Ein fliehendes Pferd
Der Zufall führt zwei Ehepaare an einem Urlaubsort am Bodensee zusammen. Die beiden grundverschiedenen Männer, Endvierziger, kennen sich noch aus Studienzeiten. Schon bald entsteht ein Kampf zwischen dem behäbigen und phlegmatischen Lehrer Helmut Hahn und...
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Der Zufall führt zwei Ehepaare an einem Urlaubsort am Bodensee zusammen. Die beiden grundverschiedenen Männer, Endvierziger, kennen sich noch aus Studienzeiten. Schon bald entsteht ein Kampf zwischen dem behäbigen und phlegmatischen Lehrer Helmut Hahn und dem aktiven, das Leben in vollen Zügen geniessenden Klaus Buch.
Der Bestseller von Martin Walser macht jetzt im Kino Furore: Mit Katja Rieman, Ulrich Tukur und Ulrich Noethen in den Hauptrollen.
Einfliehendes Pferd von MartinWalser
LESEPROBE
Er verspürte eine Arthoffnungslosen Hungers nach diesen hell- und leichtbekleidetenBraungebrannten. Die sahen hier schöner aus als daheim in Stuttgart. Von sichselbst hatte er dieses Gefühl nicht. Er kam sich in hellen Hosen komisch vor. Wenner keine Jacke anhatte, sah man von ihm wahrscheinlich nichts als seinen Bauch.Nach acht Tagen würde ihm das egal sein. Am dritten Tag noch nicht. So wenigwie die grässlich gerötete Haut. Nach acht Tagenwürden Sabine und er auch braun sein. Bei Sabine hatte die Sonne bis jetzt nochnichts bewirkt als eine Aufdünsung jedes Fältchens, jedernicht ganz makellosen Hautstelle. Sabine sah grotesk aus. Besonders jetzt, wennsie voller Vergnügen auf die Promenierenden blickte. Er legte eine Hand aufihren Unterarm. Warum mussten sie überhaupt dieseshin- und herdrängende Dickicht aus Armen und Beinen und Brüsten anschauen? Inder Ferienwohnung wäre es auch nicht mehr so heiss wie auf dieser steinigen,baumlosen Promenade. Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmass an Abenteueran einem vorbei, dass das Zuschauenzu einem rasch anwachsenden Unglück wurde. Alle, die hier vorbeiströmten, warenjünger. Schön wäre es jetzt hinter den geraden Gittern der Ferienwohnung. DreiTage waren sie hier, und drei Abende hatte er Sabine in die Stadt folgenmüssen. Jedesmal auf diese Promenade. Leutebeobachten fand sie interessant. War es auch. Aber nicht auszuhalten. Er hattesich vorgenommen, Kierkegaards Tagebücher zu lesen. Er hatte alle fünf Bändedabei. Wehe dir, Sabine, wenn er nur vier Bände schafft. Er wussteüberhaupt nicht, was Kierkegaard in seinen Tagebüchern notiert hatte.Unvorstellbar, dass Kierkegaard etwas Privates notierthaben konnte. Er sehnte sich danach, Kierkegaard näherzukommen.Vielleicht sehnte er sich nur, um enttäuscht werden zu können. Er stellte sichdiese tägliche, stundenlange Enttäuschung beim Lesen der Tagebücher Kierkegaardsals etwas Geniessbares vor. Wie Regenwetter im Urlaub. Wenn diese Tagebücherkeine Nähe gestatteten, wie er fürchtete (und noch mehr hoffte), würde seineSehnsucht, diesem Menschen näherzukommen, noch grösserwerden. Ein Tagebuch ohne alles Private, etwas Anziehendereskonnte es nicht geben. Er musste Sabine sagen, dass er ab morgen die Abende nur noch in der Ferienwohnungverbringen werde. Er hätte zittern können vor Empörung! Er hier auf dem zukleinen Stuhl, Leute anstierend, während er in derFerienwohnung ...
Ans Wasser wollte erKierkegaard nicht mitnehmen. Das hatte er als Fünfzehnjähriger getan. Zarathustrahatte er auf dem Bauch liegend gelesen. Snob, der er war, hatte er diefranzösische Übersetzung gelesen. Ainsi parlait Zarathustra.
Sabines Vergnügen an denVorbeiströmenden hatte inzwischen ein Lächeln erzeugt, das sich nicht mehränderte. Er genierte sich für Sabines Lächeln. Er berührte sie am Oberarm.Wahrscheinlich sollte man reden miteinander. Ein alt werdendes Paar, das stummauf Caféstühlen sitzt und der lebendigsten Promenade zuschaut, sieht komischaus. Oder trostlos. Besonders, wenn die Frau noch dieses schon seit längeremverstorbene Lächeln trägt. Helmut mochte es nicht, wenn die Umwelt sich über Sabineund ihn Gedanken machen konnte, die zutrafen. Egal, was die Umwelt über ihn undSabine dachte, es sollte falsch sein. Sobald es ihm gelang, Fehlschlüsse zu befördern,fühlte er sich wohl. Inkognito warseine Lieblingsvorstellung. In Stuttgart musste ererleben, wie in der Nachbarschaft und in der Schule - und zwar bei Kollegen undbei Schülern - die Kenntnis über ihn zunahm. An ihm war der Spitzname Bodenspecht hängengeblieben.Das zeigte ihm, dass er mit einer geradezu höheren Artvon Genauigkeit erfasst, durchschaut und bezeichnetwar.
© Suhrkamp Verlag
Martin Walser verstarb am 26. Juli 2023 in Überlingen am Bodensee.
- Autor: Martin Walser
- 1980, Neuauflage, 160 Seiten, Masse: 10,8 x 17,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518371002
- ISBN-13: 9783518371008
- Erscheinungsdatum: 13.02.2001
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