Die Stellings
Roman einer hanseatischen Kaufmannsfamilie
Nach der Brandkatastrophe von 1842 ist die führende Position des Hamburger Handelshauses Stelling bedroht. Das Familienoberhaupt Johannes und seine Frau Annette haben alles verloren - nur nicht ihren Mut! Nun sollen ihre Kinder den gesellschaftlichen Rang...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Stellings “
Nach der Brandkatastrophe von 1842 ist die führende Position des Hamburger Handelshauses Stelling bedroht. Das Familienoberhaupt Johannes und seine Frau Annette haben alles verloren - nur nicht ihren Mut! Nun sollen ihre Kinder den gesellschaftlichen Rang der Familie festigen. Doch es sind neue Zeiten angebrochen, und keiner der Sprösslinge möchte sich mehr so recht den Vorstellungen der Eltern fügen. Vor allem das Nesthäkchen Viktoria schockiert alle mit einer unerhörten Forderung: Sie will den Kaufmannsberuf erlernen und die Geschäfte des Hauses weiterführen!
Eine grosse Familiensaga und zugleich eine Liebeserklärung an Hamburg.
Eine grosse Familiensaga und zugleich eine Liebeserklärung an Hamburg.
Lese-Probe zu „Die Stellings “
Die Stellings von Christa Kanitz Johannes Stelling ging nachdenklich die knarrende Holztreppe hinauf. Wie jeden Abend hatte er seinen Rundgang durch die Kontorräume beendet. Obwohl er wusste, dass Jens Alberti zuverlässig und korrekt war, fand er keine Ruhe, wenn er nicht selbst noch einmal nach dem Rechten sah. Er hatte das Türschloss und die Fensterriegel überprüft, den Kassenschrank kontrolliert und die beiden Kamine, die die Schreibräume mit Wärme versorgten.
Johannes Stelling war müde. Der lange feuchte Winter steckt mir in den Knochen, dachte er, und die Probleme mit den Schiffen auf der Unterelbe machen mir Angst. Die Piraterie hört einfach nicht auf. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um diese Räuber endlich zur Ruhe zu bringen.
Damals, vor vierhundert Jahren, als Klaus Störtebeker starb, war dieses Unwesen ja keinesfalls zu Ende gewesen. Johannes Stelling seufzte. Er spürte seine fünfundfünfzig Jahre. Und dann die ständige Konkurrenz zwischen ihm und dem alten Reeder Brennicke – ein Kampf, der nun in der dritten Generation unterschwellig brodelte.
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In der Wohnung über dem Kontor war es still. Annette und die Kinder waren zu Bett gegangen. Die Kerzen waren gelöscht bis auf die eine, die Annette für ihn stehen gelassen hatte. Er nahm den Halter und ging mit dem flackernden Licht durch die Wohnräume. Das kleine Boudoir seiner Frau, in dem noch der Duft ihres Jasminwassers hing, das Speisezimmer mit dem Geruch des köstlichen Abendessens, der Salon, der ein wenig nach seinem türkischen Tabak roch – sein Zuhause. Er rückte die Schutzgitter vor den Kaminen noch einmal zurecht, zog die Standuhr auf, sah nach den Fensterläden und nach dem Hund, der artig auf der Decke lag und seinen Herrn aufmerksam beobachtete. Johannes beugte sich zu dem Setter und kraulte ihn hinter den Ohren. »Benno, du hast auch schon bessere Zeiten gesehen. Erinnerst du dich an die Hetzjagden in Wulfswede? Nun ja, aus dem Alter sind wir beide heraus.«
Die Kerze brannte herunter und er musste sich beeilen, wollte er nicht im Dunklen die Treppe zu den Schlafräumen hinauf steigen. Er sah sich noch einmal um. Alles am rechten Platz, dachte er und sog den leichten Duft von Bienenwachs ein, mit dem die Holzböden und die Treppe poliert wurden, damit das alte Holz nicht zu sehr knarrte. Oben warf er einen Blick auf die Stiege, die zu den Zimmern der Hausangestellten in der Mansarde führte. Da oben müssen sie selbst für Ordnung sorgen, dachte er und schaute kurz zu seinen Kindern. Patrizia und Viktoria schliefen bei leicht geöffneten Fenstern. Er schloss sie und sah in das Zimmer seiner Söhne.
