Entrissen
Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm
Katrin Behrs Mutter ist dem DDR-System nicht linientreu genug. Als Katrin vier Jahre alt ist, wird sie daher von einer politisch korrekten Familie zwangsadoptiert. Erst nach dem Fall der Mauer findet sie ihre Mutter wieder.
Ein erschütternder Bericht,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Entrissen “
Katrin Behrs Mutter ist dem DDR-System nicht linientreu genug. Als Katrin vier Jahre alt ist, wird sie daher von einer politisch korrekten Familie zwangsadoptiert. Erst nach dem Fall der Mauer findet sie ihre Mutter wieder.
Ein erschütternder Bericht, der die Unmenschlichkeit des DDR-Systems verdeutlicht.
Ein erschütternder Bericht, der die Unmenschlichkeit des DDR-Systems verdeutlicht.
Klappentext zu „Entrissen “
"Im Morgengrauen zerrten die Männer meine Mutter fort"Gera 1972. Katrin Behr ist vier Jahre alt, als sie aus undurchsichtigen Gründen ihrer Mutter weggenommen und in ein Heim gesteckt wird. Während sie noch verzweifelt hofft, bald zurück zu ihrer Mama zu können, wird sie von einer linientreuen Familie adoptiert. Erst nach dem Fall der Mauer kann Katrin Behr sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Identität machen und nach ihrer echten Familie.
Lese-Probe zu „Entrissen “
Entrissen von Katrin Behr & Peter Hartl ... mehr
1.
WUMM, BUM. HÄMMERND wie ein Herzschlag. Wie Trommeln und Pauken. Was ist das bloß für ein Krach an der Tür? Wieso haben sie mich aus dem Schlaf gerissen? Was ist denn nur los? Es ist Februar und stockduster. Noch nicht einmal die Vögel vorm Fenster zwitschern. Mir ist kalt. Am liebsten möchte ich mich wieder in meine warme Federdecke einmummeln, meinen Traum weiterträumen. Aber jemand lärmt vom Hausflur her, immer lauter. In einem fort wummert es gegen unsere Wohnungstür. Ich höre, wie Mama aufgeregt durch die Wohnstube rennt. »Machen Sie sofort auf!«, brüllt draußen eine Männerstimme. »Sonst treten wir die Tür ein!« Auf einen Schlag bin ich hellwach. Auch mein älterer Bruder Mirko ist in seinem Bett an der Wand gegenüber hoch geschreckt.
Er starrt mich mit großen Augen an, und ähnlich ratlos schaue ich wohl zurück. Mama reißt die Tür zu unserem Zimmer auf, ganz anders als sonst, wenn sie erst durch einen schmalen Spalt das sanft e Licht der Wohnstubenlampe schimmern lässt, damit wir uns an den neuen Tag gewöhnen können.
Noch halb im Traum dürfen wir üblicherweise im nachtwarmen Bett abwarten, bis der kleine Bollerofen nebenan die klamme Kälte im Zimmer verjagt hat. Doch heute dreht Mama gnadenlos den Lichtschalter herum, was unser Schlafzimmer in geradezu gleißendes Licht taucht, und herrscht uns an, uns ganz schnell anzuziehen. »Gleich«, ruft sie dann in Richtung Tür. »Ich muss mich nur noch fertig machen!« Dabei rupft sie hektisch Anziehsachen für mich aus unserem Resopalschrank, dessen Türen leise jammern, wenn man sie öffnet. Während sie mir die Klamotten auf den Stuhl vor meinem Bett legt, drängt sie mich noch mal, ja nicht zu bummeln. Sie weiß doch, dass ich mir in der Früh gern Zeit lasse, nie treibt sie mich morgens an. Und nun liegt da ausgerechnet die grüne Strickhose, die ich so sehr hasse und die mich an den Beinen pikst! Doch Mama ist heute unerbittlich, ich erkenne sie kaum wieder. Sie ist so anders als sonst. Das macht mir Angst, aber viel mehr noch tut es der Lärm an der Tür. »Was machen die da?«, murmele ich vor mich hin, weil Fragen vielleicht die Furcht verscheuchen. Mein Bruder fängt meinen eingeschüchterten Blick auf und flüstert mir zu: »Keine Bange. Ich bin doch bei dir und pass auf dich auf!«
Ich sehe Mirko dankbar an und lächle zum ersten Mal an diesem Morgen. Mein großer Bruder hat mich immer behütet, auf ihn ist sicher auch jetzt Verlass. Mit seiner Hilfe quäle ich mich in die dicke Strumpfhose. Aber nun auch noch dieses kratzende grüne Ungetüm - nein, da streike ich. »Ich zieh das nicht an«, jammere ich. Kein guter Moment für eine Verweigerung. Es hämmert noch lauter an die Tür, die Stimmen klingen wütender. Klatsch, Mamas Hand knallt so fest gegen meine Wange, dass die Haut glüht. Aua! Das hat gesessen. Und tut richtig weh. Noch nie hat meine Mutter mir eine Ohrfeige verpasst. So kenne ich sie nicht. »Mach schon«, schreit sie ungeduldig, spürbar nervös, »beeil dich!« Bin ich schuld, dass Mama heute so anders ist? Eingeschüchtert ziehe ich die Strickhose hoch und fange an zu heulen, weil meine Backe so weh tut und Mama mir so fremd vorkommt. Sie sieht mein Gesicht, und schon bereut sie, was sie getan hat. Hastig kommt sie auf mich zu und drückt mich an sich. Ach, halt mich doch, denke ich, fester, für immer. Lass mich nie wieder los. Ich will nicht, dass du da raus gehst! Diese Störenfriede vor der Tür, die sind böse, die machen alles kaputt, das spüre ich. Die Männer tragen lange, dunkle Wintermäntel. Fünf oder sechs mögen es sein, die sich vor meiner Mutter aufbauen, als sie endlich vorsichtig die Tür öffnet. Neben ihnen steht eine kleine, eher zierliche Frau, die ein Amtsschreiben in der Hand hält. Sie erklärt Mama etwas, das ich nicht verstehe. Aber so viel bekomme ich mit, dass wir irgendwie mitkommen sollen, und zwar sofort. Der Abrisskalender an unserer Blümchentapete zeigt seit gestern immer noch die Sechs, darunter stehen Februar und das Jahr: 1972. An diesem Morgen ist für meine Familie die Zeit stehengeblieben. Mirkos bevorstehenden siebten Geburtstag werden wir hier nicht mehr feiern, auch nicht meinen fünft en im Sommer und schon gar nicht Mamas fünfundzwanzigsten. Nie mehr wird sie strahlend feststellen, wie groß wir doch schon geworden sind. Sobald die Männer meine Mutter zu fassen bekommen, zerren sie sie grob nach draußen und drehen sie an die Wand, während sie auf sie einschimpfen. Ich schmiege mich an sie, verstecke mein Gesicht in ihrem blauen Wintermantel und klammere mich an ihrer Hand fest. »Nehmen Sie doch wenigstens auf die Kinder Rücksicht!