Die zitternde Frau
Eine Geschichte meiner Nerven
Siri Hustvedt, herausragende Schriftstellerin und brillante Erforscherin von Gehirn und Geist, erzählt eine außergewöhnliche Doppelgeschichte. Nach einem spontanen und unerklärlichen Epilepsie-Anfall sucht sie nach Erklärungen: War...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die zitternde Frau “
Siri Hustvedt, herausragende Schriftstellerin und brillante Erforscherin von Gehirn und Geist, erzählt eine außergewöhnliche Doppelgeschichte. Nach einem spontanen und unerklärlichen Epilepsie-Anfall sucht sie nach Erklärungen: War das Hysterie? Eine Reaktion auf den Tod ihres Vaters? Eine spannende Reise in die Neuropsychiatrie.
Klappentext zu „Die zitternde Frau “
«Siri Hustvedt, eine unserer herausragenden Schriftstellerinnen, gehört seit langem zu den brillantesten Erforschern von Gehirn und Geist. Kürzlich jedoch wandte sie ihr Forschungsinteresse sich selbst zu: Knapp drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, während einer Gedenkrede auf ihn, fand sie sich plötzlich von Konvulsionen geschüttelt. War das Hysterie, eine Übertragung, ein 'zufälliger' epileptischer Anfall? 'Die zitternde Frau' - provokant und amüsant, umfassend und niemals abgehoben - erzählt von ihren Bemühungen um eine Antwort darauf. So entsteht eine aussergewöhnliche Doppelgeschichte: zum einen die ihrer verschlungenen Erkenntnissuche, zum anderen die der grossen Fragen, die sich der Neuropsychiatrie heute stellen. Siri Hustvedts kluges Buch verstärkt unser Erstaunen über das Zusammenspiel von Körper und Geist.»Oliver Sacks
Lese-Probe zu „Die zitternde Frau “
Die zitternde Frau von Siri HustvedtAls mein Vater starb, war ich zu Hause in Brooklyn, hatte aber nur wenige Tage zuvor in einem Pflegeheim in Northfield, Minnesota, an seinem Bett gesessen. Obwohl körperlich geschwächt, war er geistig ganz auf der Höhe gewesen, und ich erinnere mich, dass wir viel geredet und sogar gelacht haben, wenngleich ich mich an den Inhalt unseres letzten Gesprächs nicht entsinnen kann. Das Zimmer, in dem er am Ende seines Lebens wohnte, sehe ich jedoch deutlich vor mir. Meine drei Schwestern, meine Mutter und ich hatten Bilder aufgehängt und eine blassgrüne Tagesdecke gekauft, damit der Raum nicht so kahl wirkte. Auf dem Fensterbrett stand eine Blumenvase. Mein Vater hatte ein Lungenemphysem, und wir wussten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Meine Schwester Liv, die in Minnesota wohnt, war an seinem letzten Tag als einzige seiner Töchter bei ihm. Seine Lunge war zum zweiten Mal kollabiert, und dem Arzt war klar, dass er einen weiteren Eingriff nicht überstehen würde. Als er noch bei Bewusstsein, aber nicht mehr in der Lage war zu sprechen, rief meine Mutter nacheinander ihre drei Töchter in New York an, sodass wir mit ihm telefonieren konnten. Ich erinnere mich deutlich, dass ich eine Weile darüber nachdachte, was ich ihm sagen sollte. Ich hatte den kuriosen Gedanken, ich dürfe in so einem Augenblick nicht irgendetwas Dummes von mir geben, müsse meine Worte sorgfältig wählen. Ich wollte etwas Unvergessliches sagen eine absurde Idee, weil das Gedächtnis meines Vaters wie alles andere bald ausgelöscht sein würde. Doch als meine Mutter ihm den Hörer ans Ohr legte, war alles, was ich herauswürgen konnte: «Ich hab dich ja so lieb.» Später sagte mir meine Mutter, er habe, als er meine Stimme hörte, gelächelt.
In jener Nacht träumte ich, ich wäre bei ihm, und
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er streckte die Arme nach mir aus, ich beugte mich ihm entgegen, und dann, bevor er mich umarmen konnte, wachte ich auf. Am nächsten Morgen rief meine Schwester Liv an und teilte mir mit, unser Vater sei gestorben. Unmittelbar nach diesem Gespräch stand ich auf, ging nach oben in mein Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch, um eine Grabrede auf ihn zu schreiben. Darum hatte mein Vater mich gebeten. Einige Wochen zuvor, als ich in dem Pflegeheim neben ihm saß, hatte er «drei Punkte» erwähnt, die ich mir aufschreiben sollte. Er sagte nicht: «Ich möchte, dass sie in dem Text vorkommen, den du für meine Beerdigung schreibst.» Das brauchte er nicht. Es verstand sich von selbst. Als es so weit war, weinte ich nicht. Bei der Beerdigung hielt ich meine Rede mit fester Stimme, ohne Tränen.