Anfang Mai ist es einfach noch zu früh für die feuchte Nachtluft, die von der Elbe und von den Fleeten hereinzieht, überlegte er, und morgens wabert noch immer dichter Nebel durch die Gassen.
Es war fast Mitternacht, als Johannes den ehelichen Schlafraum betrat. Auf dem Nachttisch seiner Frau brannte die Kerze, die sie für ihn stehen gelassen hatte. Auch sie hatte ein Fenster geöffnet, das er nun schloss. Dabei warf er einen Blick auf die schlafende Stadt. Von hier oben konnte er bis zum Hopfenmarkt und zur Nikolaikirche sehen. In den engen Gassen mit den dicht aneinander gebauten schmalen Häusern herrschte tiefe Nacht. Bis auf die Eckleuchten waren auch die Straßenlaternen gelöscht. Beruhigt kleidete er sich aus, legte seine Beinkleider und den Gehrock sorgfältig gefaltet über den Stuhl, band den Bartschoner um und löschte das letzte Licht. Denn er hatte es nicht gern, dass Annette ihn mit dem Bartschutz sah. Müde schlüpfte er in seinem wieder einmal zu hart gestärkten Hemd unter das dicke Federbett und legte sich auf die Seite, darauf bedacht, mit seinen langen Beinen nicht gegen das hölzerne Fußende des Bettes zu stoßen. Seine Frau hatte einen leichten Schlaf und er wollte sie nicht wecken.
Johannes war ein großgewachsener Mann von kräftiger Statur, der immer ein bisschen mit seinem Gewicht kämpfte. Aber, er lächelte in die Dunkelheit hinein, Annette mag mich so wie ich bin und sorgt dafür, dass die Köchin täglich eines meiner Leibgerichte zubereitet. Mit Annette habe ich wirklich eine gute Frau gefunden, stellte er zufrieden fest. Seit zweiundzwanzig Jahren waren sie jetzt verheiratet und richtigen Streit hatte es nie gegeben, höchstens etwas Ärger, wenn sie zuviel Geld für zuviel Tand ausgab. Sie wollte eben immer etwas Besonderes sein, eine Frau möglichst an der Spitze der Honoratioren, ganz weit oben in der gehobenen Gesellschaft. Johannes lächelte vor sich hin. Dabei war er nur ein Reeder, der eher mit bescheidenen als mit großen Schiffen seinen Handel trieb. Auch sein Speicher in der Steintwiete war einer von der kleineren Sorte, dafür aber wohlgefüllt mit exklusiven Waren. Vor allem seltene Gewürze aus Madagaskar waren es, die sein Geld vermehrten, und natürlich Kaffee, Kakao und chinesischer Tee. Behaglich drehte sich Johannes auf die andere Seite. Einen großen Wunsch hatte er ja seiner Annette im letzten Jahr erfüllen können. Sie wollte, wie zwei befreundete Familien auch, ein Sommerhaus am großen Alstersee. Das hatte er vom Baumeister Lingen klein, aber fein errichten lassen und Annette freute sich, obwohl sie ein größeres, eleganteres Haus erwartet hatte. Auch er beglückwünschte sich zu seinem Entschluss. Das Leben in der Enge der Stadt mit den verwinkelten, schmalen Gassen, mit der ständig wachsenden Zahl von Menschen, die innerhalb der Wallanlagen und Mauern leben und arbeiten mussten, mit dem stinkenden Unrat auf den Straßen, den keiner beseitigte, und mit den neuen Fabriken und Industrieanlagen, die zwischen den Häusern wuchsen und die Luft verdarben, mit diesen Unannehmlichkeiten ließ es sich wirklich nicht angenehm leben. Da war es schön, an den Sonntagen mit der ganzen Familie hinaus ins Grüne zu fahren und sich inmitten von Feldern und Weiden zu ergehen.
