Dieser Mensch war ich
Nachrufe auf das eigene Leben
Sterbende berichten über das, was in ihrem Leben wirklich wichtig war
Begegnungen mit dem Tod...
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Nachrufe auf das eigene Leben
Sterbende berichten über das, was in ihrem Leben wirklich wichtig war
Begegnungen mit dem Tod
Bekannt wurde Christiane zu Salm als Geschäftsführerin von MTV. Nun hat sie ein Buch über die letzten Worte von Sterbenden geschrieben. Die Karrierefrau selbst ist dem Tod schon früh begegnet: Mit 6 Jahren muss sie den Unfalltod ihres kleinen Bruders miterleben. Jahre später wird sie von einer Lawine mitgerissen und überlebt wie durch ein Wunder.
Topmanagerin und Sterbebegleiterin
Diese Erlebnisse prägten sie dermaßen, dass sie heute zwei mal die Woche ehrenamtlich als Sterbehelferin arbeitet. Die Idee zum Buch kam ihr schon während ihrer Ausbildung, als sie aufgefordert wurde, innerhalb von 15 Minuten einen Nachruf auf ihr eigenes Leben zu schreiben. Fragen wie "Was ist wirklich wichtig im Leben? Hätte ich etwas anders machen müssen? Was hätte ich noch gerne getan?" kamen auf. Als Sterbebegleiterin stellte sie diese Fragen dann auch den ihr anvertrauten Menschen und schrieb ihre Antworten nieder. So sind viele zum Teil sehr berührende "Nachrufe auf das eigene Leben" entstanden: Es sind Berichte über Erinnerungen an das, was das eigene Leben wirklich ausgemacht hat, aber auch über nie gelebte Träume und über zerbrochene Freundschaften. Dazu immer wieder Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Fern von jeder Betroffenheitsschwülstik sind dabei lebendige Lebenszeugnisse ganz normaler Menschen entstanden, die vor allem durch ihre Echtheit und auch ihren Witz berühren. Ein Buch das Mut macht, sein Leben ganz zu leben.
"Angst, viel Angst vorm Sterben habe ich gesehen. Aber dann, zum Schluss, immer Frieden." Christiane zu Salm
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Kein Sterbenswort
Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende her betrachtet: es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.
Diese Perspektive hat mich schon seit meiner Jugend interessiert. natürlich darf man sich zu ihr im alltäglichen Umfeld nicht so deutlich bekennen, denn vom Ende her zu denken und daraus auch seine Handlungen abzuleiten - das erinnert ja auf unbequeme weise daran, dass man eines Tages sterben muss. So weit aber wollen die meisten nicht denken. Es ist einfach zu irritierend. wenn ich zum Beispiel davon erzähle, wie ich wichtige berufliche Entscheidungen treffe, dann finden das die meisten eher merkwürdig. »Wie würde ich von meinem Sterbebett aus darüber denken, wenn ich diese Chance nicht genutzt hätte?«, frage ich mich in solchen Situationen. Denn im vorweggenommenen Rückblick werden die Dinge plötzlich viel klarer. »Sterbebett?«, werde ich dann ungläubig gefragt. »Sie sind doch noch so jung!«
Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort. Wir sagen zwar, dass es neulich auf irgendeiner Veranstaltung sterbenslangweilig war. Am Abend davor haben wir uns noch totgelacht. Und wenn es um extensives Feiern, Arbeiten oder Durchhalten geht, sind viele absolut nicht totzukriegen.
Vor allem aber ist unsere Gesellschaft nicht totzukriegen darin, so zu tun, als gäbe es für immer ein Morgen. Okay, werden Sie möglicherweise einwenden, warum auch? Was soll daran falsch sein, eher über eine ständige Verbesserung des Lebens nachzudenken und in die Zukunft zu blicken als darüber, dass schon morgen alles vorbei sein kann? Denn man kann ja nun wirklich nicht jeden Tag so leben, als sei es der letzte, schon gar nicht als junger Mensch. Für sehr viele Dinge braucht es doch Zeit, oft viel Zeit (was man meistens erst später kapiert), und dann gilt es, Geduld zu beweisen und abzuwarten, statt im hier und Jetzt alles erreichen und erleben zu wollen. Schließlich kann auch niemand jeden Tag nur das verfolgen, was ihm wichtig ist. Es gibt ja immerhin Alltagspflichten und jede Menge Dinge, für die man verantwortlich ist, ohne dass sie für das eigene Leben entscheidend sind.
