Die Mitternachtsrose
Roman
Von den verborgenen Geheimnissen eines englischen Herrenhauses zu der Pracht indischer Paläste.
Im englischen Dartmoor soll die junge amerikanische Schauspielerin Rebecca Bradley einen Film in einem alten Herrenhaus drehen. Sie...
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Produktinformationen zu „Die Mitternachtsrose “
Von den verborgenen Geheimnissen eines englischen Herrenhauses zu der Pracht indischer Paläste.
Im englischen Dartmoor soll die junge amerikanische Schauspielerin Rebecca Bradley einen Film in einem alten Herrenhaus drehen. Sie genießt die Abgeschiedenheit von Astbury Hall. Als sie jedoch erkennt, dass sie Lady Violet, der Großmutter des Hausherrn Lord Astbury, frappierend ähnlich sieht, ist ihre Neugier geweckt. Dann taucht Ari Malik auf: ein junger Inder, den das Vermächtnis seiner Urgroßmutter Anahita nach Astbury Hall geführt hat.
Je mehr Rebecca in die Vergangenheit und in ihre Rolle eintaucht, beginnen Realität und Fiktion zu verwischen - und schließlich kommt sie nicht nur Anahitas Geschichte auf die Spur, sondern auch einem dunklen Geheimnis, das wie ein Fluch über den Astburys zu liegen scheint.
Klappentext zu „Die Mitternachtsrose “
Von den verborgenen Geheimnissen eines englischen Herrenhauses zu der Pracht indischer PalästeInnerlich aufgelöst kommt die junge amerikanische Schauspielerin Rebecca Bradley im englischen Dartmoor an, wo ein altes Herrenhaus als Kulisse für einen Film dient, der in den 1920er Jahren spielt. Vor ihrer Abreise hat die Nachricht von Rebeccas angeblicher Verlobung eine Hetzjagd der Medien auf die junge Frau ausgelöst, doch in der Abgeschiedenheit von Astbury Hall kommt Rebecca allmählich zur Ruhe. Als sie jedoch erkennt, dass sie Lady Violet, der Grossmutter des Hausherrn Lord Astbury, frappierend ähnlich sieht, ist ihre Neugier geweckt.
Dann taucht Ari Malik auf: ein junger Inder, den das Vermächtnis seiner Urgrossmutter Anahita nach Astbury Hall geführt hat. Je mehr Rebecca aber in die Vergangenheit und in ihre Rolle eintaucht, beginnen Realität und Fiktion zu verwischen - und schliesslich kommt sie nicht nur Anahitas Geschichte auf die Spur, sondern auch dem dunklen Geheimnis, daswie ein Fluch über der Dynastie der Astburys zu liegen scheint...
Lese-Probe zu „Die Mitternachtsrose “
Die Mitternachtsrose von Lucinda RileyDeutsch von Sonja Hauser
Darjeeling, Indien,
Februar 2000
Prolog
Anahita
Heute ist mein einhundertster Geburtstag. Ich habe nicht nur ein ganzes Jahrhundert erlebt, sondern es sogar in ein neues Jahrtausend geschafft.
Als ich beim Aufwachen die Sonne über dem Kanchenjunga aufgehen sehe, bringt mich ein absurder Gedanke zum Schmunzeln: Wenn ich ein Möbelstück wäre, ein eleganter Stuhl zum Beispiel, würde man mich eine Antiquität nennen. Ich würde poliert, restauriert und meiner Schönheit wegen ausgestellt. Mein Körper jedoch hat sich im Verlauf meines Lebens nicht wie schönes Mahagoni glatt geschliffen, sondern ist eher zu einem schlaffen Sack voll Knochen verfallen.
Meine »Schönheit«, falls man sie so bezeichnen kann, verbirgt sich tief in meinem Innern, sie speist sich aus dem Wissen und den Gefühlen, die ich in einem Jahrhundert angesammelt habe.
Auf den Tag genau vor hundert Jahren befragten meine Eltern wie alle Inder bei der Geburt ihrer Kinder einen Astrologen, wie die Zukunft ihrer neugeborenen Tochter aussehen würde. Diese Vorhersagen befinden sich, glaube ich, nach wie vor unter den wenigen Besitztümern meiner Mutter, die ich aufgehoben habe. Darin heißt es, ich würde alt werden, was im Jahr 1900 mit dem Segen der Götter um die fünfzig bedeutet haben dürfte.
Ich höre leises Klopfen an der Tür. Das ist Keva, meine treue Dienerin, mit einem Tablett, auf dem English Breakfast Tea und ein Kännchen mit kalter Milch stehen. Ich trinke den Tee immer noch wie die Engländer, obwohl ich die vergangenen achtundsiebzig Jahre in Indien, genauer gesagt in Darjeeling, verbracht habe.
... mehr
Weil ich an diesem besonderen Morgen gern noch eine Weile meinen Gedanken nachhängen möchte, reagiere ich nicht auf Kevas Klopfen. Bestimmt will sie mit mir den Tages- plan besprechen und mir beim Waschen und Anziehen helfen, bevor meine Familie eintrifft.
Während die Sonne die Wolken von den schneebedeckten Bergen verscheucht, suche ich am blauen Himmel nach der Antwort, um die ich jeden einzelnen Morgen der letzten achtundsiebzig Jahre zu den Göttern gebetet habe.
Heute bitte, denke ich, denn mir ist klar, dass mein Sohn noch irgendwo auf dieser Erde lebt. Wenn nicht, hätte ich das wie bei allen Menschen, die ich je geliebt habe, gewusst.
Mit Tränen in den Augen betrachte ich das einzige Foto, das ich von ihm besitze, von einem zwei Jahre alten lächelnden Engel auf meinem Schoß. Das Bild hat mir meine Freundin Indira mit der Sterbeurkunde gegeben, einige Wochen nachdem ich über den Tod meines Sohnes informiert worden war.
Vor einer Ewigkeit. Inzwischen ist mein Sohn ein alter Mann und wird im Oktober dieses Jahres seinen einundachtzigsten Geburtstag feiern. Selbst meine Fantasie reicht nicht aus, ihn mir als solchen vorzustellen.
Ich wende den Blick vom Foto meines Sohnes ab, weil ich heute die Feier genießen möchte, die meine Familie für mich vorbereitet hat. Doch bei solchen Gelegenheiten, wenn ich mein anderes Kind mit ihren Kindern und Kindeskindern sehe, empfinde ich die Abwesenheit ihres Bruders umso schmerzlicher.
Natürlich glauben sie, dass mein Sohn vor achtundsiebzig Jahren gestorben ist.
»Maaji, schau, du hast doch sogar seine Sterbeurkunde! Lass ihn in Frieden ruhen«, sagt meine Tochter Muna immer seufzend. »Freu dich lieber an der Familie, die du hast.«
Mittlerweile begreife ich Munas durchaus gerechtfertigte Frustration. Sie möchte, dass sie mir genügt, sie ganz allein. Aber ein verlorenes Kind lässt sich im Herzen einer Mutter nun einmal nicht ersetzen.
Heute werde ich meiner Tochter die Freude machen, von meinem Stuhl aus wohlwollend die Dynastie zu betrachten, deren Grundstein ich gelegt habe, ohne sie mit meinen Erzählungen über die Vergangenheit zu langweilen. Wenn sie mit ihren Kindern und deren batteriebetriebenen Spielzeugen in ihren schnellen westlichen Jeeps eintreffen, werde ich ihnen nicht schildern, wie Indira und ich die steilen Hügel rund um Darjeeling auf Pferderücken erklommen, dass Strom und fließendes Wasser seinerzeit Luxus waren oder dass ich jedes zerfledderte Buch las, das mir in die Finger kam. Geschichten von früher gehen jungen Leuten auf die Nerven; sie wollen ausschließlich in der Gegenwart leben, genau wie ich damals.
Ich kann mir vorstellen, dass die meisten in meiner Familie sich nicht gerade darüber freuen, meines einhundertsten Geburtstags wegen aus allen Teilen Indiens herfliegen zu müssen, aber vielleicht tue ich ihnen unrecht. In den vergangenen Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, warum die Jungen sich in Gesellschaft der Alten unwohl fühlen; sie könnten so viel von uns lernen. Vermutlich stammt ihr Unbehagen daher, dass unsere schwachen Körper ihnen vor Augen führen, was die Zukunft für sie bereithält. In der Blüte ihres Lebens sehen sie, wie auch sie eines Tages ihre körperliche Kraft und Attraktivität verlieren werden, ohne zu erkennen, was sie dazugewinnen.
