Die Schwarzwaldbäuerin
Erinnerungen an ein Landleben
Zu fallen ist keine Schand, liegen zu bleiben schon.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Zu fallen ist keine Schand, liegen zu bleiben schon.
Klappentext zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Das Leben der Bäuerin Anni ist hart und entbehrungsreich. Die Eltern sterben früh. Schon mit 16 Jahren muss Anni den Hof bewirtschaften und ihren kleinen Geschwistern Vater und Mutter ersetzen. Doch sie verliert nie den Mut. Ihr Glaube und der feste Zusammenhalt der Familie geben ihr die Kraft, jedem Schicksalsschlag zu trotzen.
Lese-Probe zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Die Schwarzwaldbäuerin von Anna Hettich und Sabine Eichhorst1944
Vier Monate zuvor, als der Wind durchs Gras blies und die langen Halme bog und das Heu zum zweiten Mal geschnitten wurde, im September 1944, war ich eingeschult worden.
In der Früh kämmte die Mutter mein Haar. Ungeduldig hockte ich auf einem Schemel in der Küche, kaute an einem Stück Brot, das beim Frühstück in der Stube unter den Tisch gefallen war, kaute, bis es ein weicher Brei war und malmte ihn zwischen den Zähnen hin und her, wie die Kühe es mit dem Klee taten, und jedes Mal wenn sich der Kamm in einer verfilzten Strähne verfing, zuckte ich zusammen.
»Schhhht, still ...«
Neben dem Kachelofen schlief der Hund. Ein paar Brummer kreisten um seine Schnauze, ließen sich nieder, krochen in seine Nasenlöcher. Der Hund nieste. Der Erich rutschte über den Boden und versuchte ihn beim Schwanz zu packen. Das Baby in seinem Korb begann zu greinen, die Wangen vom Fieber gefleckt, rot wie Herbstäpfel. Die ganze Nacht hatte es geweint und die Mutter hatte Wadenwickel machen wollen, doch die Resi war so klein, dass der Wickel ihr bis zum Bauch reichte, schließlich hatte die Mutter ihr ein mit lauem Wasser getränktes Hemdchen übergezogen.
»Au!«
»Schhht ... Gleich ist's fertig, Mädle.« Der Kamm kratzte über meinen Schädel, als die Mutter einen Scheitel zog. Zu beiden Seiten floss mein Haar herab, ein blonder Vorhang, und ich sah nur noch die Flecken auf dem Klinkerboden und die breiten Fugen, die hier und da an den Rändern ganz ausgefranst waren.
»Au!!«
»Willst vielleicht aussehen wie ein Lausmädle an deinem ersten Schultag?«
... mehr
Mir wäre es gleich gewesen, doch ich schluckte und hielt still. Die Mutter begann einen Zopf zu flechten, so fest, dass es ziepte und die Kopfhaut spannte. Schließlich knotete sie ein Band um die Haarspitzen und wischte ein paar Krümel von meiner Schulter. Ich rutschte vom Schemel, griff nach meinem Tornister, den ich am Tag zuvor mit der Rosmarie gepackt hatte, warf einen letzten Blick hinein - die Schiefertafel, die Fibel, der Kasten mit dem Griffel - und schulterte ihn so stürmisch, dass das Schwämmchen und das Läppchen, die außen baumelten, gegen meinen Arm schlugen. »Ich bin grad fertig!«
Die Mutter strich über mein Schulkleid und glättete die Falten in der weißen Schürze, dann schob sie eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wickelte die greinende Resi in eine Decke und nahm den Erich bei der Hand, während ich den Gang hinunterlief und die Haustür öffnete.
