Eine gebrochene Frau
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Eine gebrochene Frau von Simone de Beauvoir
LESEPROBE
Einegebrochene Frau
Montag, 13.September. In den Salinen Ein eigenartiges Landschaftsbild: diese Andeutungeiner verlassenen Stadt am Rande eines Dorfes und am Rande der Zeit. Ich binein Stück an dem Halbrund entlanggegangen, bin dann die Stufen zum Mittelpavillonhinaufgestiegen und habe nachdenklich die würdevoll schlichten Gebäudebetrachtet, die zu nützlichen Zwecken errichtet wurden und nie zu irgend etwasgedient haben. Sie sind fest gefügt, sie sind greifbar, und doch wirken sie inihrer Verlassenheit wie eine phantastische Vision, deren Bedeutung man nichtergründen kann. Das sonnenwarme Gras unter dem herbstlichen Himmel und der Geruchwelker Blätter sagte mir, dass ich mich noch in unserer Welt befand, aber ichwar um zweihundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Ich habemir ein paar Sachen aus dem Wagen geholt: eine Decke, die ich auf dem Bodenausbreitete, Kissen, den Transistorapparat; dann habe ich geraucht und Mozartgehört. Hinter zwei oder drei verstaubten Fenstern bewegten sich Schatten;sicherlich sind dort unten Büros. Einmal hielt ein Lastauto vor einem derschweren Tore, Männer gingen ins Haus und kamen mit Säcken zurück, die sie aufdie Ladefläche des Wagens packten. Sonst störte nichts die Stille diesesNachmittags. Als das Konzert aus war, habe ich gelesen. Doppeltes Entrücktsein:Ich wanderte sehr weit fort, am Ufer eines unbekannten Flusses entlang; ich sahauf und fand mich inmitten dieser Steine wieder, weit weg von meinem Leben.
Und wasmich am meisten erstaunt: dass ich hier bin, noch dazu in so froher Stimmung.Ich hatte mich sehr vor der einsamen Heimfahrt nach Paris gefürchtet. Bisherhaben mich, wenn Maurice nicht dabeisein konnte, die Kinder auf allen meinenReisen begleitet. Ich dachte, Colettes Begeisterungsausbrüche und Luciennesviele Fragen würden mir fehlen. Statt dessen durchströmt mich nun ein langvergessenes Gefühl der Freude. Meine Freiheit verjüngt mich um zwanzig Jahre,und so habe ich denn das Buch zugeklappt und angefangen zu schreiben. Nur fürmich selbst, wie ich es als Zwanzigjährige tat.
DerAbschied von Maurice fällt mir immer schwer. Dieser Kongress dauert nur eineWoche, und doch war mir auf der Fahrt von Mougins nach Nizza, zum Flughafensehr beklommen zumute. Auch Maurice war sichtlich bedrückt. Als über denLautsprecher die Passagiere nach Rom aufgerufen wurden, nahm er mich in dieArme und küsste mich. «Gib acht, dass du nicht mit dem Wagen verunglückst.» «Gib acht, dass du nicht mit dem Flugzeug verunglückst.» Bevor er in denZubringerbus stieg, drehte er sich noch einmal nach mir um und in seinen Augenstand eine Angst, die auf mich übergriff. Der Start des Flugzeugs hatte fürmein Gefühl etwas Erregendes. Viermotorige Maschinen steigen allmählich auf,man kann ihnen nachschauen und in Gedanken auf Wiedersehen sagen. Der Jetdagegen riss sich mit der Brutalität eines endgültigen Abschieds vom Boden los.
Bald aberwurde mir leicht ums Herz. Meine Töchter fehlten mir gar nicht. Im Gegenteil,ich genoss es, dass ich so schnell oder so langsam fahren durfte, wie ich wollte,dass ich nach Lust und Laune diese oder jene Strasse wählen und beliebig vielePausen einlegen konnte. Ich habe beschlossen, eine Woche lang einVagabundenleben zu führen. Morgens stehe ich in aller Herrgottsfrühe auf. DasAuto erwartet mich wie ein treues Tier auf der Strasse oder auf dem Hof; es istfeucht von Tau; ich trockne ihm die Augen, und dann geht es fröhlich in den Taghinein, der sich zusehends mit Sonnenlicht füllt. Neben mir steht die weisseTasche mit den Michelin-Karten und dem blauen Reiseführer, mit Büchern,Zigaretten und einer Wolljacke: ein unaufdringlicher Begleiter. Niemand mahntmich zur Eile, wenn ich in einem Gasthof die Wirtin um das Rezept ihres Huhnsmit Krabben bitte.
Es wirdAbend, aber die Luft ist noch lau. Dies ist einer jener ergreifendenAugenblicke, in denen Erde und Menschen so vollkommen miteinander harmonieren,dass es unmöglich scheint, jemanden zu finden, der nicht glücklich ist.