«, fleht Mama. Ich will sie nicht mehr loslassen. Auch Mirko hängt sich fest ein. Zu beiden Seiten unserer Mutter schieben wir uns am Geländer entlang die ausgetretene Stiege vom ersten Stock nach unten. Das ist nicht leicht, weil die fremden Männer das Treppenhaus belagern. Ständig sind sie uns im Weg, bedrängen uns unangenehm. Tapfer mahnt Mama unsere Begleiter noch einmal: »Schubsen Sie mich doch nicht! Sehen Sie denn nicht, die Kinder ...« Draußen bilden sie einen Ring um uns, als wollten sie uns beschützen - dabei sind sie es, die uns bedrohen. Der Wind bläst mir kalt ins Gesicht. Es ist ein grauer Montagmorgen. Auf der Straße sind nur wenige Menschen unterwegs. Durch ein schmales Gässchen biegen wir auf den Marktplatz von Gera ein, wo zwei Dienstwagen warten. Meine Gedanken überschlagen sich. Warum hier, mitten in der Stadt, vor aller Augen - und nicht unauffällig direkt vor unserem Haus? Wohin wollen sie uns denn bringen? Ist überhaupt noch Platz für uns im Auto, bei den vielen Leuten? Da fordert einer der Männer uns auf: »So, jetzt verabschiedet euch mal von eurer Mutter.« Er ist richtig ungeduldig. »Kommt jetzt, macht schon!«
Mir wird angst und bange. Mein Herz rast, zugleich fühle ich mich wie erstarrt. Was soll das heißen: Auf Wiedersehen? Wo bringen sie meine Mama bloß hin? Ich sehe sie an. Auch in ihren Augen ist Angst, und ihr Blick lügt nie. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich sie nicht ziehen lassen darf. Wohin sie auch geht, ich will dabei sein. Einer der Männer packt mich an den Schultern, um mich aus Mamas Griff zu lösen. Ich schreie, so laut ich kann: »Mama, Mama!« Mir ist jetzt alles egal. Ich habe nur Angst, tiefe Angst. Um nichts auf der Welt will ich meine Mutter verlieren. Auch die Leute um uns herum merken nun, dass etwas nicht stimmt. Ein Passant mischt sich sogar ein. »Was soll das?«, fragt er. »Das könnt ihr doch nicht machen!« Er wird sofort zum Schweigen gebracht. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, nehmen wir Sie auch gleich mit.« Mein Bruder aber, mein Beschützer, kommt mir zu Hilfe. Mit Wucht tritt er dem Mann, der mich bedrängt, gegen das Schienbein und schreit ihn tapfer an: »Lass sie los!« Der Überraschungsmoment genügt, um mich aus dem Klammergriff zu befreien. Ich stürze meiner Mutter hinterher, als sie gerade in das hintere Fahrzeug geschoben wird. Mit meinem ganzen Körper umschlinge ich ihr rechtes Bein, das durch die halb geöffnete Tür aus dem beigefarbenen Auto ragt. Heute habe ich, anders als sonst, keinen Blick dafür, wie das Spiegelbild in den chromverzierten Stoßstangen meinem Gesicht groteske Züge verleiht. Ich will mich nicht wieder von Mama trennen lassen. Das schwöre ich mir. Da erst bemerke ich, dass sie um die Handgelenke seltsame Metallringe trägt. Mit den aneinander geketteten Händen streicht sie mir übers Haar. Auch das fühlt sich fremd an. Immer stärker kriecht die Angst in mir hoch, dass Mama weggehen könnte, ohne uns, ohne mich. Das darf nicht sein! Die Tränen laufen mir über die Wangen, die Kälte und die Beklemmung nehmen mir den Atem, und meine Haut brennt. »Mama, fahr nicht fort! Bleib doch bitte bei uns!«, stoße ich hervor, von Schluchzern unterbrochen. »Ich werde auch immer artig sein. Das verspreche ich dir.« In meiner Not versichere ich ihr sogar, die scheußliche Strickhose in Zukunft immer ganz schnell anzuziehen. Von der Rückbank des Fahrzeugs aus beugt sie sich zu meiner bebenden Gestalt hinunter und zieht mich, so gut es geht, zu sich heran. Wegen der Handschellen kann sie mein Gesicht nicht in ihre Hände nehmen. »Komm her, mein Schatz«, flüstert sie. »Du bist doch schon ein großes Mädchen. Du musst jetzt tapfer sein und mich bitte loslassen. Ich verspreche dir auch, dass ich heute Abend wieder zu Hause bin. Lauf mit Mirko zur Oma!« Durch den Tränenschleier hindurch blicke ich sie an und will von ihren Augen bestätigt sehen, dass sie auch wirklich die Wahrheit sagt. Sie beteuert noch einmal: »Wir sehen uns heute Abend wieder, versprochen!« Ihr Blick kommt mir aufrichtig vor. Ich vertraue ihr, warum auch nicht? Ob wir im Kindergarten waren oder bei unserer Oma: So weit ich zurückdenken kann, hat Mama uns jedes Mal wieder abgeholt. Bisher. Ich höre zwar nicht auf zu weinen, bin aber etwas beruhigt. Zögernd löse ich mich von ihr. Plötzlich fühle ich mich ganz kraft los, haltlos - wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat. Mamas Hände berühren mein Gesicht, sie haucht mir noch einen Kuss auf die Stirn. Dann zieht sie das Bein in den Innenraum des Fahrzeugs. Auch die wartenden Beamten steigen allesamt in die Autos. Nur die Frau vom Amt bleibt bei uns und hält uns an der Hand. Eigentlich wirkt sie jetzt ganz lieb. Die Türen schlagen zu. Die Motoren knattern. Die Reifen rattern über das Pflaster.