Wie sollen sie auch ahnen, dass ihre Seelen wachsen, ihr Ungestüm einmal gezügelt und ihr Egoismus durch die Erfahrungen der Jahre gezähmt werden?
Ich akzeptiere, dass das die Natur des Menschen ist, in ihrer ganzen fantastischen Komplexität, und habe aufgehört, sie zu hinterfragen.
Als Keva das zweite Mal an meiner Tür klopft, lasse ich sie herein. Während sie in schnellem Hindi auf mich einredet, trinke ich Tee und gehe im Geiste die Namen meiner vier Enkel und elf Urenkel durch. Im Alter von einhundert Jahren möchte man beweisen, dass der Kopf noch funktioniert.
Die vier Enkel, die meine Tochter mir geschenkt hat, sind inzwischen alle selbst gute, liebevolle Eltern. Sie haben es in der neuen Welt nach der Unabhängigkeit von Großbritannien zu etwas gebracht, und ihre Kinder sind sogar noch erfolgreicher. Mindestens sechs von ihnen haben sich, soweit ich mich erinnere, selbstständig gemacht oder arbeiten in attraktiven Berufen. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass einer meiner Nachkommen sich für Medizin interessieren und in meine Fußstapfen treten würde, aber man kann nicht alles haben.
Als Keva mich zum Waschen ins Bad bringt, wird mir klar, dass meine Familie mit einer Mischung aus Glück, scharfem Verstand und Kontakten gesegnet ist. Und dass mein geliebtes Indien vermutlich noch ein Jahrhundert brauchen wird, bis bei den zahllosen auf den Straßen Hungernden wenigstens das Minimum der menschlichen Bedürfnisse befriedigt ist. Ich habe immer geholfen, wo ich konnte, weiß jedoch, dass das bei all der Armut und Not lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein war.
Während Keva mich in meinen neuen Sari - ein Geburtstagsgeschenk meiner Tochter Muna - kleidet, beschließe ich, heute nicht so trüben Gedanken nachzuhängen. Ich habe mich immer bemüht, anderen beizustehen, das muss genügen.
»Sie sind wunderschön, Madam.«
Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass sie lügt, doch für diese Lüge bin ich ihr dankbar. Meine Hand wandert zu der Perlenkette, die ich seit fast achtzig Jahren trage. In meinem Testament vermache ich sie meiner Tochter Muna.
»Ihre Tochter kommt um elf, und der Rest der Familie wird eine Stunde später hier sein. Wo wollen Sie auf sie warten?«
»Du kannst mich ans Fenster setzen«, antworte ich lächelnd. »Ich möchte meine Berge sehen.«
Sie hilft mir auf und führt mich zum Sessel.
»Kann ich Ihnen etwas bringen, Madam?«
»Nein. Geh in die Küche und vergewissere dich, dass die Köchin alles im Griff hat.«
»Ja, Madam.« Sie stellt meine Glocke vom Nachtkästchen auf das Tischchen neben mir und verlässt das Zimmer.
Ich drehe mein Gesicht ins Licht der Sonne, das durch das Panoramafenster meines Hauses auf dem Hügel hereinströmt, und denke an die Freunde, die bereits von uns gegangen sind und deshalb meiner Feier nicht beiwohnen werden. Indira, meine beste Freundin, ist vor über fünfzehn Jahren gestorben. Damals musste ich, wie nur selten im Leben, hemmungslos weinen. Nicht einmal die Gefühle meiner mir treu ergebenen Tochter lassen sich mit der Liebe und Zuneigung Indiras vergleichen, die trotz ihrer Ichbezogenheit und Flatterhaftigkeit für mich da war, als ich sie am nötigsten brauchte.
Ich blicke zum Sekretär in der Nische hinüber, in dessen verschlossener Schublade sich ein über dreihundert Seiten langer, an meinen geliebten Sohn gerichteter Brief befindet, die Geschichte meines Lebens. Irgendwann fürchtete ich, dass ich die Einzelheiten vergessen könnte, dass sie in meinem Gedächtnis verschwimmen und ausbleichen würden wie ein alter Schwarz-Weiß-Film. Wenn mein Sohn, wovon ich bis zum heutigen Tag fest überzeugt bin, am Leben ist und er jemals zu mir zurückkehren sollte, möchte ich in der Lage sein, ihm die Geschichte seiner Mutter und ihrer unauslöschlichen Liebe zu ihrem verlorenen Kind zu präsentieren. Und die Gründe, warum sie es zurücklassen musste ...
Ich begann den Brief in der Mitte meines Lebens, weil ich seinerzeit damit rechnete, bald von dieser Erde genommen zu werden. Nun liegt er seit fast fünfzig Jahren in der Schublade, unberührt und ungelesen, weil ich meinen Sohn nie gefunden habe.
Nicht einmal meine Tochter kennt meine Geschichte vor ihrer Geburt. Manchmal habe ich Gewissensbisse, weil ich sie ihr nicht erzähle. Doch immerhin hat sie meine Liebe gespürt, die ihrem Bruder versagt geblieben ist.
Ich bitte die Götter um Rat. Es wäre schrecklich, wenn der vergilbende Stapel Papier im Schreibtisch bei meinem Tod, der mit Sicherheit nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt, in die falschen Hände geriete. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn zu verbrennen. Nein. Ich schüttle den Kopf. Solange noch Hoffnung besteht, meinen Sohn aufzuspüren, bringe ich das nicht übers Herz. Ich bin einhundert Jahre alt geworden; vielleicht werde ich auch noch einhundertzehn.
Doch wem soll ich die Geschichte bis dahin anvertrauen ...?
Ich gehe im Kopf die Mitglieder meiner Familie Generation für Generation durch und lande schließlich bei einem meiner Urenkel.
Ari Malik, der älteste Sohn meines ältesten Enkels Vivek. Ich schmunzle, als ich eine Gänsehaut bekomme - das Signal der Götter, die so viel mehr wissen als ich. Ari, das einzige Mitglied meiner großen Familie mit blauen Augen, abgesehen von meinem geliebten verlorenen Sohn.
Ich versuche, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen; bei elf Urenkeln, tröste ich mich, hätte auch ein Mensch, der nur halb so alt ist wie ich, Mühe, sich zu erinnern. Außerdem leben meine Verwandten über ganz Indien verstreut, und ich sehe sie nur selten.
Vivek, Aris Vater, ist der beruflich erfolgreichste meiner Enkel, wenn auch ein bisschen langweilig. Als Ingenieur verdient er genug, um seiner Frau und seinen drei Kindern ein sehr behagliches Leben bieten zu können. Wenn ich mich recht entsinne, ist Ari, ein ziemlich schlaues Bürschchen, in England zur Schule gegangen. Was er seit dem Schulabschluss macht, weiß ich nicht. Das werde ich heute herausfinden. Ich werde ihn beobachten und überprüfen, ob ich meinem Instinkt trauen kann.
Beruhigt schließe ich die Augen und gestatte mir ein Nickerchen.
»Wo bleibt er nur?«, flüsterte Samina Malik ihrem Mann zu. »Er hat mir hoch und heilig versprochen, diesmal pünktlich zu sein.« Ihr Blick wanderte über die vollständig versammelten Mitglieder von Anahitas großer Familie, die sich im eleganten Salon um die alte Dame scharten und sie mit Geschenken und Komplimenten überhäuften.
»Keine Panik, Samina«, versuchte Vivek seine Frau zu beschwichtigen, »unser Sohn kommt schon noch.«
»Ari hat gesagt, er trifft sich um zehn Uhr am Bahnhof mit uns, damit wir gemeinsam den Hügel hochfahren können ... Vivek, er hat keinen Respekt vor seiner Familie, ich ...«
»Ruhig, pyari, er ist ein vielbeschäftigter junger Mann und ein guter Junge.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Samina. »Ich bin mir da nicht so sicher. Jedes Mal, wenn ich bei ihm anrufe, meldet sich eine andere Frauenstimme. Du weißt, wie's in Mumbai zugeht. Nichts als Bollywood-Nutten und Ganoven«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, weil sie nicht wollte, dass die anderen sie hörten.
»Unser Sohn ist fünfundzwanzig und leitet sein eigenes Unternehmen. Er weiß, was er tut«, erklärte Vivek.
»Die Bediensteten warten mit dem Champagner zum Anstoßen nur noch auf ihn. Wenn Ari in den nächsten zehn Minuten nicht kommt, sollen sie ohne ihn anfangen.«
»Na, hab ich's nicht gesagt?«, verkündete Vivek mit einem breiten Lächeln, als sein Lieblingssohn Ari den Raum betrat. »Deine Mutter hatte wie immer Panik«, begrüßte er ihn und umarmte ihn.