Zweieinhalb Jahre später hielt ich eine weitere Rede zu Ehren meines Vaters. Ich war wieder in Minnesota, stand unter einem blauen Maihimmel auf dem Campus des St. Olaf College in meiner Heimatstadt, oberhalb des alten Gebäudes der Norwegischen Abteilung, an der mein Vater fast vierzig Jahre lang Professor gewesen war. Der Fachbereich hatte zu seinem Gedenken eine Nordische Fichte gepflanzt und darunter eine kleine Tafel angebracht, auf der stand: Lloyd Hustvedt (1922 2004). Beim Verfassen dieses zweiten Textes hatte ich das starke Gefühl, die Stimme meines Vaters zu hören. Er selbst schrieb ausgezeichnete und oft sehr witzige Reden, und ich bildete mir beim Schreiben ein, ich hätte etwas von seinem Humor in meinen Sätzen eingefangen. Ich gebrauchte sogar die Phrase: «Wäre mein Vater heute hier, würde er vielleicht sagen ...» Selbstsicher und mit Karteikarten versehen, blickte ich über die etwa fünfzig Freunde und Kollegen, die sich rund um die Fichte versammelt hatten, öffnete den Mund zu meinem ersten Satz und begann vom Hals an abwärts zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine Stimme nicht betroffen. Sie veränderte sich überhaupt nicht. Verblüfft von dem, was mir geschah, und in Angst und Schrecken, ich könnte umkippen, gelang es mir, das Gleichgewicht zu wahren und weiterzureden, obwohl die Karten, die ich in der Hand hielt, vor mir hin und her wackelten. Als die Rede zu Ende war, hörte das Zittern auf. Ich sah auf meine Beine hinunter. Sie waren dunkelrot angelaufen und schimmerten bläulich.
Meine Mutter und meine Schwestern waren bestürzt über die mysteriöse körperliche Verwandlung, die in mir stattgefunden hatte. Sie hatten mich viele Male öffentlich sprechen sehen, mitunter vor Hunderten von Menschen. Liv sagte später, sie wäre gern nach vorne gegangen und hätte die Arme um mich gelegt, um mich zu stützen. Meine Mutter sagte, sie hätte den Eindruck gehabt, einer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl beizuwohnen. Es schien, als hätte irgendeine unbekannte Macht plötzlich meinen Körper übernommen und entschieden, er müsse einmal ordentlich und anhaltend durchgerüttelt werden. Schon einmal, im Sommer 1982, hatte ich das Gefühl gehabt, von einer höheren Macht gepackt und umhergeschleudert zu werden, als wäre ich eine Puppe. In einer Pariser Galerie zuckte mein linker Arm plötzlich nach oben, und ich knallte rückwärts gegen die Wand. Das Ganze dauerte höchstens ein paar Sekunden. Kurz darauf fühlte ich mich euphorisch, von übernatürlicher Freude erfüllt, und dann kam die brutale Migräne, die fast ein Jahr lang anhalten sollte, das Jahr von Fiorenol, Inderal, Cafergot, Elavil, Tofranil, Mellaril und einem Schlafmittelcocktail, den ich im Sprechzimmer eines Arztes in der Hoffnung schluckte, kopfschmerzfrei wieder aufzuwachen. Aber leider war mir kein solches Glück beschieden. Schließlich wies mich derselbe Neurologe ins Krankenhaus ein und setzte mich unter die antipsychotische Droge Megaphen. Jene benebelten acht Tage in der neurologischen Abteilung mit meiner alten, aber erstaunlich agilen Zimmergenossin, einer Schlaganfallpatientin, die jeden Abend mit einer herzigerweise Posey genannten Vorrichtung an ihr Bett gefesselt wurde und jede Nacht den Schwestern trotzte, indem sie sich von ihren Fesseln befreite und über den Korridor floh, jene seltsamen Tage unter Drogen, unterbrochen von Visiten junger Männer in weißen Kitteln, die mir Stifte vor die Nase hielten, die ich erkennen musste, mich nach dem Datum und dem Jahr und dem Namen des Präsidenten fragten, mich mit kleinen Nadeln stachen «Spüren Sie das?» und durch die halboffene Tür das seltene Winken des Kopfschmerzpapstes persönlich, Dr. C., ein Mann, der mich meistens übersah und gereizt zu sein schien, dass ich nicht mitmachte und gesund wurde jene Tage sind mir als eine Zeit der schwärzesten aller schwarzen Komödien in Erinnerung geblieben. Niemand wusste wirklich, was mir fehlte. Mein Arzt gab dem einen Namen vaskuläres Migränesyndrom , aber wieso ich ein erbrechender, jammervoller, flachgelegter, verängstigter ungeheurer Kopfschmerz geworden war, ein Humpty Dumpty nach seinem Sturz von der Mauer, konnte niemand sagen.