Meine Mutter löst während der Abfahrt den Blick nicht von mir. Sie hat sich uns zugewandt und winkt uns zu, so gut sie das kann - mit den Handfesseln wirkt sie so unbeholfen, so entsetzlich hilflos. Es sticht mir ins Herz, sie davonfahren zu sehen, mit ihrem tapferen Lächeln, immer kleiner wird sie. Wie erstarrt bleiben mein Bruder und ich stehen, bis die Autos hinter dem großen Altbau an der Ecke verschwinden. Unsere Betreuerin eröffnet uns knapp: »Ich bringe euch jetzt zu eurer Oma.« Mir ist ganz fl au. Ach Mama, wärst du doch noch hier! Was wollen diese bösen Männer bloß von dir? Ich kann die Tränen nicht länger aufhalten. Nur Mirko wirkt völlig unbewegt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn weinen gesehen zu haben. Der Marktplatz, auf dem wir jetzt verloren zurückbleiben, ist unser Zuhause, der Raum zwischen den Bretterbuden, die für den Marktbetrieb aufgestellt werden, unser Spielplatz. Während Mirko mit geschlossenen Augen bis dreißig zählte, habe ich mich versteckt und verborgen gehalten. Aber wenn er sich dann auf die Suche machte, hat er mich noch jedes Mal auf Anhieb entdeckt. Mein Bruder und ich, wir kennen hier jeden Winkel. Mit Vorliebe klettern wir im Sommer auf den Rand des Simsonbrunnens und lassen uns von der Wasserfontäne aus dem weit aufgerissenen Maul des Löwen berieseln, der gerade von einem starken Steinmann besiegt wird.
Um uns hat sich nie jemand groß gekümmert, Mama hat uns immer freien Lauf gelassen. Stundenlang haben wir auf den niedrigen Fensteröffnungen der alten Häuser um den Marktbrunnen gehockt und zugeguckt, wie die Brautpaare aus dem Standesamt gegenüber kamen. Manchmal sind wir auch
hingelaufen, um ein paar Münzen einzufangen. Fröhliche Hochzeitsgäste in einem Regen aus Reis: So ist das wohl, wenn Mann und Frau noch zusammen sind - anders als bei uns, von meinem Papa weiß ich schlichtweg nichts. Der gepflasterte Weg von hier bis zur Wohnung unserer Oma oberhalb des Marktplatzes ist nicht weit, zu Fuß gerade einmal zwei Minuten. Unzählige Male sind wir ihn schon gelaufen. Diesmal jedoch kommt er mir elend lang vor. Ich fühle mich, als würden wir abgeführt. Sobald wir angekommen sind, verkrieche ich mich auf die vertraute Couch in Omas Stube. Keine Ahnung, was die Frau, die sich als Mitarbeiterin der Jugendhilfe vorstellt, meiner Großmutter so alles erzählt. Ich bin derart durcheinander, dass ich nichts mehr wahrnehme, meine Ohren verschließe. Stundenlang wippe ich auf dem Sofa vor und zurück, zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich bringe kein Wort heraus und weine die meiste Zeit. Panik breitet sich langsam in mir aus. Panik vor dem, was kommen wird. Die Angst tut jetzt körperlich weh. Ich versuche meine Sinne taub zu stellen. Es geht nicht. Nachdem sich die Behördenfrau verabschiedet hat, kommt die Großmutter zu mir. »Das ist alles nicht so schlimm. Ihr seid doch bei mir, bis die Mama euch wieder abholt«, redet sie beruhigend auf mich ein, während sie mir mit der Hand sachte übers Haar streicht. Aber ich will nur eines erfahren: »Wann kommt denn Mama nun endlich nach Hause?« »Das dauert nicht lange.« Eine richtig beruhigende Antwort
hat Oma auch nicht zu bieten. »Wirst sehen, die kommt schon bald wieder«, sagt sie, doch überzeugt klingt sie nicht dabei. Eine düstere Ahnung steigt in mir hoch, verdrängt meinen Vorrat an Zuversicht. Als die Dunkelheit hereinbricht, lausche ich auf jedes Geräusch. Hat es geklopft , höre ich Schritte? Ruft da nicht jemand »Hallo, meine Süßen, da bin ich wieder!«? Nein, es bleibt beklemmend still.
