Engelsflammen
Luce ist für Daniel gestorben, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeit finden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Irgendwo in ihrer Vergangenheit liegt der Schlüssel, der den Fluch bannt, der auf ihnen lastet. Und so...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Engelsflammen “
Luce ist für Daniel gestorben, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeit finden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Irgendwo in ihrer Vergangenheit liegt der Schlüssel, der den Fluch bannt, der auf ihnen lastet. Und so reist Luce zurück in ihre früheren Leben um ihre große Liebe zu retten.
Klappentext zu „Engelsflammen “
Liebe eines Lebens, all ihrer Leben ...Luce würde für Daniel sterben. Und sie hat es getan, wieder und wieder: Seit einer Ewigkeit finden die beiden einander, nur um sich immer aufs Neue zu verlieren. Luce ist sicher, dass irgendwo in ihrer Vergangenheit der Schlüssel liegt, um dem ewigen Fluch zu entkommen, der auf ihr und Daniel lastet. Und so reist sie zurück in der Zeit, zurück in ihre früheren Leben, um den Weg aus der Verdammnis zu finden. Cam, die gefallenen Engel, Luces' Freunde Miles und Shelby, sie alle brechen auf, um Luce auf ihrer Reise in die Vergangenheit zu folgen. Doch keiner sucht sie so verzweifelt wie Daniel - voller Angst, Luce könnte die Geschichte neu schreiben. Dann nämlich könnte ihre grosse Liebe in Flammen aufgehen ... für immer.
Lese-Probe zu „Engelsflammen “
Engelsflammen von Lauren KateProlog
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Der Außenseiter
Louisville, Kentucky, 27. November 2009
Ein Schuss krachte. Mit einem einzigen Knall öffnete sich die breite Front der Startboxen. Das Stampfen der Pferdehufe hallte über die Rennbahn wie fernes Donnergrollen. »Sie sind gestartet ...« Sophia Bliss schob die mehr als halbmeterbreite Krempe ihres Federhutes zurecht. Er war blass malvenfarben und ein Chiffonschleier hing davon herab. Mit diesem Hut ging sie locker als regelmäßige Rennbahnbesucherin durch, aber er war nicht so auffällig, dass sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.
Sie hatten ihre drei Hüte für diesen Renntag bei einer Modistin in Hilton Head als Sonderanfertigungen in Auftrag gegeben. Der zweite - ein buttergelbes Häubchen - bedeckte den schneeweißen Kopf von Lyrica Crisp, die links neben Miss Sophia saß und sich an einem Cornedbeef- Sandwich gütlich tat. Und der letzte, ein gischtgrüner Filzhut mit breitem, grob gepunktetem Seidenband, krönte die pechschwarze Mähne von Vivina Sole. Sie saß zu Miss Sophias Rechten und hatte die weiß behandschuhten Hände auf dem Schoß gefaltet, als könne sie kein Wässerchen trüben. »Was für ein herrlicher Tag für ein Rennen«, bemerkte Lyrica. Mit ihren einhundertsechsunddreißig Jahren war sie die jüngste der Ältesten der Zhsmaelim. Sie wischte sich einen Senfklecks aus dem Mundwinkel. »Könnt ihr glauben, dass ich heute zum ersten Mal auf einer Rennbahn bin?«
»Scht«, zischte Sophia. Lyrica war dermaßen unbedarft. Heute ging es überhaupt nicht um Pferde, sondern um ein heimliches Zusammentreffen großer Geister. Auch wenn die anderen großen Geister noch nicht aufgetaucht waren. Sie würden schon noch kommen. Der absolut neutrale Treffpunkt war Sophia in der mit Goldlettern geprägten Einladung mitgeteilt worden, die sie von einem unbekannten Absender erhalten hatte. Die anderen würden kommen und sich offenbaren und gemeinsam würden sie einen Angriffsplan schmieden. Jeden Augenblick musste es so weit sein. Hoffte sie.
»Ein schöner Tag für einen schönen Sport«, sagte Vivina trocken. »Ein Jammer, dass unser Pferdchen in diesem Rennen nicht in so leicht berechenbaren Bahnen läuft wie diese Jungstuten hier. Nicht wahr, Sophia? Wer würde schon darauf wetten, wo das Vollblut Lucinda über die Ziellinie geht.«
»Ich sagte Scht«, flüsterte Sophia. »Hüte deine vorlaute Zunge. Hier sind überall Spione.«
»Du bist paranoid«, gab Vivina zurück, was Lyrica ein hohes Kichern entlockte.
»Ich bin die, die übrig geblieben ist«, sagte Sophia. Es hatte früher so viele weitere gegeben - vierundzwanzig Älteste zur Blütezeit der Zhsmaelim. Eine Gruppe von Sterblichen, Unsterblichen und einigen Transhimmlischen wie Sophia selbst. Eine Achse des Wissens, der Leidenschaft und des Glaubens, mit einem einzigen einenden Ziel: Die Welt in ihren Zustand vor dem Höllensturz zurückzuführen, zu diesem flüchtigen, herrlichen Augenblick vor dem Sturz der Engel. Auf Gedeih und Verderb. So stand es glasklar in dem Kodex, den sie gemeinsam verfasst und den sie alle unterzeichnet hatten: Auf Gedeih und Verderb.
Denn es konnte tatsächlich so oder so ausgehen. Jede Münze hatte ihre zwei Seiten. Kopf und Zahl. Hell und dunkel. Gut und ... Es war wohl kaum Sophias Schuld, dass die anderen Ältesten sich nicht auf beide Möglichkeiten vorbereitet hatten. Aber sie hatte die Vorwürfe über sich ergehen lassen müssen, als einer nach dem anderen seinen Rückzug kundgetan hatte. Eure Ziele werden zu dunkel. Oder: Das Niveau der Organisation ist gesunken. Oder: Die Ältesten sind zu weit von ihrem ursprünglichen Kodex abgewichen. Der erste Schwung von Briefen war, wie vorauszusehen, innerhalb einer Woche nach dem Zwischenfall mit dieser Pennyweather eingetroffen. Das sei für sie absolut unerträglich, hatten sie behauptet. Der Tod eines einzigen bedeutungslosen Kindes! Ein einziger unbedachter Augenblick mit einem Dolch, und plötzlich bekamen die Ältesten es mit der Angst. Sie alle fürchteten den Zorn der Waage. Feiglinge.