Dienstag,14. September Zu den Dingen, die Maurice früher oft an mir bewundert hat,gehört das, was er meine «intensive Beobachtung des Lebens» nannte. Die Freudedaran ist während des kurzen Zusammenseins mit mir selbst von neuemaufgeflammt. Da Colette jetzt verheiratet ist und Lucienne in Amerika studiert,werde ich Zeit und Musse zum Beobachten haben. «Langweilst du dich denn nicht?Du solltest dir Arbeit suchen», hat Maurice in Mougins gesagt. Er kam immerwieder darauf zurück. Aber ich habe, jedenfalls fürs erste, gar keine Lustdazu. Ich möchte endlich einmal so leben, wie ich es mir wünsche. Und ichmöchte mit Maurice die Zweisamkeit geniessen, die wir so lange entbehren mussten.Ich habe den Kopf voller Pläne.
Freitag,17. September Dienstag vormittag telefonierte ich mit Colette und erfuhr, dasssie an Grippe erkrankt ist. Als ich sagte, ich würde sofort zurückkommen, widersprachsie und behauptete, Jean-Pierre pflege sie ausgezeichnet. Aber ich war unruhig,und so traf ich schon am späten Nachmittag in Paris ein. Ich fand sie im Bett;sie ist sehr dünn geworden und hat abends immer ein wenig Fieber. Bereits imAugust, als ich mit ihr im Gebirge war, habe ich mir Sorgen um ihre Gesundheitgemacht. Wenn Maurice kommt, muss er sie gleich untersuchen, und es wäre mirlieb, wenn er Talbot hinzuzöge.
übrigenshabe ich noch ein zweites Sorgenkind auf dem Hals. Mittwoch abend, als ichnach dem Essen von Colette fortging, war so schönes Wetter, dass ich mit demWagen ins Quartier Latin fuhr, wo ich mich auf die Terrasse eines Cafés setzte.Ein junges Mädchen am Nebentisch starrte wie gebannt auf mein PäckchenChesterfield und bat mich schliesslich um eine Zigarette. Ich wollte einGespräch mit ihr anfangen, aber sie wich meinen Fragen aus und stand auf, umzu gehen. Etwa fünfzehn Jahre alt, weder Studentin noch Prostituierte meineNeugier war geweckt. Ich schlug ihr vor, sie im Wagen nach Hause zu bringen.Sie lehnte ab, zögerte und rückte dann mit dem Geständnis heraus, sie wissenicht, wo sie schlafen solle. Sie war am Morgen aus dem Asyl für Jugendlicheweggelaufen, in das die Fürsorge sie eingewiesen hatte. Ich habe sie zwei Tagelang bei mir behalten. Ihre Mutter, die mehr oder weniger geistesschwach ist,und ihr Stiefvater, der sie hasst, haben auf das Sorgerecht verzichtet. DerRichter, dem der Fall übertragen wurde, hat ihr versprochen, sie in ein Heim zuschicken, wo sie einen Beruf erlernen kann. Das war vor sechs Wochen, undseither lebt sie «provisorisch» in diesem Asyl, das sie niemals verlassen darf es sei denn, sie äussert sonntags den Wunsch, am gemeinsamen Kirchgangteilzunehmen und wo man ihr nichts zu tun gibt. Da sitzen sie herum,insgesamt etwa vierzig junge Mädchen, werden materiell gut versorgt und gehendoch an Langeweile, Lebensüberdruss und Verzweiflung zugrunde. Abends gibt manihnen Schlaftabletten, die sie sich nach Möglichkeit aufsparen. Und einesschönen Tages schluckt dann die eine oder andere ihren ganzen Vorrat aufeinmal. «Ausrücken, ein Selbstmordversuch erst wenn so etwas passiert,erinnert sich der Richter an uns», erklärte mir Marguerite. Die Flucht aus demAsyl ist nicht weiter schwierig, und es kommt oft vor, dass Mädchen weglaufen;wenn sie nicht allzu lange fortbleiben, haben sie keine strenge Strafe zu befürchten.
Ich habeMarguerite geschworen, ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zuerreichen, dass man sie in ein Heim schickt. Daraufhin hat sie eingewilligt, indas Asyl zurückzukehren. Ich zitterte vor Wut und Empörung, als ich sie mitgesenktem Kopf und schleppendem Gang das Haus betreten sah. Sie ist so einhübsches Mädchen, nicht dumm, sehr aufgeschlossen und durchaus arbeitswillig,aber man verpfuscht ihre Jugend. Und nicht nur die ihre: Sehr vielen Mädchenergeht es ebenso. Ich werde morgen Richter Barron anrufen.
Wie hartist doch Paris! Nicht einmal die milden, sonnigen Herbsttage können mich dieseHärte vergessen lassen. Ich fühle mich heute abend seltsam bedrückt. Vorhinhabe ich Pläne gemacht: Ich will das Töchterzimmer zu einem Wohnraumumgestalten, wo man behaglicher sitzt als in Maurices Arbeitszimmer oder imSalon. Und auf einmal fiel mir ein, dass Lucienne nie mehr hier wohnen wird. DasHaus wird still und friedlich sein, aber auch sehr leer. Am meisten quält michjedoch die Sorge um Colette. Ein Glück, dass Maurice morgen kommt.