Ich verstehe die Welt nicht mehr, und niemand hilft mir, sie zu verstehen. Mama kommt nicht. Sie hat mich, entgegen ihrer Zusage, alleingelassen. Sonst hat sie ihre Versprechen immer eingehalten. Zum ersten Mal in meinem Leben ist mein Urvertrauen erschüttert. Die ganze Zeit sehe ich diese bösen Männer vor mir. Was werden sie wohl mit meiner Mama anstellen? Wohin haben sie sie gebracht? Warum kommt sie nicht zurück? Ich bin so von meinem Kummer beherrscht, dass ich Mirko vollkommen aus den Augen verliere. Mir ist nicht einmal bewusst, ob er überhaupt noch in der Wohnung steckt. Ich halte mir die Ohren zu und wimmere vor Verzweiflung. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich will nichts essen, nichts wissen, mit niemandem reden. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein.
Gera, Dezember 2009
Wenn ich heute am Fenster meiner Dachwohnung stehe und den Blick über meine in die Hügel eingebettete Heimatstadt schweifen lasse, dann muss ich über eine kahle Befestigungsanlage hinwegsehen. Unmittelbar zu meinen Füßen, welch denkwürdiger Ausblick, liegt die Justizvollzugsanstalt von Gera. Der gelbe Klinkerbau aus einem anderen Jahrhundert verschanzt sich hinter hohen Betonmauern, die eine Borte aus Stacheldraht tragen. Mit den vielen kleinen Türmchen erinnert er an eine abweisende Märchenburg. Manchmal kann ich den Häftlingen beim Hofgang zusehen, gelegentlich auch beim Tischtennisspiel. Grüne Gefangenentransporter passieren regelmäßig mein Haus, verschwinden hinter den schweren Eisenschleusen und entlassen ihre Insassen in die Unfreiheit. Auch in diesen Bunker hat inzwischen der Rechtsstaat Einzug gehalten. Während ich von meiner Dachschräge aus hinuntersehe, wandern meine Gedanken zurück in die Zeit davor. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter vor beinahe vier Jahrzehnten hinter einem der vergitterten Fenster auf der Pritsche gekauert hat. Für kurze Zeit hat ihre Odyssee durch diverse Strafarbeitslager und Zellen sie damals, im Jahr 1972, auch in dieses Gefängnis geführt. Was ist ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie damals an die Decke stierte? Ist sie verzweifelt an ihrem zerbrochenen Lebensglück? Hat sie sich ungerecht behandelt und beraubt gefühlt? Oder hat sie mehr mit sich selbst gehadert? Ganz sicher hat sie viel an Mirko und mich gedacht, ihre verlorenen
Kinder. Sie wird uns schmerzlich vermisst haben, heute bin ich mir dessen ganz sicher. Jetzt, da ich selbst eine Tochter und einen Sohn habe, die im Begriff sind, mein Haus zu verlassen, beginne ich zu begreifen, was meine Mutter damals durchgemacht haben muss. Als kleines Mädchen dagegen hatte ich keinen blassen Schimmer, wohin die Männer sie abtransportierten. Ich konnte nicht ermessen, dass es gar nicht in ihrer Macht lag, ihre Versprechen einzuhalten. Nicht in meiner kühnsten Fantasie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass wir unser überstürzt verlassenes Heim nie wieder betreten würden. Erst recht ahnte ich nicht, welche Hintergründe die beängstigenden Vorkommnisse hatten und welche Rolle der Staat spielte, in den ich so arglos hineinwuchs. Damals hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was ein Gefängnis war. Als viereinhalbjähriges Mädchen, das sich bis dahin bei seiner Mutter geborgen gefühlt hatte, war ich einfach nur sauer auf sie. Ich war verletzt und panisch vor Angst, weil sie offenbar ihr Wort nicht hielt. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Natürlich suchte ich die Schuld auch bei mir, wie jedes Kind in solch einer Situation. Was hatte ich nur falsch gemacht, dass meine Mama nicht mehr zu mir zurückkam? Es gab niemanden, der auch nur den Versuch unternahm, meinem Bruder und mir zu erklären, was da vor sich ging. Wir waren umgeben von einer Wand des Schweigens, der Lügen und Beschwichtigungen. Ohne Trost und ohne Sicherheit. Es blieben nur Zweifel, Fragen und immer neue Verwirrungen. Um uns
war ein undurchdringliches Geheimnis. Wie ein Sturm rissen uns die Ereignisse mit sich und nahmen uns jeglichen Halt. Doch eines hatte ich schon damals instinktiv gespürt: Dies ist der Tag, jener 7. Februar 1972, der mein Leben umwälzt, alles verändert. Er war die Wegscheide zwischen dem, was vorher war, und dem, was nachher kam. Ein Einschnitt, ein Riss durch meine Seele. Alles, was nach diesem Tag mein Leben bestimmte, besaß keine Festigkeit mehr, erwies sich später als Fassade, die irgendwann einstürzen musste. Ein Zwiespalt, der immer wieder - bis heute - dazu führt, dass ich mich hin- und hergerissen fühle, selbst wenn vordergründig mein Dasein beständig scheint. Im Grunde sind es meine Kinder, die mir die Kraft und den Mut geben, mich meiner eigenen schmerzhaft en Geschichte noch einmal auszusetzen. Sie sollen nachfühlen können, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich geworden bin. Auch für sie will ich herausfinden, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin, welche Lasten der Vergangenheit ich mit mir trage und unbewusst an andere weiterreiche. Sie helfen mir, meinen versprengten Lebensweg selbst zu begreifen und nachzuforschen, welche äußeren Kräfte unsere scheinbar intakte Dreisamkeit damals zersprengen konnten. Wie häufig bei Kindern von Alleinerziehenden hingen Mirko und ich ganz besonders eng an unserer Mama. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl während seiner Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee in Gera stationiert, als die flüchtige Beziehung entbrannte, deren Frucht ich bin. Meine Mutter hat mir nichts von ihm erzählt. Ich könnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er auch der leibliche Vater meines Bruders ist.
