Die weisse Einsamkeit
Sein Bruder Günther fand bei der Tour den Tod unter einer Eislawine.
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Sein Bruder Günther fand bei der Tour den Tod unter einer Eislawine.
Diese Tagebuchaufzeichnungen sind eine Geschichte zwischen Schuld und Schicksal und die Chronik eines Berges.
Dieweisse Einsamkeit von Reinhold Messner
LESEPROBE
Der lange Schattendes Nanga Parbat
Der Nanga Parbat ist ein besonderer Berg. Wenigstens fürmich. Von Anfang an. Auch weil ich mehr über ihn als über andere Berge gelesenhabe! Über seine Rakhiotseite, die Diamirflanke, die Rupalwand. Überdie vielen Versuche, die Erstbesteigung 1953, die tragische Diamir-Expedition1962. Immer wieder Tragödien: 1895, 1937, 1962. 1970 dann unser erster Berg imHimalaja - der Nanga Parbat. Mein Bruder Günther und ich erreichen den Gipfel,manövrieren uns in eine Notlage, steigen in unbekanntes Gelände ab, verlierenuns aus den Augen, Günther bleibt verschollen. 1000 und mehr Bergtouren sinduns zusammen gelungen: gefährliche Wände, Erstbegehungen, Rückzüge. Günther istmein Seilpartner, mein Vertrauter, mein Lieblings-Bruder gewesen. 1971 kehreich an den Ort der Tragödie zurück. Mit der Frau, die ich liebe. Mit ihrbesuche ich meine Retter und steige, von Alpträumen geplagt, zum Gletscher derVerzweiflung auf. Ich hoffe auf ein Wunder! Aber ich finde meinen Bruder nicht.
Uschi hilft mir, die Schuld zu tragen, überlebt zu haben.Sie gibt mir Lebenslust, Sicherheit, bestärkt mich in meiner Leidenschaft fürsBergsteigen. Wir reisen gemeinsam, richten uns in Südtirol ein, sind einnomadisierendes Liebespaar. Auch neue Herausforderungen locken. Wieder undwieder gehe ich fort, auf Expedition, in die Todeszone. Die Sehnsucht ist gross,die Trennungen schmerzen. Es ist nicht zuletzt die Alternative »Die Berge oderich«, die uns 1977 auseinanderreisst, es ist meineBesessenheit. Mit der Ahnung, in meinem Wahn zwischen Selbstverschwendung undSelbstvernichtung unsere Liebe zerstört zu haben, gehe ich 1978 wieder zumNanga Parbat. Um den Achttausender allein zu besteigen.
Im Biwak in der Wandmitte erschüttert ein Erdbeben dieSteilwand. Millionen Tonnen Eis brechen von den Hängen, der Rückweg istabgeschnitten. Entgegen jeder Vernunft steige ich weiter, erreiche den Gipfel,bin im Schneetreiben gezwungen, einen Schlechtwettereinbruch auszusitzen underreiche zuletzt über eine riskante Abstiegsroute den Wandfuss. Das Leben istgerettet, meine Autonomie hergestellt, die schwarze hat sich in eine weisseEinsamkeit verwandelt. Wie viel musste ich dafür aufgeben! Die Liebe für denAlleingang, meinen Bruder für die höchste Steilwand der Erde. Das Schuldgefühl,alleingeblieben zu sein, bleibt. 30 Jahre spätertreibt es mich noch einmal zum Nanga Parbat. Zu meinem Schicksalsberg. Immernoch suche ich meinen Bruder. Wenn meist auch nur im Traum. Ein paar meinerfrüheren Kameraden aber kommen mit meinem Noch-Dasein nicht zurecht! Dass ichim Gegensatz zu meinem Bruder am Leben geblieben bin, erscheint ihnen trotzmeiner Schuldgefühle als unverdientes Glück. Ein Glück, für das ich michimmerzu entschuldigen soll.
