Flucht in die Hoffnung
Wie ich meine Tochter aus Tunesien befreite
Im Urlaub verliebt sich Tina in einen tunesischen Arzt. Er scheint ihr Traummann zu sein und schon bald ist Tochter Emira unterwegs. Doch schon in der Hochzeitsnacht zeigt er sein wahres Gesicht. Damit beginnen für Tina Jahre der Angst und Gewalt. Am...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Flucht in die Hoffnung “
Im Urlaub verliebt sich Tina in einen tunesischen Arzt. Er scheint ihr Traummann zu sein und schon bald ist Tochter Emira unterwegs. Doch schon in der Hochzeitsnacht zeigt er sein wahres Gesicht. Damit beginnen für Tina Jahre der Angst und Gewalt. Am meisten fürchtet sie, dass ihr Mann Emira etwas antun könnte. Tina kämpft um ihre Würde und hat irgendwann den Mut, zu fliehen.
Klappentext zu „Flucht in die Hoffnung “
Alles beginnt in einem Urlaub vor elf Jahren, als sich Tina in einen charmanten tunesischen Arzt verliebt. Für die junge Lehrerin erfüllt sich ein Traum, das Glück scheint perfekt, und bald ist Tochter Emira unterwegs. Doch schon in der Hochzeitsnacht zeigt der vermeintliche Traummann sein wahres Gesicht Jahre der Angst beginnen, in denen Tina Rothkamm in Tunesien wie eine Gefangene lebt. Selbstzweifel lähmen sie. Sorgt sie nicht gut genug für ihren Mann? Wann wird sein Zorn auch auf die gemeinsame Tochter übergreifen? Als die Demütigungen unerträglich werden, beginnt für die junge Mutter ein anscheinend aussichtsloser Kampf um ihre Würde als Frau und für ein freies Leben mit der kleinen Emira. Doch dann wird der Diktator Ben Ali gestürzt, die despotische Männerherrschaft Tunesiens zerbricht, und Tina ergreift ihre letzte Chance: die Flucht in einem Fischerboot über das offene Meer nach Lampedusa.
Lese-Probe zu „Flucht in die Hoffnung “
Flucht in die Hoffnung von Tina RothkammPROLOG
... mehr
Wir sitzen in einem Boot.
Wie oft schon hatte ich diese Redewendung gehört und auch selbst so dahingesagt - und keine Ahnung gehabt, was das bedeuten konnte: in einem Boot zu sitzen.
Dieses Boot, in dem ich mehr kauerte als saß, kam mir vor wie eine Nussschale, so schutzlos fühlte ich mich angesichts seines Zustands. Es handelte sich um einen ausrangierten Fischkutter, der in seinen besten Tagen dicht an der tunesischen Küste geschippert war. Ob er überhaupt noch seetauglich war? Die Bordwände waren nicht einmal mannshoch, eine schützende Reling gab es nicht. Bis nach Italien sollte er uns bringen - uns, das waren rund einhundertzwanzig verzweifelte Tunesier, die vor den Unruhen und der Arbeitslosigkeit flohen, und mittendrin meine Tochter und ich.
Wie tief muss die Verzweiflung sein, dass ein Mensch sich irgendwelchen Schleppern anvertraut und eine Überfahrt nach Europa erkauft? Dass er all die Schicksale derer ignoriert, die auf einer ebensolchen Fahrt erstickt oder ertrunken sind? Dass er sich in ein Boot zwängt, das den Namen kaum verdient? Warum wagt es jemand, alles hinter sich zu lassen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, um zu fliehen ?
Weil die Alternative noch schrecklicher wäre. Weil Armut oder Gewalt einen zerstören können. Weil hinter allem diese innere Stimme nicht erloschen ist, die einem sagt, dass der Kampf um Freiheit und ein menschenwürdiges Dasein niemals aussichtslos ist. Dass es gut gehen kann, gut gehen wird...
Genau das sagte auch ich mir, seit ich an Bord geklettert war.
Dicht an dicht hockten wir, sodass kaum eine Zigarette dazwischengepasst hätte. Wenn einer auch nur das Bein bewegen, in eine andere Stellung wechseln wollte, hatte das Auswirkungen auf alle; wir waren miteinander verbunden in einer wabernden Welle. Ein eingeschlafener Fuß, ein eingeschlafener Arm, jedes Husten pflanzte sich fort und wurde ausbalanciert von allen.
Als das Boot schon längst überfüllt war, kam einer der Schlepper und pferchte uns noch enger zusammen. Mindestens zwanzig weitere Männer kletterten an Bord, alle ohne Gepäck. Was sie besaßen, trugen sie am Leib. Für manche war ihr Leib alles, was sie hatten. Ihr Leib und die Hoffnung, die wir teilten. Dass unsere Nussschale es schaffen möge. Dass wir nicht kenterten, dass kein Marineschiff uns rammte, dass wir aus dem Wasser gezogen wurden, wenn ein Sturm aufkäme. Dass wir von den unsäglichen Flüchtlingsdramen verschont bleiben würden, die man in den Medien nur bruchstückhaft mitbekam. Jeder von uns wusste, dass diese Überfahrt sein Leben kosten konnte. Für mich war es doppelt arg, denn ich hatte für zwei Menschen entschieden. Für mich und für meine Tochter Emira.
Aber dies war unsere einzige Aussicht auf ein gemeinsames Leben daheim in Deutschland. All meine Versuche, zusammen mit meiner Tochter auf legalem Weg auszureisen, waren in den vergangenen Jahren gescheitert.
