seine volle Beweglichkeit wiedererlangen würde, und er übte sich in Geduld. Aber zu Anfang hatte er doch sehr mit sich gehadert. Es war so verdammt knapp gewesen. Was für eine teufische Ironie es gewesen wäre, ausgerechnet in dem Moment zu sterben, als gerade alles im Begriff war, sich zu ordnen. Nach Jahrzehnten des Unglücklichseins hatte Spencer sich am eigenen Schopf packen und endlich alles richtig machen wollen. Doch daraus war nur noch mehr Unglück entstanden.
Mehrere Monate lang war er krankgeschrieben gewesen. Als er zum ersten Mal Vater wurde, hatte er gerade erst wieder zu gehen gelernt. Während der Geburt hatte er nicht gewusst, ob er sitzen oder stehen sollte. Die Hebamme hatte ihm angeboten, eine Pritsche für ihn in den Kreißsaal zu rollen. Doch das hatte er freundlich, aber bestimmt abgelehnt.
Mit dem Kind kamen neue Energie und die Kräfte zur Erholung, und auch die Trennung von Eva gestaltete sich in keiner Weise so dramatisch, wie er befürchtet hatte. Sein Umzug wurde zwar von dem Autounfall überschattet, der ihn fast das Leben gekostet hatte, doch seine Exfrau sagte kein Wort, als die Umzugsleute stundenlang seine Habseligkeiten aus ihrem gemeinsamen Haus trugen. Spencer selbst war zugegen, um dafür zu sorgen, dass alles ruhig vonstattenging, und beobachtete die Umzugsarbeiten von seinem Lieblingssessel aus. Als der Laster gepackt war, fühlte es sich wie eine symbolische Handlung an, sich aus dem Sessel zu erheben und ihn als letztes Packstück hinaustragen zu lassen.
»Pass auf dich auf«, sagte er, als er in der Tür stand.
»Du auch«, erwiderte Eva.
»Wir hören voneinander.« Er hob die Hand zu einem zögerlichen Abschiedsgruß.
»Ja, das tun wir.« Sie lächelte, als sie das sagte, doch ihre Augen glänzten von Tränen. Und als er gerade die Eingangstür hinter sich zuziehen wollte, hörte er sie füstern: »Aber manchmal hatten wir es auch gut, oder?«
Er zeigte ihr mit einem Nicken, dass er der gleichen Meinung war, doch der Kloß im Hals war zu dick, als dass er etwas hätte sagen können. Er schloss die Tür zu dem Haus, das fast dreißig Jahre lang ihr gemeinsames Zuhause gewesen war, und ließ sich von einem der Umzugsleute die Treppe hinunterhelfen.
Das war jetzt fast zehn Monate her, und er war seither nicht ein einziges Mal dorthin zurückgekehrt.
Doch das Leben nach dem Autounfall hatte so manche andere Rückkehr für ihn bereitgehalten. Zum Beispiel die Rückkehr zur Arbeit. Das Gerücht, dass der geschätzte Professor Ehefrau und Haus verlassen hatte, um in Stockholm mit einer jungen Frau zusammenzuleben, die soeben ihr gemeinsames Kind zur Welt gebracht hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer an der Fakultät. Dass die Leute nicht wussten, ob es sich schickte, ihm zu seiner Vaterschaft zu gratulieren, quittierte er mit einem Lächeln.
Das Einzige, was ihm, abgesehen von der eingeschränkten Beweglichkeit, in seinem neuen Leben schwerfiel, war der Umzug nach Stockholm. Irgendwie fühlte sich plötzlich alles fremd an. Und immer wenn sein Zug in Uppsala ankam, wollte er am liebsten nie wieder nach Stockholm zurückfahren. Uppsala machte nicht nur berufich, sondern auch privat einen großen Teil seiner Identität aus. Stockholm lag ihm dagegen nicht so sehr. Er vermisste Uppsala mehr, als er zugeben wollte.
Inzwischen hatte er die Universität erreicht. Der Leiter des Instituts für Literaturwissenschaft, Erland Malm, und Spencer kannten einander, seit sie frisch bestellte Doktoranden gewesen waren. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden, waren aber auch nie Feinde, nicht einmal Konkurrenten gewesen. Man konnte sagen, dass die Beziehung gut war, aber auch nicht mehr.