Dennoch habe ich zum Tod eine Affinität, die nicht nur aus Angst resultiert. Sondern eher aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben. Das alles versuche ich, ein wenig besser zu begreifen, solange ich lebe. Der Tod, das Ende des Lebens, ist für mich ein gutes Mittel, um das herauszufinden. Ich stelle ihn mir nicht selten als ein Destillationsgefäß vor, mit dessen Hilfe man gedanklich das herauskristallisieren kann, was am Ende eigentlich bleibt. Oben fließt eine große Menge Leben rein, unten tropft das Destillat heraus: die Quintessenz dieses einen abgelaufenen Lebens. Das wesentliche halt.
In gewisser Weise sind der Tod und ich uns schon ein wenig vertraut. Zwei unnatürliche Begegnungen hatten wir bisher miteinander. Als ich ein sechsjähriges Kind war, starb mein kleiner Bruder durch einen Unfall vor meinen Augen. Dieses tragische Ereignis hat mich für mein Leben massiv geprägt, was mir erst später, als erwachsene, so richtig klar wurde. Seit dem Tod meines Bruders wurde in unserer Familie auch das Leben bewusster gelebt. Bewusster soll heißen, dass es nicht so schlimm war, wenn ich wieder einmal eine Fünf in Mathematik nach Hause gebracht habe. Oder wenn die beste Freundin ein paar Tage nicht mit mir geredet hat. Weil eben nichts so schlimm ist wie der Unfalltod eines geliebten Kindes. Und weil das Leben trotzdem immer weiter geht, irgendwie. Weil es für alles eine Lösung gibt, irgendeine. Nur für den Tod nicht. Das hat meine Mutter mir danach eingebläut, und die Gestaltung meines Lebensalltags hat bis heute mit dieser einschneidenden Erfahrung zu tun.
Viele Jahre später hat mir der Tod dann selbst auf die Schulter geklopft. Beinahe wäre ich beim Skifahren unter einer Schneelawine begraben worden. Zweihundertfünfzig Meter bin ich unter dieser Lawine einen Berghang hinuntergerast, über mir eine vier Meter hohe Wolke aus Schneestaub, wie mir hinterher berichtet wurde. Es war eine Nahtoderfahrung. Schwer zu beschreiben, wie sich das anfühlte. Wie ein weißes Handtuch im Schleudergang in der Waschmaschine - das trifft es wohl am besten. Ich erinnere mich genau, dass ich auf einer ganz unemotionalen, vielmehr vollkommen bewussten Ebene dachte: Jetzt stirbst du. Zweimal dort unter dem Schnee hat mir meine innere Stimme ganz neutral und ohne jedes Pathos zugerufen: Jetzt stirbst du. Das war weder angsteinflößend noch schön, es war einfach. Für einen kurzen Moment sah ich mich außerhalb meines Körpers. Ich betrachtete meinen zusammengerollten Körper in diesem riesigen Schneeball von außen. Gleichzeitig, auf einer emotionalen Ebene, hörte ich bei jeder Umdrehung meine kleine Tochter rufen: »Mami, Mami.« Dann das unglaubliche Glück: Die Lawine hat mich zweihundertfünfzig Meter weiter unten einfach ausgespuckt.
Ich saß auf einem Felsvorsprung, ohne Skier, ohne Handschuhe, ohne Mütze, mit aufgerissener Hose. Der Tod hatte mir nur die Oberschenkel geprellt.
Seitdem weiß ich wieder ein wenig besser, dass es ganz schnell vorbei sein kann, das Leben. Und den Tag, an dem das passierte, feiere ich seither im innersten als eine Art zweiten Geburtstag, also als einen Tag, an dem mir das Leben ein zweites Mal geschenkt wurde.
Vier Jahre später wollte ich Sterbebegleiterin werden. Eines Tages kam mir dieser Gedanke, ganz konkret. Ich hatte das Bedürfnis, sterbende Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten. Ich wollte wissen, wie es ist, das Leben kurz vor dem Sterben. Und ich wollte da sein für Menschen, die ansonsten alleine sterben würden.