Eines war klar: Ewig konnten wir uns nicht verstecken. Irgendwann in diesen Tagen, zwischen dem unbändigen Wunsch, meiner Tochter ein freies Leben ohne Gewalt zu ermöglichen, und der Angst, entdeckt zu werden mit allen Konsequenzen, gab es plötzlich nur noch den Weg nach vorn. Das Schlepperboot nach Lampedusa war unsere letzte Chance.
»Mama, wann sind wir da?«, fragte Emira mit einer Stimme, als sei sie ein Kleinkind und nicht das große achtjährige Mädchen.
»Bald«, behauptete ich, ohne es zu wissen. Ich bemühte mich, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Emira sollte sich sicher fühlen an meiner Seite, endlich sicher. Dabei wusste ich nicht einmal, ob wir überhaupt ankommen würden.
»Dort«, ich wies Richtung Sonne, obwohl das wahrscheinlich falsch war, aber für mich war es in diesem Augen blick wahr. » Dort liegt Europa.«
»Und da, kuck mal, Mama ...« Emira zeigte auf die Küste. »Das ist Djerba!«
»Ja, tatsächlich ! Du hast recht.«
Emira winkte Richtung Land, winkte ihrem Vater, der keinesfalls freudig am Strand stand und zurückwinkte, sondern uns wahrscheinlich noch immer verbissen suchte. Wie viele Schergen hatte er diesmal auf uns angesetzt?
»Bislema, Baba!«, sandte Emira ihm einen Gruß. Auf Wiedersehen, Papa!
Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Ob sie ihn überhaupt wiedersehen wollte, nach allem, was geschehen war? Ich würde ihn ihr nicht wegnehmen, so wie er es umgekehrt versucht hatte.
»Bye-bye, Farid«, sagte ich mit tonloser Stimme, denn in mir war nichts als Leere. Da gab es kein Gefühl mehr für diesen Mann. Ich hatte ihn geliebt, wie ich nie zuvor geliebt hatte, und gehasst, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Seine Machenschaften hatten mich dazu getrieben, den Wahnsinn dieser Überfahrt zu wagen. Es war das Schrecklichste, was er mir hatte antun können : mir meine Tochter zu nehmen.
Ich wusste, wie sich so etwas anfühlte. Mir waren bereits zwei Kinder entglitten. Um dieses würde ich kämpfen, diese Tochter würde mir niemand nehmen, das hatte ich mir geschworen. Niemand - und auch nicht das Meer.
Unser Boot kehrte Djerba den Rücken. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nichts mehr mit dem Ort zu tun haben, der einmal das Symbol für meine größte Sehnsucht gewesen war. Ich war neununddreißig Jahre alt und würde mich nie mehr blenden lassen wie vor elf Jahren, als ich glaubte, den Mann meines Lebens kennengelernt zu haben. Wie oft hatte ich mir gewünscht, ihm nie begegnet zu sein ... und doch hatte ich ihm begegnen müssen, damit unsere Tochter geboren werden konnte.
Mein Traum war gescheitert. Jetzt ging es nur noch darum, Emira zu retten.
Ich drückte sie fest an mich.
»Bald sind wir da«, machte ich uns beiden Mut. Ein ganzer Tag und eine Nacht in der Nussschale lagen vor uns.
»Und dann kriege ich Würstchen mit Senf«, freute Emira sich.
»Ja«, versprach ich und wusste in diesem Moment ganz genau, wie Glück schmeckte: nach deutschen Würstchen mit Senf.
PAUSCHALREISE INS GLÜCK
Das neue Jahrtausend war erst wenige Wochen alt, da entdeckte ich bei einem Spaziergang am Rhein ein kleines Reisebüro mit einem großen Glücksversprechen: Sonne, Meer und Palmen - sieben Tage und Nächte für 149 Mark. Ich blieb stehen. Im Schaufenster sah ich mein Spiegelbild von mir. Übermüdet sah ich aus, erschöpft. Urlaubsreif, dachte ich und musste unwillkürlich lächeln.
Eine Pauschalreise hatte ich noch nie gebucht. Mit meinen Eltern war ich in einem VW-Bus in den Ferien durch Frankreich und Spanien gefahren. So sah Urlaub bei uns aus: improvisiert, abwechslungsreich und spontan. Wie sehnte ich mich zurück nach dieser Leichtigkeit. Doch die war unwiederbringlich verloren, seit meine Mutter so plötzlich gestorben war.
Ich atmete durch, um mich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Sonne, Palmen, das weite Meer ... wie verlockend das klang. In den vergangenen Wochen war ich sehr fleißig gewesen und hatte neben meiner Ausbildung zur Eurythmielehrerin noch eine Weiterbildung als Coach für Burn-out-gefährdete Manager absolviert. Ein paar Tage ausspannen würden mir guttun. Und warum nicht ? Warum nicht mal was völlig Verrücktes wagen und eine Pauschalreise buchen!
Ich betrat das Reisebüro, das ausschließlich Schnäppchenreisen vertrieb, und als ich es verließ, hatte ich gebucht. Dreisternehotel, Halbpension. Über Tunesien wusste ich kaum etwas, doch es klang faszinierend: nach orientalischer Musik, köstlichem Essen, nach Wüste, rassigen Pferden und klassischem Bauchtanz. Den und seine Musik liebte ich schon lange. Bauchtanz schien mir eine perfekte Ergänzung zu den fließenden Bewegungen, die bei der Eurythmie zum Ausdruck gebracht werden. Eurythmie ist eine durchgeistigte Bewegungskunst, während der Bauchtanz ein Erdentanz ist, der seine Wurzeln in Afrika hat.