DerSchrecken des Todes
Die Deutschen und ihrSchicksalsberg! Kein Ende der Toten und Gedächtnis-Expeditionen? 1962 stirbtSigi Löw in der Bhazinmulde am Nanga Parbat - das 33. Opfer am Nackten Berg.Zwischen 1963 und 1970 erkundet Herrligkoffer die steilste Seite des NangaParbat, auch die allerschwierigste, die Rupalwand. Sie verkörpert dengewaltigsten Höhenunterschied des gesamten Himalaja. Das Basislager steht auf3600 Meter Höhe. Bis zum Gipfel sind es etwa zehn Kilometer Kletterstrecke -Lawinenhänge, Eisabbrüche, Felsrinnen - 4500 Meter Höhenunterschied. DerNeigungswinkel nimmt nach oben hin zu. Niemand kann sich vorstellen, dass einederartige Problemstellung lösbar ist. Wir - zur Mannschaft gehören auch meinBruder Günther und ich - wollen das Wagnis eingehen.
Nach derRupal-Erkundungsexpedition 1963, einer Winter-Expedition 1964 und derToni-Kinshofer-Gedächtnis-Expedition 1968 gelingt es Karl M. Herrligkoffer, fürseine Sigi-Löw-Gedächtnis-Expedition eine starke Mannschaft zu verpflichten.Erfahrene deutsche und österreichische Bergsteiger gehören zum Team. Dazu einpaar Helfer und Gäste. Aus der 1968er Mannschaft ist Peter Scholz dabei, einruhiger, sympathischer Spitzenbergsteiger. Felix Kuen und Werner Haim, diebekannten Tiroler Heeresbergführer, sind eine starke Seilschaft. Gerd Baur,Kletterer und Bergfilmer aus Friedrichshafen, gilt als verwegener Alpinist. DieMünchner Hans Saler und Gerd Mändl, der Ulmer Günter Kroh sowie der AllgäuerPeter Vogler gehören zum kleinen Kreis der Extrembergsteiger. Auch Hermann Kühnaus Heidelberg ist dabei, der »Lehrmeister« von Reinhard Karl, der seinerseitsauf die Expedition nur verzichtet, weil ihm das Abitur wichtiger ist.Ursprünglich bin ich als einziger Südtiroler im Team. Weil aber der ZillertalerPeter Habeler und der Osttiroler Sepp Mayerl ihre Teilnahme absagen, kommt auchmein Bruder Günther dazu. Unsere Begeisterung, unser ganzer Wille gilt dieserWand. Ja, auch Günther und ich wollen zum Gipfel. Und hinter diesem Wunschsteht natürlich eine gute Portion Egoismus. Auch wenn unsere Chancen kleinsind, wir geben unsere Hoffnungen nie auf. Weitere Teilnehmer sind Elmar Raab,Jürgen Winkler, Michl Anderl, Wolf Bitterling, Alice von Hobe, Max von Kienlin.Nein, ohne die Unterstützung dieser ausgezeichneten Mannschaft würden wir nichtweit kommen. Jedenfalls nicht bis unter die Merkl-Rinne, die Schlüsselstelleder Wand.
Während der sechsWochen, die wir beim Anmarsch, im Basislager und in der Wand zusammen sind,werden Sympathien und Abneigungen deutlich. Seilschaften bilden sich undRivalitäten entstehen. Max von Kienlin, ein wohlhabender schwäbischerLandadeliger, besitzt Äcker, Schloss und Wälder, aber keine Erfahrung alsBergsteiger. Dafür ist er mutig. Mutig genug, auch gegen den Kleingeist einesExpeditionsleiters, der alle entweder im blinden Gehorsam vor sich oder imGänsemarsch hinter sich sehen will, Wege zu gehen, die nicht erlaubt sind. Soist er mir von Anfang an sympathisch. Wir machen ein paar Ausflüge zusammen undtrösten uns gegenseitig über die miserable Leitung der Expedition. Felix Kuenund Werner Haim sind neben Günther und mir eine nach vielen gemeinsamen Toureneingespielte Seilschaft. Trotzdem gelingt es Herrligkoffer, die beiden Freundezu trennen. Er versucht es auch mit uns Brüdern. Schon vor dem Aufstieg inserste Hochlager. Nach Herrligkoffers Anweisungen sollen Günther und ich ingetrennten Seilschaften klettern. Warum? Ganz einfach, er will nicht, dass wirzusammenbleiben. Wir aber wollen weder seine Argumente verstehen noch seinenBefehlen folgen. Also widersprechen wir und gehen ohne die Hunzas-Träger, denener den Transport unserer Lasten verbietet. Wir tragen unsere Ausrüstung selbst.Günther und ich setzen uns damit gegen Herrligkoffer durch und bleiben zusammen.Während der gesamten Dauer der Expedition. Wir sind Kletterpartner und Brüder,keine Rivalen.