Mit den Gedanken an die fröhlichen Gartenfeste, die der Hauseinweihung gefolgt waren, schlief er ein. Das stürmische Läuten einer Alarmglocke weckte ihn wenig später. Er fuhr hoch. Hatte er geträumt? Nein, da war es wieder. Dieses Läuten, das musste die Glocke von einem Spritzenwagen sein. Herrgott, was war denn los? Jetzt hörte er auch Stimmen auf der Straße, panikartige Schreie, lautes Rufen. Er stürzte zum Fenster. Menschen rannten durch die Gasse. In vollem Tempo preschte der Spritzenwagen einer Löschmannschaft durch die Menge. Die Pferde, zum Galopp gepeitscht, rasten rücksichtslos zwischen den Menschen hindurch. Die Männer, die auf schmalen Holzbänken zu beiden Seiten des Wagens kauerten, klammerten sich an Haltegriffen fest, um nicht herunter geschleudert zu werden. Und dann sah Johannes das Feuer über den Dächern der Häuser in der Deichstraße. Rot wölbte sich das grässliche Licht bis hinauf in die tiefhängenden, vom Südwind getriebenen Wolken. Südwind?
Der Wind treibt das Feuer genau hierher!
Johannes schüttelte seine Frau: »Annette, zieh dich an, weck die Kinder und dann nichts wie raus hier. Wir haben ein Großfeuer am Hafen und es treibt direkt auf uns zu. Schnell, nur anziehen und auf die Straße. Ich wecke die Mamsell in der Mansarde, sie soll sich um die anderen kümmern. Beeilt euch um Gottes willen.« Annette, das lange, leicht ergraute Haar zu einem dicken Zopf geflochten und das Leinenhemd mit dem Spitzenkragen bis unter das Kinn zugeknöpft, starrte ihren Mann an. »Hannes, was sagst du da? Das ist doch nicht möglich, das kann doch gar nicht sein. Was soll ich machen? Was wird aus unseren Sachen? Hannes, die Kleider, die Möbel?«
»Annette, verflixt noch mal, weck die Kinder, zieht euch an und dann raus aus dem Haus. Wir werden abbrennen, Anni, mach schnell, ich muss nach oben.«
Er hatte sein Beinkleid und die Schuhe angezogen, dann schlüpfte er in seinen bereitliegenden Hausmantel, donnerte gegen die Türen seiner Kinder, schrie »aufstehen und raus aus dem Haus« und eilte die Stiege hinauf in die Mansarde. Licht brauchte er nicht, denn durch alle Fenster leuchtete inzwischen das flackernde Feuer. Er hämmerte gegen die Tür der Mamsell und rief: »Aufstehen, ganz schnell raus auf die Straße, gleich brennt das Haus.«
Er selbst kletterte eine kleine Leiter zum Dachfenster hinauf, stieß den Eisenrahmen auf und sah hinaus. Es verschlug ihm den Atem. Die Speicher am Nikolaifleet standen wie lodernde Fackeln im Nachthimmel. Auch sein Speicher in der Steintwiete, dicht an dicht an die anderen Häuser gebaut, brannte lichterloh. Entsetzt schloss Johannes für einen Augenblick die Augen. Da verbrannte in Sekunden sein Lebenswerk und das seiner Vorfahren. Jahrzehnte hatten die Stellings zum Aufbau der Firma gebraucht, immer gegen die Konkurrenz der Brennickes gekämpft und jetzt war alles dahin. Dann besann er sich, kletterte die Leiter herunter, kontrollierte die Mansardenkammern und die Schlafzimmer seiner Familie und hastete nach unten. Verstört standen alle im großen Salon, unfähig, ohne ihn zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. »Raus aus dem Haus, schnell, wartet auf der Straße, ich komme gleich nach. Thomas, du kümmerst dich um Benno, lass ihn nicht von der Leine. Patrizia, pass auf Viktoria auf. Annette, sorge dafür, dass alle zusammenbleiben. Draußen herrscht das Chaos.«
Flüchtig umarmte er seine Frau, die zitternd in Türrahmen stand, und ihren geliebten kleinen Beutel mit der Petit–Point- Stickerei in der Hand hielt, in dem sie die Schlüssel der Häuser verwahrte. Als er sicher war, dass alle das Haus verlassen hatten, rannte er in sein Kontor, zog den Hausmantel aus und legte ihn auf den Boden. Dann öffnete er den Kassenschrank und packte Familiendokumente, Geschäftsbücher, Urkunden, Stempel, die kleine Schmuckschatulle seiner Frau und das wenige Bargeld, das er in dem Schrank verwahrte auf den Mantel, wickelte ihn zusammen und klemmte ihn unter den Arm. Traurig verließ er sein geliebtes Kontor. Er musste mit den Tränen kämpfen, als er einen letzten Blick auf das Bild seines Vaters warf.