Im Tal hing noch der Dunst des Morgens, die Weiden leuchteten feucht und satt. Die Liesel trieb grad die Kühe aus dem Stall; später würde sie mit der Rosmarie auf den Wiesen Steine lesen, denn der Vater mähte das Heu, und Steine machten die Klinge der Sense stumpf. Unser Vater war Holzhauer und das Metzig-Gut, eine kleine Domäne, die ihm das Forstamt verpachtet hatte, lag abseits auf halber Höhe in einem Talkessel, ein altes Schwarzwälder Haus mit Walmdach und Holzschindeln, umgeben von Grasland und Fichtenwäldern. Die wenigen Hektar, die zum Hof gehörten, bewirtschaftete er neben seiner täglichen Arbeit. Sieben Jahre zuvor, 1937, waren die Eltern mit vier Kindern und auf der Suche nach Arbeit, wie so viele in jener Zeit, in den Schwarzwald gekommen; bis dahin hatte der Vater im Unterland bei Karlsruhe als Chauffeur geschafft, in einer Mühle hatte er die Kutsche der Herrschaften gefahren, mit Rössern konnte er gut. Als er eines Tages ein Inserat vom Forstamt in Rohrhardsberg las, bewarb er sich, wurde genommen und zog mit seiner Familie Richtung Süden. Anfangs litt die Mutter, entwurzelt wie ein gefällter Baum, alle Tage war sie allein und der Hof so abseits, dass nie ein Mensch vorbeikam. Ihre Traurigkeit legte sich, sobald der Vater heimkam; doch erst im Jahr darauf, als ich geboren wurde, verschwand sie vollends.
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Bist mein Schaffmädle ...« Am Vortag hatte ich alte Handschuhe angezogen und zwei Körbe voll Brennnesseln gesammelt, außerdem Löwenzahn, sodass die Liesel Spinat mit Mehlschwitze und einen Löwenzahnsalat zubereiten konnte. Ich war nicht groß, aber kräftig und fleißig.
»Nächstes Mal such ich auch Schnittlauch, dann schmeckt's noch besser, gell?«
Gemeinsam liefen wir den Pfad hinab, über Geröll und Schotter und feuchten Sand. Die Luft roch nach Gras und beginnendem Herbst, Amseln sangen und Spatzen tschilpten, zwischen den Ästen der Bäume glitzerten Spinnweben. Die Bergkuppen waren klar und ganz nah. Irgendwo bellte ein Hund und ein Huhn flatterte hoch und verschwand unter einen Busch. Ich lief immer schneller, fast stolperte ich.
»Langsam, Anna.«
Meine älteren Geschwister konnten alle lesen und schreiben. Der Toni war fast fünfzehn und weit fort, bei einem Bauern nahe Freiburg ging er in die Lehre, Gutsverwalter wollte er werden, und auch die Liesel war schon entlassen, doch der Rochus, der Hütebub war, besuchte in Schonach die Hirtenschule; dort begann der Unterricht, nachdem die Kinder das Vieh am Vormittag wegen der Hitze zurück in den Stall getrieben hatten, und er endete am Nachmittag, wenn die Sonne sank und sie ihre Herden wieder auf die Weiden brachten. Die Rosmarie ging in Rohrhardsberg in die dritte Klasse; sogar sie wusste Dinge, die ich endlich auch lernen wollte.
Nach einer Viertelstunde tauchte der Dilger-Hof hinter einer Senke auf. Die alte Frau Dilger kehrte das erste Laub zusammen, das der Wind von den Bäumen geblasen hatte, und als sie uns sah, richtete sie sich auf, eine Hand auf den Besen gestützt, die andere stützte ihren Rücken. »Komm später vorbei, Anna, dann kriegst ein Stückle Marmeladenbrot zu deinem großen Tag.«
Die Mutter dankte und wir winkten und liefen weiter. Das Baby schlief jetzt und der Erich stolperte auf nackten Füßen nebenher, immer wieder blieb er stehen, um einen Stein aufzuheben oder eine Blume zu pflücken. Zwischen den Weiden rauschte die Elz, das Wasser strömte über die Steine im Flussbett, Stromschnellen brachen sich, tanzten ins Tal hinab. Auf der Brücke begegneten wir einer Ordensschwester, einer stämmigen, kurzbeinigen Frau mit einem Glasauge, das starr geradeaus blickte, als sie uns zunickte, und die Mutter reichte ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, danach gab ich ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, so wie wir es immer taten, wenn wir dem Pfarrer oder einer Nonne vom Kloster in Hegne begegneten. »Wirst eingeschult?«
Ich nickte.