»Du hattest versprochen, am Bahnhof zu sein. Wir haben eine ganze Stunde gewartet! Wo warst du?«, fragte Samina, die wusste, dass sie sich wie immer nicht gegen den Charme ihres attraktiven Sohnes wehren konnte.
»Entschuldige, Ma.« Ari schenkte seiner Mutter ein strahlendes Lächeln und nahm ihre Hände in die seinen. »Ich bin aufgehalten worden und habe versucht, dich über Handy zu erreichen, aber das war wie üblich ausgeschaltet.«
Ari und sein Vater schmunzelten. Über Saminas Handyaversion amüsierte sich die ganze Familie.
»Jetzt bin ich ja da.« Ari sah sich um. »Hab ich was verpasst? «
»Nein. Deine Urgroßmutter war so damit beschäftigt, die übrige Familie zu begrüßen, dass sie deine Abwesenheit hoffentlich nicht bemerkt hat«, antwortete Vivek.
Ari schaute zu seiner Urgroßmutter hinüber, deren Blick auf ihn gerichtet war.
»Ari! Endlich!«, rief sie ihm lächelnd zu. »Komm und gib deiner Urgroßmutter einen Kuss.«
»Sie mag hundert sein, aber ihr entgeht nichts«, flüsterte Samina Vivek zu.
Als Anahita ihre dünnen Arme für Ari ausbreitete, machten die anderen Verwandten Platz, und aller Augen richteten sich auf ihn. Ari ging zu ihr und kniete vor ihr nieder, um ihr seine Hochachtung mit einem tiefen pranaam zu erweisen und auf ihren Segen zu warten.
»Nani«, begrüßte er sie mit dem Kosenamen, den alle ihre Kinder und Enkel für sie verwendeten, »vergib mir die Verspätung. Es ist eine lange Reise von Mumbai hierher«, erklärte er.
Anahita musterte ihn auf diese für sie so typische Weise, als würde sie geradewegs in seine Seele blicken. »Kein Problem. « Dann berührte sie mit ihren kleinen, fast kindlichen Fingern leicht seine Wange und senkte die Stimme, so dass nur er sie verstehen konnte. »Obwohl ich es immer als hilfreich empfinde, den Wecker zu stellen, wenn ich früh aufstehen muss.« Sie zwinkerte ihm zu und gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben. »Du und ich, wir unterhalten uns später. Keva wartet darauf, mit der Feier zu beginnen.«
»Ja, Nani, natürlich«, sagte Ari errötend und stand auf. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Als er sich wieder zu seinen Eltern gesellte, fragte er sich, woher seine Urgroßmutter wusste, warum er sich verspätet hatte.
Der Tag verlief wie geplant, und Vivek hielt als ältester von Anahitas Enkeln eine bewegende Rede über ihr bemerkenswertes Leben. Je mehr Champagner floss, desto lockerer wurden alle, und die Anspannung, die bei seltenen Familien- treffen immer herrscht, begann sich zu lösen. Das angeborene Konkurrenzdenken von Geschwistern trat in den Hintergrund, während sie ihren Platz innerhalb der Familienhierarchie suchten, und die jüngeren Cousins und Cousinen legten ihre Scheu ab und entdeckten Gemeinsamkeiten.
»Schau dir deinen Sohn an!«, bemerkte Muna, Anahitas Tochter, Vivek gegenüber. »Seine Cousinen himmeln ihn an. Es wird Zeit, dass er ans Heiraten denkt.«
»Das sieht er wahrscheinlich anders«, murmelte Samina. »Heutzutage scheinen junge Männer ihre Freiheit so lange wie möglich genießen zu wollen.«
»Du möchtest also keine Ehe für ihn arrangieren?«, fragte Muna.
»Doch, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich darauf einlässt.« Vivek seufzte. »Ari gehört einer neuen Generation an, er ist sein eigener Herr, hat ein Geschäft und reist in der Welt herum. Die Zeiten haben sich geändert, Ma, und Samina und ich müssen unseren Kindern selbst überlassen, wen sie heiraten.«
»Ach.« Muna hob eine Augenbraue. »Das ist eine sehr moderne Einstellung, Vivek. So schlecht klappt das mit dir und Samina doch nicht, oder?«
»Das stimmt, Ma«, pflichtete Vivek ihr bei und nahm lächelnd die Hand seiner Frau. »Du hast eine gute Wahl für mich getroffen.«
»Wir können uns dem Trend der Zeit nicht widersetzen«, erklärte Samina. »Die jungen Leute tun heutzutage, was sie wollen, und treffen ihre eigenen Entscheidungen.« Sie blickte zu Anahita hinüber. »Deine Mutter scheint den Tag zu genießen. Sie ist das reinste Wunder.«
»Ja.« Muna seufzte. »Aber ich mache mir Sorgen um sie, weil sie ganz allein mit Keva in den Hügeln lebt. Im Winter wird es schrecklich kalt, das kann nicht gut sein für ihre alten Knochen. Ich habe sie schon oft gebeten, zu uns nach Guhagar zu kommen, damit wir uns um sie kümmern können, doch natürlich weigert sie sich. Sie behauptet, sich hier oben ihren Geistern und ihrer Vergangenheit näher zu fühlen.«
»Ihrer geheimnisvollen Vergangenheit.« Vivek runzelte die Stirn. »Ma, glaubst du, du wirst sie je überreden können, dir zu verraten, wer dein Vater war? Ich weiß, dass er vor deiner Geburt gestorben ist, aber nichts Genaueres.«
»Als Kind habe ich sie mit Fragen darüber gelöchert, weil mir das wichtig war, doch jetzt ...« Muna zuckte mit den Achseln. »Soll sie ihre Geheimnisse hüten, wenn sie möchte. Sie hätte mir keine liebevollere Mutter sein können, und ich möchte sie nicht aus der Fassung bringen.« Als sie zu ihrer Mutter hinübersah, winkte diese sie zu sich.
»Ja, Maaji, was ist?«, fragte Muna Anahita.
»Ich bin müde und werde mich zurückziehen«, antwortete Anahita, ein Gähnen unterdrückend. »Und in einer Stunde würde ich gern mit meinem Urenkel Ari sprechen.«
»Gut.« Muna half ihrer Mutter beim Aufstehen und führte sie zwischen den anderen Verwandten hindurch. Keva, wie immer nicht weit von ihrer Herrin entfernt, trat einen Schritt vor. »Meine Mutter möchte sich ausruhen, Keva. Würdest du sie bitte begleiten?«
»Natürlich, es war ein langer Tag.«
Muna sah ihnen nach, bevor sie sich wieder zu Vivek und seiner Frau gesellte. »Sie will sich ausruhen und hat mich gebeten, Ari in einer Stunde zu ihr zu schicken.«
»Tatsächlich?« Vivek runzelte die Stirn. »Warum wohl?«
»Wer weiß schon, was im Kopf meiner Mutter vorgeht?«, seufzte Muna.
»Dann sag ich ihm das mal lieber. Ich weiß, dass er bald wieder aufbrechen wollte, weil er morgen früh einen geschäftlichen Termin in Mumbai hat.«
»Dieses eine Mal muss ihm seine Familie wichtiger sein«, sagte Samina entschlossen. »Ich gehe zu ihm.«
Als Ari von seiner Mutter erfuhr, dass seine Urgroßmutter in einer Stunde mit ihm sprechen wolle, war er darüber, wie sein Vater vermutet hatte, alles andere als glücklich.
»Ich darf den Flieger nicht verpassen«, erklärte er. »Ma, ich muss mich um mein Geschäft kümmern.«
»Dann soll dein Vater seiner Großmutter beibringen, dass ihr ältester Urenkel an ihrem einhundertsten Geburtstag nicht die Zeit erübrigen kann, mit ihr zu sprechen.«
»Aber Ma ...« Als Ari die grimmige Miene seiner Mutter sah, seufzte er. »Okay.« Er nickte. »Ich bleibe. Entschuldige mich bitte. Ich muss versuchen, hier irgendwo Handyempfang zu kriegen und den Termin morgen zu verschieben.«
Samina sah ihrem Sohn nach. Er war immer schon eigensinnig gewesen und als ihr Erstgeborener von ihr verhätschelt worden. Sie hatte Ari von Anfang an als etwas Besonderes empfunden, von dem Moment an, als sie das erste Mal verblüfft in seine blauen Augen blickte. Vivek hatte im Scherz ihre eheliche Treue infrage gestellt, bis sie von Anahita erfuhren, dass Munas toter Vater ebenfalls blaue Augen gehabt hatte.