»Setz dich, Spencer«, sagte Erland.
»Danke.«
Es tat Beinen und Hüfte gut, nach dem Marsch auszuruhen. Der Stock durfte an der Armlehne des Stuhls stehen. »Ich fürchte, ich habe eine etwas beklemmende Information für dich«, sagte Erland.
Beklemmend?
»Erinnerst du dich an Tova Eriksson?«
Spencer dachte nach. »Die habe ich im letzten Herbst betreut, und zwar zusammen mit der neuen Doktorandin, Malin. Das war kurz nachdem ich angefangen hatte, halbtags zu arbeiten.«
»Wie hast du die Zusammenarbeit mit Tova Eriksson in Erinnerung?«
Ein Geräusch vom Flur erinnerte sie daran, dass die Tür zu Erlands Zimmer offen stand. Erland erhob sich und schob sie zu.
»Meiner Erinnerung nach war die Zusammenarbeit unproblematisch. « Spencer hob kurz die Hände. Er wünschte, er hätte eine Tasse Kaffee bekommen. »Sie war allerdings nicht sonderlich ehrgeizig, und sowohl Malin als auch ich fragten uns, warum sie ein derart kompliziertes Thema für ihre Arbeit gewählt hatte. Es war nicht leicht, sie aufs richtige Gleis zu setzen, und am Ende fiel sie durchs Abschlussseminar. «
»Hattest du viele Treffen mit ihr?«
»Nein, nur ein paar. Um den Rest hat sich Malin gekümmert. Ich glaube, das hat Tova verärgert. Sie wollte keine Doktorandin als Betreuerin.«
Der Stock drohte umzukippen. Spencer lehnte ihn an Erlands Schreibtisch.
»Worum geht es hier eigentlich?«
Erland räusperte sich. »Sie sagt, du habest sie bei ihrer Abschlussarbeit behindert. Und du habest dich geweigert, ihr zu helfen, wenn sie nicht ...«
»Wenn sie nicht ...?«
»Sexuelle Handlungen ausführe. An dir.«
»Wie bitte?« Spencer lachte kurz auf, dann durchfuhr ihn der Zorn. »Wie bitte? Das nehmt ihr doch wohl nicht ernst, oder? Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun. Habt ihr mal mit Malin gesprochen?«
»Wir haben mit Malin gesprochen, und sie sagt das Gleiche wie du. Aber gleichzeitig gibt sie auch an, dass sie bei den wenigen Treffen zwischen dir und Tova nicht zugegen war.«
Der letzte Satz blieb in der Luft hängen.
»Erland, zum Teufel, das Mädchen kann nicht ganz bei Sinnen sein. Ich habe mich meinen Studenten gegenüber niemals schlecht verhalten, das weißt du genau.«
Erland schien peinlich berührt. »Verdammt, du hast ein Kind mit einer ehemaligen Studentin! Es gibt so manch einen an diesem Institut, der das bemerkenswert findet. Ich nicht, das weißt du hoffentlich, aber andere.«
»Wer denn?«
»Also, nun wollen wir uns nicht groß aufregen, ohne ...«
»Wer?«
»Barbro und Manne. Zum Beispiel.« »Barbro und Manne? Derselbe Manne, der mit seiner eigenen Stieftochter zusammenlebt?«
Erland schlug frustriert mit der Hand auf den Tisch. »Im Moment reden wir aber von dir! Das mit Manne war ein schlechtes Beispiel, das nehme ich zurück.« Er seufzte tief. »Eine andere Studentin hat gesehen, wie du Tova bei einer Gelegenheit umarmt hast.«
»Sie hat mir erzählt, dass ihr Vater einen Herzinfarkt gehabt habe und sie sich deshalb nicht konzentrieren könne. Weil sie so viel Zeit an seinem Krankenbett ...«
»Spencer, ihr Vater ist tot. Er war Gemeinderat hier in der Stadt. Er ist schon vor Jahren an Leukämie gestorben.«
Der Stock fiel um. Spencer ließ ihn liegen.