Sophia fürchtete die Waage nicht. Ihre Aufgabe war es, den Gefallenen, nicht den Gerechten beizustehen. Niederen Engeln wie Roland Sparks und Arriane Alter. Solange man dem Himmel nicht abtrünnig wurde, hatte man ein wenig Spielraum. Verzweifelte Zeiten schrien förmlich nach verzweifelten Maßnahmen. Sophia wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als sie die hasenfüßigen Ausflüchte der anderen Ältesten gelesen hatte. Jeder Versuch, diese Feiglinge zurückzugewinnen, war aussichtslos - und Sophia wollte sie auch nicht wieder dabeihaben. Und so war Sophia Bliss - die Schulbibliothekarin, die im Vorstand der Zhsmaelim immer nur als Sekretärin gedient hatte - jetzt die ranghöchste Vertreterin der Ältesten. Von denen es nur noch zwölf gab, und neun davon konnte man nicht trauen.
Also waren nur sie drei heute hier mit ihren pastellfarbigen Hüten und platzierten, um den Schein zu wahren, Wetten auf die Rennen. Und warteten. Einfach armselig, wie tief sie gesunken waren.
Ein Rennen endete gerade und über Lautsprecher wurden die Sieger und die vorläufigen Quoten für das nächste Rennen bekannt gegeben. Ringsum begannen unterschiedslos gut betuchte wie etwas heruntergekommene Wetter zu jubeln; andere sackten in ihren Sitzen zusammen.
Und ein Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit weißblondem Pferdeschwanz, braunem Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille mit dicken Gläsern kam langsam die Aluminiumstufen zu den Ältesten herauf.
Sophia versteifte sich. Was wollte sie hier? Es war unmöglich zu erkennen, wohin das Mädchen blickte, und Sophia gab sich alle Mühe, es nicht anzustarren. Obwohl das eigentlich egal war; das Mädchen würde sie ohnehin nicht sehen können. Es war blind. Aber trotzdem ...
Die Outcast nickte Sophia einmal zu. Oh ja - diese Narren konnten das Brennen einer Seele sehen. Auch wenn sie nur schwach war, musste Sophias Lebenskraft sichtbar sein.
Das Mädchen nahm in der leeren Reihe vor den Ältesten Platz, wandte sich der Rennbahn zu und spielte mit einem Fünfdollarwettschein, den ihre blinden Augen nicht lesen konnten. »Hallo.« Die Stimme der Outcast war monoton. Sie drehte sich nicht um.
»Ich weiß wirklich nicht, warum du hier bist«, sagte Miss Sophia. Es war ein feuchter Novembertag in Kentucky, aber auf ihrer Stirn stand eine dünne Schicht Schweiß. »Unsere Zusammenarbeit ist zu Ende, seit deine Leute es nicht geschafft haben, das Mädchen zurückzuholen. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, ganz gleich, was dieser Phillip, oder wie er sich nennt, noch an Gefasel von sich geben wird.« Sophia beugte sich vor, dichter an das Mädchen heran, und rümpfte die Nase. »Alle wissen, dass man den Outcasts nicht trauen kann ...«
»Wir sind nicht euretwegen hier«, erwiderte die Outcast und starrte geradeaus. »Ihr wart nur ein Mittel für uns, um näher an Lucinda heranzukommen. Wir haben nach wie vor kein Interesse daran, mit euch ›zusammenzuarbeiten‹.«
»Auf eure Organisation gibt heute keiner mehr auch nur einen Pfifferling.« Schritte auf der Tribüne.
Der Junge war hochgewachsen und schlank, mit rasiertem Kopf und einem ähnlichen Trenchcoat, wie das Mädchen ihn trug. Seine Sonnenbrille war von der billigen Sorte, Plastik, wie man sie in jedem Drugstore kaufen konnte.
Phillip ließ sich direkt neben Lyrica Crisp auf die Bank fallen. Wie das Mädchen wandte er sich ihnen nicht zu, als er das Wort ergriff.
»Es überrascht mich nicht, dich hier anzutreffen, Sophia.« Er schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase herunter und enthüllte zwei leere weiße Augen. »Aber es enttäuscht mich, dass du es nicht fertiggebracht hast, mir von deiner Einladung zu erzählen.«
Lyrica schnappte angesichts der schrecklichen weißen Flächen hinter seinen Brillengläsern nach Luft. Selbst Vivina verlor ihre kühle Fassung und prallte zurück. Sophia kochte innerlich. Die Outcast hielt ihnen zwischen ausgestreckten Fingern eine goldene Karte hin - die gleiche Einladung, die Sophia erhalten hatte. »Wir haben das hier bekommen.« Nur, dass diese Karte so aussah, als sei sie in Blindenschrift geschrieben worden. Sophia griff danach, um sich davon zu überzeugen, aber mit einer schnellen Bewegung verschwand die Einladung wieder im Trenchcoat des Mädchens. »Hört mal, ihr kleinen Würstchen. Ich habe eure Sternenpfeile mit dem Emblem der Ältesten gezeichnet. Ihr arbeitet für mich ...«
»Richtigstellung«, unterbrach Phillip sie. »Die Outcasts arbeiten für niemanden außer für sich selbst.«
Sophia beobachtete, wie er leicht den Hals reckte und so tat, als verfolge er ein Pferd auf der Bahn. Es war ihr immer unheimlich gewesen, wie sie den Eindruck erweckten, sehen zu können. Obwohl doch jeder wusste, dass er sie hatte erblinden lassen. Mit einem Fingerschnippen.
»Schöne Arbeit, die ihr da geleistet habt. Ihr habt es voll vermasselt.« Sophias Stimme schwoll stärker an, als ihr lieb war, und sie zog die Blicke eines älteren Ehepaares auf sich, das sich gerade einen Platz auf der Tribüne suchte. »Wir hätten zusammenarbeiten sollen«, zischte sie, »um sie zur Strecke zu bringen, und - und ihr habt versagt.« »Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.« »Wie bitte?«
»Sie hätte sich so oder so in der Zeit verloren. Das war immer ihre Bestimmung. Und die Ältesten würden sich auch dann an einen Strohhalm geklammert haben. Denn so ist es euch bestimmt.«
Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihn würgen, bis ihm die großen weißen Augen aus dem Kopf traten. Ihr Dolch fühlte sich an, als brenne er ein Loch durch die Kalbslederhandtasche auf ihrem Schoß. Wenn es doch nur ein Sternenpfeil gewesen wäre. Sophia sprang auf, als hinter ihnen eine Stimme erklang. »Bitte setzt euch«, donnerte die Stimme. »Die Versammlung ist eröffnet.«
Die Stimme. Sie wusste sofort, wem sie gehörte. Ruhig und autoritär. Absolut demütigend. Sie ließ die Tribünen erbeben.