Aris Haut war heller als die seiner Geschwister, sein ungewöhnliches Aussehen erregte Aufsehen. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die er in seinen fünfundzwanzig Lebensjahren geerntet hatte, besaß er ein gewisses Maß an Arroganz, die allerdings durch seine Gutmütigkeit ausgeglichen wurde. Von ihren Kindern war Ari das liebevollste gewesen. Er hatte ihr immer geholfen, wenn es ein Problem gab - bis zu dem Zeitpunkt, als er nach Mumbai gegangen war, um dort sein eigenes Geschäft aufzubauen ...
Der Ari von heute wirkte härter und ichbezogener, was Samina nicht gefiel. Als sie sich wieder zu ihrem Mann gesellte, betete sie, dass diese Phase bald vorbei wäre.
»Mein Urenkel kann jetzt hereinkommen«, verkündete Anahita, als Keva sie im Bett aufsetzte und die Kissen aufschüttelte.
»Ja, Madam. Ich hole ihn.«
»Ich möchte nicht gestört werden.«
»Nein, Madam.«
»Hallo, Nani«, begrüßte Ari sie, als er das Zimmer wenig später forschen Schrittes betrat. »Hast du dich ein bisschen erholt?«
»Ja.« Anahita deutete auf einen Stuhl. »Ari, bitte setz dich. Tut mir leid, dass ich deine geschäftlichen Termine morgen durcheinanderbringe.«
Ari spürte, wie er zum zweiten Mal an jenem Tag rot wurde. »Kein Problem.« Wieder fragte er sich, wie sie seine Gedanken lesen konnte.
»Dein Vater sagt, du lebst in Mumbai und bist ein erfolgreicher Geschäftsmann.«
»Na ja, ›erfolgreich‹ ist im Moment ein bisschen übertrieben «, entgegnete Ari. »Aber ich arbeite hart.«
»Wie ich sehe, bist du ehrgeizig. Bestimmt wirst du eines Tages den gewünschten Erfolg haben.«
»Danke, Nani.«
Ein Lächeln huschte über Anahitas Gesicht. »Obwohl es dir möglicherweise nicht die Befriedigung verschaffen wird, die du dir erhoffst. Das Leben bietet mehr als Arbeit und Reichtum. Aber das wirst du selber noch merken. Ari, ich möchte dir etwas geben. Bitte öffne den Sekretär mit diesem Schlüssel und nimm die Papiere heraus, die du darin findest.«
Ari steckte den Schlüssel ins Schloss und holte ein vergilbtes Manuskript aus der Schublade.
»Was ist das?«, fragte er.
»Die Lebensgeschichte deiner Urgroßmutter. Geschrieben für meinen verlorenen Sohn, den ich leider nie gefunden habe. «
Ari bemerkte, dass Anahitas Augen feucht wurden. Vor Jahren hatte sein Vater ihm von diesem Sohn erzählt, der als kleines Kind in England gestorben war, wo seine Urgroßmutter sich während des Ersten Weltkriegs aufgehalten hatte. Wenn Ari sich recht erinnerte, hatte sie ihn vor ihrer Rückkehr nach Indien dort zurücklassen müssen. Offenbar weigerte
Anahita sich zu glauben, dass er tot war.
»Ich dachte ...«
»Bestimmt hat man dir von seiner Sterbeurkunde erzählt. Und dass ich in meiner Trauer den Tod meines geliebten Sohnes nicht akzeptieren kann.«
Ari rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ja, ich kenne die Geschichte«, gab er zu.
»Ich weiß, was meine Familie denkt, und kann mir vorstellen, was du davon hältst. Doch glaube mir: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein von Menschen verfasstes Dokument erklären kann. Was Herz und Seele einer Mutter sagen, darf man nicht ignorieren. Und ich versichere dir, dass mein Sohn nicht tot ist.«
»Nani, ich glaube dir.«
Anahita zuckte mit den Achseln. »Mir ist klar, dass du das nicht tust, aber das macht mir nichts aus. Zum Teil ist es meine Schuld, dass meine Familie mir nicht glaubt. Ich habe ihr nie erklärt, was damals passiert ist.«
»Warum nicht?«
»Weil ...« Anahita schüttelte, den Blick auf ihre geliebten Berge gerichtet, kaum wahrnehmbar den Kopf. »Es wäre nicht richtig, dir das jetzt darzulegen, denn es steht alles da drin.« Sie deutete auf das Papier in Aris Händen. »Wenn der richtige Moment gekommen ist - und du wirst ihn erkennen -, liest du meine Geschichte vielleicht und entscheidest selbst, ob du Nachforschungen anstellst.«
»Verstehe«, sagte Ari, doch das tat er nicht.
»Ich bitte dich nur, bis zu meinem Tod niemandem in unserer Familie etwas über den Inhalt dieser Aufzeichnungen zu verraten. Ich vertraue dir mein Leben an, Ari. Wie du weißt ...«, Anahita schwieg kurz, »... geht meine Zeit auf Erden allmählich zu Ende.«
Ari sah sie fragend an. »Du möchtest, dass ich die Geschichte lese und dann Nachforschungen über den Verbleib deines Sohnes anstelle?«, vergewisserte er sich.
»Ja.«
»Aber wo soll ich anfangen?«
»Natürlich in England.« Anahita wandte sich wieder zu ihm. »Du folgst meinen Spuren. Was du dazu wissen musst, hältst du in Händen. Dein Vater sagt, du leitest eine Computerfirma. Du kannst sicher mit dem Netz umgehen.«
»Du meinst das Internet?«, fragte Ari schmunzelnd.
»Ja. Du brauchst wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, um den Ort zu finden, an dem alles begann.«
Ari folgte dem Blick seiner Urgroßmutter zu den Bergen. »Schönes Panorama«, bemerkte er.
»Ja, deswegen bleibe ich hier oben, auch wenn es meiner Tochter nicht recht ist. Eines nicht allzu fernen Tages werde ich mit Freuden noch weiter hinaufreisen, höher als diese Gipfel, und viele Menschen wiedersehen, um die ich im Leben getrauert habe. Doch so, wie die Dinge stehen«, sie wandte sich wieder ihrem Urenkel zu, »nicht den, den ich am liebsten treffen würde.«
»Woher weißt du, dass er noch lebt?«
Anahita schloss müde die Augen. »Das steht alles in meiner Geschichte.«
»Gut. Ich lasse dich jetzt wieder allein, Nani.«
Anahita nickte. Ari erhob sich mit einem pranaam und küsste seine Urgroßmutter auf beide Wangen.
»Auf Wiedersehen. Bis bald.«
»Vielleicht«, erwiderte sie.
An der Tür wandte Ari sich noch einmal zu ihr um. »Nani, warum ich? Warum gibst du die Geschichte nicht deiner Tochter oder meinem Vater?«
Anahita sah ihn an. »Weil sie nicht nur deine Vergangenheit, sondern auch deine Zukunft ist, Ari.«
Als Ari den Raum verließ und zur Garderobe an der Haustür ging, wo seine Aktentasche stand, fühlte er sich ausgelaugt. Nachdem er die vergilbten Blätter darin verstaut hatte, betrat er das Wohnzimmer, wo seine Großmutter Muna auf ihn zukam.
»Warum wollte sie dich sehen?«, fragte sie ihn.
»Sie glaubt nicht, dass ihr Sohn tot ist, und möchte, dass ich in England Nachforschungen anstelle.«
»Oje!« Muna verdrehte die Augen. »Ich kann dir die Sterbeurkunde zeigen. Ihr Sohn ist mit knapp drei Jahren gestorben. Bitte, Ari.« Muna legte eine Hand auf die Schulter ihres Enkels. »Achte gar nicht auf sie. Sie redet seit Jahren davon. Das ist das Hirngespinst einer alten Frau und nicht wert, dass du deine wertvolle Zeit damit vergeudest, glaube mir. Komm«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »und trink ein letztes Glas Champagner mit deiner Familie.«
Während des Flugs von Bagdogra zurück nach Mumbai versuchte Ari, sich auf die Zahlen vor ihm zu konzentrieren, doch er musste immer wieder an Anahita denken. Bestimmt hatte seine Großmutter mit ihrer Behauptung recht, seine Urgroßmutter verrenne sich da in etwas. Aber bei ihrem Gespräch unter vier Augen hatte Anahita Dinge über Ari gesagt, die sie eigentlich nicht wissen konnte, die ihn verunsichert hatten. Möglicherweise war doch etwas dran an ihrer Geschichte ... Vielleicht würde er sich zu Hause die Zeit nehmen, einen Blick darauf zu werfen.