Anfangs dachte ich, was für eine abwegige Idee. Ganz im Sinne des Wortes: fernab von meinem Weg. Nach beinahe zwanzig Jahren Berufstätigkeit in der Medienbranche, in der internationalen und durchaus glamourösen Musik-, Fernseh- und Managementwelt, nach vielen Jahren in der Kunstwelt plötzlich Sterbebegleiterin? Gerade beim Musikfernsehsender MTV, den ich über drei Jahre führte, hatte ich es doch ganz im Gegenteil ausschließlich mit dem vollen Leben, mit jungen Menschen und jungen Inhalten zu tun. Und stets mit Zukunft. Und wie gerne habe ich später Geschäftsmodelle für das digitale Zeitalter entwickelt. Immer schneller, immer weiter, immer nach vorn - das war die Parole. Zweistelliges Umsatzwachstum war das große Mantra in meinem beruflichen Leben. Wachsen, nicht vergehen. Werden, nicht enden. Zwar hatte ich mir schon seit Längerem mehr Zeit für soziale Projekte genommen, aber deswegen musste ich ja noch lange nicht Sterbebegleitung machen. Es ist schließlich auch eine ziemlich zeitintensive Angelegenheit.
Dennoch, der Gedanke ließ sich nicht abschütteln. Er kam und ging, und ein bisschen unheimlich war er mir schon. Immer, wenn mir etwas nicht ganz geheuer ist, wenn ich vor etwas gehörigen Respekt oder Angst habe, finde ich stets tausend Dinge, die erst noch erledigt werden müssen. Dann räume ich sogar den Schreibtisch auf, lege Rechnungen ab, sortiere Bücher im Regal und taue - meist längst überfällig - das Gefrierfach ab. (Und das will schon was heißen.) Lauter vermeintlich wichtige Dinge, die vermeintlichen Vorrang haben. An irgendeinem Abend habe ich mich dann aber endlich getraut und mich überwunden, die zwei Wörter »Hospiz Berlin « bei Google einzugeben. Mit einem Glas Wein neben dem Computer. Zur Sicherheit. Monatelang hatte ich die Eingabe dieser beiden Wörter vor mir hergeschoben. So lange, bis sich dann doch irgendwann die Neugier durchsetzte. Noch konnte ja nichts passieren.
Bald darauf füllte ich einen Online-Fragebogen aus und wurde offensichtlich für qualifiziert genug erachtet, um zu einem persönlichen Vorgespräch mit zwei Kursleiterinnen eingeladen zu werden. »Warum wollen Sie denn eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin machen?«, fragten mich die beiden Kursleiterinnen. »So ganz genau kann ich das nicht sagen«, antwortete ich. »Das Thema hat mich auf irgendeine Weise gerufen. Sicher hat es etwas damit zu tun, dass ich in der Kindheit eine Verlusterfahrung durch den Tod meines kleinen Bruders gemacht habe.«
Ich erzählte also von meinen Begegnungen mit dem Tod und auch davon, dass ich immer schon gerne und oft Friedhöfe besucht habe. Sobald ich in eine neue Stadt komme, gehe ich auf einen Friedhof. Ich stelle mir dann vor, dass die Grabsteine zu mir sprechen. Ob »Frieda Meier, 1904-1982« ein erfülltes Leben hatte? Worüber hat sie gelacht? Was hat sie glücklich gemacht? Hat es Versäumnisse gegeben? Wer sind diese Menschen gewesen, denen hier nur durch diese äußerst knappen Angaben auf dem Grabstein ein Andenken bewahrt wurde? Hatten sie ein gutes Leben gehabt? Was war das, was ist das überhaupt, ein gutes Leben?, frage ich mich dann immer wieder.
Eine Woche später fand ich eine E-Mail des ambulanten Lazarus- Hospizdienstes in meinem Posteingang: Ich war für einen Ausbildungskurs angenommen. Es überkam mich ein mulmiges Gefühl. War das nicht doch ein bisschen unheimlich? Konnte ich das überhaupt, Menschen bis zu ihrem Tod begleiten? Hinzu kam: Der Kurs würde länger als ein halbes Jahr dauern, und er würde an Wochenenden und am frühen Abend stattfinden. Das aber waren genau die Zeiten, die felsenfest für meine noch recht kleinen Kinder reserviert sind.