Die Sterblichen in ihrer Nähe bemerkten nichts, aber eine Hitzewelle kroch Sophias Nacken hinauf. Sie kroch durch ihren Körper und machte sie benommen. Es war keine gewöhnliche Furcht. Es war lähmende, übelkeiterregende Panik. Wagte sie es, sich umzudrehen?
Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihr einen Mann in maßgeschneidertem schwarzem Anzug. Dunkles, kurz geschnittenes Haar, das größtenteils unter einem schwarzen Hut steckte. Das Gesicht, freundlich und attraktiv, war nicht besonders einprägsam. Glatt rasiert, mit einer geraden Nase und braunen Augen, die ihr vertraut vorkamen. Obwohl Miss Sophia ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und trotzdem wusste sie sofort, wer er war, als hätte sie ihn schon immer gekannt. »Wo ist Cam?«, fragte die Stimme hinter ihnen. »Er hat eine Einladung bekommen.«
»Steckt vermutlich in irgendeinem Verkünder und spielt Gott. Wie die Übrigen«, platzte Lyrica heraus und handelte sich damit einen Schlag von Sophia ein. »Er spielt Gott, hast du gesagt?«
Sophia suchte nach den Worten, die eine solche Entgleisung wiedergutmachen konnten. »Einige der anderen sind Lucinda in die Vergangenheit gefolgt«, sagte sie schließlich. »Darunter zwei Nephilim. Wir wissen nicht genau, wie viele sonst noch.«
»Darf ich fragen« - die Stimme klang plötzlich eiskalt -, »warum niemand von euch ihr gefolgt ist?«
Sophia hatte Mühe zu schlucken und zu atmen. Ihre intuitivsten Bewegungen wurden durch Panik gelähmt. »Wir können nicht direkt, nun ... wir haben noch nicht die Fähigkeiten ...«
Die Outcast fiel ihr ins Wort. »Die Outcasts sind gerade dabei ...«
»Ruhe«, befahl die Stimme. »Erspart mir eure Ausreden. Sie spielen keine Rolle mehr, gerade so wie ihr keine Rolle mehr spielt.« Lange Zeit waren alle still. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wie man ihn zufriedenstellen konnte. Als er endlich weitersprach, war seine Stimme leiser, aber nicht weniger einschüchternd. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann nichts mehr dem Zufall überlassen.«
Eine Pause. Dann fuhr er leise fort: »Es ist an der Zeit, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme.«
Sophia konnte ein Aufkeuchen gerade noch unterdrücken und ihr Entsetzen verbergen. Aber ihr Zittern konnte sie nicht beherrschen. Er nahm die Dinge selbst in die Hand? Das war wahrhaftig die denkbar beängstigendste Aussicht. Unvorstellbar, mit ihm zu arbeiten, um ...
»Ihr werdet euch heraushalten«, sagte er. »Das ist alles.«
»Aber ...« Es war ein Versehen, doch schon hatte Sophia das Wort über die Lippen gebracht. Sie konnte es nicht zurücknehmen. Doch all ihre Jahrzehnte harter Arbeit. All ihre Pläne. Ihre Pläne! Es folgte ein langgezogenes, erderschütterndes Brüllen.
Es ließ die Tribünen erzittern und schien sich im Bruchteil einer Sekunde über die ganze Rennbahn zu verbreiten. Sophia wand sich. Das Brüllen schien sie zu durchdringen und sie im tiefsten Kern ihres Wesens zu erschüttern. Es war, als würde ihr das Herz in Stücke gerissen. Lyrica und Vivina drückten sich an sie, die Augen fest zugepresst. Selbst die Outcasts zitterten.
Sophia dachte schon, das Brüllen würde niemals verebben und bald ihr Tod sein, als es einer so absoluten Stille wich, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Einen Augenblick lang. Zeit genug, um sich umzuschauen und festzustellen, dass die anderen Rennbahnbesucher nicht das Geringste gehört hatten. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Zeit bei dieser Mission ist abgelaufen. Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen.«
Unten fiel ein weiterer Schuss. Abermals öffnete sich schlagartig die Reihe der Startboxen. Nur dass diesmal das Hämmern der Hufe auf der Bahn kaum zu hören war. Wie ein sanfter Regen auf einem Baldachin aus Baumkronen.
Noch bevor die Rennpferde die Startlinie überquert hatten, war die Gestalt hinter ihnen verschwunden. Zurück blieben nur kohlschwarze Hufabdrücke, die sich in die Bretter der Haupttribüne eingebrannt hatten.
Eins
Unter Feuer
Moskau, 15. Oktober 1941
Lucinda! Die Stimmen erreichten sie in der unergründlichen Dunkelheit. Komm zurück!
Warte! Sie kümmerte sich nicht darum und drängte weiter. Die schattenartigen Wände des Verkünders warfen Echos ihres Namens zurück, die ihr wie Hitzezungen über die Haut leckten. War das Daniels Stimme oder Cams? Arrianes oder Gabbes? Flehte Roland sie an, sofort zurückzukommen, oder Miles?
Die Rufe ließen sich immer schwerer unterscheiden, bis Luce sie überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte: Gut und Böse. Feind und Freund. Sie hätten klarer zu trennen sein sollen, aber nichts war länger klar. Alles, was einst schwarz und weiß gewesen war, verschmolz jetzt zu Grau. Natürlich waren sich beide Seiten in einem Punkt einig: Alle wollten sie aus dem Verkünder holen. Zu ihrem Schutz, würden sie behaupten. Nein danke. Nicht jetzt.
Nicht nachdem sie den Garten ihrer Eltern verwüstet, ihn zu einem weiteren ihrer staubigen Schlachtfelder gemacht hatten. Wenn sie allerdings an ihre Eltern dachte, verspürte sie durchaus den Wunsch umzukehren - nur dass sie keine Ahnung hatte, wie man in einem Verkünder kehrtmachte.
Eine Umkehr kam ohnehin nicht infrage. Cam hatte versucht, sie zu töten. Er hatte zwar nur auf ein Abbild von ihr gezielt, aber das hatte er nicht gewusst. Und Miles hatte sie gerettet, aber das machte es nicht einfacher. Er hatte nur deshalb dieses Abbild vor ihr projizieren können, weil ihm zu viel an ihr lag.