Mittwoch,22. September Es gibt eine Reihe von Gründen, aus denen ich nicht gewillt bin,beruflich zu arbeiten; einer davon der wichtigste ist dieser: Ich fände esunerträglich, wenn ich mich den Menschen, die mich brauchen, nicht voll undganz widmen könnte. Ich verbringe jetzt den grössten Teil meiner Zeit beiColette. Das Fieber will und will nicht fallen. «Es ist nichts Ernstes», sagtMaurice. Aber Talhot verlangt Analysen. Ich habe die schrecklichstenBefürchtungen.
RichterBarron hat mich heute vormittag empfangen. Sehr freundlich. Er findet dasSchicksal der Marguerite Drin erschütternd, um so mehr, als es solche Fälle zuTausenden gibt. Unglücklicherweise besteht keine Möglichkeit, diese Mädchen inHeimen unterzubringen, es fehlt auch ausgebildetes Personal, das sie betreuenkönnte. Die Regierung tut nichts. Alle Bemühungen der Jugendrichter und derFürsorgerinnen sind daher zum Scheitern verurteilt. Das Asyl, in dem Margueritesich befindet, ist nur als Durchgangsstation gedacht; nach drei, vier Tagenhätte man sie anderswo unterbringen müssen. Gut und schön, aber wo? Die Kinderbleiben also in dem Asyl, wo sie sich mit nichts beschäftigen, mit nichtszerstreuen können. Immerhin will der Richter versuchen, irgendwo eine geeigneteUnterkunft für Marguerite ausfindig zu machen. Ausserdem wird er mit denHelferinnen im Asyl sprechen, damit ich das Mädchen besuchen kann. Die Elternhaben zwar den Verzicht auf das Sorgerecht nicht durch ihre Unterschrift bestätigt,denken jedoch nicht daran, die Kleine nach Hause zu holen; sie wollen sie nichtbei sich haben, und für Marguerite wäre das auch die schlechteste Lösung.
Empört überdie Engstirnigkeit der Regierung verliess ich das Palais de Justice. Die Zahlder jugendlichen Verbrecher wächst von Tag zu Tag, und die einzige Massnahme,die man sich einfallen lässt, sind verschärfte Strafen.
Da ichunmittelbar vor der Sainte-Chapelle stand, bin ich hineingegangen und habe dieWendeltreppe erklommen. Es waren ausländische Touristen da und ein Liebespaar,das Hand in Hand die Kirchenfenster betrachtete. Ich habe diesmal nicht vieldavon gesehen. Meine Gedanken waren wieder bei Colette, ich sorgte mich umsie.
Und ichsorge mich noch immer. Unmöglich, mich durch Lesen abzulenken. Das einzige,was mir Erleichterung verschaffen könnte, wäre ein Gespräch mit Maurice. Aberer wird nicht vor Mitternacht heimkommen. Seit er aus Rom zurück ist,verbringt er die Abende mit Talbot und Couturier im Labor. Wie er sagt, sindsie nahe am Ziel. Ich verstehe ja, dass er seine Forschungen über alles stellt.Und doch ... Zum erstenmal bedrückt mich eine ernste Sorge, ohne dass er sie mitmir teilt.
Samstag,25. September Das Fenster war dunkel. Ich hatte es nicht anderes erwartet. Wennich früher früher? Seit wann ist es eigentlich nicht mehr so? ausnahmsweiseohne Maurice ausging, sah ich bei meiner Rückkehr immer einen Lichtschein durchdie roten Vorhänge dringen. Ich stürmte dann die zwei Treppen hinauf undläutete an der Tür, zu ungeduldig, meinen Schlüssel aus der Tasche zu fischen.Heute bin ich langsam nach oben gegangen und habe den Schlüssel ins Schlossgeschoben. Wie leer die Wohnung war! Wie leer sie noch immer ist! Das dürftemich nicht wundern, es ist ja niemand da, mich zu empfangen. Aber ich bin esnun einmal gewohnt, Maurice hier zu finden, sogar in seiner Abwesenheit. Heuteabend öffnen sich die Türen auf verlassene Zimmer. Elf Uhr. Morgen sollen wirdas Ergebnis der Analysen erfahren, und ich habe Angst. Ich habe Angst, undMaurice ist nicht da. Ich weiss, er muss seine Untersuchungen zu Ende führen.Und trotzdem bin ich wütend auf ihn. Ich brauche dich, und du bist nicht da!Vielleicht werde ich das auf einen Zettel schreiben und die Botschaft gutsichtbar auf den Tisch in der Diele legen, bevor ich zu Bett gehe. Im übrigenaber werde ich schweigen, wie gestern, wie vorgestern. Früher war er immer da,wenn ich ihn brauchte ...
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© RowohltVerlag
Übersetzung:Ulla Hengst
- Autor: Simone de Beauvoir
- 1976, 38. Aufl., 288 Seiten, Masse: 11,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ulla Hengst
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499114895
- ISBN-13: 9783499114892
- Erscheinungsdatum: 07.03.2001
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