»Dann geh mit Gott, mein Kind.« Sie schlug ein Kreuz und ihr gläsernes Auge sah über meinen Kopf hinweg.
Der Weiler bestand aus vier Höfen und einem Haus, das auf einer Anhöhe lag und über die anderen zu wachen schien. Links führten Treppen, glänzend und schief getreten, zum Rathaus, in dem jede Woche für ein paar Stunden der Bürgermeister saß; neben dem Rathaus lag die Schule - ein einziges, nicht sehr großes Klassenzimmer, in dem an Wintertagen vormittags die oberen Klassen und nachmittags die unteren Klassen unterrichtet wurden, im Sommer war es grad andersherum, da kamen die Kleinen in der Früh, denn die Großen mussten auf den Höfen helfen.
Viele Kinder, die bereits auf dem Vorplatz in der Sonne warteten, kannte ich, sie wohnten auf den umliegenden Höfen, und wenn wir nicht daheim helfen oder auf den Feldern schaffen mussten, spielten wir miteinander. Die Klara und die Erika hatten mit einem Stock Linien in den festgetretenen Sand gezogen und spielten mit der Frieda und der Hilda Himmel und Hölle, grad griff die Klara mit beiden Händen ihren groben Leinenrock, hielt ihn fest und hüpfte los. Die Mutter beugte sich zum Erich hinab - er deutete auf eine Amsel, die vor einem Mauervorsprung im Staub saß, still und mit geblähtem Gefieder, ihr Schnabel ein kurzer gelber Strich. Mit plumpen Schritten, die Arme ausgestreckt, lief er auf sie zu - der Vogel erhob sich und breitete seine Flügel aus. Fassungslos starrte mein Bruder ihm nach.
»Dummer Bub«, neckte ich ihn.
»F-f-fogel ...«, stotterte der Erich, seine Wangen rot vor Empörung. »F-fort!«
»Nicht ärgern, Kleiner.« Ich nahm seine Hand. »Vögel bekommen Angst, wenn du auf sie zuläufst. Dann fliegen sie davon.«
»B-böse ...«
Die Mutter ging hinüber zur Frau vom Lehrer, die im Schatten einer Linde stand, das Haar sorgsam frisiert, die Bluse frisch gestärkt. Ein Stück abseits standen drei Buben, einer scharrte mit der Fußspitze im Sand, ein anderer zog die Schultern hoch. Ihre Mütter waren auf den Feldern. Ihre Väter an der Front.
Oder tot.
Der Karl und der Andreas rannten die Anhöhe hinauf. Der Karl rutschte, stolperte, stürzte. Wie ein Blitz zuckte der Schmerz durch sein Gesicht. Mit beiden Händen hielt er sein Knie, unter den Fingern rann Blut hervor, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ein deutscher Junge weint nicht«, sagte scharf ein größerer Bub; es war der Sohn vom Förster.
Der Karl schluckte sein Weinen.
Rasselnd, wie das Muhen einer heiseren Kuh, ertönte im selben Moment die Klingel. Der Andreas half dem Karl auf, ich brachte den Erich zur Mutter, und die Klara und die Frieda strichen ihre Röcke zurecht. Wir liefen ins Klassenzimmer, während die Mütter sich wieder auf den Weg machten, daheim gab es viel zu tun.
Das Klassenzimmer war ein Raum mit drei großen Fenstern, die so hoch lagen, dass ich nur den Himmel sah, wenn ich hinausschaute. Es roch nach Kreide und Holz. Die Mädel drängten sich rechts vom Mittelgang, die Buben links, sie ließen sich in die Bänke fallen, stießen ihre Tornister in die Fächer unter den Pulten, ihre rauen Hände strichen über Holzplatten, betasteten Tintenfässer, sie bohrten Finger in kleine Astlöcher. Ich entdeckte die Rosmarie, die leicht vorgebeugt mit eingezogenen Schultern zwischen den Drittklässlern saß; sie war mindestens einen Kopf größer als ihre Kameradinnen. Ich winkte. Die Rosmarie kicherte. Jemand hatte die Tafel geputzt, sie glänzte schwarz, und in einem schmalen Fach lagen ein einzelnes Stück Kreide und ein ausgefranster Schwamm. Neben der Tafel hing ein Bild vom Führer. Sein Gesicht war ohne Regung, doch sein Blick fiel streng auf uns herab, nichts schien ihm zu entgehen, es war, als würde er über jeden Schüler selbst in diesem entlegenen Tal wachen, und wehe, einer von uns gehorchte nicht.