Und Gerhard Baur wirdunser Komplize. Oft sind wir in den Hochlagern im Zelt zusammen. In unsererBegeisterung gehen wir soweit, uns auszumalen, auch dann in der Wand zubleiben, wenn Herrligkoffer die Expedition abbrechen sollte. Wir wollenProviant horten und weitermachen. Auch in Eigenregie, falls die anderenaufgeben. Wer sollte uns schon vom Berg holen! Irgendwie würden wir schon biszum Gipfel kommen. Wir sprechen sogar davon, den Nanga Parbat zu überschreiten.Schliesslich haben Amerikaner 1963 den höchsten Berg der Welt, den MountEverest, überschritten. Aufstieg über den Westgrat, Abstieg über dieHillary-Route. Diese Visionen - kühne Gedankenspiele - sind ziemlich naiv. Esfehlt uns die Erfahrung, wie der Mensch in 8000 und mehr Metern über demMeeresspiegel reagiert. Solche Tagträume werden von der Mannschaft belächeltund bleiben so vage, dass die Umsetzung niemand ernst nimmt. Eine Überschreitungdes Nanga Parbat wird angedacht - mehr nicht. Nach 40 Tagen Vorarbeit in derWand erlaubt Herrligkoffer während eines Schönwetterfensters mehreren von unseinen letzten Versuch zum Gipfelsturm. Niemand weiss, wie lange das Wetter hältund welcher Logistik wir folgen. Herrligkoffer organisiert vom Basislager ausden Nachschub, wir graben Lager um Lager aus dem Schnee und kommen rasch höher.Einen Plan aber, wer wann und mit wem zum Gipfel gehen soll, gibt es nicht.Nachdem ein erster Plan aufgegeben worden ist, ist kein zweiter mit mirbesprochen worden. Wir errichten ein viertes Lager. Als Sprungbrett zum Gipfel.Ein fünftes, das letzte Lager, ist nur notdürftig ausgerüstet. Weil die gesamteMannschaft harmonisch zusammenarbeitet, scheint oben der letzte Schritt möglichzu werden. Obwohl Herrligkoffer die Seilschaft aus Felix Kuen, einemÖsterreicher, und Peter Scholz, einem Deutschen, als erste Gipfelmannschaft zufavorisieren scheint, schlage ich am 26.Juni einen vorgezogenen Aufstieg vor.Alles nur, weil sich das Wetter zum Schlechteren wendet. Kuen: »Das Wetter istnoch immer sehr schön, doch stehen wir wegen der herannahenden Wolkenbänkeunter gewaltigem Zeitdruck.«
Über Funk kündige ichdem Expeditionsleiter im Basislager an, dass ich mit dem Aufstieg zum Gipfelbeginnen werde, bevor das Wetter schlecht wird. Einverständnis. Herrligkofferverspricht, am Abend mittels Rakete - rot bedeutet schlechtes, blau gutesWetter - das Ergebnis des Wetterberichtes zu signalisieren, der im Basislagerüber Radio täglich zu empfangen ist. Bei gutem Wetter würde der Gipfel nachmehrtägiger Vorarbeit zu zweit oder zu dritt bestiegen werden. Lager V soll ausgebaut,ein Fixseil in der Merkl-Rinne verankert werden. Andere Seilschaften könntenfolgen. Bei schlechtem Wetterbericht will ich mit einem schnellen Alleingangreagieren. Gilt es jetzt doch dem Schlechtwettereinbruch zuvorzukommen. Vor derzu erwartenden Lawinengefahr ins Basislager absteigen zu können. Es geht umunsere letzte Chance. Allein kann ich den Gipfel schneller erreichen als imTeam, denke ich. Im Notfall kann ich aufgeben, rasch wieder absteigen, wenndie Schlüsselstelle in der Gipfelwand nicht kletterbar ist. Am Abend steigenGünther, Gerhard und ich bis unter die Merkl-Rinne. Über uns nur noch dieSchlüsselstelle der Wand. Eine rote Rakete kündigt Schlechtwetter an.