Noch kann ich da raus, dachte ich. Noch kann ich sagen, dass ich es mir anders überlegt hätte, dass es von den Terminen her leider nicht passen würde, dass ich mich am Wochenende um meine Familie kümmern müsse und so weiter. An möglichen Ausreden mangelte es nicht. Ein Rückzieher wäre einfach. Nach dreimaligem Überschlafen aber hatte ich mich entschlossen. Ich würde es tun.
Die Ausbildung
Ob es dort einen guten Kaffee geben würde? Oder nur Tee, weil die Teilnehmer typmäßig eher in Richtung »Grüner-Tee- Trinker« gehen würden? Immer, wenn ich mit meiner Cappuccino- Tasse in der Hand auf Grüner-Tee-Trinker treffe, beschleicht mich unterschwellig ein leicht schlechtes Gewissen. Dann habe ich immer das Gefühl, zu genussorientiert zu sein und ein ungesundes Getränk zu mir zu nehmen, statt wohltuenden Tee zu trinken.
Um diesbezüglich lieber gar nicht erst aufzufallen, hatte ich meinen Cofee-to-go-Becher noch vor dem Haupteingang des Berliner Lazarus-Hospizes auf der Bernauer Straße ausgetrunken. Genau dort, wo früher die Mauer entlanglief. Die Mauer, als es sie noch gab, war sterbenden Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens sicher egal, dachte ich, und auch heute war es ihnen in den letzten Tagen ihres Lebens bestimmt gleichgültig, ob sie noch stand oder nicht. Jetzt bloß nicht so rumphilosophieren, ermahnte ich mich. Ich versenkte den Pappbecher im Mülleimer und schritt mit leichtem Herzklopfen in den angegebenen Raum im ersten Stock. Um zu dem Ausbildungsraum zu gelangen, musste ich durch das Hospiz gehen. Vor einer Tür brannte eine Kerze, hier war also gerade jemand verstorben. Stille.
Was waren die letzten Worte, die in diesem Zimmer gesprochen wurden? Würde ich die Kraft haben, das auszuhalten, mit Sterbenden zusammen zu sein, bis zu ihrem letzten Atemzug? Menschen, die gerade noch etwas gesagt, gefragt, erbeten haben, deren Hand ich gerade noch hielt - und die schon kurz darauf einfach nicht mehr sind? Konnte ich ihnen wirklich etwas geben?
Mit diesen Fragen im Kopf erreichte ich den Kursraum. Es waren schon einige Teilnehmer da; nicht ganz überraschend mehr Frauen als Männer. Wir waren insgesamt neun Kursteilnehmer und zwei Ausbilderinnen. Lauter unterschiedliche Gesichter, lauter unterschiedliche Gründe wohl, sich für die Hospizarbeit zu interessieren.
Der Kurs wurde mit einer »Befindlichkeitsrunde« eröffnet. Einer nach dem anderen mussten wir einen Stein in die Hand nehmen und sagen, wie es uns in diesem Moment ging. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gemacht. weil ich aus einer Welt komme, in der nicht nach Befindlichkeiten gefragt wird. Das Wort »befindlich« war mir vielmehr bislang nur in einem negativen Kontext begegnet - so im Sinne von »Geh mir jetzt nicht auf die Nerven mit deiner Stimmung« und »Stell dich bloß nicht so an«. entsprechend unsicher war ich also, wie ich mit dieser Frage umgehen sollte. Wie einige andere auch, antwortete ich ganz ehrlich: »Das ist Neuland hier. Ich bin gespannt, was in diesem Kurs passiert und muss gestehen, dass ich auch etwas aufgeregt bin.« Zunächst fragte ich mich, ob das Feststellen der Befindlichkeiten aller Kursteilnehmer nicht banaler Psychokram wäre. Dann stellte ich aber fest, dass es nicht schlecht ist, wenn jeder am Anfang und auch am Ende eines Kurstages sagt, wie es ihm gerade geht. Denn damit wird sofort eine vertrautere Atmosphäre geschaffen, und die Unsicherheit den anderen Teilnehmern gegenüber schwindet. Auch kann man den anderen achtsamer begegnen, wenn man weiß, wie sie sich gerade fühlen.