»Heil Hitler!« Ein Donnerschlag fuhr durch den Raum, ließ alle erzittern. Der Lehrer Böhler war ein Mann wie ein Berg, mit kahlem Schädel und einem Herz, das für den Führer brannte. Unvermittelt stand er hinter seinem Pult.
Alle sprangen auf, standen stramm, reckten den rechten Arm und antworteten wie aus einem Mund: »Heil Hitler!«
»Setzen!« Wieder ging ein Rascheln durch die Reihen, Schuhe und nackte Füße scharrten über den Holzboden, verhaltener diesmal.
Schwerfällig ließ der Lehrer Böhler sich auf seinen Stuhl fallen, und nun schien der Führer auch über ihn zu wachen. Er nahm ein Papier aus seiner Tasche, faltete es auseinander, breitete es vor sich aus, strich mit seinen mächtigen Händen darüber. Alle sahen mucksmäuschenstill zu. Nacheinander rief er die Namen der Erstklässler auf. Jedes Kind, dessen Namen er rief, musste aufspringen und »Hier!« rufen.
»Eberl, Anna?«
»Hier!« Ich schoss hoch.
In der Reihe hinter mir kicherte ein Bub, der schon in die zweite Klasse ging. »Ist die klein«, hörte ich ihn raunen. Ich schaute mich nicht um, sah starr geradeaus und spürte, wie mir warm wurde.
»Warum wirst rot, wenn ich dich nach deinem Namen frag?« Der Lehrer musterte mich wie eine kranke Kuh.
Ich zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte ich mich umgedreht, dem Buben eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt, dass ich klein war, aber daheim auf die höchsten Kirschbäume kletterte, sodass die Mutter aus dem Haus stürzte und den Vater anflehte, mich wieder herunterzuholen. Stattdessen hielt ich dem Blick vom Lehrer stand. Und dem vom Führer.
»Eberl. Die kleine Schwester vom Toni, von der Liesel und dem Rochus und der Rosmarie.«
Ich nickte.
»Eberl ... Eber!«, zischte der Bub hinter mir.
Scham ballte sich in meinem Bauch, sie brannte, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. Ich wünschte, der Lehrer Böhler hätte das Geflüster bemerkt und dem Bub ein paar Tatzen mit dem Rohrstock in die Hände gegeben oder gleich ein paar Hosenspannis auf den Hintern, das tat er gern, er war nicht zimperlich.
»Setzen!«
Ich setzte mich und sah stumm zu, wie er Buchstabe für Buchstabe mit seinem Finger, breit wie ein Spatel, übers Papier fuhr, bis die Namensliste bei Wöhrle, Willibald endete. Dann erhob er sich - und der Führer verschwand hinter seinen breiten Schultern. Er räusperte sich, fuhr sich über den kahlen Schädel, tat ein paar Schritte nach vorn und baute sich vor zwei Buben in der ersten Reihe auf, er stützte sich mit beiden Händen auf den Rand vom Pult und schwieg, bis die Buben, die vor ihm saßen, Angst bekamen, ich sah es in ihren bleichen Gesichtern. Dann holte er Luft und ließ seine Stimme durch den Raum dröhnen. Er hielt eine kurze Ansprache, sagte, dass wir von nun an jeden Morgen unsere Zähne putzen, ihm unsere Ohren und Fingernägel vorzeigen müssten, und dass wir uns im Unterricht Mühe zu geben hätten, und wenn wir schmutzig wären oder faul oder frech, gäbe es Hosenspannis.
»Oder Tatzen mit dem Rohrstock!« Er sah zu den Zweit-, Dritt- und Viertklässlern in den hinteren Reihen, die schon wussten, wie die Schläge in die Handflächen schmerzten.