Und Daniel? Lag ihm genug an ihr? Sie wusste es nicht. Und zum Schluss, als sie sich den Outcasts ergeben hatte, hatten Daniel und die anderen Luce angestarrt, als sei sie diejenige, die ihnen etwas schuldig war.
Du bist unsere Eintrittskarte in den Himmel, hatte der Outcast ihr erklärt. Der Preis. Was hatte das zu bedeuten? Bis vor zwei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Outcasts existierten. Und doch wollten sie etwas von ihr - so sehr, dass sie sogar gegen Daniel gekämpft hatten. Es musste etwas mit dem Fluch zu tun haben, dem Fluch, der dafür sorgte, dass Luce Leben um Leben wiedergeboren wurde. Und was erwarteten sie eigentlich von ihr? Was sollte sie für die Outcasts tun? Lag die Antwort irgendwo auf ihrem Weg?
Ihr Magen schlingerte, als sie - tief im Schlund des dunklen Verkünders aller Wahrnehmung beraubt - durch den kalten Schatten taumelte.
Luce ...
Die Stimmen verblassten und wurden leiser. Schon bald waren sie kaum mehr als ein Flüstern. Beinah so, als hätten sie aufgegeben. Bis ...
... sie wieder lauter wurden. Lauter und deutlicher.
Luce ... Nein. Sie presste die Augen fest zusammen in dem verzweifelten Versuch, sie auszublenden.
Lucinda ...
Lucy ...
Lucia ...
Luschka ...
Sie fror und sie war müde und sie wollte nichts mehr hören. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden.
Luschka! Luschka! Luschka!
Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf. Auf etwas sehr, sehr Kaltes. Sie stand auf festem Grund, aber sie sah immer noch nichts vor sich außer einem Vorhang aus Schwärze. Dann blickte sie auf ihre Converse-Sneakers hinab. Und schluckte. Sie stand in dickem Schnee, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die feuchte Kühle, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte - der schattenumwallte Tunnel, durch den sie aus ihrem Garten in die Vergangenheit gelangt war -, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Einen Ort, an dem es stürmte und der eiskalt war.
Bei Luce' erster Reise durch einen Verkünder - von ihrem Wohnheimzimmer in Shoreline nach Las Vegas - hatten ihre Freunde Shelby und Miles sie begleitet. Am Ende waren sie auf ein Hindernis gestoßen, einen dunklen, schattenhaften Vorhang zwischen ihnen und der Stadt. Weil Miles als Einziger etwas darüber gelesen hatte, wie man einen Verkünder für diesen Zweck benutzte, hatte er auch als Einziger gewusst, was zu tun war, und den Verkünder mit kreisförmigen Bewegungen abgewischt, bis die trüben schwarzen Schatten abgeblättert waren. Erst jetzt wurde Luce klar, dass er einfach eine Störung beseitigt hatte.
Diesmal gab es kein Hindernis. Vielleicht weil sie allein reiste, durch einen Verkünder, den sie mit ihrer eigenen Willenskraft heraufbeschworen hatte. Und sie konnte ihn ohne Weiteres verlassen. Beinahe zu leicht. Der Schleier aus Schwärze teilte sich einfach.
Ein eisiger Windstoß ließ sie zusammenfahren. Sie presste vor Kälte die Knie zusammen, ihre Brust wurde klamm und ihr tränten die Augen von der scharfen Bö.
Wo war sie? Luce bedauerte ihren panischen Sprung durch die Zeit bereits. Ja, sie hatte entkommen müssen, und ja, sie wollte ihre Vergangenheit zurückverfolgen, um ihre früheren Ichs vor all dem Schmerz zu bewahren, um zu verstehen, was für eine Art Liebe sie bei all diesen anderen Malen mit Daniel verbunden hatte. Um sie zu fühlen, statt nur davon erzählt zu bekommen. Um zu verstehen - und dann in Ordnung zu bringen -, was immer das für ein Fluch war, mit dem sie und Daniel belegt worden waren. Aber nicht so. Verfroren, allein und vollkommen unvorbereitet auf den Ort und den Zeitpunkt, die sie jetzt zufällig erreicht hatte.
Vor sich sah sie eine verschneite Straße mit weißen Häusern und darüber einen stahlgrauen Himmel. In der Ferne rumpelte oder grollte etwas. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte. »Warte«, flüsterte sie dem Verkünder zu.
Der vage Schatten waberte etwa einen halben Meter vor ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, ihn zu fassen, aber der Verkünder wich ihr aus und entfernte sich weiter. Sie sprang ihm nach und erwischte ein winziges, feuchtes Stückchen ...
Aber im nächsten Augenblick löste sich auch das in weiche schwarze Partikel auf, die in den Schnee rieselten, verblassten und im Nu verschwunden waren.
»Toll«, murmelte sie. »Und was jetzt?« In der Ferne wand die schmale Straße sich nach links und führte auf eine düstere Kreuzung. Auf den Gehwegen türmte sich der beiseitegeschaufelte Schnee entlang der geschlossenen Häuserreihe aus weißem Stein. Die Bauten waren beeindruckend und anders als alles, was Luce je gesehen hatte. Sie waren mehrere Stockwerke hoch und ihre Fassaden bestanden aus Reihen leuchtend weißer Bögen und kunstvoller Säulen.
Alle Fenster waren dunkel. Die ganze Stadt schien im Dunkeln zu liegen. Lediglich eine vereinzelte Gaslaterne spendete spärliches Licht. Falls der Mond irgendwo am Himmel stand, dann hinter einer dichten Wolkendecke. Wieder grollte etwas in der Ferne. Donner? Luce schlang sich die Arme um den Leib. Sie fror. »Luschka!«
Eine Frauenstimme. Heiser und schnarrend, wie die Stimme einer Person, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, Befehle zu blaffen. Aber die Stimme zitterte auch.
»Luschka, du Idiot. Wo bist du?«
Sie klang jetzt näher. Sprach sie mit Luce? Da war noch etwas anderes an dieser Stimme, etwas Seltsames, das Luce nicht ganz fassen konnte. Dann kam eine Gestalt um die verschneite Straßenecke gehumpelt. Luce starrte die Frau an und versuchte, sie irgendwo einzuordnen. Sie war sehr klein und ging ein wenig vornübergebeugt. Vielleicht Ende sechzig. Ihre bauschigen Kleider schienen ihr viel zu groß zu sein. Das Haar hatte sie unter einem dicken schwarzen Schal verborgen. Als sie Luce sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse. »Wo warst du?«
Luce schaute sich um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße. Die alte Frau sprach mit ihr.