Im weiteren Verlauf zeigte sich sehr schnell, dass die Ausbildung nicht besonders theoretisch, sondern primär praxisorientiert sein würde. Es ging darum, uns Teilnehmer durch Übungen und Rollenspiele, so gut es eben ging, spüren zu lassen, wie es sich anfühlen musste, das Leben am Ende des Lebens. Und so unmöglich mir das anfangs zu sein schien, so sehr war ich jedes Mal doch erstaunt, wie vermittelbar dieses Gefühl ist, selbst wenn es nur simuliert wird.
Einmal sollten wir zum Beispiel auf eine Papierkrawatte schreiben, was uns am allermeisten am Herzen liegt. Dann sollten wir uns die Krawatte um den Hals hängen. Anschließend gingen die Kursleiterinnen mit einer Schere im Kreis herum und schnitten schweigend Wort für Wort ab. Die Krawatte wurde immer kürzer, und als dann auch das letzte Wort, »Die Liebe meiner Kinder«, abgeschnitten wurde, schnürte es mir den Hals zu.
»Loslassen« hieß die Übung. Kann man das üben?
Ich lernte: Ja, man kann. Vorausgesetzt, man will.
Je mehr Übungen ich mitmachte, desto dringlicher kam in mir die Frage hoch, ob ich das alles würde aushalten können, wenn es an die reale Begegnung mit dem Sterben ginge. Und nicht nur aushalten, sondern ob ich diesen Menschen auch wirklich etwas Sinnvolles würde geben können. Würde es mir tatsächlich gelingen, im richtigen Moment das richtige zu tun oder zu lassen? Was würde passieren, wenn ich etwas Unangebrachtes tun oder sagen würde? Oder wenn ich spüren würde, dass ich in einer bestimmten Situation an meine Grenzen käme, wenn ich die Traurigkeit zum Beispiel zu nahe an mich herankommen ließe?
Auf einem weiteren Übungszettel, der an uns ausgeteilt wurde, stand: »Wann sagen wir, ist jemand sterbend? Ab wann nimmt sich ein Mensch als ›sterbend‹ wahr? Wann sagen andere, jemand ›liegt im Sterben‹? In gewisser Weise sind wir vom Tag unserer Geburt an ›Sterbende‹: wir gehen unaufhaltsam dem Tod entgegen. Versuchen Sie, mit eigenen Worten zu beschreiben, wann Sie einen Menschen als ›sterbend‹ bezeichnen würden.«
Ich schrieb: »als sterbend wahrgenommen wird, wessen Körper bald aufhört zu sein. Erst dann wird außenstehenden bewusst: Jemand stirbt.« Und beim Schreiben merkte ich, wie lange man über diese Frage eigentlich nachdenken kann und wie viele unterschiedliche Antworten hier möglich sind.
So war es dann auch: Jeder schrieb etwas anderes - und jeder Gedanke dazu hatte seine Berechtigung. Und zum ersten Mal begriff ich, dass es bei der Sterbebegleitung kein grundsätzliches richtig oder falsch gibt. Dass es keine ausschließliche Wahrheit gibt. Dass man nur versuchen kann zu lernen, sterbenden Menschen so zu begegnen, dass sie in ihrer letzten Lebensphase noch einmal die Möglichkeit erhalten, zu sich zu kommen. es geht um die innere Lösung des Sterbenden, um seinen inneren weg, nicht mehr um einen äußeren. Dazu gehört, dass man als Begleitender weder selbst Lösungen anbietet noch die geäußerten Gefühle bewertet.
Eine der beiden Kursleiterinnen erzählte in diesem Zusammenhang einmal, dass ein sterbender Mann kurz vor seinem Tod zu ihr gesagt habe: »wissen Sie, Sie sind die einzige Person, die mir nicht geantwortet hat: ›Sie müssen keine Angst haben‹, als ich sagte: ›ich habe große Angst vor dem Sterben.‹ Das hat mir unheimlich geholfen. Ich konnte von meiner Angst erzählen. Sie wurde ernst genommen.«
Ein ganzes Wochenende lang beschäftigten wir uns deshalb mit verbaler und nonverbaler Kommunikation. Haben Sie schon einmal eine Viertelstunde jemandem gegenübergesessen und ihm total uneingeschränkt und ohne jede Rückmeldung zugehört? Also ohne zu nicken, ohne jede andere zustimmende oder widersprechende Geste, ohne gleich den vielen eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen, die einem unweigerlich in den Kopf schießen bei dem Gehörten? Ohne ungeduldig darauf zu warten, endlich selbst wieder reden zu dürfen? Auf diese Weise mit ausschließlicher Konzentration auf sein Gegenüber zuzuhören ist gar nicht so leicht, wie es sich anhört.