»Bist du dir sicher, dass du sie deshalb umarmt hast?« Spencer sah ihn an, und Erland versuchte es noch einmal. »Ich meine, eine Umarmung ist ja nichts Schlimmes, solange man weiß, weshalb sie erfolgt ist.«
»Erland, sie hat gesagt, ihrem Vater gehe es schlecht. Das hat sie gesagt.« Erland wand sich. »Wir können das hier nicht auf sich beruhen lassen, Spencer.«
Die Aprilsonne bahnte sich einen Weg ins Zimmer und ließ die Schatten der Blumen am Fenster auf dem Boden tanzen. Bald war Walpurgis. Die Studenten würden ihre Feste feiern. Picknicks im Park, Bootsrennen auf dem Fyrisån.
»Spencer, hörst du überhaupt, was ich sage? Die Sache ist ernst. Tovas beste Freundin ist gerade zur Vorsitzenden im Gleichstellungsausschuss der Studentenvertretung gewählt worden. Wenn wir das, was Tova Eriksson sagt, nicht ernst nehmen, dann kann das böse ausgehen.«
»Und was ist mit mir?«
Er sehnte sich nach Fredrika.
»Du hattest ein hartes Jahr. Nimm dir eine Weile frei.«
»Wenn das deine letzten Worte in dieser Sache sind, dann besteht die Gefahr, dass ich nicht wiederkomme.«
Erschrecken auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Jetzt hör mir mal zu. Die Sache wird vorbei sein, noch ehe der Sommer kommt. Mädchen wie Tova fiegen immer auf, wenn sie die Unwahrheit sagen.«
»Wenn sie die Unwahrheit sagen?« Spencer erhob sich mit einem Schnauben. »Ich hätte mehr von dir erwartet, Erland. «
Der Institutsleiter schwieg, ging um den Schreibtisch herum und nahm Spencers Stock auf.
»Grüße an Fredrika.«
Ohne zu antworten und voller Wut verließ Spencer das Zimmer. Doch er war nicht nur wütend, sondern auch besorgt. Wie würde diese Sache weitergehen?
»Es ist Rebecca Trolle.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Torbjörn Ross.
»Weil ich die Ermittlungen geleitet habe, als sie vor zwei Jahren verschwand.«
»Und ihr habt sie nie gefunden?«
Alex Recht starrte den Kollegen an. »Offensichtlich nicht.«
»Es fehlen Hände und Kopf, und der Körper ist übel zugerichtet. Sie wird schwer zu identifizieren sein, aber das kann man natürlich über die DNA machen, sofern wir Vergleichsmaterial haben.«
»Haben wir. Aber du kannst die offizielle Identifizierung als eine Formalität betrachten. Ich weiß, dass es Rebecca ist, die ihr gefunden habt.«
Alex spürte den Blick des Kollegen. Im letzten halben Jahr hatte er mehr solcher Blicke bekommen, als er zählen konnte. Fragende Blicke, die Mitgefühl ausdrücken sollten, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Zweifel aussandten. Kommt er klar?, schienen sie zu fragen. Schafft er es, jetzt da seine Frau tot ist?
Die Personalchefin Margareta Berlin war eine Ausnahme gewesen. »Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir die Signale senden, die ich brauche«, hatte sie gesagt. »Zögern Sie nicht, um Unterstützung zu bitten. Und zweifeln Sie nicht daran, dass ich hinter Ihnen stehe, denn das tue ich. Zu hundert Prozent.«
Erst da hatte Alex nachgegeben und um unbezahlten Urlaub gebeten.
»Keine Krankschreibung? Ich kann das arrangieren.«
»Nein, Urlaub. Ich will verreisen.«
Nach Bagdad, hätte er hinzufügen können, doch das klang zu spektakulär, als dass er es laut hätte sagen können.
Alex hielt den Piercingring vor sich.