»Und ihr Kleinen ...« Als hätte der Ausbruch ihn erschöpft, ließ er sich zurück auf seinen Stuhl sinken. »Ihr Kleinen geht außerdem an zwei Tagen in der Woche zu den Bauern im Tal und sammelt Kartoffelkäfer von den Äckern. Das Reich braucht eine gute Kartoffelernte.« Er wischte sich über die Stirn, als schwitzte er. Dann gab er den älteren Schülern Rechenaufgaben und sie kramten ihre Rechenschieber aus den Tornistern.
»Ihr Neuen ...«, er faltete sein Taschentuch und schob es in seine Hosentasche, »ihr lernt jetzt schreiben.«
Artig nahmen wir unsere Tafeln, öffneten unsere Griffelkästen, und den Rest der Stunde schrieb ich mit ungelenken Fingern meine ersten Buchstaben: A wie Anna - B wie Baum - C ...
Copyright © by Ullstein Verlag
Mir wäre es gleich gewesen, doch ich schluckte und hielt still. Die Mutter begann einen Zopf zu flechten, so fest, dass es ziepte und die Kopfhaut spannte. Schließlich knotete sie ein Band um die Haarspitzen und wischte ein paar Krümel von meiner Schulter. Ich rutschte vom Schemel, griff nach meinem Tornister, den ich am Tag zuvor mit der Rosmarie gepackt hatte, warf einen letzten Blick hinein - die Schiefertafel, die Fibel, der Kasten mit dem Griffel - und schulterte ihn so stürmisch, dass das Schwämmchen und das Läppchen, die außen baumelten, gegen meinen Arm schlugen. »Ich bin grad fertig!«
Die Mutter strich über mein Schulkleid und glättete die Falten in der weißen Schürze, dann schob sie eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wickelte die greinende Resi in eine Decke und nahm den Erich bei der Hand, während ich den Gang hinunterlief und die Haustür öffnete.
Im Tal hing noch der Dunst des Morgens, die Weiden leuchteten feucht und satt. Die Liesel trieb grad die Kühe aus dem Stall; später würde sie mit der Rosmarie auf den Wiesen Steine lesen, denn der Vater mähte das Heu, und Steine machten die Klinge der Sense stumpf. Unser Vater war Holzhauer und das Metzig-Gut, eine kleine Domäne, die ihm das Forstamt verpachtet hatte, lag abseits auf halber Höhe in einem Talkessel, ein altes Schwarzwälder Haus mit Walmdach und Holzschindeln, umgeben von Grasland und Fichtenwäldern. Die wenigen Hektar, die zum Hof gehörten, bewirtschaftete er neben seiner täglichen Arbeit. Sieben Jahre zuvor, 1937, waren die Eltern mit vier Kindern und auf der Suche nach Arbeit, wie so viele in jener Zeit, in den Schwarzwald gekommen; bis dahin hatte der Vater im Unterland bei Karlsruhe als Chauffeur geschafft, in einer Mühle hatte er die Kutsche der Herrschaften gefahren, mit Rössern konnte er gut. Als er eines Tages ein Inserat vom Forstamt in Rohrhardsberg las, bewarb er sich, wurde genommen und zog mit seiner Familie Richtung Süden. Anfangs litt die Mutter, entwurzelt wie ein gefällter Baum, alle Tage war sie allein und der Hof so abseits, dass nie ein Mensch vorbeikam. Ihre Traurigkeit legte sich, sobald der Vater heimkam; doch erst im Jahr darauf, als ich geboren wurde, verschwand sie vollends.
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Bist mein Schaffmädle ...« Am Vortag hatte ich alte Handschuhe angezogen und zwei Körbe voll Brennnesseln gesammelt, außerdem Löwenzahn, sodass die Liesel Spinat mit Mehlschwitze und einen Löwenzahnsalat zubereiten konnte. Ich war nicht groß, aber kräftig und fleißig.