Meine Ausflüge in die Welten der Neurologie, Psychiatrie und Psychoanalyse hatten schon lange vor meinem Aufenthalt im Mount Sinai Medical Center begonnen. Seit meiner Kindheit leide ich unter Migräne, und meine Kopfschmerzen, meine Schwindelanfälle, meine himmlischen Gefühle von Levitation, die Sterne, das Schwarzwerden vor den Augen und meine einzige visuelle Halluzination von einem rosa Männchen und einem rosa Ochsen auf dem Fußboden meines Schlafzimmers erregen seit langem meine Neugier. Ich hatte schon viele Jahre über diese Geheimnisse gelesen, ehe ich an jenem Nachmittag in Northfield meinen Zitteranfall bekam. Meine Recherchen nahmen sogar noch zu, nachdem ich beschlossen hatte, einen Roman zu schreiben, worin ich einen Psychiater und Psychoanalytiker darstellen musste, einen Mann, den ich mit der Zeit als meinen imaginären Bruder betrachtete: Erik Davidsen. In Minnesota bei Eltern aufgewachsen, die den meinen sehr ähnlich waren, war er der Junge, der in der Familie Hustvedt nie geboren wurde. Als Erik stürzte ich mich in die Windungen psychiatrischer Diagnostik und die unzähligen Geistesstörungen, von denen Menschen befallen werden. Ich arbeitete mich in die Pharmakologie ein und machte mich mit den verschiedenen Gruppen von Medikamenten vertraut. Ich kaufte mir ein Buch mit Mustertests für die psychiatrischen Behörden des Staates New York und übte mich darin, sie auszufüllen. Ich las noch mehr psychoanalytische Literatur und zahllose Fallgeschichten psychischer Erkrankungen. Ich war fasziniert von den Neurowissenschaften und hörte eine Vorlesung über Hirnforschung, die einmal im Monat am New York Psychoanalytic Institute gehalten wurde; ich wurde eingeladen, Mitglied einer Diskussionsgruppe über ein neues Gebiet, die Neuropsychoanalyse, zu werden.
In dieser Gruppe suchten Neurowissenschaftler, Psychiater und Psychoanalytiker eine gemeinsame Basis, auf der die analytischen Erkenntnisse mit den Ergebnissen der neuesten Hirnforschung zusammengeführt werden könnten. Ich kaufte mir ein Gehirnmodell, machte mich mit seinen vielen Teilen vertraut, hörte aufmerksam zu und las noch mehr. Tatsächlich las ich wie eine Besessene, wie mein Mann mir immer wieder sagte. Er fand sogar, mein gieriges Lesen habe Ähnlichkeit mit einer Sucht. Dann meldete ich mich als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Payne Whitney Psychiatric Clinic und gab den Patienten einmal in der Woche Unterricht im Schreiben. In der Klinik kam ich einzelnen, an komplexen Krankheiten leidenden Menschen nahe, die mitunter wenig Ähnlichkeit mit den im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (gewöhnlich DSM genannt) katalogisierten Beschreibungen hatten. Zu dem Zeitpunkt, als ich vor dem Baum meines Vaters stand und zitterte, war ich seit Jahren tief in die Welt von Gehirn und Geist eingestiegen. Was aus Wissbegier über die Mysterien meines eigenen Nervensystems begann, hatte sich zu einer großen Leidenschaft entwickelt. Intellektuelle Wissbegier über die eigene Krankheit entsteht mit Sicherheit aus dem Wunsch nach deren Beherrschung. Wenn ich mich nicht heilen konnte, konnte ich wenigstens anfangen, mich selbst zu verstehen.