In der Tür stand Michael, sein Ältester, Kleidungsstücke über dem Arm. »Hier, Vater, zieh den Mantel an. Ich trage den Packen.«
Die anderen warteten zitternd vor Aufregung und Angst vor dem Haus. Annette mit Patricia und Viktoria neben sich, gleich dahinter die Mamsell mit der Köchin und dem Zimmermädchen. Alle nur notdürftig bekleidet und schreckensbleich.
Michael verteilte die Mäntel, die er vom Garderobenhaken gerissen hatte. Das Feuer erfasste bereits das Nachbarhaus. Knallend, zischend und stinkend fraßen sich die Flammen in ungeheurer Geschwindigkeit durch die Etagen. Die alten Häuser aus Holz und Fachwerk boten keinen Widerstand. © Droemer Knaur Verlag
Die Kerze brannte herunter und er musste sich beeilen, wollte er nicht im Dunklen die Treppe zu den Schlafräumen hinauf steigen. Er sah sich noch einmal um. Alles am rechten Platz, dachte er und sog den leichten Duft von Bienenwachs ein, mit dem die Holzböden und die Treppe poliert wurden, damit das alte Holz nicht zu sehr knarrte. Oben warf er einen Blick auf die Stiege, die zu den Zimmern der Hausangestellten in der Mansarde führte. Da oben müssen sie selbst für Ordnung sorgen, dachte er und schaute kurz zu seinen Kindern. Patrizia und Viktoria schliefen bei leicht geöffneten Fenstern. Er schloss sie und sah in das Zimmer seiner Söhne.
Anfang Mai ist es einfach noch zu früh für die feuchte Nachtluft, die von der Elbe und von den Fleeten hereinzieht, überlegte er, und morgens wabert noch immer dichter Nebel durch die Gassen.
Es war fast Mitternacht, als Johannes den ehelichen Schlafraum betrat. Auf dem Nachttisch seiner Frau brannte die Kerze, die sie für ihn stehen gelassen hatte. Auch sie hatte ein Fenster geöffnet, das er nun schloss. Dabei warf er einen Blick auf die schlafende Stadt. Von hier oben konnte er bis zum Hopfenmarkt und zur Nikolaikirche sehen. In den engen Gassen mit den dicht aneinander gebauten schmalen Häusern herrschte tiefe Nacht. Bis auf die Eckleuchten waren auch die Straßenlaternen gelöscht. Beruhigt kleidete er sich aus, legte seine Beinkleider und den Gehrock sorgfältig gefaltet über den Stuhl, band den Bartschoner um und löschte das letzte Licht. Denn er hatte es nicht gern, dass Annette ihn mit dem Bartschutz sah. Müde schlüpfte er in seinem wieder einmal zu hart gestärkten Hemd unter das dicke Federbett und legte sich auf die Seite, darauf bedacht, mit seinen langen Beinen nicht gegen das hölzerne Fußende des Bettes zu stoßen. Seine Frau hatte einen leichten Schlaf und er wollte sie nicht wecken.