»Ihre Mutter hat ihr diesen Ring zum Abitur geschenkt. Deshalb weiß ich, dass sie es ist.«
»Na, das ist ja vielleicht ein Geschenk.«
»Außerdem hat sie fünfundzwanzigtausend Kronen als Startkapital für ihr Studium bekommen. Rebecca war die Erste in der Familie, die zur Uni ging, und ihre Mutter war sehr stolz auf sie.«
»Hat jemand sie benachrichtigt? Also, die Mutter?«
Alex hob den Blick von dem Ring. »Noch nicht. Ich wollte es morgen machen.«
»Nicht heute?«
»Nein, ich will erst sehen, ob wir im Laufe des Tages noch den Kopf und die Hände finden. Es gibt keinen Anlass zur Eile. Die Mutter hat schon so lange gewartet, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.«
Noch während er das sagte, spürte er den Schmerz. Ein Tag konnte eine Ewigkeit bedeuten. Er würde zehn Jahre seines Lebens hergeben, um nur einen weiteren Tag mit Lena zusammen sein zu können. Einen einzigen Tag.
Dass Sehnsucht so wehtun kann.
Mit leicht zitternden Händen steckte Alex den Ring wieder in die Tüte.
»Wie ist dein Team derzeit besetzt? Könnt ihr einen derart großen Fall übernehmen?«, fragte Torbjörn.
»Ich denke schon.«
Torbjörn sah ihn fragend an. »Ist Rydh noch dabei?«
»Ja, das ist er. Und Bergman, aber die ist momentan noch in Elternzeit.«
»Stimmt, verdammt.« Der Kollege grinste. »Die hat sich anscheinend von einem alten Professor ein Kind machen lassen.«
Das Grinsen verging ihm, als er Alex' Gesichtsausdruck sah.
»Derartiges blödes Gerede musst du mit jemand anderem teilen. Das interessiert mich wirklich nicht.«
Torbjörn ruderte zurück. »Sie müsste aber doch bald wieder zurückkommen, oder?«
»Natürlich. Ich habe zwar noch andere Ermittler, die ich in Anspruch nehmen könnte, aber es wäre großartig, Fredrika wieder dabeizuhaben. Lieber heute als morgen.« Alex lächelte schwach.
»Man weiß nie«, sagte Torbjörn, »vielleicht ist sie es ja leid, zu Hause zu sitzen.«
»Vielleicht«, sagte Alex.
3
»Morgen?«, fragte Fredrika Bergman.
»Warum nicht?«, erwiderte Spencer.
Erstaunt ließ sie sich am Küchentisch nieder. »Ist irgendetwas passiert?« »Nein.« »Hör schon auf, Spencer!« Der Herd klickte, als er das Gas einschaltete, um Wasser
für den Tee zu kochen. Der Anblick seines Rückens sagte ihr alles. Irgendetwas stimmte nicht.
Sie war einverstanden gewesen, dass sie die Elternzeit nicht zwischen sich aufteilen würden. Die Voraussetzungen waren glasklar gewesen: Spencer war weiterhin mit Eva verheiratet, und Fredrika war verantwortlich für die Versorgung des Kindes, das sie erwarteten. Doch dann kam alles anders.
Nach und nach hatte Spencer seine Geschichte erzählt. Ein Schwiegervater, der den Schwiegersohn erpresste. Eine Ehefrau, die einen Lebensstil pflegte, den er nicht länger finanzieren konnte. Ein Fehler in seiner Jugend, der letztendlich sein ganzes Leben bestimmt hatte. Und dann - aus dem Nichts - die Kraft, sich loszumachen.
»Wenn du willst«, hatte er gesagt, als sie ihn nach dem Autounfall im vorigen Winter im Krankenhaus besucht hatte.
»Wenn ich was will?«
»Wenn du mit mir leben willst. Ganz richtig.«
Aus verschiedenen Gründen war es ihr schwergefallen, sofort mit Ja zu antworten. Spencer und sie waren mehr als zehn Jahre lang insgeheim ein Paar gewesen. Es würde Zeit brauchen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er ihr jetzt ganz gehören sollte.
Will ich das?, hatte sie sich gefragt. Will ich wirklich mit ihm leben, oder habe ich das nur geglaubt, solange er unerreichbar für mich war?
Die Frage ließ ihr Herz stocken.
Ich will. Ich will, ich will, ich will.
Seine Behinderung nach dem Unglück hatte ihr Angst gemacht. Er durfte nicht noch schneller altern, als er es ohnehin schon tat. Er durfte keine Belastung werden, wenn sie sich gleichzeitig um ein kleines Kind kümmern musste.