Am Flughafen von Mumbai wurde er von seiner gegenwärtigen Freundin Bimbi abgeholt, obwohl es bereits nach Mitternacht war. Den Rest der Nacht verbrachte er auf höchst angenehme Weise mit ihr in seinem Apartment mit Blick auf das Arabische Meer.
Als er am folgenden Morgen die für seinen Termin nötigen Unterlagen in die Aktentasche steckte, nahm er Anahitas Papiere heraus.
Eines Tages werde ich Zeit haben, sie zu lesen, dachte er, legte das Manuskript in die unterste Schublade seines Schreibtischs und verließ hastig die Wohnung.
Ein Jahr später
... Ich erinnere mich. In der Nacht erscheint schon die sanfteste Brise wie eine himmlische Erholung von der ewigen trockenen Hitze in Jaipur. Oft klettern die anderen Frauen und Kinder der zenana und ich zu den Dächern des Mondpalastes hinauf und schlafen dort ...
Wenn ich da liege und zu den Sternen hochblicke, höre ich dieses Singen und weiß, dass ein geliebter Mensch von der Erde genommen und sanft nach oben getragen wird ...
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und finde mich in meinem Zimmer in Darjeeling wieder, nicht auf dem Dach des Palasts in Jaipur. Es war ein Traum, versuche ich, mich ein wenig desorientiert zu beruhigen, als der Gesang in meinen Ohren nachhallt, obwohl mir klar ist, dass ich wach bin.
Ich weiß, was das bedeutet: Gerade stirbt jemand, den ich liebe. Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich schließe die Augen und gehe im Geist meine Familie durch, um herauszufinden, wer.
Ohne Erfolg. Merkwürdig, denke ich, denn noch nie zuvor haben die Götter sich geirrt.
Wer ...?
Ich atme tief durch, horche in mich hinein.
Und plötzlich weiß ich es.
Mein Sohn ... mein geliebter Sohn.
Tränen treten mir in die Augen. Um mich zu trösten, blicke ich durchs Fenster hinauf zum Himmel. Und sehe nur dunkle Nacht.
Es klopft leise an der Tür, und Keva tritt mit besorgter Miene ein.
»Madam, ich habe Sie weinen hören. Sind Sie krank?«, fragt sie, kommt zu mir und fühlt meinen Puls.
Ich schüttle stumm den Kopf, während sie mit einem Taschentuch die Tränen von meinen Wangen wischt. »Nein«, beruhige ich sie. »Ich bin nicht krank.«
»Was ist dann? Haben Sie schlecht geträumt?«
»Nein.« Sie wird es nicht verstehen. »Mein Kind ist gerade gestorben.«
Keva sieht mich entsetzt an. »Woher wissen Sie, dass Madam Muna tot ist?«
»Nicht meine Tochter, Keva, sondern mein Sohn, den ich vor so vielen Jahren in England zurücklassen musste. Er ist einundachtzig Jahre alt geworden«, murmle ich. »Immerhin hatte er ein langes Leben.«
Keva legt verwirrt eine Hand auf meine Stirn, um zu prüfen, ob ich Fieber habe. »Madam, Ihr Sohn ist schon lange tot. Wahrscheinlich haben Sie geträumt.«
»Möglich«, sage ich, um sie nicht zu beunruhigen. »Notiere bitte trotzdem Datum und Stunde für mich. Diesen Augenblick möchte ich nicht vergessen. Die Zeit des Wartens ist vorüber. «
Sie tut mir den Gefallen und gibt mir den Zettel.
»Ich komme jetzt allein zurecht. Du kannst gehen.«
»Sehr wohl, Madam. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja. Gute Nacht, Keva.«
Als sie das Zimmer verlässt, schreibe ich einen kurzen Brief. Dann hole ich die abgegriffene Sterbeurkunde meines Sohns aus der Schublade des Nachtkästchens. Morgen soll Keva beides in einen Umschlag stecken und diesen an den Anwalt schicken, der meinen Nachlass regeln wird. In dem Brief bitte ich ihn, mich anzurufen, damit ich ihm sagen kann, an wen er den Umschlag nach meinem Tod senden soll.
Ich schließe die Augen, um zu schlafen. Plötzlich fühle ich mich hier auf Erden sehr allein, und mir wird klar, dass ich auf diesen Moment gewartet habe. Bald werde ich meinem Sohn folgen ...
Drei Tage später klopfte Keva zur üblichen Zeit an der Tür ihrer Herrin. Nicht sofort eine Antwort zu erhalten war nichts Ungewöhnliches, denn Madam Chavan döste oft bis spät in den Vormittag hinein. Also erledigte Keva eine halbe Stunde lang andere Dinge im Haushalt, bevor sie noch einmal klopfte und wieder keine Reaktion erfolgte. Das war nun allerdings ungewöhnlich. Als Keva leise die Tür öffnete, stellte sie fest, dass ihre Herrin tief und fest schlief. Erst nachdem sie die Vorhänge zurückgezogen und ihr dabei wie immer Belanglosigkeiten erzählt hatte, merkte sie, dass Madam Chavan nicht antwortete.
Aris Handy klingelte mitten im chaotischen Verkehr von Mumbai. Als er die Nummer seines Vaters sah, mit dem er Wochen nicht gesprochen hatte, ging er ran und stellte laut.
»Papa!«, rief er fröhlich aus. »Wie geht's?«
»Hallo, Ari, gut, aber ...«
Die Stimme seines Vaters klang traurig.
»Ja?«, fragte er. »Was ist los?«
»Deine Urgroßmutter Anahita ist heute in den frühen Morgenstunden gestorben.«
»Oh, Papa, das tut mir leid.«
»Es tut uns allen leid. Sie war eine wunderbare Frau und wird uns fehlen.«
»Immerhin hatte sie ein langes Leben«, stellte Ari fest, während er mit seinem Wagen einem Taxi auswich, das unvermittelt vor ihm stehen geblieben war.
»Ja. Die Beisetzung findet in vier Tagen statt, damit die Verwandten genug Zeit haben herzukommen. Deine Geschwister und alle anderen werden da sein. Du hoffentlich auch«, sagte Vivek.
»Diesen Freitag?«, fragte Ari entsetzt.
»Ja, mittags. Sie wird nur in Anwesenheit der Familie am ghaat von Darjeeling verbrannt. Später findet eine Trauerfeier für sie statt.«
»Papa«, stöhnte Ari. »Wirklich, Freitag geht nicht. Ein potenzieller Kunde fliegt wegen einem Softwarevertrag eigens aus den Staaten her. Der Auftrag würde mein Unternehmen von einem Tag auf den anderen aus der Verlust-in die Gewinnzone bringen. Beim besten Willen: Am Freitag kann ich nicht nach Darjeeling kommen.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ari«, seufzte sein Vater schließlich, »sogar ich weiß, dass es Situationen gibt, in denen die Familie wichtiger ist als der Beruf. Deine Mutter würde dir das nie verzeihen, gerade deswegen, weil Anahita dir bei ihrer Geburtstagsfeier letztes Jahr zu verstehen gegeben hat, wie sehr du ihr am Herzen liegst.«
»Tut mir leid, Papa«, beharrte Ari. »Das schaffe ich nicht.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Ja.«
Ari hörte, wie sein Vater den Hörer auf die Gabel knallte.
Am folgenden Freitagabend kehrte Ari bestens gelaunt nach Hause zurück. Das Treffen mit den Amerikanern war so gut gelaufen, dass sie sich sofort auf den Deal verständigt hatten. Da er zur Feier des Tages mit Bimbi ausgehen wollte, fuhr er zuvor zum Duschen und Umziehen zu seinem Apartment. Unten holte er einen Brief aus seinem Postfach und nahm dann den Lift in den sechzehnten Stock. Im Schlafzimmer riss er den Umschlag auf und las den Brief darin.
Anwaltskanzlei Khan & Chauhan
Chowrasta Square
Darjeeling
Westbengalen
Indien
2. März 2001
Sehr geehrter Herr,
den Anweisungen meiner Mandantin Anahita Chavan folgend sende ich Ihnen diesen Umschlag. Wie Sie vielleicht schon wissen, ist Madam Chavan vor ein paar Tagen verstorben.
Mit herzlichem Beileid
Devak Khan
Partner
Ari setzte sich aufs Bett. In der Aufregung um den Geschäftstermin hatte er die Beisetzung seiner Urgroßmutter völlig vergessen. Mit einem tiefen Seufzen öffnete er das Kuvert, das der Anwalt beigelegt hatte. Bestimmt, dachte er, würden seine Eltern es ihm nie verzeihen, dass er sie nicht einmal angerufen hatte.