Dass ich Eurythmie studierte, lag wohl mit an meiner damaligen Eurythmistin an der Waldorfschule. Frau Dinkel, wie sie passenderweise hieß, war eine besondere Persönlichkeit, die mich schon damals mit ihrer Herangehensweise an das Leben sehr beeindruckte.
Bei vielen meiner männlichen Schulkameraden war die Eurythmie nicht sonderlich beliebt. Besonders Schüler in der Pubertät machen sich gerne über die » komischen « Bewegungen lustig. Gerade den Skeptikern versuchte ich dann nahezubringen, welch tieferen Sinn diese Bewegungen haben und dass sie besondere Möglichkeiten bieten, den Willen zu stärken, soziale und empathische Fähigkeiten zu üben und das Leben besser zu meistern.
Das eigene Leben meistern ... doch, das würde ich nun auch endlich schaffen, selbst wenn meine beiden Söhne beim Vater lebten und ohne mich aufwuchsen. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch Tränenflüssigkeit hatte, so viel hatte ich in den vergangenen Monaten geweint. Wie hatte alles so weit kommen können, wie nur hatten sie mir entgleiten können ... Und dabei hatte ich mir so sehr eine Familie gewünscht, hatte versucht, einem hochgesteckten Ideal zu entsprechen, und war daran fast zerbrochen. Bis ich eines Tages begriffen hatte, dass ich nach vorne schauen musste, um weiterexistieren zu können. Irgendwie musste ich versuchen, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich war ja noch nicht mal dreißig, da konnte viel geschehen, und es mochte sich alles noch zum Besten wenden.
Im Augenblick jedenfalls war nur eines sicher: Ich würde mich so schnell nicht wieder verlieben. Und wenn, dann müsste das ein Mann sein, der genau wusste, was er im Leben wollte. Einer, der weiterkommen wollte, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und mit mir zusammen eine solide Existenz aufbauen würde. Und wer weiß, dachte ich, vielleicht wäre diese Existenz ja eines Tages tragfähig genug, um meine beiden Jungen zu mir zu holen. Das hoffte ich insgeheim, daran hielt ich mich fest. Gut, dass ich nicht wusste, was noch alles auf mich zukam.
Ende Februar 2000 war es so weit: Ich flog nach Tunesien. Unvergessen ist mir bis heute der erste Anblick des Landes vom Flugzeug aus. Ich sah die trockenen Steppen unter mir, die staubigen Städte mit ihren nackten, kargen Steinhäusern und war überwältigt. Alles erschien mir atemberaubend - auch das Dreisternehotel in Sousse. Ich war ja noch nie in einem arabischen Land gewesen und auch nicht in einem Dreisternehotel. Heute weiß ich, dass es gar kein besonderes Hotel war. Alles war, wie es eben so ist, wie jeder Pauschalurlauber es kennt. Doch ich machte so etwas zum ersten Mal und war rundum begeistert. Wie liebevoll der Zimmerservice jeden Tag die Handtücher faltete. Dann die Auswahl am Büfett, die bequemen Liegestühle auf der Sonnenterrasse, der kleine Springbrunnen im Pool. Und erst das große, weite Meer. Zwei Stunden spazierte ich am ersten Tag am Strand entlang und konnte mich nicht satthören am Schwappen der Wellen. Hier würde ich wieder zu Kräften kommen, das spürte ich.
Am nächsten Morgen wachte ich auf von einem eigenartigen Geräusch. Ich hatte zuerst keine Ahnung, was das sein mochte. I-aaah! Vielleicht ein Esel? Ich sprang aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Tatsächlich, ein Esel! Er war vor einen Pflug gespannt, und ein alter Mann mit O-Beinen pflügte mit ihm die trockene Erde unter den Palmen. Hin und wieder schnalzte er mit der Zunge, um den Esel anzutreiben, dem das herzlich egal war. Der alte Mann machte trotzdem weiter, so als wolle er klarstellen, dass er das Sagen hatte. Ich schaute den beiden zu, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Offensichtlich hatte ich nicht nur eine Urlaubsreise, sondern auch eine Zeitreise gebucht.
Wie es sich für ein Hotel dieser Kategorie gehörte, gab es ein abwechslungsreiches Animationsprogramm. Am dritten Nachmittag trieben mich die Neugier und wohl auch die Sehnsucht in die Kinderdisco. Ich schaute den Kindern zu, die im Takt der Hip-Hop-Musik herumhüpften, und stellte mir meine beiden Jungs dabei vor. Traurigkeit stieg in mir auf, doch bevor die Verlorenheit nach mir greifen und mich verschlucken konnte, stand wie aus dem Nichts ein großer, stattlicher Mann in Anzug und Krawatte vor mir.
»Hast du Lust, ein Bier mit mir zu trinken?«, fragte er ohne Umschweife in einwandfreiem Englisch.
Ich nickte, und wir setzten uns an die Bar. Der gut aussehende Mann stellte sich als Farid vor. Drei Stunden später waren wir noch immer ins Gespräch vertieft. Wir redeten über Allah und die Welt, gerade so, als kennten wir uns schon lange und hätten uns Ewigkeiten nicht gesehen. Was es da alles nachzuholen gab! Irgendwann bekamen wir Hunger, und Farid lud mich zu Couscous ein, und danach zogen wir weiter in eine Disco. Im Stroboskoplicht - dies allein hätte mich misstrauisch machen sollen - las er mir aus der Hand, wie er es angeblich von seiner Großmutter gelernt hatte. Ich lachte und glaubte seinen Prophezeiungen nur zu gern, denn er pries meine Zukunft so glücklich, wie ich sie mir insgeheim erträumte. Langes Leben, eine glückliche Ehe, gesunde Kinder, viel Geld. Seine braunen Augen funkelten mich an, als könnte er all das herbeizaubern. Auf der Tanzfläche erwies er sich als würdiger Partner, wir rockten und fetzten und lachten und tanzten ganz engen Blues. Und da wusste ich es: So fühlte sich Glück an. Das hatte ich in den vergangenen Jahren vergessen.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr brüllte jemand in mein Ohr.