Copyright © 2011 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th . Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
1.
WUMM, BUM. HÄMMERND wie ein Herzschlag. Wie Trommeln und Pauken. Was ist das bloß für ein Krach an der Tür? Wieso haben sie mich aus dem Schlaf gerissen? Was ist denn nur los? Es ist Februar und stockduster. Noch nicht einmal die Vögel vorm Fenster zwitschern. Mir ist kalt. Am liebsten möchte ich mich wieder in meine warme Federdecke einmummeln, meinen Traum weiterträumen. Aber jemand lärmt vom Hausflur her, immer lauter. In einem fort wummert es gegen unsere Wohnungstür. Ich höre, wie Mama aufgeregt durch die Wohnstube rennt. »Machen Sie sofort auf!«, brüllt draußen eine Männerstimme. »Sonst treten wir die Tür ein!« Auf einen Schlag bin ich hellwach. Auch mein älterer Bruder Mirko ist in seinem Bett an der Wand gegenüber hoch geschreckt.
Er starrt mich mit großen Augen an, und ähnlich ratlos schaue ich wohl zurück. Mama reißt die Tür zu unserem Zimmer auf, ganz anders als sonst, wenn sie erst durch einen schmalen Spalt das sanft e Licht der Wohnstubenlampe schimmern lässt, damit wir uns an den neuen Tag gewöhnen können.
Noch halb im Traum dürfen wir üblicherweise im nachtwarmen Bett abwarten, bis der kleine Bollerofen nebenan die klamme Kälte im Zimmer verjagt hat. Doch heute dreht Mama gnadenlos den Lichtschalter herum, was unser Schlafzimmer in geradezu gleißendes Licht taucht, und herrscht uns an, uns ganz schnell anzuziehen. »Gleich«, ruft sie dann in Richtung Tür. »Ich muss mich nur noch fertig machen!« Dabei rupft sie hektisch Anziehsachen für mich aus unserem Resopalschrank, dessen Türen leise jammern, wenn man sie öffnet. Während sie mir die Klamotten auf den Stuhl vor meinem Bett legt, drängt sie mich noch mal, ja nicht zu bummeln. Sie weiß doch, dass ich mir in der Früh gern Zeit lasse, nie treibt sie mich morgens an. Und nun liegt da ausgerechnet die grüne Strickhose, die ich so sehr hasse und die mich an den Beinen pikst! Doch Mama ist heute unerbittlich, ich erkenne sie kaum wieder. Sie ist so anders als sonst. Das macht mir Angst, aber viel mehr noch tut es der Lärm an der Tür. »Was machen die da?«, murmele ich vor mich hin, weil Fragen vielleicht die Furcht verscheuchen. Mein Bruder fängt meinen eingeschüchterten Blick auf und flüstert mir zu: »Keine Bange. Ich bin doch bei dir und pass auf dich auf!«
Ich sehe Mirko dankbar an und lächle zum ersten Mal an diesem Morgen. Mein großer Bruder hat mich immer behütet, auf ihn ist sicher auch jetzt Verlass. Mit seiner Hilfe quäle ich mich in die dicke Strumpfhose. Aber nun auch noch dieses kratzende grüne Ungetüm - nein, da streike ich. »Ich zieh das nicht an«, jammere ich. Kein guter Moment für eine Verweigerung. Es hämmert noch lauter an die Tür, die Stimmen klingen wütender. Klatsch, Mamas Hand knallt so fest gegen meine Wange, dass die Haut glüht. Aua! Das hat gesessen. Und tut richtig weh. Noch nie hat meine Mutter mir eine Ohrfeige verpasst. So kenne ich sie nicht. »Mach schon«, schreit sie ungeduldig, spürbar nervös, »beeil dich!« Bin ich schuld, dass Mama heute so anders ist? Eingeschüchtert ziehe ich die Strickhose hoch und fange an zu heulen, weil meine Backe so weh tut und Mama mir so fremd vorkommt. Sie sieht mein Gesicht, und schon bereut sie, was sie getan hat. Hastig kommt sie auf mich zu und drückt mich an sich. Ach, halt mich doch, denke ich, fester, für immer. Lass mich nie wieder los. Ich will nicht, dass du da raus gehst! Diese Störenfriede vor der Tür, die sind böse, die machen alles kaputt, das spüre ich. Die Männer tragen lange, dunkle Wintermäntel. Fünf oder sechs mögen es sein, die sich vor meiner Mutter aufbauen, als sie endlich vorsichtig die Tür öffnet. Neben ihnen steht eine kleine, eher zierliche Frau, die ein Amtsschreiben in der Hand hält. Sie erklärt Mama etwas, das ich nicht verstehe. Aber so viel bekomme ich mit, dass wir irgendwie mitkommen sollen, und zwar sofort. Der Abrisskalender an unserer Blümchentapete zeigt seit gestern immer noch die Sechs, darunter stehen Februar und das Jahr: 1972. An diesem Morgen ist für meine Familie die Zeit stehengeblieben. Mirkos bevorstehenden siebten Geburtstag werden wir hier nicht mehr feiern, auch nicht meinen fünft en im Sommer und schon gar nicht Mamas fünfundzwanzigsten. Nie mehr wird sie strahlend feststellen, wie groß wir doch schon geworden sind. Sobald die Männer meine Mutter zu fassen bekommen, zerren sie sie grob nach draußen und drehen sie an die Wand, während sie auf sie einschimpfen. Ich schmiege mich an sie, verstecke mein Gesicht in ihrem blauen Wintermantel und klammere mich an ihrer Hand fest. »Nehmen Sie doch wenigstens auf die Kinder Rücksicht!