»Egal, so ist es nun mal«, brummte Ari, als er den Brief entfaltete.
Mein lieber Ari,
wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Beigefügt sende ich Dir das Datum und die genaue Uhrzeit des Todes von meinem Sohn Moh sowie seine Sterbeurkunde von damals. Wie Du siehst, stimmen die Daten nicht überein. Im Moment mag Dir das vielleicht noch nichts sagen, doch wenn Du Dich irgendwann entschließen solltest, Nachforschungen darüber anzustellen, was mit ihm geschehen ist, könnte es Dir möglicherweise helfen. In der Zwischenzeit schicke ich Dir, bis wir uns an einem anderen Ort wiedersehen, meine Liebe. Vergiss nicht, dass wir unsere Geschicke niemals ganz selbst lenken können. Lausche auf das, was Deine Ohren Dir sagen, und halte Deine Augen offen, das wird Dich leiten.
Deine Dich liebende Urgroßmutter
Anahita
Ari seufzte. Er war nicht in der Stimmung, sich Gedanken über dieses Gewäsch seiner Urgroßmutter oder darüber zu machen, wie wütend seine Eltern im Moment wahrscheinlich auf ihn waren, und wollte sich den Abend nicht verderben lassen.
Bevor er das Wasser in der Dusche aufdrehte, stellte er den CD-Player neben seinem Bett laut, damit er die dröhnende Musik hören konnte.
Nach dem Duschen schlüpfte er in einen seiner maßgeschneiderten Anzüge und schaltete die Musik aus. Beim Verlassen des Schlafzimmers fiel sein Blick auf Anahitas Brief. Einem plötzlichen Impuls folgend faltete er ihn wieder, steckte ihn zurück in den Umschlag und legte ihn zu dem vergilbten Manuskript in die Schublade. Dann löschte er das Licht und verließ die Wohnung.
London, Juli 2011
1
Als das Flugzeug sich London näherte, betrachtete Rebecca Bradley durchs Fenster die an diesem klaren Sommermorgen herrlich grün schimmernden Felder sowie Big Ben und die Houses of Parliament unter ihr, die sie, verglichen mit New York, an eine Spielzeugstadt erinnerten.
»Miss Bradley, wir sorgen dafür, dass Sie das Flugzeug als Erste verlassen können«, versicherte ihr eine Flugbegleiterin.
Rebecca bedankte sich mit einem Lächeln und nahm die große dunkle Sonnenbrille aus ihrer Umhängetasche, obwohl sie nicht damit rechnete, von Fotografen erwartet zu werden. Denn um schnell von New York wegzukommen, hatte sie einen früheren Flug als ursprünglich geplant genommen.
Es erfüllte sie mit Befriedigung, dass niemand, nicht einmal ihr Agent oder Jack, wusste, wo sie sich aufhielt. Jack hatte ihre Wohnung am Nachmittag verlassen, um seinen Flug zurück nach Los Angeles zu erreichen, ohne von ihr die gewünschte Antwort erhalten zu haben. Sie hatte ihm erklärt, dass sie Zeit zum Nachdenken brauche.
Rebecca nahm das rote Samtetui aus ihrer Tasche und öffnete es. Der Ring darin war ziemlich groß und für ihren Geschmack zu protzig. Als einer der berühmtesten und bestbezahlten Filmstars der Welt neigte Jack zum Auffälligen und konnte ihr kaum etwas Kleineres geben, denn wenn sie seinen Antrag annahm, würde der Ring in Zeitungen und Zeitschriften auf der ganzen Welt zu sehen sein. Jack Heyward und Rebecca Bradley waren das heißeste Paar Hollywoods, um das sich die Medien rissen.
Als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte, schloss sie das Samtetui. Seit sie und Jack sich im Jahr zuvor bei den Dreharbeiten zu einer romantischen Komödie kennengelernt hatten, fühlte sie sich fremdbestimmt. In Wahrheit - Rebecca biss sich auf die Lippe - war die »Traumbeziehung«, die sie und Jack nach Ansicht der Welt führten, genauso Fiktion wie ihre Filme.
Sogar ihr Agent Victor ermutigte sie zu der Beziehung mit Jack und erklärte ihr immer wieder, dass sie ihrer Karriere förderlich sei.
»Die Öffentlichkeit liebt Hollywoodpaare, Schätzchen«, sagte er. »Wenn's mit den Filmen mal nicht so gut läuft, machen sie immer noch gern Fotos von euren Kindern im Park.«
Rebecca überlegte, wie viel Zeit sie und Jack im vergangenen Jahr tatsächlich miteinander verbracht hatten. Er lebte in Hollywood, sie in New York; oft führte ihr voller Terminplan dazu, dass sie einander wochenlang nicht sahen. Und wenn sie tatsächlich zusammen waren, wurden sie von Paparazzi verfolgt. Selbst tags zuvor in dem kleinen Italiener waren sie von Autogrammjägern belagert worden. Am Ende war Jack mit ihr in den Central Park gegangen, um ihr in Ruhe den Antrag machen zu können. Sie hoffte nur, dass niemand sie dort beobachtet hatte ...
Das überwältigende Gefühl der Klaustrophobie während der Taxifahrt zu ihrer Wohnung in SoHo, als Jack auf eine Antwort wartete, hatte zu ihrem unvermittelten Beschluss geführt, früher nach England zu fliegen. Ständig unter Beobachtung der ganzen Welt zu stehen und von Fremden verfolgt zu werden, die meinten, man gehöre ihnen, empfand Rebecca momentan als unerträglich. Allmählich forderten der Mangel an Privatsphäre, den eine Beziehung in der Öffentlichkeit mit sich brachte, und die Tatsache, dass sie sich nicht einmal einen Bagel und eine Latte Macchiato aus dem Coffeeshop an der Ecke holen konnte, ohne angesprochen zu werden, ihren Tribut.
Ihr Arzt hatte ihr ein paar Wochen zuvor Valium verschrieben, nachdem sie bis zu ihrer Haustür verfolgt worden war, sie sich in ihrem Bad eingeschlossen und dort hemmungslos geweint hatte. Das Valium hatte geholfen, aber Rebecca war klar, dass dieser Weg ins Nichts führte, möglicherweise sogar in die Sucht. Was Jack nur zu gut wusste.
Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er ihr versichert, dass er nicht vom Kokain abhängig sei. Er könne es nehmen oder auch nicht; es helfe ihm, sich zu entspannen. Später hatte Rebecca herausgefunden, dass das nicht stimmte. Als sie ihn auf seinen fortgesetzten starken Kokain-und Alkoholkonsum angesprochen hatte, war er in die Defensive gegangen und aggressiv geworden. Rebecca, die keinerlei Drogen nahm und nur selten Alkohol trank, hasste es, wenn Jack high war.
Anfangs hatte sie ihr Leben für fast vollkommen gehalten: Was konnte man sich mehr wünschen als eine steile Karriere und einen attraktiven, erfolgreichen Partner? Doch aufgrund der Drogen, der langen Trennungszeiten und Jacks Unsicherheit, die sich in einem Wutanfall entlud, als sie ein halbes Jahr zuvor für einen Golden Globe nominiert worden war und er nicht, hatte sich die rosa Brille allmählich grau gefärbt.
Das Angebot, in einem britischen Film mit dem Titel Die Stille der Nacht mitzuwirken, der in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielen und in dessen Mittelpunkt eine englische Adelsfamilie stehen sollte, hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Nicht nur, dass sich diese Rolle deutlich von ihren bisherigen seichten Parts unterschied, nein, es war auch eine große Ehre, von Robert Hope, dem gefeierten britischen Regisseur, auserwählt worden zu sein. Jack hatte jedoch auch diesmal wieder ihre Freude gedämpft, indem er sagte, sie bräuchten sie lediglich ihres Hollywoodnamens wegen, um die Geldgeber zufrieden- zustellen. Anschließend hatte er ihr erklärt, sie müsse nur gut in den historischen Kostümen aussehen und solle sich keinen Illusionen hingeben, dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten ihr das Engagement eingebracht hätten.
»Du bist viel zu schön, um als Schauspielerin ernst genommen zu werden, Schatz«, hatte er hinzugefügt und sein Wodkaglas aufgefüllt.
Nachdem das Flugzeug in Heathrow gelandet und zum Stillstand gekommen war, löste Rebecca ihren Sicherheitsgurt.