Johannes war ein großgewachsener Mann von kräftiger Statur, der immer ein bisschen mit seinem Gewicht kämpfte. Aber, er lächelte in die Dunkelheit hinein, Annette mag mich so wie ich bin und sorgt dafür, dass die Köchin täglich eines meiner Leibgerichte zubereitet. Mit Annette habe ich wirklich eine gute Frau gefunden, stellte er zufrieden fest. Seit zweiundzwanzig Jahren waren sie jetzt verheiratet und richtigen Streit hatte es nie gegeben, höchstens etwas Ärger, wenn sie zuviel Geld für zuviel Tand ausgab. Sie wollte eben immer etwas Besonderes sein, eine Frau möglichst an der Spitze der Honoratioren, ganz weit oben in der gehobenen Gesellschaft. Johannes lächelte vor sich hin. Dabei war er nur ein Reeder, der eher mit bescheidenen als mit großen Schiffen seinen Handel trieb. Auch sein Speicher in der Steintwiete war einer von der kleineren Sorte, dafür aber wohlgefüllt mit exklusiven Waren. Vor allem seltene Gewürze aus Madagaskar waren es, die sein Geld vermehrten, und natürlich Kaffee, Kakao und chinesischer Tee. Behaglich drehte sich Johannes auf die andere Seite. Einen großen Wunsch hatte er ja seiner Annette im letzten Jahr erfüllen können. Sie wollte, wie zwei befreundete Familien auch, ein Sommerhaus am großen Alstersee. Das hatte er vom Baumeister Lingen klein, aber fein errichten lassen und Annette freute sich, obwohl sie ein größeres, eleganteres Haus erwartet hatte. Auch er beglückwünschte sich zu seinem Entschluss. Das Leben in der Enge der Stadt mit den verwinkelten, schmalen Gassen, mit der ständig wachsenden Zahl von Menschen, die innerhalb der Wallanlagen und Mauern leben und arbeiten mussten, mit dem stinkenden Unrat auf den Straßen, den keiner beseitigte, und mit den neuen Fabriken und Industrieanlagen, die zwischen den Häusern wuchsen und die Luft verdarben, mit diesen Unannehmlichkeiten ließ es sich wirklich nicht angenehm leben. Da war es schön, an den Sonntagen mit der ganzen Familie hinaus ins Grüne zu fahren und sich inmitten von Feldern und Weiden zu ergehen.
Mit den Gedanken an die fröhlichen Gartenfeste, die der Hauseinweihung gefolgt waren, schlief er ein. Das stürmische Läuten einer Alarmglocke weckte ihn wenig später. Er fuhr hoch. Hatte er geträumt? Nein, da war es wieder. Dieses Läuten, das musste die Glocke von einem Spritzenwagen sein. Herrgott, was war denn los? Jetzt hörte er auch Stimmen auf der Straße, panikartige Schreie, lautes Rufen. Er stürzte zum Fenster. Menschen rannten durch die Gasse. In vollem Tempo preschte der Spritzenwagen einer Löschmannschaft durch die Menge. Die Pferde, zum Galopp gepeitscht, rasten rücksichtslos zwischen den Menschen hindurch. Die Männer, die auf schmalen Holzbänken zu beiden Seiten des Wagens kauerten, klammerten sich an Haltegriffen fest, um nicht herunter geschleudert zu werden. Und dann sah Johannes das Feuer über den Dächern der Häuser in der Deichstraße. Rot wölbte sich das grässliche Licht bis hinauf in die tiefhängenden, vom Südwind getriebenen Wolken. Südwind?
Der Wind treibt das Feuer genau hierher!