» Allah u Akbar.«
Ich fiel fast aus dem Bett. Dann fragte ich mich, was für ein Bett das war und wo Allah plötzlich herkam. Letzteres begriff ich als Erstes : von einem Lautsprecher, der an der Moschee angebracht war, und die stand direkt neben dem Haus. Farid lachte mich an, und in seinen Augen las ich ... Liebe.
So schnell ? Ja, so schnell. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, dieses Gefühl, das wie aus dem Nichts zu kommen scheint, plötzlich und unerwartet. Ich stand in hell lodernden Flammen, und Farid erging es nicht anders.
Nach dem Frühstück, bestehend aus B'ziza, einer Mischung aus verschiedenen Getreidearten, die mit Fenchelsamen, Rosenblättern und Gewürzen gemahlen und mit Wasser und Zucker zu einem Brei verarbeitet werden, zeigte Farid mir die Stadt. Besser gesagt, er trieb mich durch die engen Gassen der Soukhs. Seine Hand war groß, warm und trocken und wies mir den Weg. Er wusste genau, wohin er wollte. Und nur das zählte. Wenn ich irgendwo stehen blieb, zog er mich weiter. Ich ließ es geschehen. Ich fühlte mich beschützt, mit diesem Mann an meiner Seite konnte mir nichts passieren. Dieses Gefühl hatte ich vermisst - und nicht nur das. Ich sog es ganz in mich auf und fühlte mich mit einem Mal sicher und geborgen in dieser Welt.
Farid war Arzt. In der Disco hatte er mir ein Foto von sich gezeigt mit Mundschutz. Das fand ich ein bisschen übertrieben, wenn ich ehrlich war. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Menschen, die den Mut haben, ihre eigenen Leistungen zu benennen oder vielleicht sogar zu preisen, haben mich schon immer fasziniert. Da fiel es nicht weiter ins Gewicht, dass Farid sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Immerhin war er Arzt im Praktikum und schrieb an seiner Doktorarbeit. Er war kein Traumtänzer, sondern hatte einen Plan für sein Leben, wollte weiterkommen. Hatte ich mir nicht genau so einen Mann heimlich gewünscht?
Der Markt war voll von exotischen Gerüchen und fremdartigen Kleinigkeiten. Neugierig blickte ich mich um. Doch sobald ich innehielt, um etwas genauer zu betrachten, zog Farid mich weiter, als hätten wir keine Zeit dafür, als würde irgendwo etwas Großartiges auf uns warten. Was und wo das war, wusste nur er ... In Wirklichkeit wartete nichts, da lief er nur davon. Denn wenn ich stehen geblieben wäre und womöglich etwas in die Hand genommen hätte, wäre es Farids Pflicht gewesen, mir das zu schenken. Ich war eine Frau, er war mein Begleiter, und weil er kein Geld hatte und nicht in Verlegenheit geraten wollte, durften wir nicht anhalten. In der arabischen Öffentlichkeit ist es nicht üblich, dass eine Frau etwas bezahlt. Dafür ist der Mann zuständig.
Das alles wusste ich damals noch nicht. Ich wusste überhaupt sehr wenig über dieses Land und seine Menschen. Woher auch ? Ich hatte einfach nur abschalten und ein wenig Sonne tanken wollen inmitten der Hotelkulisse. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass mein Leben eine solche Wendung nehmen könnte. Vielleicht rannte ich deshalb in diesem Höllentempo in mein Unglück - das sich als der gut aussehende, gepflegte Farid verkleidet hatte und mich mit seiner fremdartigen Intensität blendete.
Wir waren Hals über Kopf ineinander verliebt, und die Zeit lief gegen uns. Viel zu schnell näherte sich mein Urlaub dem Ende, und es hieß Abschied nehmen. War es da nicht richtig, dass er mich durch die Soukhs zog und wir jede Minute auskosteten, die uns blieb?
Zurück in Düsseldorf rief ich Farid jeden Tag an, was zu der teuersten Telefonrechnung meines Lebens führte. Das Schicksal hatte mir eine neue Richtung gewiesen und meine Planung wie ein Erdbeben durcheinandergebracht. Meine Sehnsucht nach Farid war kostspielig - und machte mich ungeduldig. Nach vier Wochen stieg ich erneut in den Flieger nach Tunesien, und so ging es noch einige Male hin und her.
Auf einmal hatte ich zwei Leben. Ich pendelte zwischen dem Glücksrausch mit Farid in Tunesien und meiner Ausbildung zum Coach in Düsseldorf. Und es war tatsächlich ein Glücksrausch, den wir erlebten. Ich spürte so eine innige Liebe zu diesem Mann, und in seinen Augen las ich, dass es ihm genauso erging. Ich war nicht irgendeine blonde Touristin, mit der er sich vergnügte. Nein, da war mehr zwischen uns, und neben aller Anziehung war es diese Stärke, die von ihm ausging, dieses Versprechen, mich anlehnen, mich fallen lassen zu können, was mich so fesselte. Obwohl alle Zeichen dagegen sprachen, glaubte ich nach wie vor an meine Zukunft als Entspannungstrainerin für gestresste Manager - besser gesagt, ich wollte daran glauben. Wenn in meinem Innern die Frage auftauchte, wie ich diesen Job mit meiner Liebesgeschichte vereinbaren sollte, schob ich sie schnell beiseite. Denn darauf wusste ich keine Antwort. Ich wollte meinen Beruf nicht aufgeben, er sollte für mich der Auftakt zu einem neuen Leben sein.