Vielleicht spürte er ihre Angst, denn er arbeitete mit irrsinniger Kraft daran, wieder gesund zu werden. Den Stock hatte er immer noch dabei, doch auch den würde er bald ablegen.
Das Mädchen erwachte aus seinem Mittagsschlaf und fing an, im Kinderzimmer Laute von sich zu geben. Spencer kam Fredrika zuvor und nahm es auf den Arm. Saga weinte nur selten, wenn sie aufwachte. Sie redete stattdessen. Oder brabbelte und gab kleine Spuckebläschen von sich. Sie war Fredrika so ähnlich, dass es fast unheimlich war.
Spencer kam wieder in die Küche, die lächelnde Saga im Arm. »Du hast doch gesagt, dass du gern wieder arbeiten würdest.«
»Ja, natürlich habe ich das gesagt, aber so etwas muss man doch planen. Wie lange willst du denn zu Hause sein?«
»Einen Monat«, antwortete Spencer. »Maximal zwei.«
»Und dann?«
»Dann geht sie in die Tagesstätte.«
»Den Platz in der Tagesstätte haben wir erst ab August, Spencer.«
»Genau. Und vorher machen wir Urlaub. Das passt doch ausgezeichnet, wenn ich bis zum Sommer zu Hause bin.«
Fredrika verstummte und betrachtete sein zerfurchtes Gesicht. Sie hatte gesehen, wie die Liebe zu Saga ihn überrascht hatte, wie erstaunt er darüber gewesen war, dass man für ein Kind derart starke Gefühle haben konnte. Aber er hatte kein einziges Mal Interesse daran gezeigt, Elternzeit zu nehmen.
»Was ist passiert, Spencer?«
»Nichts.«
»Lüg mich nicht an.«
Seine Pupillen weiteten sich. »Im Institut ist der Wahnsinn los«, sagte er schließlich.
Sie runzelte die Stirn und erinnerte sich daran, dass er von einem Streit zwischen zwei Kollegen gesprochen hatte. Da hatte es aber nicht so gewirkt, als wäre er ein Teil des Problems.
»Derselbe Konflikt wie schon einmal?«
»Ja, nur noch schlimmer. Die Stimmung ist schlecht, und es greift schon auf die Studenten über.«
Er verzog das Gesicht und setzte Saga auf den Boden. Fredrika sah, dass die Bewegung ihn schmerzte.
»Schaffst du es denn, ganze Tage mit Saga allein zu sein? Ich könnte vielleicht in Teilzeit anfangen ...«
Er nickte. »Gute Idee. Ich werde ja trotzdem noch nach Uppsala fahren und an einer Reihe von Sitzungen teilnehmen müssen.«
Er wich ihrem Blick aus. Es gab irgendein Geheimnis, das er ihr vorenthielt, das spürte sie deutlich.
»Okay«, sagte sie schließlich.
»Okay?«
»Ich werde mit Alex reden. Heute Nachmittag fahre ich im Büro vorbei und frage ihn, was er davon hält. Vielleicht hat er gerade eine neue Ermittlung am Laufen.«
Eine zerstückelte Leiche in zwei Plastiksäcken. Nach Alex' Ansicht handelte es sich um Rebecca Trolle.
Peder Rydh sah misstrauisch auf die Körperteile hinab. Kopf und Hände fehlten, aber Alex hatte den Schmuck erkannt, den sie im Nabel gehabt hatte. DNA-Proben würden diese Theorie entweder bestätigen oder widerlegen. Peder hatte Zweifel. Sicherlich war das Schmuckstück ungewöhnlich, vor allem mit dem Text auf dem kleinen Steg, doch dieses Ding konnte wohl kaum allein zur Identifizierung genügen.
Die feuchte Erde und das Plastik hatten das ihrige getan, um die Leiche zu erhalten, doch nach den Fotos zu urteilen, konnte man sich nur schwer vorstellen, wie die Frau einmal ausgesehen hatte, als sie noch lebte. War sie dick oder eher schlank gewesen? Hatte sie einen geraden Rücken gehabt, oder war sie so eine gewesen, die immer die Schultern ein wenig zu hoch zog und deshalb beinahe bucklig aussah?