»Bereit, Miss Bradley?«, erkundigte sich die Flugbegleiterin.
»Ja danke.«
»Wir sind gleich so weit.«
Rebecca kämmte hastig ihre langen dunklen Haare und schlang sie zu einem Knoten im Nacken. Jack nannte das ihren »Audrey-Hepburn-Look«, und auch die Medien verglichen Rebecca gern mit dieser Schauspielikone. Es war sogar die Rede von einem Remake des Films Frühstück bei Tiffany im folgenden Jahr.
Sie durfte nicht auf ihn hören, sich ihr Selbstbewusstsein als Schauspielerin nicht von ihm nehmen lassen. Die letzten beiden Filme von Jack waren Flops gewesen, und er stand nicht mehr so sehr im Rampenlicht wie früher. Die schreckliche Wahrheit sah folgendermaßen aus: Er beneidete sie um ihren Erfolg. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Egal, was Jack zu ihr gesagt hatte: Sie würde beweisen, dass sie mehr zu bieten hatte als ein hübsches Gesicht, und das hervorragende Drehbuch gab ihr Gelegenheit, genau das zu tun.
Auf dem englischen Land, weit weg von der Öffentlichkeit, erhoffte Rebecca sich Ruhe zum Nachdenken. Sie wusste, dass sich hinter den Problemen ein Jack verbarg, den sie liebte. Doch solange er nicht bereit war, gegen seine wachsende Abhängigkeit zu kämpfen, würde sie seinen Antrag nicht annehmen.
»Ich begleite Sie aus dem Flugzeug, Miss Bradley«, verkündete ein dunkel gekleideter Mann vom Sicherheitsdienst.
Rebecca setzte die Sonnenbrille auf und verließ die erste Klasse. Während sie in der VIP-Lounge auf ihr Gepäck wartete, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich in einer Sackgasse befand, wenn Jack sich nicht endlich seinen Problemen stellte. Vielleicht, überlegte sie, als sie das Handy aus ihrer Tasche nahm und einen Blick aufs Display warf, sollte sie ihm genau das sagen.
»Miss Bradley, Ihr Gepäck wird gerade zum Wagen gebracht «, erklärte der Mann vom Sicherheitsdienst. »Ich fürchte, draußen warten schon die Fotografen auf Sie.«
»O nein!« Sie sah ihn entsetzt an. »Wie viele?«
»Viele. Keine Sorge, ich bringe Sie sicher hinaus.«
»Damit hatte ich nicht gerechnet«, bemerkte sie, als sie mit ihm den Ankunftsbereich betrat. »Ich habe einen früheren Flug als geplant genommen.«
»Aber Sie treffen an dem Morgen in London ein, an dem die große Neuigkeit publik geworden ist. Darf ich gratulieren?«
Rebecca blieb wie angewurzelt stehen. »Was für eine ›Neuigkeit‹? «
»Ihre ... Verlobung mit Jack Heyward, Miss Bradley.«
»Oje«, stöhnte sie.
»Auf den Titelseiten ist heute ein hübsches Foto von Ihnen und Mr Heyward im Central Park, wie er Ihnen einen Ring an den Finger steckt.« Er blieb vor der automatischen Tür stehen. »Sind Sie bereit?«
Rebecca, der hinter der Sonnenbrille Zornestränen in die Augen traten, nickte.
»Gut, wir gehen so schnell wie möglich durch.«
Als der Wagen fünfzehn Minuten später das Gelände von Heathrow verließ, betrachtete Rebecca kopfschüttelnd das Foto von ihr und Jack, das auf der ersten Seite der Daily Mail prangte, und die Schlagzeile:
JACK UND BECKS - ES IST OFFIZIELL!
Auf dem unscharfen Foto war zu erkennen, wie Jack ihr im Central Park den Ring ansteckte. Rebecca sah ihn darauf mit einem Ausdruck an, der, wie sie wusste, von Panik zeugte, den der Reporter jedoch als Überraschung und Freude interpretierte. Zu allem Überfluss bestätigte Jack in einem Statement, das er offenbar nach dem Verlassen ihrer Wohnung am Nachmittag des vergangenen Tages abgegeben hatte, dass er Rebecca einen Heiratsantrag gemacht habe. Allerdings stehe noch kein Hochzeitstermin fest.
Mit zitternden Fingern zog sie das Handy aus der Handtasche. Als sie sah, dass sich darauf mehrere Nachrichten von Jack, ihrem Agenten und Journalisten befanden, schaltete sie es aus und steckte es zurück. Im Moment hatte sie keine Lust, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und sie war wütend auf Jack, dass er sich überhaupt zu dem, was im Park geschehen war, geäußert hatte.
Bestimmt würden die Medien schon am folgenden Tag Spekulationen über Brautkleid und Ort der Trauung sowie eine mögliche Schwangerschaft anstellen.
Rebecca schloss die Augen und atmete tief durch. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, und bis zum Abend zuvor hatte sie Ehe und Kinder als ferne Zukunftsprojekte erachtet.
Jack ging bereits auf die vierzig zu, war mit den meisten seiner Schauspielerkolleginnen im Bett gewesen und hatte das Gefühl, dass es allmählich Zeit wurde, sesshaft zu werden, während es für sie erst die zweite ernsthafte Beziehung nach vielen Jahren mit ihrer Jugendliebe war, einer Liebe, die Karriere und Ruhm zerstört hatten.
»Nach Devon werden wir ein paar Stunden brauchen, Miss Bradley«, erklärte ihr der freundliche Fahrer. »Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Graham. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich unterwegs irgendwo anhalten soll.«
»Ja«, sagte Rebecca, die sich von ihm am liebsten in eine afrikanische Wüste ohne Fotografen, Zeitungen oder Mobilfunknetze hätte chauffieren lassen.
»Unser Ziel ist ziemlich abgelegen, Miss Bradley«, erklärte Graham, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Im Dartmoor gibt's keine großen Städte und Läden. Tolles altes Anwesen, wo die Dreharbeiten stattfinden. Wie aus der Zeit gefallen. Hätte nicht gedacht, dass in solchen Herrenhäusern noch Leute wohnen. Für mich ist das eine angenehme Abwechslung. Normalerweise kutschiere ich die Schauspieler durch den Londoner Verkehr zu den Studios.«
Seine Worte trösteten Rebecca etwas. Vielleicht würde die Pressemeute sie dort draußen in Ruhe lassen.
»Sieht aus, als würde uns ein Motorradfahrer folgen, Miss Bradley«, teilte Graham ihr nach einem Blick in den Rückspiegel mit und zerstörte damit ihre Hoffnungen auf Privatsphäre. »Keine Sorge, auf der Autobahn hängen wir ihn schnell ab.«
»Danke«, sagte Rebecca, sank erschöpft in ihren Sitz zurück und schloss die Augen.
»Wir sind fast da, Miss Bradley.«
Nach viereinhalb Stunden im Wagen, in denen sie immer wieder eingenickt war, spürte Rebecca nun den Jetlag. Sie schaute benommen aus dem Fenster. »Wo sind wir?«, fragte sie beim Anblick der rauen, menschenleeren Moorlandschaft.
»Im Dartmoor. Bei Sonnenschein wie heute ist es hier sehr schön, aber im Winter kann's ziemlich düster sein. Entschuldigen Sie«, sagte Graham, als sein Handy klingelte. »Der Produktionsleiter. Ich fahre kurz zum Telefonieren an den Straßenrand.«
Während Graham telefonierte, trat Rebecca in das stoppelige Gras am Rand der schmalen Straße, um die frische Luft einzuatmen. Eine leichte Brise wehte übers Moor, und in der Ferne erkannte sie gezackte Felsen. Kilometerweit war keine Menschenseele zu sehen. »Himmlisch«, flüsterte sie, als Graham den Motor anließ und sie sich wieder in den Wagen setzte. »Es ist so friedlich hier.«
»Ja«, pflichtete er ihr bei, »aber leider hat mir der Produktionsleiter gerade gesagt, dass vor dem Hotel der Schauspieler eine Horde Fotografen wartet, Miss Bradley. Deshalb soll ich Sie direkt nach Astbury Hall fahren, wo die Dreharbeiten stattfinden. «
»Okay.« Rebecca biss sich frustriert auf die Lippe.