© 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Zweieinhalb Jahre später hielt ich eine weitere Rede zu Ehren meines Vaters. Ich war wieder in Minnesota, stand unter einem blauen Maihimmel auf dem Campus des St. Olaf College in meiner Heimatstadt, oberhalb des alten Gebäudes der Norwegischen Abteilung, an der mein Vater fast vierzig Jahre lang Professor gewesen war. Der Fachbereich hatte zu seinem Gedenken eine Nordische Fichte gepflanzt und darunter eine kleine Tafel angebracht, auf der stand: Lloyd Hustvedt (1922 2004). Beim Verfassen dieses zweiten Textes hatte ich das starke Gefühl, die Stimme meines Vaters zu hören. Er selbst schrieb ausgezeichnete und oft sehr witzige Reden, und ich bildete mir beim Schreiben ein, ich hätte etwas von seinem Humor in meinen Sätzen eingefangen. Ich gebrauchte sogar die Phrase: «Wäre mein Vater heute hier, würde er vielleicht sagen ...» Selbstsicher und mit Karteikarten versehen, blickte ich über die etwa fünfzig Freunde und Kollegen, die sich rund um die Fichte versammelt hatten, öffnete den Mund zu meinem ersten Satz und begann vom Hals an abwärts zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine Stimme nicht betroffen. Sie veränderte sich überhaupt nicht. Verblüfft von dem, was mir geschah, und in Angst und Schrecken, ich könnte umkippen, gelang es mir, das Gleichgewicht zu wahren und weiterzureden, obwohl die Karten, die ich in der Hand hielt, vor mir hin und her wackelten. Als die Rede zu Ende war, hörte das Zittern auf. Ich sah auf meine Beine hinunter. Sie waren dunkelrot angelaufen und schimmerten bläulich.
Meine Mutter und meine Schwestern waren bestürzt über die mysteriöse körperliche Verwandlung, die in mir stattgefunden hatte. Sie hatten mich viele Male öffentlich sprechen sehen, mitunter vor Hunderten von Menschen. Liv sagte später, sie wäre gern nach vorne gegangen und hätte die Arme um mich gelegt, um mich zu stützen. Meine Mutter sagte, sie hätte den Eindruck gehabt, einer Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl beizuwohnen. Es schien, als hätte irgendeine unbekannte Macht plötzlich meinen Körper übernommen und entschieden, er müsse einmal ordentlich und anhaltend durchgerüttelt werden. Schon einmal, im Sommer 1982, hatte ich das Gefühl gehabt, von einer höheren Macht gepackt und umhergeschleudert zu werden, als wäre ich eine Puppe. In einer Pariser Galerie zuckte mein linker Arm plötzlich nach oben, und ich knallte rückwärts gegen die Wand. Das Ganze dauerte höchstens ein paar Sekunden. Kurz darauf fühlte ich mich euphorisch, von übernatürlicher Freude erfüllt, und dann kam die brutale Migräne, die fast ein Jahr lang anhalten sollte, das Jahr von Fiorenol, Inderal, Cafergot, Elavil, Tofranil, Mellaril und einem Schlafmittelcocktail, den ich im Sprechzimmer eines Arztes in der Hoffnung schluckte, kopfschmerzfrei wieder aufzuwachen. Aber leider war mir kein solches Glück beschieden. Schließlich wies mich derselbe Neurologe ins Krankenhaus ein und setzte mich unter die antipsychotische Droge Megaphen. Jene benebelten acht Tage in der neurologischen Abteilung mit meiner alten, aber erstaunlich agilen Zimmergenossin, einer Schlaganfallpatientin, die jeden Abend mit einer herzigerweise Posey genannten Vorrichtung an ihr Bett gefesselt wurde und jede Nacht den Schwestern trotzte, indem sie sich von ihren Fesseln befreite und über den Korridor floh, jene seltsamen Tage unter Drogen, unterbrochen von Visiten junger Männer in weißen Kitteln, die mir Stifte vor die Nase hielten, die ich erkennen musste, mich nach dem Datum und dem Jahr und dem Namen des Präsidenten fragten, mich mit kleinen Nadeln stachen «Spüren Sie das?» und durch die halboffene Tür das seltene Winken des Kopfschmerzpapstes persönlich, Dr. C., ein Mann, der mich meistens übersah und gereizt zu sein schien, dass ich nicht mitmachte und gesund wurde jene Tage sind mir als eine Zeit der schwärzesten aller schwarzen Komödien in Erinnerung geblieben. Niemand wusste wirklich, was mir fehlte. Mein Arzt gab dem einen Namen vaskuläres Migränesyndrom , aber wieso ich ein erbrechender, jammervoller, flachgelegter, verängstigter ungeheurer Kopfschmerz geworden war, ein Humpty Dumpty nach seinem Sturz von der Mauer, konnte niemand sagen.