© Piper Verlag
Autoren-Porträt von Reinhold Messner
ReinholdMessner, geboren 1944 in Villnöss/Südtirol, gilt als der berühmteste Bergsteigerund Abenteurer unserer Zeit. Er hat etwa hundert Erstbesteigungen durchgeführt,alle vierzehn Achttausender bestiegen und zu Fuss die Antarktis und Grönland,Tibet und die Wüste Takla Makan durchquert. Ihm gelang es, die Yeti-Frage zubeantworten und als Quereinsteiger EU-Abgeordneter zu werden. Zur Zeit arbeiteter am Messner Mountain Museum, einem weltweit einzigartigen Bergmuseumsprojekt.Mehr zu Reinhold Messner: www.reinhold-messner.de
Interview mit Reinhold Messner
Anfang Juli 2004 starb ein Mann aus Thüringen bei demVersuch, den Nanga Parbat zu bezwingen; 34 Jahre nachdem Ihr Bruder Güntherdort den Tod fand. "Die weisse Einsamkeit" zeichnet Ihre Begegnungen mit dem "NacktenBerg" nach - schicksalhafte Begegnungen: den Verlust Ihres Lieblingsbruders,die Trennung von Ihrer langjährigen Gefährtin Uschi und das einmalige Gefühl,nachdem Sie 1978 den Berg alleine bezwungen hatten. Was empfinden Sie heute,wenn Sie diese Worte hören: "Nanga Parbat"?
Für mich, als Deutsch sprechender Südtiroler, ist der Nanga Parbat einganz besonderer Berg - sei es wegen seiner Geschichte aus den 1930er Jahren,dann vor allem aber auch wegen meiner eigenen Erfahrungen; wobei die Besteigungdes Nanga Parbat 1970 das aufregendste und auch härteste Bergerlebnis war, dasich zu bewältigen oder zu ertragen hatte. Auf der anderen Seite verbinde ichdamit natürlich auch die ausgleichenden Momente, als ich den Berg alleinbesteigen konnte. Ich habe in "Die weisse Einsamkeit" versucht, diese humane Dimensionherauszustellen - den Verlust des Bruders, die Tragödien der 30er Jahre, undvor allem dann eben auch die Trennung von meiner Frau aufgrund meinerBergbesessenheit. Ich habe nichts zu verstecken, sondern ich versuche vor allem,die Menschennatur zu verstehen, über diese grossen Berge. Mich interessiert beimBuchschreiben weniger, wie viele Stunden ich brauche, wie viele Lager ichaufbaue, wie viele Höhenmeter bewältigt werden. Mich interessiert vor allem derMensch diesen grossen Bergen gegenüber, mit seiner Kleinheit, mit seinerVerzweiflung, mit seinen Fehlern, die er macht - sozusagen die Menschennatur.
Wenn ich jetzt selbstkritisch sein darf: Ich habe die Weisheit des DalaiLama noch nicht erreicht, der über viele Dinge hinwegschauen kann und dessengrösste Fähigkeit das Mitgefühl ist. "Compassion", die englische Bezeichnungdafür, meint nicht "Mitleid", sondern das Mitgefühl, zu dem auch das Verstehender Fehler der anderen gehört. Nun haben es meine Kameraden vom Nanga Parbat 1970nicht allein darauf angelegt, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Das hätten sieja tun können, indem sie beschreiben, was sie erlebt haben. Das haben sie aber bisheute nicht getan. Was hat die Mannschaft empfunden, als die beiden Messnersverschwunden waren? Wie kam die Mannschaft zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehram Leben sein können? Sie haben dann einfach Dinge erfunden, denn sie warenbeim Gipfelgang ja nicht dabei, um sich in den Vordergrund zu spielen, umGeschäfte daraus zu machen, oder warum auch immer. Am meisten hat mich gestört,dass sie versucht haben, mir meine Glaubwürdigkeit zu nehmen. Dagegen habe ichmich natürlich gewehrt, denn ich kann ja Punkt für Punkt beweisen, dass esnicht so war, wie die anderen es behaupten.