»Genau hier«, hörte sie sich sagen. Auf Russisch.
Übersetzung: Amerikanischen von Michaela Link
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München
Der Außenseiter
Louisville, Kentucky, 27. November 2009
Ein Schuss krachte. Mit einem einzigen Knall öffnete sich die breite Front der Startboxen. Das Stampfen der Pferdehufe hallte über die Rennbahn wie fernes Donnergrollen. »Sie sind gestartet ...« Sophia Bliss schob die mehr als halbmeterbreite Krempe ihres Federhutes zurecht. Er war blass malvenfarben und ein Chiffonschleier hing davon herab. Mit diesem Hut ging sie locker als regelmäßige Rennbahnbesucherin durch, aber er war nicht so auffällig, dass sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.
Sie hatten ihre drei Hüte für diesen Renntag bei einer Modistin in Hilton Head als Sonderanfertigungen in Auftrag gegeben. Der zweite - ein buttergelbes Häubchen - bedeckte den schneeweißen Kopf von Lyrica Crisp, die links neben Miss Sophia saß und sich an einem Cornedbeef- Sandwich gütlich tat. Und der letzte, ein gischtgrüner Filzhut mit breitem, grob gepunktetem Seidenband, krönte die pechschwarze Mähne von Vivina Sole. Sie saß zu Miss Sophias Rechten und hatte die weiß behandschuhten Hände auf dem Schoß gefaltet, als könne sie kein Wässerchen trüben. »Was für ein herrlicher Tag für ein Rennen«, bemerkte Lyrica. Mit ihren einhundertsechsunddreißig Jahren war sie die jüngste der Ältesten der Zhsmaelim. Sie wischte sich einen Senfklecks aus dem Mundwinkel. »Könnt ihr glauben, dass ich heute zum ersten Mal auf einer Rennbahn bin?«
»Scht«, zischte Sophia. Lyrica war dermaßen unbedarft. Heute ging es überhaupt nicht um Pferde, sondern um ein heimliches Zusammentreffen großer Geister. Auch wenn die anderen großen Geister noch nicht aufgetaucht waren. Sie würden schon noch kommen. Der absolut neutrale Treffpunkt war Sophia in der mit Goldlettern geprägten Einladung mitgeteilt worden, die sie von einem unbekannten Absender erhalten hatte. Die anderen würden kommen und sich offenbaren und gemeinsam würden sie einen Angriffsplan schmieden. Jeden Augenblick musste es so weit sein. Hoffte sie.
»Ein schöner Tag für einen schönen Sport«, sagte Vivina trocken. »Ein Jammer, dass unser Pferdchen in diesem Rennen nicht in so leicht berechenbaren Bahnen läuft wie diese Jungstuten hier. Nicht wahr, Sophia? Wer würde schon darauf wetten, wo das Vollblut Lucinda über die Ziellinie geht.«
»Ich sagte Scht«, flüsterte Sophia. »Hüte deine vorlaute Zunge. Hier sind überall Spione.«
»Du bist paranoid«, gab Vivina zurück, was Lyrica ein hohes Kichern entlockte.
»Ich bin die, die übrig geblieben ist«, sagte Sophia. Es hatte früher so viele weitere gegeben - vierundzwanzig Älteste zur Blütezeit der Zhsmaelim. Eine Gruppe von Sterblichen, Unsterblichen und einigen Transhimmlischen wie Sophia selbst. Eine Achse des Wissens, der Leidenschaft und des Glaubens, mit einem einzigen einenden Ziel: Die Welt in ihren Zustand vor dem Höllensturz zurückzuführen, zu diesem flüchtigen, herrlichen Augenblick vor dem Sturz der Engel. Auf Gedeih und Verderb. So stand es glasklar in dem Kodex, den sie gemeinsam verfasst und den sie alle unterzeichnet hatten: Auf Gedeih und Verderb.
Denn es konnte tatsächlich so oder so ausgehen. Jede Münze hatte ihre zwei Seiten. Kopf und Zahl. Hell und dunkel. Gut und ... Es war wohl kaum Sophias Schuld, dass die anderen Ältesten sich nicht auf beide Möglichkeiten vorbereitet hatten. Aber sie hatte die Vorwürfe über sich ergehen lassen müssen, als einer nach dem anderen seinen Rückzug kundgetan hatte. Eure Ziele werden zu dunkel. Oder: Das Niveau der Organisation ist gesunken. Oder: Die Ältesten sind zu weit von ihrem ursprünglichen Kodex abgewichen. Der erste Schwung von Briefen war, wie vorauszusehen, innerhalb einer Woche nach dem Zwischenfall mit dieser Pennyweather eingetroffen. Das sei für sie absolut unerträglich, hatten sie behauptet. Der Tod eines einzigen bedeutungslosen Kindes! Ein einziger unbedachter Augenblick mit einem Dolch, und plötzlich bekamen die Ältesten es mit der Angst. Sie alle fürchteten den Zorn der Waage. Feiglinge.
Sophia fürchtete die Waage nicht. Ihre Aufgabe war es, den Gefallenen, nicht den Gerechten beizustehen. Niederen Engeln wie Roland Sparks und Arriane Alter. Solange man dem Himmel nicht abtrünnig wurde, hatte man ein wenig Spielraum. Verzweifelte Zeiten schrien förmlich nach verzweifelten Maßnahmen. Sophia wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als sie die hasenfüßigen Ausflüchte der anderen Ältesten gelesen hatte. Jeder Versuch, diese Feiglinge zurückzugewinnen, war aussichtslos - und Sophia wollte sie auch nicht wieder dabeihaben. Und so war Sophia Bliss - die Schulbibliothekarin, die im Vorstand der Zhsmaelim immer nur als Sekretärin gedient hatte - jetzt die ranghöchste Vertreterin der Ältesten. Von denen es nur noch zwölf gab, und neun davon konnte man nicht trauen.
Also waren nur sie drei heute hier mit ihren pastellfarbigen Hüten und platzierten, um den Schein zu wahren, Wetten auf die Rennen. Und warteten. Einfach armselig, wie tief sie gesunken waren.