«, fleht Mama. Ich will sie nicht mehr loslassen. Auch Mirko hängt sich fest ein. Zu beiden Seiten unserer Mutter schieben wir uns am Geländer entlang die ausgetretene Stiege vom ersten Stock nach unten. Das ist nicht leicht, weil die fremden Männer das Treppenhaus belagern. Ständig sind sie uns im Weg, bedrängen uns unangenehm. Tapfer mahnt Mama unsere Begleiter noch einmal: »Schubsen Sie mich doch nicht! Sehen Sie denn nicht, die Kinder ...« Draußen bilden sie einen Ring um uns, als wollten sie uns beschützen - dabei sind sie es, die uns bedrohen. Der Wind bläst mir kalt ins Gesicht. Es ist ein grauer Montagmorgen. Auf der Straße sind nur wenige Menschen unterwegs. Durch ein schmales Gässchen biegen wir auf den Marktplatz von Gera ein, wo zwei Dienstwagen warten. Meine Gedanken überschlagen sich. Warum hier, mitten in der Stadt, vor aller Augen - und nicht unauffällig direkt vor unserem Haus? Wohin wollen sie uns denn bringen? Ist überhaupt noch Platz für uns im Auto, bei den vielen Leuten? Da fordert einer der Männer uns auf: »So, jetzt verabschiedet euch mal von eurer Mutter.« Er ist richtig ungeduldig. »Kommt jetzt, macht schon!«
Mir wird angst und bange. Mein Herz rast, zugleich fühle ich mich wie erstarrt. Was soll das heißen: Auf Wiedersehen? Wo bringen sie meine Mama bloß hin? Ich sehe sie an. Auch in ihren Augen ist Angst, und ihr Blick lügt nie. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich sie nicht ziehen lassen darf. Wohin sie auch geht, ich will dabei sein. Einer der Männer packt mich an den Schultern, um mich aus Mamas Griff zu lösen. Ich schreie, so laut ich kann: »Mama, Mama!« Mir ist jetzt alles egal. Ich habe nur Angst, tiefe Angst. Um nichts auf der Welt will ich meine Mutter verlieren. Auch die Leute um uns herum merken nun, dass etwas nicht stimmt. Ein Passant mischt sich sogar ein. »Was soll das?«, fragt er. »Das könnt ihr doch nicht machen!« Er wird sofort zum Schweigen gebracht. »Wenn Sie noch ein Wort sagen, nehmen wir Sie auch gleich mit.« Mein Bruder aber, mein Beschützer, kommt mir zu Hilfe. Mit Wucht tritt er dem Mann, der mich bedrängt, gegen das Schienbein und schreit ihn tapfer an: »Lass sie los!« Der Überraschungsmoment genügt, um mich aus dem Klammergriff zu befreien. Ich stürze meiner Mutter hinterher, als sie gerade in das hintere Fahrzeug geschoben wird. Mit meinem ganzen Körper umschlinge ich ihr rechtes Bein, das durch die halb geöffnete Tür aus dem beigefarbenen Auto ragt. Heute habe ich, anders als sonst, keinen Blick dafür, wie das Spiegelbild in den chromverzierten Stoßstangen meinem Gesicht groteske Züge verleiht. Ich will mich nicht wieder von Mama trennen lassen. Das schwöre ich mir. Da erst bemerke ich, dass sie um die Handgelenke seltsame Metallringe trägt. Mit den aneinander geketteten Händen streicht sie mir übers Haar. Auch das fühlt sich fremd an. Immer stärker kriecht die Angst in mir hoch, dass Mama weggehen könnte, ohne uns, ohne mich. Das darf nicht sein! Die Tränen laufen mir über die Wangen, die Kälte und die Beklemmung nehmen mir den Atem, und meine Haut brennt. »Mama, fahr nicht fort! Bleib doch bitte bei uns!«, stoße ich hervor, von Schluchzern unterbrochen. »Ich werde auch immer artig sein. Das verspreche ich dir.« In meiner Not versichere ich ihr sogar, die scheußliche Strickhose in Zukunft immer ganz schnell anzuziehen. Von der Rückbank des Fahrzeugs aus beugt sie sich zu meiner bebenden Gestalt hinunter und zieht mich, so gut es geht, zu sich heran. Wegen der Handschellen kann sie mein Gesicht nicht in ihre Hände nehmen. »Komm her, mein Schatz«, flüstert sie. »Du bist doch schon ein großes Mädchen. Du musst jetzt tapfer sein und mich bitte loslassen. Ich verspreche dir auch, dass ich heute Abend wieder zu Hause bin. Lauf mit Mirko zur Oma!« Durch den Tränenschleier hindurch blicke ich sie an und will von ihren Augen bestätigt sehen, dass sie auch wirklich die Wahrheit sagt. Sie beteuert noch einmal: »Wir sehen uns heute Abend wieder, versprochen!« Ihr Blick kommt mir aufrichtig vor. Ich vertraue ihr, warum auch nicht? Ob wir im Kindergarten waren oder bei unserer Oma: So weit ich zurückdenken kann, hat Mama uns jedes Mal wieder abgeholt. Bisher. Ich höre zwar nicht auf zu weinen, bin aber etwas beruhigt. Zögernd löse ich mich von ihr. Plötzlich fühle ich mich ganz kraft los, haltlos - wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat. Mamas Hände berühren mein Gesicht, sie haucht mir noch einen Kuss auf die Stirn. Dann zieht sie das Bein in den Innenraum des Fahrzeugs. Auch die wartenden Beamten steigen allesamt in die Autos. Nur die Frau vom Amt bleibt bei uns und hält uns an der Hand. Eigentlich wirkt sie jetzt ganz lieb. Die Türen schlagen zu. Die Motoren knattern. Die Reifen rattern über das Pflaster.