»Nächstes Mal such ich auch Schnittlauch, dann schmeckt's noch besser, gell?«
Gemeinsam liefen wir den Pfad hinab, über Geröll und Schotter und feuchten Sand. Die Luft roch nach Gras und beginnendem Herbst, Amseln sangen und Spatzen tschilpten, zwischen den Ästen der Bäume glitzerten Spinnweben. Die Bergkuppen waren klar und ganz nah. Irgendwo bellte ein Hund und ein Huhn flatterte hoch und verschwand unter einen Busch. Ich lief immer schneller, fast stolperte ich.
»Langsam, Anna.«
Meine älteren Geschwister konnten alle lesen und schreiben. Der Toni war fast fünfzehn und weit fort, bei einem Bauern nahe Freiburg ging er in die Lehre, Gutsverwalter wollte er werden, und auch die Liesel war schon entlassen, doch der Rochus, der Hütebub war, besuchte in Schonach die Hirtenschule; dort begann der Unterricht, nachdem die Kinder das Vieh am Vormittag wegen der Hitze zurück in den Stall getrieben hatten, und er endete am Nachmittag, wenn die Sonne sank und sie ihre Herden wieder auf die Weiden brachten. Die Rosmarie ging in Rohrhardsberg in die dritte Klasse; sogar sie wusste Dinge, die ich endlich auch lernen wollte.
Nach einer Viertelstunde tauchte der Dilger-Hof hinter einer Senke auf. Die alte Frau Dilger kehrte das erste Laub zusammen, das der Wind von den Bäumen geblasen hatte, und als sie uns sah, richtete sie sich auf, eine Hand auf den Besen gestützt, die andere stützte ihren Rücken. »Komm später vorbei, Anna, dann kriegst ein Stückle Marmeladenbrot zu deinem großen Tag.«
Die Mutter dankte und wir winkten und liefen weiter. Das Baby schlief jetzt und der Erich stolperte auf nackten Füßen nebenher, immer wieder blieb er stehen, um einen Stein aufzuheben oder eine Blume zu pflücken. Zwischen den Weiden rauschte die Elz, das Wasser strömte über die Steine im Flussbett, Stromschnellen brachen sich, tanzten ins Tal hinab. Auf der Brücke begegneten wir einer Ordensschwester, einer stämmigen, kurzbeinigen Frau mit einem Glasauge, das starr geradeaus blickte, als sie uns zunickte, und die Mutter reichte ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, danach gab ich ihr die Hand und sagte Gelobt sei Jesus Christus, so wie wir es immer taten, wenn wir dem Pfarrer oder einer Nonne vom Kloster in Hegne begegneten. »Wirst eingeschult?«
Ich nickte.
»Dann geh mit Gott, mein Kind.« Sie schlug ein Kreuz und ihr gläsernes Auge sah über meinen Kopf hinweg.
Der Weiler bestand aus vier Höfen und einem Haus, das auf einer Anhöhe lag und über die anderen zu wachen schien. Links führten Treppen, glänzend und schief getreten, zum Rathaus, in dem jede Woche für ein paar Stunden der Bürgermeister saß; neben dem Rathaus lag die Schule - ein einziges, nicht sehr großes Klassenzimmer, in dem an Wintertagen vormittags die oberen Klassen und nachmittags die unteren Klassen unterrichtet wurden, im Sommer war es grad andersherum, da kamen die Kleinen in der Früh, denn die Großen mussten auf den Höfen helfen.
Viele Kinder, die bereits auf dem Vorplatz in der Sonne warteten, kannte ich, sie wohnten auf den umliegenden Höfen, und wenn wir nicht daheim helfen oder auf den Feldern schaffen mussten, spielten wir miteinander. Die Klara und die Erika hatten mit einem Stock Linien in den festgetretenen Sand gezogen und spielten mit der Frieda und der Hilda Himmel und Hölle, grad griff die Klara mit beiden Händen ihren groben Leinenrock, hielt ihn fest und hüpfte los. Die Mutter beugte sich zum Erich hinab - er deutete auf eine Amsel, die vor einem Mauervorsprung im Staub saß, still und mit geblähtem Gefieder, ihr Schnabel ein kurzer gelber Strich. Mit plumpen Schritten, die Arme ausgestreckt, lief er auf sie zu - der Vogel erhob sich und breitete seine Flügel aus. Fassungslos starrte mein Bruder ihm nach.