Doch je öfter ich mit Farid zusammen war, desto mehr Raum nahm er ein, während meine berufliche Zukunft schrumpfte. Auch Tunesien wurde immer größer - und Deutschland kleiner.
...
© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012
Wir sitzen in einem Boot.
Wie oft schon hatte ich diese Redewendung gehört und auch selbst so dahingesagt - und keine Ahnung gehabt, was das bedeuten konnte: in einem Boot zu sitzen.
Dieses Boot, in dem ich mehr kauerte als saß, kam mir vor wie eine Nussschale, so schutzlos fühlte ich mich angesichts seines Zustands. Es handelte sich um einen ausrangierten Fischkutter, der in seinen besten Tagen dicht an der tunesischen Küste geschippert war. Ob er überhaupt noch seetauglich war? Die Bordwände waren nicht einmal mannshoch, eine schützende Reling gab es nicht. Bis nach Italien sollte er uns bringen - uns, das waren rund einhundertzwanzig verzweifelte Tunesier, die vor den Unruhen und der Arbeitslosigkeit flohen, und mittendrin meine Tochter und ich.
Wie tief muss die Verzweiflung sein, dass ein Mensch sich irgendwelchen Schleppern anvertraut und eine Überfahrt nach Europa erkauft? Dass er all die Schicksale derer ignoriert, die auf einer ebensolchen Fahrt erstickt oder ertrunken sind? Dass er sich in ein Boot zwängt, das den Namen kaum verdient? Warum wagt es jemand, alles hinter sich zu lassen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, um zu fliehen ?
Weil die Alternative noch schrecklicher wäre. Weil Armut oder Gewalt einen zerstören können. Weil hinter allem diese innere Stimme nicht erloschen ist, die einem sagt, dass der Kampf um Freiheit und ein menschenwürdiges Dasein niemals aussichtslos ist. Dass es gut gehen kann, gut gehen wird...
Genau das sagte auch ich mir, seit ich an Bord geklettert war.
Dicht an dicht hockten wir, sodass kaum eine Zigarette dazwischengepasst hätte. Wenn einer auch nur das Bein bewegen, in eine andere Stellung wechseln wollte, hatte das Auswirkungen auf alle; wir waren miteinander verbunden in einer wabernden Welle. Ein eingeschlafener Fuß, ein eingeschlafener Arm, jedes Husten pflanzte sich fort und wurde ausbalanciert von allen.
Als das Boot schon längst überfüllt war, kam einer der Schlepper und pferchte uns noch enger zusammen. Mindestens zwanzig weitere Männer kletterten an Bord, alle ohne Gepäck. Was sie besaßen, trugen sie am Leib. Für manche war ihr Leib alles, was sie hatten. Ihr Leib und die Hoffnung, die wir teilten. Dass unsere Nussschale es schaffen möge. Dass wir nicht kenterten, dass kein Marineschiff uns rammte, dass wir aus dem Wasser gezogen wurden, wenn ein Sturm aufkäme. Dass wir von den unsäglichen Flüchtlingsdramen verschont bleiben würden, die man in den Medien nur bruchstückhaft mitbekam. Jeder von uns wusste, dass diese Überfahrt sein Leben kosten konnte. Für mich war es doppelt arg, denn ich hatte für zwei Menschen entschieden. Für mich und für meine Tochter Emira.
Aber dies war unsere einzige Aussicht auf ein gemeinsames Leben daheim in Deutschland. All meine Versuche, zusammen mit meiner Tochter auf legalem Weg auszureisen, waren in den vergangenen Jahren gescheitert.
Eines war klar: Ewig konnten wir uns nicht verstecken. Irgendwann in diesen Tagen, zwischen dem unbändigen Wunsch, meiner Tochter ein freies Leben ohne Gewalt zu ermöglichen, und der Angst, entdeckt zu werden mit allen Konsequenzen, gab es plötzlich nur noch den Weg nach vorn. Das Schlepperboot nach Lampedusa war unsere letzte Chance.
»Mama, wann sind wir da?«, fragte Emira mit einer Stimme, als sei sie ein Kleinkind und nicht das große achtjährige Mädchen.
»Bald«, behauptete ich, ohne es zu wissen. Ich bemühte mich, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Emira sollte sich sicher fühlen an meiner Seite, endlich sicher. Dabei wusste ich nicht einmal, ob wir überhaupt ankommen würden.
»Dort«, ich wies Richtung Sonne, obwohl das wahrscheinlich falsch war, aber für mich war es in diesem Augen blick wahr. » Dort liegt Europa.«
»Und da, kuck mal, Mama ...« Emira zeigte auf die Küste. »Das ist Djerba!«
»Ja, tatsächlich ! Du hast recht.«
Emira winkte Richtung Land, winkte ihrem Vater, der keinesfalls freudig am Strand stand und zurückwinkte, sondern uns wahrscheinlich noch immer verbissen suchte. Wie viele Schergen hatte er diesmal auf uns angesetzt?