Meine Mutter löst während der Abfahrt den Blick nicht von mir. Sie hat sich uns zugewandt und winkt uns zu, so gut sie das kann - mit den Handfesseln wirkt sie so unbeholfen, so entsetzlich hilflos. Es sticht mir ins Herz, sie davonfahren zu sehen, mit ihrem tapferen Lächeln, immer kleiner wird sie. Wie erstarrt bleiben mein Bruder und ich stehen, bis die Autos hinter dem großen Altbau an der Ecke verschwinden. Unsere Betreuerin eröffnet uns knapp: »Ich bringe euch jetzt zu eurer Oma.« Mir ist ganz fl au. Ach Mama, wärst du doch noch hier! Was wollen diese bösen Männer bloß von dir? Ich kann die Tränen nicht länger aufhalten. Nur Mirko wirkt völlig unbewegt. Ich kann mich nicht erinnern, ihn weinen gesehen zu haben. Der Marktplatz, auf dem wir jetzt verloren zurückbleiben, ist unser Zuhause, der Raum zwischen den Bretterbuden, die für den Marktbetrieb aufgestellt werden, unser Spielplatz. Während Mirko mit geschlossenen Augen bis dreißig zählte, habe ich mich versteckt und verborgen gehalten. Aber wenn er sich dann auf die Suche machte, hat er mich noch jedes Mal auf Anhieb entdeckt. Mein Bruder und ich, wir kennen hier jeden Winkel. Mit Vorliebe klettern wir im Sommer auf den Rand des Simsonbrunnens und lassen uns von der Wasserfontäne aus dem weit aufgerissenen Maul des Löwen berieseln, der gerade von einem starken Steinmann besiegt wird.
Um uns hat sich nie jemand groß gekümmert, Mama hat uns immer freien Lauf gelassen. Stundenlang haben wir auf den niedrigen Fensteröffnungen der alten Häuser um den Marktbrunnen gehockt und zugeguckt, wie die Brautpaare aus dem Standesamt gegenüber kamen. Manchmal sind wir auch
hingelaufen, um ein paar Münzen einzufangen. Fröhliche Hochzeitsgäste in einem Regen aus Reis: So ist das wohl, wenn Mann und Frau noch zusammen sind - anders als bei uns, von meinem Papa weiß ich schlichtweg nichts. Der gepflasterte Weg von hier bis zur Wohnung unserer Oma oberhalb des Marktplatzes ist nicht weit, zu Fuß gerade einmal zwei Minuten. Unzählige Male sind wir ihn schon gelaufen. Diesmal jedoch kommt er mir elend lang vor. Ich fühle mich, als würden wir abgeführt. Sobald wir angekommen sind, verkrieche ich mich auf die vertraute Couch in Omas Stube. Keine Ahnung, was die Frau, die sich als Mitarbeiterin der Jugendhilfe vorstellt, meiner Großmutter so alles erzählt. Ich bin derart durcheinander, dass ich nichts mehr wahrnehme, meine Ohren verschließe. Stundenlang wippe ich auf dem Sofa vor und zurück, zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich bringe kein Wort heraus und weine die meiste Zeit. Panik breitet sich langsam in mir aus. Panik vor dem, was kommen wird. Die Angst tut jetzt körperlich weh. Ich versuche meine Sinne taub zu stellen. Es geht nicht. Nachdem sich die Behördenfrau verabschiedet hat, kommt die Großmutter zu mir. »Das ist alles nicht so schlimm. Ihr seid doch bei mir, bis die Mama euch wieder abholt«, redet sie beruhigend auf mich ein, während sie mir mit der Hand sachte übers Haar streicht. Aber ich will nur eines erfahren: »Wann kommt denn Mama nun endlich nach Hause?« »Das dauert nicht lange.« Eine richtig beruhigende Antwort
hat Oma auch nicht zu bieten. »Wirst sehen, die kommt schon bald wieder«, sagt sie, doch überzeugt klingt sie nicht dabei. Eine düstere Ahnung steigt in mir hoch, verdrängt meinen Vorrat an Zuversicht. Als die Dunkelheit hereinbricht, lausche ich auf jedes Geräusch. Hat es geklopft , höre ich Schritte? Ruft da nicht jemand »Hallo, meine Süßen, da bin ich wieder!«? Nein, es bleibt beklemmend still.
Ich verstehe die Welt nicht mehr, und niemand hilft mir, sie zu verstehen. Mama kommt nicht. Sie hat mich, entgegen ihrer Zusage, alleingelassen. Sonst hat sie ihre Versprechen immer eingehalten. Zum ersten Mal in meinem Leben ist mein Urvertrauen erschüttert. Die ganze Zeit sehe ich diese bösen Männer vor mir. Was werden sie wohl mit meiner Mama anstellen? Wohin haben sie sie gebracht? Warum kommt sie nicht zurück? Ich bin so von meinem Kummer beherrscht, dass ich Mirko vollkommen aus den Augen verliere. Mir ist nicht einmal bewusst, ob er überhaupt noch in der Wohnung steckt. Ich halte mir die Ohren zu und wimmere vor Verzweiflung. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich will nichts essen, nichts wissen, mit niemandem reden. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein.