Meine Ausflüge in die Welten der Neurologie, Psychiatrie und Psychoanalyse hatten schon lange vor meinem Aufenthalt im Mount Sinai Medical Center begonnen. Seit meiner Kindheit leide ich unter Migräne, und meine Kopfschmerzen, meine Schwindelanfälle, meine himmlischen Gefühle von Levitation, die Sterne, das Schwarzwerden vor den Augen und meine einzige visuelle Halluzination von einem rosa Männchen und einem rosa Ochsen auf dem Fußboden meines Schlafzimmers erregen seit langem meine Neugier. Ich hatte schon viele Jahre über diese Geheimnisse gelesen, ehe ich an jenem Nachmittag in Northfield meinen Zitteranfall bekam. Meine Recherchen nahmen sogar noch zu, nachdem ich beschlossen hatte, einen Roman zu schreiben, worin ich einen Psychiater und Psychoanalytiker darstellen musste, einen Mann, den ich mit der Zeit als meinen imaginären Bruder betrachtete: Erik Davidsen. In Minnesota bei Eltern aufgewachsen, die den meinen sehr ähnlich waren, war er der Junge, der in der Familie Hustvedt nie geboren wurde. Als Erik stürzte ich mich in die Windungen psychiatrischer Diagnostik und die unzähligen Geistesstörungen, von denen Menschen befallen werden. Ich arbeitete mich in die Pharmakologie ein und machte mich mit den verschiedenen Gruppen von Medikamenten vertraut. Ich kaufte mir ein Buch mit Mustertests für die psychiatrischen Behörden des Staates New York und übte mich darin, sie auszufüllen. Ich las noch mehr psychoanalytische Literatur und zahllose Fallgeschichten psychischer Erkrankungen. Ich war fasziniert von den Neurowissenschaften und hörte eine Vorlesung über Hirnforschung, die einmal im Monat am New York Psychoanalytic Institute gehalten wurde; ich wurde eingeladen, Mitglied einer Diskussionsgruppe über ein neues Gebiet, die Neuropsychoanalyse, zu werden.
In dieser Gruppe suchten Neurowissenschaftler, Psychiater und Psychoanalytiker eine gemeinsame Basis, auf der die analytischen Erkenntnisse mit den Ergebnissen der neuesten Hirnforschung zusammengeführt werden könnten. Ich kaufte mir ein Gehirnmodell, machte mich mit seinen vielen Teilen vertraut, hörte aufmerksam zu und las noch mehr. Tatsächlich las ich wie eine Besessene, wie mein Mann mir immer wieder sagte. Er fand sogar, mein gieriges Lesen habe Ähnlichkeit mit einer Sucht. Dann meldete ich mich als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Payne Whitney Psychiatric Clinic und gab den Patienten einmal in der Woche Unterricht im Schreiben. In der Klinik kam ich einzelnen, an komplexen Krankheiten leidenden Menschen nahe, die mitunter wenig Ähnlichkeit mit den im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (gewöhnlich DSM genannt) katalogisierten Beschreibungen hatten. Zu dem Zeitpunkt, als ich vor dem Baum meines Vaters stand und zitterte, war ich seit Jahren tief in die Welt von Gehirn und Geist eingestiegen. Was aus Wissbegier über die Mysterien meines eigenen Nervensystems begann, hatte sich zu einer großen Leidenschaft entwickelt. Intellektuelle Wissbegier über die eigene Krankheit entsteht mit Sicherheit aus dem Wunsch nach deren Beherrschung. Wenn ich mich nicht heilen konnte, konnte ich wenigstens anfangen, mich selbst zu verstehen.
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Autoren-Porträt von Siri Hustvedt
Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleissende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit» und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.Aumüller, UliUli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.Osterwald, GreteGrete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde mehrfach mit Übersetzerpreisen ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane-Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Siri Hustvedt
- 2010, 4. Aufl., 240 Seiten, Masse: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Aumüller, Uli; Osterwald, Grete
- Übersetzer: Uli Aumüller, Grete Osterwald
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498030027
- ISBN-13: 9783498030025
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