»Dummer Bub«, neckte ich ihn.
»F-f-fogel ...«, stotterte der Erich, seine Wangen rot vor Empörung. »F-fort!«
»Nicht ärgern, Kleiner.« Ich nahm seine Hand. »Vögel bekommen Angst, wenn du auf sie zuläufst. Dann fliegen sie davon.«
»B-böse ...«
Die Mutter ging hinüber zur Frau vom Lehrer, die im Schatten einer Linde stand, das Haar sorgsam frisiert, die Bluse frisch gestärkt. Ein Stück abseits standen drei Buben, einer scharrte mit der Fußspitze im Sand, ein anderer zog die Schultern hoch. Ihre Mütter waren auf den Feldern. Ihre Väter an der Front.
Oder tot.
Der Karl und der Andreas rannten die Anhöhe hinauf. Der Karl rutschte, stolperte, stürzte. Wie ein Blitz zuckte der Schmerz durch sein Gesicht. Mit beiden Händen hielt er sein Knie, unter den Fingern rann Blut hervor, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ein deutscher Junge weint nicht«, sagte scharf ein größerer Bub; es war der Sohn vom Förster.
Der Karl schluckte sein Weinen.
Rasselnd, wie das Muhen einer heiseren Kuh, ertönte im selben Moment die Klingel. Der Andreas half dem Karl auf, ich brachte den Erich zur Mutter, und die Klara und die Frieda strichen ihre Röcke zurecht. Wir liefen ins Klassenzimmer, während die Mütter sich wieder auf den Weg machten, daheim gab es viel zu tun.
Das Klassenzimmer war ein Raum mit drei großen Fenstern, die so hoch lagen, dass ich nur den Himmel sah, wenn ich hinausschaute. Es roch nach Kreide und Holz. Die Mädel drängten sich rechts vom Mittelgang, die Buben links, sie ließen sich in die Bänke fallen, stießen ihre Tornister in die Fächer unter den Pulten, ihre rauen Hände strichen über Holzplatten, betasteten Tintenfässer, sie bohrten Finger in kleine Astlöcher. Ich entdeckte die Rosmarie, die leicht vorgebeugt mit eingezogenen Schultern zwischen den Drittklässlern saß; sie war mindestens einen Kopf größer als ihre Kameradinnen. Ich winkte. Die Rosmarie kicherte. Jemand hatte die Tafel geputzt, sie glänzte schwarz, und in einem schmalen Fach lagen ein einzelnes Stück Kreide und ein ausgefranster Schwamm. Neben der Tafel hing ein Bild vom Führer. Sein Gesicht war ohne Regung, doch sein Blick fiel streng auf uns herab, nichts schien ihm zu entgehen, es war, als würde er über jeden Schüler selbst in diesem entlegenen Tal wachen, und wehe, einer von uns gehorchte nicht.
»Heil Hitler!« Ein Donnerschlag fuhr durch den Raum, ließ alle erzittern. Der Lehrer Böhler war ein Mann wie ein Berg, mit kahlem Schädel und einem Herz, das für den Führer brannte. Unvermittelt stand er hinter seinem Pult.
Alle sprangen auf, standen stramm, reckten den rechten Arm und antworteten wie aus einem Mund: »Heil Hitler!«
»Setzen!« Wieder ging ein Rascheln durch die Reihen, Schuhe und nackte Füße scharrten über den Holzboden, verhaltener diesmal.
Schwerfällig ließ der Lehrer Böhler sich auf seinen Stuhl fallen, und nun schien der Führer auch über ihn zu wachen. Er nahm ein Papier aus seiner Tasche, faltete es auseinander, breitete es vor sich aus, strich mit seinen mächtigen Händen darüber. Alle sahen mucksmäuschenstill zu. Nacheinander rief er die Namen der Erstklässler auf. Jedes Kind, dessen Namen er rief, musste aufspringen und »Hier!« rufen.