»Bislema, Baba!«, sandte Emira ihm einen Gruß. Auf Wiedersehen, Papa!
Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Ob sie ihn überhaupt wiedersehen wollte, nach allem, was geschehen war? Ich würde ihn ihr nicht wegnehmen, so wie er es umgekehrt versucht hatte.
»Bye-bye, Farid«, sagte ich mit tonloser Stimme, denn in mir war nichts als Leere. Da gab es kein Gefühl mehr für diesen Mann. Ich hatte ihn geliebt, wie ich nie zuvor geliebt hatte, und gehasst, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Seine Machenschaften hatten mich dazu getrieben, den Wahnsinn dieser Überfahrt zu wagen. Es war das Schrecklichste, was er mir hatte antun können : mir meine Tochter zu nehmen.
Ich wusste, wie sich so etwas anfühlte. Mir waren bereits zwei Kinder entglitten. Um dieses würde ich kämpfen, diese Tochter würde mir niemand nehmen, das hatte ich mir geschworen. Niemand - und auch nicht das Meer.
Unser Boot kehrte Djerba den Rücken. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nichts mehr mit dem Ort zu tun haben, der einmal das Symbol für meine größte Sehnsucht gewesen war. Ich war neununddreißig Jahre alt und würde mich nie mehr blenden lassen wie vor elf Jahren, als ich glaubte, den Mann meines Lebens kennengelernt zu haben. Wie oft hatte ich mir gewünscht, ihm nie begegnet zu sein ... und doch hatte ich ihm begegnen müssen, damit unsere Tochter geboren werden konnte.
Mein Traum war gescheitert. Jetzt ging es nur noch darum, Emira zu retten.
Ich drückte sie fest an mich.
»Bald sind wir da«, machte ich uns beiden Mut. Ein ganzer Tag und eine Nacht in der Nussschale lagen vor uns.
»Und dann kriege ich Würstchen mit Senf«, freute Emira sich.
»Ja«, versprach ich und wusste in diesem Moment ganz genau, wie Glück schmeckte: nach deutschen Würstchen mit Senf.
PAUSCHALREISE INS GLÜCK
Das neue Jahrtausend war erst wenige Wochen alt, da entdeckte ich bei einem Spaziergang am Rhein ein kleines Reisebüro mit einem großen Glücksversprechen: Sonne, Meer und Palmen - sieben Tage und Nächte für 149 Mark. Ich blieb stehen. Im Schaufenster sah ich mein Spiegelbild von mir. Übermüdet sah ich aus, erschöpft. Urlaubsreif, dachte ich und musste unwillkürlich lächeln.
Eine Pauschalreise hatte ich noch nie gebucht. Mit meinen Eltern war ich in einem VW-Bus in den Ferien durch Frankreich und Spanien gefahren. So sah Urlaub bei uns aus: improvisiert, abwechslungsreich und spontan. Wie sehnte ich mich zurück nach dieser Leichtigkeit. Doch die war unwiederbringlich verloren, seit meine Mutter so plötzlich gestorben war.
Ich atmete durch, um mich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Sonne, Palmen, das weite Meer ... wie verlockend das klang. In den vergangenen Wochen war ich sehr fleißig gewesen und hatte neben meiner Ausbildung zur Eurythmielehrerin noch eine Weiterbildung als Coach für Burn-out-gefährdete Manager absolviert. Ein paar Tage ausspannen würden mir guttun. Und warum nicht ? Warum nicht mal was völlig Verrücktes wagen und eine Pauschalreise buchen!
Ich betrat das Reisebüro, das ausschließlich Schnäppchenreisen vertrieb, und als ich es verließ, hatte ich gebucht. Dreisternehotel, Halbpension. Über Tunesien wusste ich kaum etwas, doch es klang faszinierend: nach orientalischer Musik, köstlichem Essen, nach Wüste, rassigen Pferden und klassischem Bauchtanz. Den und seine Musik liebte ich schon lange. Bauchtanz schien mir eine perfekte Ergänzung zu den fließenden Bewegungen, die bei der Eurythmie zum Ausdruck gebracht werden. Eurythmie ist eine durchgeistigte Bewegungskunst, während der Bauchtanz ein Erdentanz ist, der seine Wurzeln in Afrika hat.
Dass ich Eurythmie studierte, lag wohl mit an meiner damaligen Eurythmistin an der Waldorfschule. Frau Dinkel, wie sie passenderweise hieß, war eine besondere Persönlichkeit, die mich schon damals mit ihrer Herangehensweise an das Leben sehr beeindruckte.
Bei vielen meiner männlichen Schulkameraden war die Eurythmie nicht sonderlich beliebt. Besonders Schüler in der Pubertät machen sich gerne über die » komischen « Bewegungen lustig. Gerade den Skeptikern versuchte ich dann nahezubringen, welch tieferen Sinn diese Bewegungen haben und dass sie besondere Möglichkeiten bieten, den Willen zu stärken, soziale und empathische Fähigkeiten zu üben und das Leben besser zu meistern.
Das eigene Leben meistern ... doch, das würde ich nun auch endlich schaffen, selbst wenn meine beiden Söhne beim Vater lebten und ohne mich aufwuchsen. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch Tränenflüssigkeit hatte, so viel hatte ich in den vergangenen Monaten geweint. Wie hatte alles so weit kommen können, wie nur hatten sie mir entgleiten können ... Und dabei hatte ich mir so sehr eine Familie gewünscht, hatte versucht, einem hochgesteckten Ideal zu entsprechen, und war daran fast zerbrochen. Bis ich eines Tages begriffen hatte, dass ich nach vorne schauen musste, um weiterexistieren zu können. Irgendwie musste ich versuchen, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich war ja noch nicht mal dreißig, da konnte viel geschehen, und es mochte sich alles noch zum Besten wenden.