In einer weiteren Übung sollte sich abwechselnd jeder Kursteilnehmer eine halbe Stunde lang auf den Boden legen und schweigen. Ein anderer sollte dann diesen Teilnehmer, der einen wachkoma-Patienten simulieren sollte, berühren. Es war eindrucksvoll, wie sich das anfühlte. weil man, wenn man so regungslos daliegt, das ausgeliefert sein an andere unglaublich intensiv zu spüren bekommt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie könnten nicht mehr entscheiden, wer ihre Hand hält, wer Sie an welcher Körperstelle streichelt. Für mich ist das ein sehr unangenehmer Gedanke. Umso mehr kommt es daher darauf an, respektvoll und achtsam mit Berührungen umzugehen.
An einem anderen Wochenende beschäftigten wir uns mit dem Vergeben, dem Verzeihen, auch mit dem Umdeuten. Dem Sterbenden zu helfen, sich und anderen am Ende seines Lebens zu verzeihen, gehört zum wichtigsten in der Hospizarbeit. Dazu gehört zu begreifen, dass jede noch so schlechte Eigenschaft, die wir an uns finden, auch eine gute Seite hat. Diese anzuschauen und auch anzunehmen gilt es dem Sterbenden zu vermitteln.
Den eigenen Nachruf schreiben - mein Schlüsselerlebnis
Eines Tages sagte die Kursleiterin in die Runde: »Bei der nächsten Übung gehen Sie bitte davon aus, dass Sie übermorgen sterben werden. Definitiv. Sie können sich das nicht vorstellen? Doch, können Sie. Sie müssen nur wollen. Nehmen Sie sich Stift und Papier und schreiben Sie einen Nachruf auf sich selbst. Jetzt. Sie haben eine Viertelstunde Zeit.«
Ausgeschlossen, dachte ich sofort. In der vorangegangenen Übung hatten wir, jeder für sich, unser Begräbnis organisieren sollen. Das ging ja noch. Ob wir Blumen auf unserem Grab haben wollten, ob wir überhaupt ein Grab wollten, Urnen oder Sargbestattung, mit oder ohne Zeremonie, geistlich oder nicht, Musik oder Stille, viele oder wenige Leute, was gesagt werden und worüber besser geschwiegen werden sollte. Das war mir nicht weiter schwergefallen, denn Kirchenmusik ist zum Beispiel mein Ding, ich kenne jedes klassische Requiem in- und auswendig. Ich mag die Ewigkeit und die Erhabenheit, die in dieser Musik zu spüren sind. Und auf meinen vielen Spaziergängen auf Friedhöfen schaue ich immer nach schönen Grabsteinen, nach den Blumen auf den Gräbern und den Bäumen um sie herum, und suche, meist vergeblich, nach Inschriften, die mehr verraten als nur die üblichen Daten. Das Thema Begräbnis ist mir also irgendwie vertraut, und so hatte ich mit derselben inneren Gelassenheit, mit der ich To-do-Listen für Einkäufe oder Handwerker schreibe, die einzelnen Punkte für mein Begräbnis aufgelistet.