Peder schlug die Akte auf, die er von Alex bekommen hatte. Darin lag ein Bild von Rebecca Trolle, kurz bevor sie verschwunden war. Süß. Frisch. Sommersprossen und ein breites Lächeln für die Kamera. Ein pfaumenfarbener Pullover, der das Blau in ihren Augen verstärkte. Dunkelblonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Selbstsicher.
Und jetzt tot.
Sie hatte viele Eisen im Feuer gehabt. Dreiundzwanzig Jahre alt, auf dem besten Wege hin zu einem Abschluss in Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Nach dem Abitur hatte sie ein Jahr in Frankreich gelebt, war Mitglied in einem französischen Buchzirkel gewesen. Hatte im Kirchenchor gesungen und abends einen Babyschwimmkurs geleitet.
Peder seufzte. Wie schafften diese jungen Menschen es nur, so verdammt viele Sachen gleichzeitig zu unternehmen? Diese Tausendsassa, immer auf dem Weg zu einer neuen Aktivität.
Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie Single gewesen. Es gab eine Exfreundin, die die Polizei mehrmals verhört hatte, und es war das Gerücht von einer neuen Beziehung umgegangen, doch hatte sich niemand gemeldet, und die Polizei hatte keinen Namen herausfinden können. Sie hatte einen großen Freundeskreis gehabt, und es schien, als wären alle mindestens einmal von der Polizei verhört worden. Das Gleiche galt für ihre Tutoren an der Universität, die Kollegen im Schwimmbad und die Mitglieder des Kirchenchors.
Die Ermittlungen hatten in einer Sackgasse geendet, und Peder war erleichtert, nicht ein Teil dieses trostlosen Falles gewesen zu sein. Er überflog Alex' Notizen und ahnte, dass die Lage verzweifelt gewesen sein musste. Am Ende hatten die Polizisten darüber nachgedacht, ob sie vielleicht freiwillig verschwunden sein könnte. Hatte ein Streit mit der Mutter sie verärgert und ihre Pläne konkretisieren lassen, eine Zeit lang ins Ausland zu gehen? Der Vater wohnte nicht mehr in Stockholm, sondern war nach Göteborg gezogen, als Rebecca zwölf gewesen war. Die Polizei hatte auch ihn verhört.
Rebecca Trolle war an einem ganz normalen Werktag auf dem Weg zu einem Mentorenfest an der Universität verschwunden. Gegen achtzehn Uhr hatte sie noch mit ihrer Mutter telefoniert und von dem Fest erzählt. Danach hatte sie einen Anruf von einem Handy mit nicht registrierter Prepaidkarte entgegengenommen. Um neunzehn Uhr war ihr Nachbar im Studentenwohnheim Nyponet am Körsbärsvägen ihr im Flur begegnet. Da hatte sie einen Mantel angehabt und angeblich unter Stress gestanden. Um Viertel nach sieben hatten Zeugen sie in einem Bus der Linie 4 gesehen, der zum Radiohaus fuhr. Das hatte die Polizisten nachdenklich gemacht, denn die Universität lag in der entgegengesetzten Richtung. Die Freunde, die auf dem Fest auf sie warteten, berichteten, dass sie dort nie ankam. Und niemand wusste, wohin sie mit dem Bus Nummer 4 unterwegs gewesen sein könnte.
Kurz vor halb acht wurde sie noch einmal gesehen, als sie aus dem Bus ausstieg und in Richtung Gärdet ging. Danach gab es keine Zeugen mehr, und Rebecca blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Peder zog eine Karte hervor, die bei der Ermittlung benutzt worden war. Sämtliche Personen, die in irgendeiner Weise mit der Ermittlung in Berührung gekommen waren und die in der Nähe des Radiohauses wohnten, waren auf dem Plan markiert worden. Niemand von ihnen war verdächtig gewesen. Es handelte sich um eine Handvoll Personen, und sie alle hatten ein glaubhaftes Alibi. Niemand von ihnen war an jenem Abend mit Rebecca verabredet gewesen. Niemand hatte sie seither gesehen. Bis jetzt - wenn sie es denn tatsächlich war, die in den Plastiksäcken lag.