Im Augenblick jedenfalls war nur eines sicher: Ich würde mich so schnell nicht wieder verlieben. Und wenn, dann müsste das ein Mann sein, der genau wusste, was er im Leben wollte. Einer, der weiterkommen wollte, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und mit mir zusammen eine solide Existenz aufbauen würde. Und wer weiß, dachte ich, vielleicht wäre diese Existenz ja eines Tages tragfähig genug, um meine beiden Jungen zu mir zu holen. Das hoffte ich insgeheim, daran hielt ich mich fest. Gut, dass ich nicht wusste, was noch alles auf mich zukam.
Ende Februar 2000 war es so weit: Ich flog nach Tunesien. Unvergessen ist mir bis heute der erste Anblick des Landes vom Flugzeug aus. Ich sah die trockenen Steppen unter mir, die staubigen Städte mit ihren nackten, kargen Steinhäusern und war überwältigt. Alles erschien mir atemberaubend - auch das Dreisternehotel in Sousse. Ich war ja noch nie in einem arabischen Land gewesen und auch nicht in einem Dreisternehotel. Heute weiß ich, dass es gar kein besonderes Hotel war. Alles war, wie es eben so ist, wie jeder Pauschalurlauber es kennt. Doch ich machte so etwas zum ersten Mal und war rundum begeistert. Wie liebevoll der Zimmerservice jeden Tag die Handtücher faltete. Dann die Auswahl am Büfett, die bequemen Liegestühle auf der Sonnenterrasse, der kleine Springbrunnen im Pool. Und erst das große, weite Meer. Zwei Stunden spazierte ich am ersten Tag am Strand entlang und konnte mich nicht satthören am Schwappen der Wellen. Hier würde ich wieder zu Kräften kommen, das spürte ich.
Am nächsten Morgen wachte ich auf von einem eigenartigen Geräusch. Ich hatte zuerst keine Ahnung, was das sein mochte. I-aaah! Vielleicht ein Esel? Ich sprang aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Tatsächlich, ein Esel! Er war vor einen Pflug gespannt, und ein alter Mann mit O-Beinen pflügte mit ihm die trockene Erde unter den Palmen. Hin und wieder schnalzte er mit der Zunge, um den Esel anzutreiben, dem das herzlich egal war. Der alte Mann machte trotzdem weiter, so als wolle er klarstellen, dass er das Sagen hatte. Ich schaute den beiden zu, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Offensichtlich hatte ich nicht nur eine Urlaubsreise, sondern auch eine Zeitreise gebucht.
Wie es sich für ein Hotel dieser Kategorie gehörte, gab es ein abwechslungsreiches Animationsprogramm. Am dritten Nachmittag trieben mich die Neugier und wohl auch die Sehnsucht in die Kinderdisco. Ich schaute den Kindern zu, die im Takt der Hip-Hop-Musik herumhüpften, und stellte mir meine beiden Jungs dabei vor. Traurigkeit stieg in mir auf, doch bevor die Verlorenheit nach mir greifen und mich verschlucken konnte, stand wie aus dem Nichts ein großer, stattlicher Mann in Anzug und Krawatte vor mir.
»Hast du Lust, ein Bier mit mir zu trinken?«, fragte er ohne Umschweife in einwandfreiem Englisch.
Ich nickte, und wir setzten uns an die Bar. Der gut aussehende Mann stellte sich als Farid vor. Drei Stunden später waren wir noch immer ins Gespräch vertieft. Wir redeten über Allah und die Welt, gerade so, als kennten wir uns schon lange und hätten uns Ewigkeiten nicht gesehen. Was es da alles nachzuholen gab! Irgendwann bekamen wir Hunger, und Farid lud mich zu Couscous ein, und danach zogen wir weiter in eine Disco. Im Stroboskoplicht - dies allein hätte mich misstrauisch machen sollen - las er mir aus der Hand, wie er es angeblich von seiner Großmutter gelernt hatte. Ich lachte und glaubte seinen Prophezeiungen nur zu gern, denn er pries meine Zukunft so glücklich, wie ich sie mir insgeheim erträumte. Langes Leben, eine glückliche Ehe, gesunde Kinder, viel Geld. Seine braunen Augen funkelten mich an, als könnte er all das herbeizaubern. Auf der Tanzfläche erwies er sich als würdiger Partner, wir rockten und fetzten und lachten und tanzten ganz engen Blues. Und da wusste ich es: So fühlte sich Glück an. Das hatte ich in den vergangenen Jahren vergessen.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr brüllte jemand in mein Ohr.
» Allah u Akbar.«
Ich fiel fast aus dem Bett. Dann fragte ich mich, was für ein Bett das war und wo Allah plötzlich herkam. Letzteres begriff ich als Erstes : von einem Lautsprecher, der an der Moschee angebracht war, und die stand direkt neben dem Haus. Farid lachte mich an, und in seinen Augen las ich ... Liebe.
So schnell ? Ja, so schnell. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, dieses Gefühl, das wie aus dem Nichts zu kommen scheint, plötzlich und unerwartet. Ich stand in hell lodernden Flammen, und Farid erging es nicht anders.
