Engel, Engel scharenweise
Würde der Stern von Bethlehem heute zum Satelliten erklärt? Was erzählen ausgemusterte Christbäume? Was macht ein Dinosaurier in der Krippe? Ist die Weihnachtsgeschichte ''politisch korrekt''?
Erzählungen von Hoffnungen...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Würde der Stern von Bethlehem heute zum Satelliten erklärt? Was erzählen ausgemusterte Christbäume? Was macht ein Dinosaurier in der Krippe? Ist die Weihnachtsgeschichte ''politisch korrekt''?
Erzählungen von Hoffnungen und Wünschen und der Suche nach den wahren Engeln.
Engel, Engel scharenweise von Walter Müller
LESEPROBE
Die Weihnachtswunderengel
Das Sonderangebot war verlockend, weiss der Teufel. SingendeEngel, lebensnahe, mit himmlischen Stimmen, süss und überirdisch, zu einemSpottpreis! »Greifen Sie zu, so lange der Vorrat reicht«, schrie eine schrilleMenschenstimme aus allen Lautsprecherboxen des Supermarktes.
Und sie griffen zu. Die Eggers, die Mittermeiers, die Frauvom Hofrat Hödelmoser. Alle griffen sie zu. Alle kauften sich dieses Wunderwerkder Technik - singende Engel, mit Himmelsstimmen. Dem Weihnachtsfest, das einbisschen schal und müde geworden war im Laufe der Jahre, sollte irgendwas vomalten Zauber zurückgeschenkt werden. Und sei es mit den Mitteln der modernstenTechnologie.
Hofrat Erwin Hödelmoser hatte den Wunderengel höchstpersönlichan den Baum gehängt. Seine Gattin hatte die riesige Tanne geschmückt, einenhalben Tag lang, mit Holzspielzeug und Glaskugeln, roten Äpfeln und Windbäckerei.Und kiloweise Lametta. Hofrat Hödelmoser liebte den Prunk an seinem Baum, wennes ein ordentlicher Prunk war. Mit durchgekämmtem Engelshaar und Lamettafäden,die nicht zerzaust waren, mit kerzengeraden Kerzen in frisch poliertenKerzenhaltern. Den Wunderengel hatte er eigenhändig in den Wipfel gehängt.
Die Mittermeiers hatten die Pfeifenbergers zum Weihnachtsmahlgeladen. Eine Pflichtübung. Letzten Heiligabend waren die Mittermeiers bei denPfeifenbergers zu Gast gewesen. Jetzt hatte Frau Mittermeier mächtigaufgekocht, man wollte sich keine Blösse geben. Schon gar nicht vor denPfeifenbergers.
Herr Egger hatte den Wunderengel mit der himmlischen Stimmeseinem Chef geschickt, in einem Weihnachtspäckchen, die Luxusausgabe mit derFernsteuerung. Da konnte man den Engel an jeder beliebigen Stelle, in jedembeliebigen Winkel der Wohnung oder des Gartens - denn auch im Freienfunktionierte das Zauberwerk der Technik - aktivieren.
Der Chef würde also auf die Fernbedienungstaste drücken, undder Engel würde mit seiner überirdisch klaren Engelsstimme »Stille Nacht«singen.
Und der Chef würde in Dankbarkeit und Ergriffenheit an ihn,an diesen »jawohl, durch und durch tüchtigen Herrn Egger« denken und ihm beimnächsten Ansuchen um Gehaltserhöhung mit offenen Armen und einem offenenHerzen begegnen. Musik hat schon viele Herzen aufgetan. Engelsmusik erst recht.
»Schämen Sie sich!«, schrie er ins Telefon, der Chef vonHerrn Egger.
»Von Ihnen hätte ich so etwas nicht erwartet!«
Herr Egger verstand die Welt nicht mehr. Was um Himmelswillen sollte an einem glockenhell singenden Weihnachtsengel schämenswert sein?
Den Pfeifenbergers knurrte schon kräftig der Magen. Siehatten sich durch ausgiebiges Fasten auf das Weihnachtsessen bei denMittermeiers vorbereitet. Die Mittermeier-Tochter stellte die Suppenterrine aufden Tisch. Der Pfeifenberger-Sohn schnalzte hörbar mit der Zunge und wolltesich schon auf die Schöpfkelle stürzen. Da gebot Herr Mittermeier Einhalt undstartete zur Feier des Tages den singenden Weihnachtsengel.
Andacht kehrte in die Mittermeier'sche Wohnküche ein. Oderhätte einkehren sollen. Aber der Engel, das Wunderwerk zum Spottpreis aus demSupermarkt, sang mit keiner Engelsstimme. Und nicht von der stillen, heiligenNacht. Aus dem Inneren seines zierlichen Porzellankörperchens dröhnte einordinärer Wirtshausbass los: »Jooo, mir san mi'm Raadl dooo«, grölte der Engel,und immer wieder diese Worte: »Jooo, mir san mi'm Raadl dooo!«
Hofrat Erwin Hödelmoser, der soeben an der Seidenschnur desWeihnachtswunderengels gezogen hatte, wechselte mehrmals und in kurzenAbständen die Gesichtsfarbe.
Dann schrie er »Sabotage! « und gab seinem Sohn Alex, demschwarzen Schaf der Familie, eine Ohrfeige. Denn es konnte nur Alex gewesensein. Es musste einfach Alex gewesen sein.
Obwohl es sich, wie sich am nächsten Tag herausstellte, umeinen simplen Fabrikationsfehler gehandelt hatte. Irgendwie, auf unerklärlichenWegen, war die Mikrochip-Tonzelle für das neue Fremdenverkehrs-Maskottchen,einen deftig drauflossingenden Radfahrer, in den Porzellankörper desWeihnachtsengels geraten.
Der Filialleiter des Supermarktes entschuldigte sich noch amFeiertag, völlig entnervt von den pausenlosen Beschwerdeanrufen, bei allenEngelkäufern. Die aufgebrachten Leute sollen sich, so sagt man, rasch beruhigthaben. Kein Einziger hat übrigens, wie man hört, seinen Wunderengelzurückgebracht und gegen einen richtigen, funktionierenden Engel eingetauscht.
Hofrat Hödelmoser hat sich bei seinem Sohn entschuldigt.Sie haben am zweiten Weihnachtsfeiertag eine Partie Schach miteinandergespielt, was auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen ist.
Der Chef hat Herrn Egger und dessen Frau höchstpersönlichzu Kaffee und Kuchen eingeladen, als kleine Entschuldigung für den Wutausbrucham Telefon, »wegen nichts und wieder nichts«, wie er sagte. Die Pfeifenbergersund die Mittermeiers, allesamt eingefleischte Radfahrer, wie sichherausstellte, hatten viel Spass in jener Heiligen Nacht. Im Sommer planen sieeine gemeinsame Radtour, ins Blaue oder so.
Der Verursacher dieser »Weihnachtsstörung«, die so viel Verwirrungund letztendlich so viel Versöhnlichkeit in die Menschheit gebracht hat, konnterasch ausfindig gemacht werden. Es soll sich um einen Fabriksarbeiter namensEngel gehandelt haben, der noch in derselben Nacht spurlos verschwunden ist,als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst ...
© 2002 Argon Verlag GmbH, Berlin
- Autor: Walter Müller
- 2011, 5. Aufl., 126 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596157501
- ISBN-13: 9783596157501
- Erscheinungsdatum: 20.10.2004
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Engel, Engel scharenweise".
Kommentar verfassen