Der Fundort lag am Rand des in den Fünfzigerjahren errichteten Wohngebiets Midsommarkransen. Wer in dem Fall hatte eine Verbindung zu diesem Stadtteil? Wahrscheinlich nicht viele, aber dennoch wäre es wert, das zu kontrollieren.
Potenzielle Täter waren in der gesamten Ermittlung zu Rebeccas Verschwinden Mangelware gewesen. Die Analyse ihrer Handyaktivitäten hatte nichts erbracht, die letzte Verbindung zum Sendemast bestätigte nichts anderes, als dass sie sich in der Nähe des Radiohauses befunden hatte, und dann verlief sich jegliche Spur. Man hatte keine dezidierten Feinde ausmachen können, aber das musste nicht heißen, dass es keine gab. Rebeccas Mutter hatte sich an einen Konflikt mit einem Arbeitskollegen im Schwimmbad erinnern können, doch diese Spur war schnell abgekühlt. Der Kollege war ehrlich erstaunt über die Information und nannte den Konflikt eine Bagatelle. Außerdem hatte er ein Alibi für den Abend, an dem Rebecca als vermisst gemeldet wurde.
Peder hielt inne. Wer vermisste eine alleinstehende junge Frau noch am selben Abend, an dem sie verschwand?
Der erste Bericht, der in der Sache geschrieben worden war, besagte, dass ein befreundeter junger Mann gegen elf Uhr abends die Polizei angerufen hatte. Rebecca war nicht wie versprochen zu dem Fest gekommen, und sie ging auch nicht ans Telefon. Die Reaktion der Polizei war zunächst eher kühl. Routinemäßig rief man die Eltern an, die auch nichts von ihr gehört hatten. Ihre Mutter war zunächst nicht einmal besorgt, sie meinte, ihre Tochter könne selbst auf sich aufpassen.
Um zwei Uhr war die Lage dann eine andere. Die Mutter hatte herausbekommen, dass ihre Tochter sich nach wie vor nicht bei ihren Freunden gemeldet hatte und dass ihr Telefon ausgeschaltet war.
Am frühen Morgen ging dann die Vermisstenanzeige raus, und damit war die Ermittlung eröffnet.
Håkan Nilsson hieß der Typ, der zuerst die Polizei angerufen hatte. Warum die Polizei und nicht die Eltern? Vielleicht weil er die Eltern nicht kannte. Aber warum hatte er nicht den nächsten Tag abgewartet, weshalb hatte er sich Sorgen gemacht?
Peder blätterte ein Dokument nach dem anderen durch. Håkan Nilsson war der Polizei im Grunde die ganzen Ermittlungen hindurch behilfich gewesen. Ein Kommilitone, der das Verschwinden des Mädchens unerträglich fand und gern helfen wollte. Aber warum ausgerechnet er - und warum mehr als die anderen Freunde? Håkan hatte Handzettel gedruckt und sich von der Studentenzeitung interviewen lassen. Er redete immerzu davon, dass »wir« besorgt seien, es war jedoch nicht festzustellen, wer hinter dem »wir« steckte.
Peder beschloss, die Sache mit Alex zu besprechen. Er öffnete das Polizeiregister im Computer und rief Håkan Nilson auf. Er hatte im selben Studentenwohnheim gewohnt wie Rebecca. Inzwischen war er in der Tellusgatan gemeldet. In Hägersten. Sprich: Midsommarkransen.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Limes Verlag, München
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Autoren-Porträt von Kristina Ohlsson
Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismus-Expertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman „Aschenputtel" gelang ihr sofort der internationale Durchbruch als Thrillerautorin. "Tausendschön" ist ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristina Ohlsson
- 2013, 1, 544 Seiten, Masse: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Dahmann, Susanne
- Übersetzer: Susanne Dahmann
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 3809026174
- ISBN-13: 9783809026174
- Erscheinungsdatum: 08.10.2013
Rezension zu „Fredrika Bergman Band 3: Sterntaler “
"Die schwedische Kriminalautorin, die nach 'Aschenputtel' und 'Tausendschön' nun mit 'Sterntaler' den Grusel neu erfunden hat." dpa-Meldung (u.a. auf Focus.de)
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