Es geht ja dabei auch um eine Szene, die Bergsteigerszene, die schonlange auf die Demontage dieses Menschen wartet, der seit Jahrzehnten dieseSzene mitbestimmt und mitbeherrscht. Es geht weniger um mein bergsteigerischesKönnen, sondern mehr um meine Studien und die Bücher, die ich geschrieben habe.Meine Ansprüche sind eben andere. Ich will vor allem Hintergründe aufklären,ich möchte den Menschen sagen, dass wir nicht dadurch zu Übermenschen oderHelden werden, dass wir auf diese Berge hinaufsteigen. Ich habe den Tod desThüringers verstanden als die Folge einer grossen Begeisterung eines Menschen,der auf diesen Berg gestiegen ist und der, wie wir alle da oben, müde gewordenund durch den Sauerstoffmangels geschwächt einen Fehler gemacht hat, der ihndas Leben kostete. Das ist tragisch für die Angehörigen, für ihn selbst war esvermutlich kein grosses Problem.
Als EU-Parlamentarier haben Sie sichfür eine nachhaltige Regional-, Verkehrs- und Fremdenverkehrspolitikeingesetzt und auch für die Rechte eines autonomen Tibet gekämpft. Was war fürden politischen Menschen Reinhold Messner sein grösster Erfolg, was seine grössteNiederlage?
Wir im Europaparlament sind kleine Tröpfchen in einem grossen Teich. Eineinzelner Parlamentarier kann sowieso nichts entscheiden. In der Zeit, in derich im Parlament war, ist die Erweiterung gelungen - die natürlich schonvorbereitet war, aber die letzten Schritte mussten eben noch getan werden. DieVerfassung ist endlich über den Tisch - darüber freue ich mich sehr, und daswäre auch eigentlich ein Grund weiterzumachen. Denn ohne diese Verfassung, diezwar nur der kleinste gemeinsame Nenner von 25 einzelnen Staaten ist, kann manüberhaupt nicht weitermachen. Jetzt ist das Weiterarbeiten denkbar.
Leider habe ich in bezug auf Tibet sehr wenig erreicht. Das hängt aberweniger mit unserer Mühe zusammen - es gab nur ein paar Leute im Europaparlament,die sich um die Belange Tibets besonders kümmerten -, das liegt vor allem an dergrossen Politik. Die Herren Ministerpräsidenten, der amerikanische Präsidentusw.: Sie alle haben ein so grosses wirtschaftliches Interesse an China, dasssie die Menschenrechte vergessen, wenn es zu Verhandlungen kommt. Tibet istdeswegen bis heute nicht wirklich autonom. Es gibt eine Autonomie, aber nur proforma. Es gibt weder Religions- noch Kultureigenständigkeit. Das wollten wireigentlich erreichen. Ich hatte der Grünen Fraktion versprochen, in diesemPunkt auch weiterhin hilfreich zu sein, weil ich ja seine Heiligkeit, den DalaiLama, gut kenne und immer mit ihm in Kontakt stehe. Bei der BrennerBasistunnel-Geschichte habe ich doch mit dabei geholfen, dass es nicht zu einerökologischen Katastrophe kommt. Ende Juli werde ich beim italienischenVerkehrsminister sein, um diese Geschichte weiter zu diskutieren. Ich bin zwarnicht mehr Mandatsträger, weil ich freiwillig auf eine erneute Kandidaturverzichtet habe, aber ich bin weiterhin politisch interessiert und aktiv undwerde vor allem Projekte, die ich als Parlamentarier vorgeschlagen habe, selberumsetzen. Ich halte mehr davon, dass man selber etwas in die Welt setzt, umsetzt,weiterbringt, und wenn es noch so klein und unwichtig ist, als viele Reden zuschwingen. Die Möglichkeiten der Politiker sind ohnehin viel geringer, als diemeisten Bürger annehmen.
Einige Semester studierten Sie ander Universität Padua und fühlten sich "wie ein eingesperrtes Tier". Wie habenSie es da fünf Jahre lang im Europaparlament ausgehalten? Wie vertragen sichDiplomatie und Kompromiss mit Grenzerfahrung und Einsamkeit?
Sie haben völlig Recht, Politik heisst Kompromisse machen, das ist in einerDemokratie nicht anders möglich. Aber Politik ist auch Überzeugungsarbeit. Unddieser Teil liegt mir sehr. Ich habe immer wieder im Parlament und in anderenDiskussionen versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich habe auch vielausserhalb des Parlamentes gearbeitet, bin oft bei Vorträgen oder Fernseh-Diskussionenaufgetreten, auch vor Wirtschaftszirkeln oder vor jungen Leuten. Als Politikerhatten meine Worte natürlich mehr Gewicht als ohne Mandat.