Nach dem Frühstück, bestehend aus B'ziza, einer Mischung aus verschiedenen Getreidearten, die mit Fenchelsamen, Rosenblättern und Gewürzen gemahlen und mit Wasser und Zucker zu einem Brei verarbeitet werden, zeigte Farid mir die Stadt. Besser gesagt, er trieb mich durch die engen Gassen der Soukhs. Seine Hand war groß, warm und trocken und wies mir den Weg. Er wusste genau, wohin er wollte. Und nur das zählte. Wenn ich irgendwo stehen blieb, zog er mich weiter. Ich ließ es geschehen. Ich fühlte mich beschützt, mit diesem Mann an meiner Seite konnte mir nichts passieren. Dieses Gefühl hatte ich vermisst - und nicht nur das. Ich sog es ganz in mich auf und fühlte mich mit einem Mal sicher und geborgen in dieser Welt.
Farid war Arzt. In der Disco hatte er mir ein Foto von sich gezeigt mit Mundschutz. Das fand ich ein bisschen übertrieben, wenn ich ehrlich war. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Menschen, die den Mut haben, ihre eigenen Leistungen zu benennen oder vielleicht sogar zu preisen, haben mich schon immer fasziniert. Da fiel es nicht weiter ins Gewicht, dass Farid sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Immerhin war er Arzt im Praktikum und schrieb an seiner Doktorarbeit. Er war kein Traumtänzer, sondern hatte einen Plan für sein Leben, wollte weiterkommen. Hatte ich mir nicht genau so einen Mann heimlich gewünscht?
Der Markt war voll von exotischen Gerüchen und fremdartigen Kleinigkeiten. Neugierig blickte ich mich um. Doch sobald ich innehielt, um etwas genauer zu betrachten, zog Farid mich weiter, als hätten wir keine Zeit dafür, als würde irgendwo etwas Großartiges auf uns warten. Was und wo das war, wusste nur er ... In Wirklichkeit wartete nichts, da lief er nur davon. Denn wenn ich stehen geblieben wäre und womöglich etwas in die Hand genommen hätte, wäre es Farids Pflicht gewesen, mir das zu schenken. Ich war eine Frau, er war mein Begleiter, und weil er kein Geld hatte und nicht in Verlegenheit geraten wollte, durften wir nicht anhalten. In der arabischen Öffentlichkeit ist es nicht üblich, dass eine Frau etwas bezahlt. Dafür ist der Mann zuständig.
Das alles wusste ich damals noch nicht. Ich wusste überhaupt sehr wenig über dieses Land und seine Menschen. Woher auch ? Ich hatte einfach nur abschalten und ein wenig Sonne tanken wollen inmitten der Hotelkulisse. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass mein Leben eine solche Wendung nehmen könnte. Vielleicht rannte ich deshalb in diesem Höllentempo in mein Unglück - das sich als der gut aussehende, gepflegte Farid verkleidet hatte und mich mit seiner fremdartigen Intensität blendete.
Wir waren Hals über Kopf ineinander verliebt, und die Zeit lief gegen uns. Viel zu schnell näherte sich mein Urlaub dem Ende, und es hieß Abschied nehmen. War es da nicht richtig, dass er mich durch die Soukhs zog und wir jede Minute auskosteten, die uns blieb?
Zurück in Düsseldorf rief ich Farid jeden Tag an, was zu der teuersten Telefonrechnung meines Lebens führte. Das Schicksal hatte mir eine neue Richtung gewiesen und meine Planung wie ein Erdbeben durcheinandergebracht. Meine Sehnsucht nach Farid war kostspielig - und machte mich ungeduldig. Nach vier Wochen stieg ich erneut in den Flieger nach Tunesien, und so ging es noch einige Male hin und her.
Auf einmal hatte ich zwei Leben. Ich pendelte zwischen dem Glücksrausch mit Farid in Tunesien und meiner Ausbildung zum Coach in Düsseldorf. Und es war tatsächlich ein Glücksrausch, den wir erlebten. Ich spürte so eine innige Liebe zu diesem Mann, und in seinen Augen las ich, dass es ihm genauso erging. Ich war nicht irgendeine blonde Touristin, mit der er sich vergnügte. Nein, da war mehr zwischen uns, und neben aller Anziehung war es diese Stärke, die von ihm ausging, dieses Versprechen, mich anlehnen, mich fallen lassen zu können, was mich so fesselte. Obwohl alle Zeichen dagegen sprachen, glaubte ich nach wie vor an meine Zukunft als Entspannungstrainerin für gestresste Manager - besser gesagt, ich wollte daran glauben. Wenn in meinem Innern die Frage auftauchte, wie ich diesen Job mit meiner Liebesgeschichte vereinbaren sollte, schob ich sie schnell beiseite. Denn darauf wusste ich keine Antwort. Ich wollte meinen Beruf nicht aufgeben, er sollte für mich der Auftakt zu einem neuen Leben sein.
Doch je öfter ich mit Farid zusammen war, desto mehr Raum nahm er ein, während meine berufliche Zukunft schrumpfte. Auch Tunesien wurde immer größer - und Deutschland kleiner.
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© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012
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Autoren-Porträt von Tina Rothkamm
Tina Rothkamm, 1971 in München geboren und in Düsseldorf aufgewachsen, ist nach ihrer Flucht aus Tunesien mit ihrer Familie wieder ins Rheinland zurückgekehrt.Shirley Michaela Seul ist eine erfolgreiche Belletristik- und Sachbuchautorin. Sie lebt im Fünfseenland bei München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tina Rothkamm
- 2012, 285 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Mit Shirley M. Seul
- Verlag: Pendo
- ISBN-10: 3866123140
- ISBN-13: 9783866123144
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