Johannes schüttelte seine Frau: »Annette, zieh dich an, weck die Kinder und dann nichts wie raus hier. Wir haben ein Großfeuer am Hafen und es treibt direkt auf uns zu. Schnell, nur anziehen und auf die Straße. Ich wecke die Mamsell in der Mansarde, sie soll sich um die anderen kümmern. Beeilt euch um Gottes willen.« Annette, das lange, leicht ergraute Haar zu einem dicken Zopf geflochten und das Leinenhemd mit dem Spitzenkragen bis unter das Kinn zugeknöpft, starrte ihren Mann an. »Hannes, was sagst du da? Das ist doch nicht möglich, das kann doch gar nicht sein. Was soll ich machen? Was wird aus unseren Sachen? Hannes, die Kleider, die Möbel?«
»Annette, verflixt noch mal, weck die Kinder, zieht euch an und dann raus aus dem Haus. Wir werden abbrennen, Anni, mach schnell, ich muss nach oben.«
Er hatte sein Beinkleid und die Schuhe angezogen, dann schlüpfte er in seinen bereitliegenden Hausmantel, donnerte gegen die Türen seiner Kinder, schrie »aufstehen und raus aus dem Haus« und eilte die Stiege hinauf in die Mansarde. Licht brauchte er nicht, denn durch alle Fenster leuchtete inzwischen das flackernde Feuer. Er hämmerte gegen die Tür der Mamsell und rief: »Aufstehen, ganz schnell raus auf die Straße, gleich brennt das Haus.«
Er selbst kletterte eine kleine Leiter zum Dachfenster hinauf, stieß den Eisenrahmen auf und sah hinaus. Es verschlug ihm den Atem. Die Speicher am Nikolaifleet standen wie lodernde Fackeln im Nachthimmel. Auch sein Speicher in der Steintwiete, dicht an dicht an die anderen Häuser gebaut, brannte lichterloh. Entsetzt schloss Johannes für einen Augenblick die Augen. Da verbrannte in Sekunden sein Lebenswerk und das seiner Vorfahren. Jahrzehnte hatten die Stellings zum Aufbau der Firma gebraucht, immer gegen die Konkurrenz der Brennickes gekämpft und jetzt war alles dahin. Dann besann er sich, kletterte die Leiter herunter, kontrollierte die Mansardenkammern und die Schlafzimmer seiner Familie und hastete nach unten. Verstört standen alle im großen Salon, unfähig, ohne ihn zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. »Raus aus dem Haus, schnell, wartet auf der Straße, ich komme gleich nach. Thomas, du kümmerst dich um Benno, lass ihn nicht von der Leine. Patrizia, pass auf Viktoria auf. Annette, sorge dafür, dass alle zusammenbleiben. Draußen herrscht das Chaos.«
Flüchtig umarmte er seine Frau, die zitternd in Türrahmen stand, und ihren geliebten kleinen Beutel mit der Petit–Point- Stickerei in der Hand hielt, in dem sie die Schlüssel der Häuser verwahrte. Als er sicher war, dass alle das Haus verlassen hatten, rannte er in sein Kontor, zog den Hausmantel aus und legte ihn auf den Boden. Dann öffnete er den Kassenschrank und packte Familiendokumente, Geschäftsbücher, Urkunden, Stempel, die kleine Schmuckschatulle seiner Frau und das wenige Bargeld, das er in dem Schrank verwahrte auf den Mantel, wickelte ihn zusammen und klemmte ihn unter den Arm. Traurig verließ er sein geliebtes Kontor. Er musste mit den Tränen kämpfen, als er einen letzten Blick auf das Bild seines Vaters warf.
In der Tür stand Michael, sein Ältester, Kleidungsstücke über dem Arm. »Hier, Vater, zieh den Mantel an. Ich trage den Packen.«
Die anderen warteten zitternd vor Aufregung und Angst vor dem Haus. Annette mit Patricia und Viktoria neben sich, gleich dahinter die Mamsell mit der Köchin und dem Zimmermädchen. Alle nur notdürftig bekleidet und schreckensbleich.
Michael verteilte die Mäntel, die er vom Garderobenhaken gerissen hatte. Das Feuer erfasste bereits das Nachbarhaus. Knallend, zischend und stinkend fraßen sich die Flammen in ungeheurer Geschwindigkeit durch die Etagen. Die alten Häuser aus Holz und Fachwerk boten keinen Widerstand. © Droemer Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Christa Kanitz
Christa Kanitz studierte Psychologie und lebte längere Zeit im Ausland, bevor sie als Journalistin für den Südwestfunk Baden-Baden und als Redakteurin renommierter Frauenzeitschriften zu arbeiten begann. Die Autorin ist Mutter von drei Kindern und lebt in Hamburg
Bibliographische Angaben
- Autor: Christa Kanitz
- 2004, 363 Seiten, Masse: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426624397
- ISBN-13: 9783426624395
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