Ein Rennen endete gerade und über Lautsprecher wurden die Sieger und die vorläufigen Quoten für das nächste Rennen bekannt gegeben. Ringsum begannen unterschiedslos gut betuchte wie etwas heruntergekommene Wetter zu jubeln; andere sackten in ihren Sitzen zusammen.
Und ein Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit weißblondem Pferdeschwanz, braunem Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille mit dicken Gläsern kam langsam die Aluminiumstufen zu den Ältesten herauf.
Sophia versteifte sich. Was wollte sie hier? Es war unmöglich zu erkennen, wohin das Mädchen blickte, und Sophia gab sich alle Mühe, es nicht anzustarren. Obwohl das eigentlich egal war; das Mädchen würde sie ohnehin nicht sehen können. Es war blind. Aber trotzdem ...
Die Outcast nickte Sophia einmal zu. Oh ja - diese Narren konnten das Brennen einer Seele sehen. Auch wenn sie nur schwach war, musste Sophias Lebenskraft sichtbar sein.
Das Mädchen nahm in der leeren Reihe vor den Ältesten Platz, wandte sich der Rennbahn zu und spielte mit einem Fünfdollarwettschein, den ihre blinden Augen nicht lesen konnten. »Hallo.« Die Stimme der Outcast war monoton. Sie drehte sich nicht um.
»Ich weiß wirklich nicht, warum du hier bist«, sagte Miss Sophia. Es war ein feuchter Novembertag in Kentucky, aber auf ihrer Stirn stand eine dünne Schicht Schweiß. »Unsere Zusammenarbeit ist zu Ende, seit deine Leute es nicht geschafft haben, das Mädchen zurückzuholen. Und das wird sich auch nicht mehr ändern, ganz gleich, was dieser Phillip, oder wie er sich nennt, noch an Gefasel von sich geben wird.« Sophia beugte sich vor, dichter an das Mädchen heran, und rümpfte die Nase. »Alle wissen, dass man den Outcasts nicht trauen kann ...«
»Wir sind nicht euretwegen hier«, erwiderte die Outcast und starrte geradeaus. »Ihr wart nur ein Mittel für uns, um näher an Lucinda heranzukommen. Wir haben nach wie vor kein Interesse daran, mit euch ›zusammenzuarbeiten‹.«
»Auf eure Organisation gibt heute keiner mehr auch nur einen Pfifferling.« Schritte auf der Tribüne.
Der Junge war hochgewachsen und schlank, mit rasiertem Kopf und einem ähnlichen Trenchcoat, wie das Mädchen ihn trug. Seine Sonnenbrille war von der billigen Sorte, Plastik, wie man sie in jedem Drugstore kaufen konnte.
Phillip ließ sich direkt neben Lyrica Crisp auf die Bank fallen. Wie das Mädchen wandte er sich ihnen nicht zu, als er das Wort ergriff.
»Es überrascht mich nicht, dich hier anzutreffen, Sophia.« Er schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase herunter und enthüllte zwei leere weiße Augen. »Aber es enttäuscht mich, dass du es nicht fertiggebracht hast, mir von deiner Einladung zu erzählen.«
Lyrica schnappte angesichts der schrecklichen weißen Flächen hinter seinen Brillengläsern nach Luft. Selbst Vivina verlor ihre kühle Fassung und prallte zurück. Sophia kochte innerlich. Die Outcast hielt ihnen zwischen ausgestreckten Fingern eine goldene Karte hin - die gleiche Einladung, die Sophia erhalten hatte. »Wir haben das hier bekommen.« Nur, dass diese Karte so aussah, als sei sie in Blindenschrift geschrieben worden. Sophia griff danach, um sich davon zu überzeugen, aber mit einer schnellen Bewegung verschwand die Einladung wieder im Trenchcoat des Mädchens. »Hört mal, ihr kleinen Würstchen. Ich habe eure Sternenpfeile mit dem Emblem der Ältesten gezeichnet. Ihr arbeitet für mich ...«
»Richtigstellung«, unterbrach Phillip sie. »Die Outcasts arbeiten für niemanden außer für sich selbst.«
Sophia beobachtete, wie er leicht den Hals reckte und so tat, als verfolge er ein Pferd auf der Bahn. Es war ihr immer unheimlich gewesen, wie sie den Eindruck erweckten, sehen zu können. Obwohl doch jeder wusste, dass er sie hatte erblinden lassen. Mit einem Fingerschnippen.
»Schöne Arbeit, die ihr da geleistet habt. Ihr habt es voll vermasselt.« Sophias Stimme schwoll stärker an, als ihr lieb war, und sie zog die Blicke eines älteren Ehepaares auf sich, das sich gerade einen Platz auf der Tribüne suchte. »Wir hätten zusammenarbeiten sollen«, zischte sie, »um sie zur Strecke zu bringen, und - und ihr habt versagt.« »Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.« »Wie bitte?«
»Sie hätte sich so oder so in der Zeit verloren. Das war immer ihre Bestimmung. Und die Ältesten würden sich auch dann an einen Strohhalm geklammert haben. Denn so ist es euch bestimmt.«
Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihn würgen, bis ihm die großen weißen Augen aus dem Kopf traten. Ihr Dolch fühlte sich an, als brenne er ein Loch durch die Kalbslederhandtasche auf ihrem Schoß. Wenn es doch nur ein Sternenpfeil gewesen wäre. Sophia sprang auf, als hinter ihnen eine Stimme erklang. »Bitte setzt euch«, donnerte die Stimme. »Die Versammlung ist eröffnet.«
Die Stimme. Sie wusste sofort, wem sie gehörte. Ruhig und autoritär. Absolut demütigend. Sie ließ die Tribünen erbeben.
Die Sterblichen in ihrer Nähe bemerkten nichts, aber eine Hitzewelle kroch Sophias Nacken hinauf. Sie kroch durch ihren Körper und machte sie benommen. Es war keine gewöhnliche Furcht. Es war lähmende, übelkeiterregende Panik. Wagte sie es, sich umzudrehen?
Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihr einen Mann in maßgeschneidertem schwarzem Anzug. Dunkles, kurz geschnittenes Haar, das größtenteils unter einem schwarzen Hut steckte. Das Gesicht, freundlich und attraktiv, war nicht besonders einprägsam. Glatt rasiert, mit einer geraden Nase und braunen Augen, die ihr vertraut vorkamen. Obwohl Miss Sophia ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und trotzdem wusste sie sofort, wer er war, als hätte sie ihn schon immer gekannt. »Wo ist Cam?«, fragte die Stimme hinter ihnen. »Er hat eine Einladung bekommen.«
»Steckt vermutlich in irgendeinem Verkünder und spielt Gott. Wie die Übrigen«, platzte Lyrica heraus und handelte sich damit einen Schlag von Sophia ein. »Er spielt Gott, hast du gesagt?«
Sophia suchte nach den Worten, die eine solche Entgleisung wiedergutmachen konnten. »Einige der anderen sind Lucinda in die Vergangenheit gefolgt«, sagte sie schließlich. »Darunter zwei Nephilim. Wir wissen nicht genau, wie viele sonst noch.«
»Darf ich fragen« - die Stimme klang plötzlich eiskalt -, »warum niemand von euch ihr gefolgt ist?«
Sophia hatte Mühe zu schlucken und zu atmen. Ihre intuitivsten Bewegungen wurden durch Panik gelähmt. »Wir können nicht direkt, nun ... wir haben noch nicht die Fähigkeiten ...«
Die Outcast fiel ihr ins Wort. »Die Outcasts sind gerade dabei ...«
»Ruhe«, befahl die Stimme. »Erspart mir eure Ausreden. Sie spielen keine Rolle mehr, gerade so wie ihr keine Rolle mehr spielt.« Lange Zeit waren alle still. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wie man ihn zufriedenstellen konnte. Als er endlich weitersprach, war seine Stimme leiser, aber nicht weniger einschüchternd. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann nichts mehr dem Zufall überlassen.«
Eine Pause. Dann fuhr er leise fort: »Es ist an der Zeit, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme.«
Sophia konnte ein Aufkeuchen gerade noch unterdrücken und ihr Entsetzen verbergen. Aber ihr Zittern konnte sie nicht beherrschen. Er nahm die Dinge selbst in die Hand? Das war wahrhaftig die denkbar beängstigendste Aussicht. Unvorstellbar, mit ihm zu arbeiten, um ...
»Ihr werdet euch heraushalten«, sagte er. »Das ist alles.«
»Aber ...« Es war ein Versehen, doch schon hatte Sophia das Wort über die Lippen gebracht. Sie konnte es nicht zurücknehmen. Doch all ihre Jahrzehnte harter Arbeit. All ihre Pläne. Ihre Pläne! Es folgte ein langgezogenes, erderschütterndes Brüllen.
Es ließ die Tribünen erzittern und schien sich im Bruchteil einer Sekunde über die ganze Rennbahn zu verbreiten. Sophia wand sich. Das Brüllen schien sie zu durchdringen und sie im tiefsten Kern ihres Wesens zu erschüttern. Es war, als würde ihr das Herz in Stücke gerissen. Lyrica und Vivina drückten sich an sie, die Augen fest zugepresst. Selbst die Outcasts zitterten.
Sophia dachte schon, das Brüllen würde niemals verebben und bald ihr Tod sein, als es einer so absoluten Stille wich, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Einen Augenblick lang. Zeit genug, um sich umzuschauen und festzustellen, dass die anderen Rennbahnbesucher nicht das Geringste gehört hatten. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Zeit bei dieser Mission ist abgelaufen. Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen.«
Unten fiel ein weiterer Schuss. Abermals öffnete sich schlagartig die Reihe der Startboxen. Nur dass diesmal das Hämmern der Hufe auf der Bahn kaum zu hören war. Wie ein sanfter Regen auf einem Baldachin aus Baumkronen.
Noch bevor die Rennpferde die Startlinie überquert hatten, war die Gestalt hinter ihnen verschwunden. Zurück blieben nur kohlschwarze Hufabdrücke, die sich in die Bretter der Haupttribüne eingebrannt hatten.
Eins
Unter Feuer
Moskau, 15. Oktober 1941
Lucinda! Die Stimmen erreichten sie in der unergründlichen Dunkelheit. Komm zurück!
Warte! Sie kümmerte sich nicht darum und drängte weiter. Die schattenartigen Wände des Verkünders warfen Echos ihres Namens zurück, die ihr wie Hitzezungen über die Haut leckten. War das Daniels Stimme oder Cams? Arrianes oder Gabbes? Flehte Roland sie an, sofort zurückzukommen, oder Miles?
Die Rufe ließen sich immer schwerer unterscheiden, bis Luce sie überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte: Gut und Böse. Feind und Freund. Sie hätten klarer zu trennen sein sollen, aber nichts war länger klar. Alles, was einst schwarz und weiß gewesen war, verschmolz jetzt zu Grau. Natürlich waren sich beide Seiten in einem Punkt einig: Alle wollten sie aus dem Verkünder holen. Zu ihrem Schutz, würden sie behaupten. Nein danke. Nicht jetzt.
Nicht nachdem sie den Garten ihrer Eltern verwüstet, ihn zu einem weiteren ihrer staubigen Schlachtfelder gemacht hatten. Wenn sie allerdings an ihre Eltern dachte, verspürte sie durchaus den Wunsch umzukehren - nur dass sie keine Ahnung hatte, wie man in einem Verkünder kehrtmachte.
Eine Umkehr kam ohnehin nicht infrage. Cam hatte versucht, sie zu töten. Er hatte zwar nur auf ein Abbild von ihr gezielt, aber das hatte er nicht gewusst. Und Miles hatte sie gerettet, aber das machte es nicht einfacher. Er hatte nur deshalb dieses Abbild vor ihr projizieren können, weil ihm zu viel an ihr lag.
Und Daniel? Lag ihm genug an ihr? Sie wusste es nicht. Und zum Schluss, als sie sich den Outcasts ergeben hatte, hatten Daniel und die anderen Luce angestarrt, als sei sie diejenige, die ihnen etwas schuldig war.
Du bist unsere Eintrittskarte in den Himmel, hatte der Outcast ihr erklärt. Der Preis. Was hatte das zu bedeuten? Bis vor zwei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Outcasts existierten. Und doch wollten sie etwas von ihr - so sehr, dass sie sogar gegen Daniel gekämpft hatten. Es musste etwas mit dem Fluch zu tun haben, dem Fluch, der dafür sorgte, dass Luce Leben um Leben wiedergeboren wurde. Und was erwarteten sie eigentlich von ihr? Was sollte sie für die Outcasts tun? Lag die Antwort irgendwo auf ihrem Weg?
Ihr Magen schlingerte, als sie - tief im Schlund des dunklen Verkünders aller Wahrnehmung beraubt - durch den kalten Schatten taumelte.