Gera, Dezember 2009
Wenn ich heute am Fenster meiner Dachwohnung stehe und den Blick über meine in die Hügel eingebettete Heimatstadt schweifen lasse, dann muss ich über eine kahle Befestigungsanlage hinwegsehen. Unmittelbar zu meinen Füßen, welch denkwürdiger Ausblick, liegt die Justizvollzugsanstalt von Gera. Der gelbe Klinkerbau aus einem anderen Jahrhundert verschanzt sich hinter hohen Betonmauern, die eine Borte aus Stacheldraht tragen. Mit den vielen kleinen Türmchen erinnert er an eine abweisende Märchenburg. Manchmal kann ich den Häftlingen beim Hofgang zusehen, gelegentlich auch beim Tischtennisspiel. Grüne Gefangenentransporter passieren regelmäßig mein Haus, verschwinden hinter den schweren Eisenschleusen und entlassen ihre Insassen in die Unfreiheit. Auch in diesen Bunker hat inzwischen der Rechtsstaat Einzug gehalten. Während ich von meiner Dachschräge aus hinuntersehe, wandern meine Gedanken zurück in die Zeit davor. Ich stelle mir vor, wie meine Mutter vor beinahe vier Jahrzehnten hinter einem der vergitterten Fenster auf der Pritsche gekauert hat. Für kurze Zeit hat ihre Odyssee durch diverse Strafarbeitslager und Zellen sie damals, im Jahr 1972, auch in dieses Gefängnis geführt. Was ist ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie damals an die Decke stierte? Ist sie verzweifelt an ihrem zerbrochenen Lebensglück? Hat sie sich ungerecht behandelt und beraubt gefühlt? Oder hat sie mehr mit sich selbst gehadert? Ganz sicher hat sie viel an Mirko und mich gedacht, ihre verlorenen
Kinder. Sie wird uns schmerzlich vermisst haben, heute bin ich mir dessen ganz sicher. Jetzt, da ich selbst eine Tochter und einen Sohn habe, die im Begriff sind, mein Haus zu verlassen, beginne ich zu begreifen, was meine Mutter damals durchgemacht haben muss. Als kleines Mädchen dagegen hatte ich keinen blassen Schimmer, wohin die Männer sie abtransportierten. Ich konnte nicht ermessen, dass es gar nicht in ihrer Macht lag, ihre Versprechen einzuhalten. Nicht in meiner kühnsten Fantasie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass wir unser überstürzt verlassenes Heim nie wieder betreten würden. Erst recht ahnte ich nicht, welche Hintergründe die beängstigenden Vorkommnisse hatten und welche Rolle der Staat spielte, in den ich so arglos hineinwuchs. Damals hatte ich noch nicht einmal eine Vorstellung davon, was ein Gefängnis war. Als viereinhalbjähriges Mädchen, das sich bis dahin bei seiner Mutter geborgen gefühlt hatte, war ich einfach nur sauer auf sie. Ich war verletzt und panisch vor Angst, weil sie offenbar ihr Wort nicht hielt. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Natürlich suchte ich die Schuld auch bei mir, wie jedes Kind in solch einer Situation. Was hatte ich nur falsch gemacht, dass meine Mama nicht mehr zu mir zurückkam? Es gab niemanden, der auch nur den Versuch unternahm, meinem Bruder und mir zu erklären, was da vor sich ging. Wir waren umgeben von einer Wand des Schweigens, der Lügen und Beschwichtigungen. Ohne Trost und ohne Sicherheit. Es blieben nur Zweifel, Fragen und immer neue Verwirrungen. Um uns
war ein undurchdringliches Geheimnis. Wie ein Sturm rissen uns die Ereignisse mit sich und nahmen uns jeglichen Halt. Doch eines hatte ich schon damals instinktiv gespürt: Dies ist der Tag, jener 7. Februar 1972, der mein Leben umwälzt, alles verändert. Er war die Wegscheide zwischen dem, was vorher war, und dem, was nachher kam. Ein Einschnitt, ein Riss durch meine Seele. Alles, was nach diesem Tag mein Leben bestimmte, besaß keine Festigkeit mehr, erwies sich später als Fassade, die irgendwann einstürzen musste. Ein Zwiespalt, der immer wieder - bis heute - dazu führt, dass ich mich hin- und hergerissen fühle, selbst wenn vordergründig mein Dasein beständig scheint. Im Grunde sind es meine Kinder, die mir die Kraft und den Mut geben, mich meiner eigenen schmerzhaft en Geschichte noch einmal auszusetzen. Sie sollen nachfühlen können, wie ich zu dem Menschen wurde, der ich geworden bin. Auch für sie will ich herausfinden, wo ich herkomme, wer ich wirklich bin, welche Lasten der Vergangenheit ich mit mir trage und unbewusst an andere weiterreiche. Sie helfen mir, meinen versprengten Lebensweg selbst zu begreifen und nachzuforschen, welche äußeren Kräfte unsere scheinbar intakte Dreisamkeit damals zersprengen konnten. Wie häufig bei Kindern von Alleinerziehenden hingen Mirko und ich ganz besonders eng an unserer Mama. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war wohl während seiner Wehrdienstzeit bei der Nationalen Volksarmee in Gera stationiert, als die flüchtige Beziehung entbrannte, deren Frucht ich bin. Meine Mutter hat mir nichts von ihm erzählt. Ich könnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er auch der leibliche Vater meines Bruders ist.
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Autoren-Porträt von Katrin Behr, Peter Hartl
Katrin Behr wurde 1967 in Gera geboren und lebt heute in Berlin. 2007 gründete sie den Verein "OvZ-DDR e.V. Hilfe für die Opfer von DDR-Zwangsadoptionen". Seit 2010 arbeitet sie bei dem Dachverband der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. als hauptamtliche Beraterin für den Fachbereich DDR-Zwangsadoptionen.Peter Hartl Jahrgang 1961, studierte Journalistik und Geschichte in München und Paris. Seit 1991 ist er als Filmautor und Redakteur an den grossen Dokumentarreihen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte beteiligt. Neben der Fernsehtätigkeit ist er Herausgeber und Verfasser von Büchern, Buchbeiträgen und Presseartikeln.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
- 2011, 300 Seiten, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342627566X
- ISBN-13: 9783426275665
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