»Eberl, Anna?«
»Hier!« Ich schoss hoch.
In der Reihe hinter mir kicherte ein Bub, der schon in die zweite Klasse ging. »Ist die klein«, hörte ich ihn raunen. Ich schaute mich nicht um, sah starr geradeaus und spürte, wie mir warm wurde.
»Warum wirst rot, wenn ich dich nach deinem Namen frag?« Der Lehrer musterte mich wie eine kranke Kuh.
Ich zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte ich mich umgedreht, dem Buben eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt, dass ich klein war, aber daheim auf die höchsten Kirschbäume kletterte, sodass die Mutter aus dem Haus stürzte und den Vater anflehte, mich wieder herunterzuholen. Stattdessen hielt ich dem Blick vom Lehrer stand. Und dem vom Führer.
»Eberl. Die kleine Schwester vom Toni, von der Liesel und dem Rochus und der Rosmarie.«
Ich nickte.
»Eberl ... Eber!«, zischte der Bub hinter mir.
Scham ballte sich in meinem Bauch, sie brannte, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. Ich wünschte, der Lehrer Böhler hätte das Geflüster bemerkt und dem Bub ein paar Tatzen mit dem Rohrstock in die Hände gegeben oder gleich ein paar Hosenspannis auf den Hintern, das tat er gern, er war nicht zimperlich.
»Setzen!«
Ich setzte mich und sah stumm zu, wie er Buchstabe für Buchstabe mit seinem Finger, breit wie ein Spatel, übers Papier fuhr, bis die Namensliste bei Wöhrle, Willibald endete. Dann erhob er sich - und der Führer verschwand hinter seinen breiten Schultern. Er räusperte sich, fuhr sich über den kahlen Schädel, tat ein paar Schritte nach vorn und baute sich vor zwei Buben in der ersten Reihe auf, er stützte sich mit beiden Händen auf den Rand vom Pult und schwieg, bis die Buben, die vor ihm saßen, Angst bekamen, ich sah es in ihren bleichen Gesichtern. Dann holte er Luft und ließ seine Stimme durch den Raum dröhnen. Er hielt eine kurze Ansprache, sagte, dass wir von nun an jeden Morgen unsere Zähne putzen, ihm unsere Ohren und Fingernägel vorzeigen müssten, und dass wir uns im Unterricht Mühe zu geben hätten, und wenn wir schmutzig wären oder faul oder frech, gäbe es Hosenspannis.
»Oder Tatzen mit dem Rohrstock!« Er sah zu den Zweit-, Dritt- und Viertklässlern in den hinteren Reihen, die schon wussten, wie die Schläge in die Handflächen schmerzten.
»Und ihr Kleinen ...« Als hätte der Ausbruch ihn erschöpft, ließ er sich zurück auf seinen Stuhl sinken. »Ihr Kleinen geht außerdem an zwei Tagen in der Woche zu den Bauern im Tal und sammelt Kartoffelkäfer von den Äckern. Das Reich braucht eine gute Kartoffelernte.« Er wischte sich über die Stirn, als schwitzte er. Dann gab er den älteren Schülern Rechenaufgaben und sie kramten ihre Rechenschieber aus den Tornistern.
»Ihr Neuen ...«, er faltete sein Taschentuch und schob es in seine Hosentasche, »ihr lernt jetzt schreiben.«
Artig nahmen wir unsere Tafeln, öffneten unsere Griffelkästen, und den Rest der Stunde schrieb ich mit ungelenken Fingern meine ersten Buchstaben: A wie Anna - B wie Baum - C ...
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Autoren-Porträt von Anna Hettich, Sabine Eichhorst
Hettich, AnnaAnna Hettich lebt heute in der Nähe von Donaueschingen.
Eichhorst, Sabine
Sabine Eichhorst arbeitet für die ARD und schreibt Bücher, zuletzt über das Leben einer Magd, Ein Tagwerk Leben. Sie wurde mit dem Civis Medienpreis der ARD ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Anna Hettich , Sabine Eichhorst
- 2012, 304 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374522
- ISBN-13: 9783548374529
- Erscheinungsdatum: 14.09.2012
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