Was den Terminkalender und die Räumlichkeiten angeht, da waren die fünfJahre natürlich schwierig. Immer eingesperrt zu sein - ich kam mir anfangs vorwie im Gefängnis. Aber ich war ja in der Zeit meiner Rekonvaleszenz, ich hattedamals Probleme mit meinem Bein. Ich habe die Kandidatur 1999 nur angenommen, weilich nicht mehr voll auf den Beinen war. Inzwischen habe ich mich völlig erholtund kann mir wieder Reisen vornehmen. Ich komme gerade aus der Gobi zurück undwerde auch in den nächsten Jahren wieder Expeditionen machen. Nicht mehr soextrem wie vor 20 Jahren, aber immer noch am Rande dieser Erde. Ich habe nocheinige "Themen", die ich mir erarbeiten möchte.
Abschliessend eine metaphorischeFrage: Angenommen, Deutschland sei eine Bergsteigergruppe, die in einigenMonaten einen Achttausender zu bezwingen hat, und Sie hätten die Verantwortungfür diese Expedition. Welche Fähigkeiten würden Sie, ausgehend von dergegenwärtigen Verfassung der Gruppe, in diesen Monaten besonders schulen? Oderwürden Sie die Expedition lieber gleich ganz abblasen?
Ich kenne Deutschland relativ gut. Ich bin ja ein Mitteleuropäer. Ich binkein Italiener, kein Österreicher und auch kein Deutscher, sondern ich fühlemich als Südtiroler und Europäer. Wenn ich die deutsche Situation mit der im RestEuropas vergleiche, bin ich immer noch recht zuversichtlich, obwohl die hierherrschende Anspruchsdemokratie doch inzwischen sehr bestimmend geworden ist. Anspruchsdemokratieist kritisch gemeint. Die Leute haben immer Ansprüche an die Gesellschaft, anden Staat, aber sie haben oft nur wenige Ansprüche an sich selber. Ich glaube,das ist die Hauptkrankheit der heutigen Zeit.
Wenn ich also mit einer Gruppe Menschen einen Achttausender besteigenwill, dann müssen alle alles, was ihnen an Energie, an Begeisterung, anErfahrung und an Können zur Verfügung steht, einsetzen - und zwar freiwillig.Wenn aber einige darauf warten, dass die anderen etwas einbringen, um selbersozusagen in ihrem Windschatten mit hinaufzukommen, dann gelingt das niemandem.Das ist unser Problem. Ein Bergsteiger, der einen Achttausender besteigt, auchin der Gruppe, der trägt Verantwortung. Und die Folgen eines Fehlers spürt manunmittelbar, er kann einen das Leben kosten. Wenn ich mich nicht voll einsetze,komme ich nicht weit. Wenn ich das Zelt am Abend nicht fixiere, dann wird es inder Nacht weggerissen. Wir tun heute so, als hätte unser Handeln keine Folgen. Die,die es natürlich gibt, trägt dann die nächste Generation. Was heute an Schuldenangehäuft wird, an Infrastruktur nicht geschaffen wird, an Kreativität nichtvorgelegt wird, das hat die nächste Generation auszubaden. Die Folgen sindeinfach noch nicht spürbar genug. Ich glaube, wenn Mitteleuropa, und zwar nichtnur Deutschland, so weitermacht, dann haben wir die Chance, in wenigenJahrzehnten Dritte Welt zu sein. Es ist nicht leicht, aus diesem Tief, ausdieser Lethargie, in die wir uns haben treiben lassen, wieder herauszukommen,denn die Globalisierung fordert uns alle. Entweder sind wir gut, kreativ undbegeistert, für das, was wir tun, oder wir gehen unter. Die Antrittsrede vonBundespräsident Köhler war wirklich gut. Er hat genau das formuliert, was inDeutschland das Problem ist. Aber das Gleiche gilt für Frankreich und noch vielmehr für Italien.
Die Fragen stellte Roland GrosseHoltforth, literaturtest.de.
- Autor: Reinhold Messner
- 2009, 4. Aufl., 350 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492241867
- ISBN-13: 9783492241861
- Erscheinungsdatum: 30.08.2004
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