Luce ...
Die Stimmen verblassten und wurden leiser. Schon bald waren sie kaum mehr als ein Flüstern. Beinah so, als hätten sie aufgegeben. Bis ...
... sie wieder lauter wurden. Lauter und deutlicher.
Luce ... Nein. Sie presste die Augen fest zusammen in dem verzweifelten Versuch, sie auszublenden.
Lucinda ...
Lucy ...
Lucia ...
Luschka ...
Sie fror und sie war müde und sie wollte nichts mehr hören. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden.
Luschka! Luschka! Luschka!
Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf. Auf etwas sehr, sehr Kaltes. Sie stand auf festem Grund, aber sie sah immer noch nichts vor sich außer einem Vorhang aus Schwärze. Dann blickte sie auf ihre Converse-Sneakers hinab. Und schluckte. Sie stand in dickem Schnee, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die feuchte Kühle, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte - der schattenumwallte Tunnel, durch den sie aus ihrem Garten in die Vergangenheit gelangt war -, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Einen Ort, an dem es stürmte und der eiskalt war.
Bei Luce' erster Reise durch einen Verkünder - von ihrem Wohnheimzimmer in Shoreline nach Las Vegas - hatten ihre Freunde Shelby und Miles sie begleitet. Am Ende waren sie auf ein Hindernis gestoßen, einen dunklen, schattenhaften Vorhang zwischen ihnen und der Stadt. Weil Miles als Einziger etwas darüber gelesen hatte, wie man einen Verkünder für diesen Zweck benutzte, hatte er auch als Einziger gewusst, was zu tun war, und den Verkünder mit kreisförmigen Bewegungen abgewischt, bis die trüben schwarzen Schatten abgeblättert waren. Erst jetzt wurde Luce klar, dass er einfach eine Störung beseitigt hatte.
Diesmal gab es kein Hindernis. Vielleicht weil sie allein reiste, durch einen Verkünder, den sie mit ihrer eigenen Willenskraft heraufbeschworen hatte. Und sie konnte ihn ohne Weiteres verlassen. Beinahe zu leicht. Der Schleier aus Schwärze teilte sich einfach.
Ein eisiger Windstoß ließ sie zusammenfahren. Sie presste vor Kälte die Knie zusammen, ihre Brust wurde klamm und ihr tränten die Augen von der scharfen Bö.
Wo war sie? Luce bedauerte ihren panischen Sprung durch die Zeit bereits. Ja, sie hatte entkommen müssen, und ja, sie wollte ihre Vergangenheit zurückverfolgen, um ihre früheren Ichs vor all dem Schmerz zu bewahren, um zu verstehen, was für eine Art Liebe sie bei all diesen anderen Malen mit Daniel verbunden hatte. Um sie zu fühlen, statt nur davon erzählt zu bekommen. Um zu verstehen - und dann in Ordnung zu bringen -, was immer das für ein Fluch war, mit dem sie und Daniel belegt worden waren. Aber nicht so. Verfroren, allein und vollkommen unvorbereitet auf den Ort und den Zeitpunkt, die sie jetzt zufällig erreicht hatte.
Vor sich sah sie eine verschneite Straße mit weißen Häusern und darüber einen stahlgrauen Himmel. In der Ferne rumpelte oder grollte etwas. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte. »Warte«, flüsterte sie dem Verkünder zu.
Der vage Schatten waberte etwa einen halben Meter vor ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, ihn zu fassen, aber der Verkünder wich ihr aus und entfernte sich weiter. Sie sprang ihm nach und erwischte ein winziges, feuchtes Stückchen ...
Aber im nächsten Augenblick löste sich auch das in weiche schwarze Partikel auf, die in den Schnee rieselten, verblassten und im Nu verschwunden waren.
»Toll«, murmelte sie. »Und was jetzt?« In der Ferne wand die schmale Straße sich nach links und führte auf eine düstere Kreuzung. Auf den Gehwegen türmte sich der beiseitegeschaufelte Schnee entlang der geschlossenen Häuserreihe aus weißem Stein. Die Bauten waren beeindruckend und anders als alles, was Luce je gesehen hatte. Sie waren mehrere Stockwerke hoch und ihre Fassaden bestanden aus Reihen leuchtend weißer Bögen und kunstvoller Säulen.
Alle Fenster waren dunkel. Die ganze Stadt schien im Dunkeln zu liegen. Lediglich eine vereinzelte Gaslaterne spendete spärliches Licht. Falls der Mond irgendwo am Himmel stand, dann hinter einer dichten Wolkendecke. Wieder grollte etwas in der Ferne. Donner? Luce schlang sich die Arme um den Leib. Sie fror. »Luschka!«
Eine Frauenstimme. Heiser und schnarrend, wie die Stimme einer Person, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, Befehle zu blaffen. Aber die Stimme zitterte auch.
»Luschka, du Idiot. Wo bist du?«
Sie klang jetzt näher. Sprach sie mit Luce? Da war noch etwas anderes an dieser Stimme, etwas Seltsames, das Luce nicht ganz fassen konnte. Dann kam eine Gestalt um die verschneite Straßenecke gehumpelt. Luce starrte die Frau an und versuchte, sie irgendwo einzuordnen. Sie war sehr klein und ging ein wenig vornübergebeugt. Vielleicht Ende sechzig. Ihre bauschigen Kleider schienen ihr viel zu groß zu sein. Das Haar hatte sie unter einem dicken schwarzen Schal verborgen. Als sie Luce sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse. »Wo warst du?«
Luce schaute sich um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße. Die alte Frau sprach mit ihr.
»Genau hier«, hörte sie sich sagen. Auf Russisch.
Übersetzung: Amerikanischen von Michaela Link
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt, München
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Autoren-Porträt von Lauren Kate
Lauren Kate wuchs in Dallas auf, arbeitete einige Zeit in einem New Yorker Verlag und zog dann nach Kalifornien, wo sie "Creative Writing" studiert und parallel an ihrem ersten Jugendbuch arbeitete. "Engelsnacht" ist ihr erster Fantasyroman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lauren Kate
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2012, 410 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Link, Michaela
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570160793
- ISBN-13: 9783570160794
Rezension zu „Engelsflammen “
"Mir hat das Buch sehr gut gefallen, da es bis zum Ende spannend bleibt und auch einige romantische Stellen dabei sind." Frei Stunde (Straubinger Tagblatt)
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