Aber jetzt einen Nachruf auf mich selbst schreiben? Wie bitte schön sollte denn das gehen? Wie sollte ich in fünfzehn Minuten einen Rückblick auf mein Leben abliefern? Mal eben schnell zu Papier bringen, wer ich gewesen sein wollte? Wie ich in Erinnerung bleiben sollte? Dafür hätte ich eigentlich Stunden, Tage, am liebsten ein paar Wochen gebraucht - und ganz viel Ruhe und Alleinsein, um darüber nachzudenken. Eine gute Bilanz zu ziehen braucht Zeit. Stattdessen hatte ich jetzt das Gefühl, in Windeseile einen ganzen Ozean in einem Wassertropfen unterbringen zu müssen. Ein schwieriges Unterfangen. Bis sich mir auf einmal die Frage aufdrängte: Hey, wie wichtig nimmst du dich eigentlich gerade, dass dir das so unheimlich schwerfällt? Eigentlich könnte es dir doch vollkommen egal sein, was über dich an deinem Grab gesagt wird und von wem. Du bekommst es doch eh nicht mehr mit. aber ich merkte: es war mir nicht egal. Es war vielmehr die perfekte Möglichkeit, ein paar Dinge aus meiner ganz eigenen Sicht geradezurücken, ohne Widerspruch und Gegenargumente anhören und ertragen zu müssen. wie bequem! Eine Möglichkeit, jedem im Nachhinein mitzuteilen, wie ich wirklich war. Wie eitel ist das denn?, dachte ich dann wiederum. Was für ein großes Ego da doch spricht. Aber warum eigentlich nicht? Auch das kann mir doch egal sein. Aber anscheinend war mir noch lange nichts so egal, wie es egal sein könnte und vielleicht sollte, wenn ich tot sein würde.
Zeitnot funktioniert ja immer, wenn es darum geht, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Eine Art Lebenslauf mit Schule, Studium, Arbeitsstationen, Freundschaften, Beziehungen, Kindern, Hobbys, sonstigen Fähigkeiten, Vorlieben und Erfahrungen schied daher aus. Dann also so etwas wie die Top-Ten-Erfahrungen meines Lebens? Ich hatte bereits kostbare Minuten mit meinen Reflexionen über meine Eitelkeit oder Uneitelkeit angesichts des eigenen Todes verschwendet, und jetzt waren noch weitere fünf Minuten vorüber. Ich konnte mich nicht weiter damit aufhalten, mich an alles erlebte und Gewesene zu erinnern, mir zu überlegen, welches der vielen Kapitel meines Lebens ich unbedingt erzählen wollte, und wer und was wichtiger war als andere oder anderes, und wer und was noch wichtiger war als das wichtige. Und was ich meinen Hinterbliebenen noch sagen wollte. Schnell schossen mir Sätze durch den Kopf wie: »Gerne hätte sie noch ...« und »Schade eigentlich, dass sie nun nicht mehr dazu kommt.« ich musste schmunzeln. »Eigentlich hätte sie gerne noch kreativ gearbeitet, weil sie darin die höchstmögliche Freiheit vermutete, sich ausdrücken zu können, und vielleicht hätte das ja auch noch geklappt, hätte sie doch nur weiterleben dürfen ...« Dann erschrak ich. Ich, die Konjunktiv-hasserin, die immer überzeugt gewesen war, dass sich, bewusst oder unbewusst, hinter Konjunktiven nur Angst und Unsicherheit versteckten, schrieb plötzlich Sätze mit Wörtern wie »hätte«, »wäre«, »würde«? Ich, die den Werbeslogan »Just do it« der Sportmarke Nike als Lebensphilosophie übernommen hatte. Und gerade eben nicht »had i only«. Und was machte ich jetzt hier inmitten dieser Übung, viele Jahre später? Ich machte genau das, was ich stets verachtet hatte. Schrieb mein halbes Leben im Konjunktiv auf. Versteckte meine Ängste dahinter.
© dieser Ausgabe Oktober 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Christiane zu Salm, 1966 in Mainz geboren, arbeitete viele Jahre erfolgreich als Medienmanagerin. Sie war Geschäftsführerin des Musiksenders MTV, baute den Privatsender 9Live auf und arbeitete bei der UFA-Fernsehproduktion. Seit 2005 konzentriert sie sich stärker auf soziale Projekte, engagiert sich für die Bertelsmann Stiftung und hat mit ihrer unternehmerischen Kompetenz NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) in Deutschland mitgegründet. Zudem ist sie begeisterte Sammlerin von Kunst, die jenseits des etablierten Systems entsteht. Ehrenamtlich ist Christiane zu Salm als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig und besucht regelmässig Sterbende direkt zu Hause.
- Autor: Christiane zu Salm
- 2013, 256 Seiten, Masse: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313503
- ISBN-13: 9783442313501
- Erscheinungsdatum: 21.10.2013
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