»Tut mir leid, Miss Bradley. Ich sage meinen Kindern immer, dass reiche, berühmte Filmstars es gar nicht so leicht haben, wie die meisten Leute denken. Muss ganz schön hart sein, besonders in solchen Momenten.«
»Stimmt, manchmal schon.«
»Zum Glück kann Ihnen während der Dreharbeiten niemand nahekommen. Der Landsitz liegt mitten in einem großen Park, und von der Einfahrt zum Gebäude ist es ungefähr ein Kilometer.«
Sie erreichten ein schmiedeeisernes Doppeltor mit einem Mann vom Sicherheitsdienst, der das Tor öffnete, als Graham ihm ein Zeichen gab. Rebecca betrachtete mit großen Augen die uralten Eichen, Rosskastanien und Buchen zu beiden Seiten der Straße, die durch das weitläufige Grundstück führte.
Vor ihnen lag ein riesiges Gebäude, eher ein Palast, wie sie ihn nur aus Büchern oder Geschichtssendungen im Fernsehen kannte, ein barockes Ensemble aus gemeißeltem Stein und kannelierten Säulen.
»Wow«, staunte sie.
»Beeindruckend, was? Ich möchte nicht wissen, wie viel das Heizen im Winter hier kostet«, scherzte Graham.
Als sie näher kamen und Rebecca den Marmorspringbrunnen vor dem Haus entdeckte, hätte sie sich bessere Architekturkenntnisse gewünscht, um alles exakter beschreiben zu können. Die elegante Symmetrie des Gebäudes mit den Flügeln zu beiden Seiten einer zentralen Kuppel raubte ihr den Atem. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, die die gesamte Front wie Edelsteine schmückten, und das Mauerwerk dazwischen war mit Putten und Urnen verziert. Unter dem wuchtigen Portikus in der Mitte, der von vier gewaltigen Säulen getragen wurde, befand sich eine prächtige Doppeltür aus Eiche.
»Ein richtiges Schloss, was?«, bemerkte Graham, als er den Wagen um das Gebäude herum in den Hof lenkte, auf dem es von Lieferwagen und Lastern wimmelte und von dem aus Leute Kameras, Scheinwerfer und Kabel hineinschleppten. »Soweit ich weiß, sollen die Dreharbeiten morgen beginnen «, erklärte Graham und stellte den Motor ab.
Rebecca bedankte sich und stieg aus, während Graham ihre Tasche aus dem Kofferraum holte.
»Haben Sie nicht mehr Gepäck, Miss Bradley? Filmstars wie Sie reisen normalerweise mit jeder Menge Koffer.«
»Ich war in Eile«, gestand Rebecca und folgte ihm über den Hof zum Haus.
»Ich stehe während der gesamten Dreharbeiten zu Ihrer Verfügung, Miss Bradley. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendwohin wollen, ja? War mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. «
»Ah, Sie sind da!« Ein schlanker junger Mann schritt auf Rebecca zu und streckte ihr die Hand hin. »Willkommen in England, Miss Bradley. Ich bin Steve Campion, der Produktionsleiter. Tut mir leid, dass Sie den heutigen Morgen mit einem Spießrutenlauf vor der britischen Boulevardpresse beginnen mussten. Hier sind Sie immerhin vor Reportern sicher. «
»Danke. Wissen Sie, wann ich ins Hotel kann? Eine Dusche und ein bisschen Schlaf wären schön«, sagte Rebecca, von der Reise müde.
»Nach dem Empfang am Flughafen wollten wir Ihnen nicht noch die Meute vor dem Hotel zumuten«, erklärte Steve. »Lord Astbury stellt Ihnen fürs Erste ein Zimmer im Haus zur Verfügung, bis wir eine passende Unterkunft für Sie gefunden haben. Wie Ihnen schon aufgefallen sein dürfte«, fügte Steve mit einem Blick auf das riesige Gebäude hinzu, »gibt es hier mehr als genug Räume. Robert, der Regisseur, möchte morgen mit dem Drehen anfangen und wollte verhindern, dass Sie und die anderen Schauspieler im Hotel gestört werden.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache«, entschuldigte sich Rebecca mit schlechtem Gewissen.
»Keine Ursache. Dafür haben wir ja eine berühmte junge Schauspielerin in unserem Film. Die Haushälterin hat mich gebeten, Sie zu ihr zu schicken, sobald Sie da sind, damit sie Ihnen Ihr Zimmer zeigen kann. Heute Nachmittag um fünf treffen sich alle im Salon, so dass Sie noch Zeit für ein paar Stunden Schlaf haben.«
Rebecca, der Steves leicht gereizter Tonfall nicht entgangen war, bedankte sich ein weiteres Mal. Offenbar hatte er sie bereits als »schwierig« eingestuft, und vermutlich würden ihre britischen Schauspielerkollegen, deren Ruhm und Einspielergebnisse im Moment längst nicht an die ihren heranreichten, sie auch so einschätzen.
»Warten Sie hier, ich suche Mrs Trevathan«, sagte Steve und ließ Rebecca mitten auf dem Hof stehen, wo das Kamerateam schwere Ausrüstung an ihr vorbeischleppte.
Wenig später eilte eine rundliche Frau mittleren Alters mit grau gelockten Haaren und rosigem Teint durch die Tür auf sie zu.
»Miss Rebecca Bradley?«
»Ja.«
Die Frau lächelte breit. »Ich hab Sie sofort erkannt. In Wirklichkeit sind Sie noch hübscher als im Kino. Ich hab all Ihre Filme gesehen, und es freut mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen. Ich bin Mrs Trevathan, die Haushälterin. Wenn Sie mir folgen wollen ... Ich führe Sie zu Ihrem Zimmer. Leider ist es ziemlich weit weg. Graham bringt Ihnen Ihr Gepäck später nach«, erklärte sie, als Rebecca sich nach ihrer Tasche bückte. »Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Strecken ich jeden Tag zurücklegen muss.«
»Wahrscheinlich nicht.« Rebecca hatte Mühe, den starken Devon-Akzent der Frau zu verstehen. »Ein imposantes Gebäude. «
»Jetzt nicht mehr so, weil sich nur noch ich und eine Tageshilfe drum kümmern. Ich bin mit den Nerven am Ende. Früher haben hier dreißig Bedienstete rund um die Uhr gearbeitet, aber die Zeiten sind vorbei.«
Rebecca nickte, als Mrs Trevathan sie durch eine Reihe von Türen in eine riesige Küche führte, wo eine Frau in Schwesterntracht am Tisch Kaffee trank.
»Von der Küche aus kommt man über die Bedienstetentreppe am schnellsten hinauf zu den Zimmern«, erklärte Mrs Trevathan und ging Rebecca die steilen Stufen voran. »Ich habe Sie in einem hübschen Raum auf der Rückseite des Hauses untergebracht. Von dort aus haben Sie einen schönen Blick auf die Gärten und das Moor. Sie können von Glück sagen, dass Lord Astbury Ihnen ein Zimmer im Haus zur Verfügung stellt. Er mag Gäste nicht sonderlich. Früher mal haben hier bequem vierzig Leute übernachten können, aber das ist lange her.«
Sie erreichten ein Zwischengeschoss, wo Rebecca kurz die prächtige Kuppel bewunderte, bevor sie Mrs Trevathan einen breiten, dunklen Flur entlang folgte.
»Sie schlafen hier«, verkündete sie und öffnete die Tür zu einem geräumigen Zimmer mit hoher Decke, das von einem großen Doppelbett beherrscht wurde. »Ich habe gut durchgelüftet, deswegen ist es ein bisschen kühl. Aber das ist besser als der modrige Geruch. Wenn Ihnen kalt sein sollte, können Sie den Elektroofen einschalten.«
»Danke. Würden Sie mir noch verraten, wo die Toilette ist?«
»Die zweite Tür links, auf der anderen Seite des Flurs. Leider haben wir keine eigenen Toiletten und Bäder für die einzelnen Zimmer. Ich lasse Sie jetzt ausruhen.«
»Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«, fragte Rebecca schüchtern.
Mrs Trevathan blieb an der Tür stehen. »Natürlich. Sie sind sicher halb verdurstet. Haben Sie was gegessen?«
»Nein, im Flugzeug hatte ich keinen Appetit auf Frühstück.«
»Soll ich Ihnen eine Kanne Tee und ein paar Scheiben Toast bringen? Sie sehen ein bisschen blass um die Nase aus.«
»Das wäre wunderbar.« Plötzlich merkte Rebecca, dass ihr vor Hunger fast schwindlig war.
»Gut, dann hol ich mal die Sachen.« Mrs Trevathan musterte Rebecca mitfühlend. »Stars müssen auch essen, was? Machen Sie sich's bequem. Bin gleich wieder da.«
Kurz darauf trat Rebecca auf den Flur und landete nach einem Fehlversuch in einem Wäscheschrank und einem anderen Zimmer in einem großen Bad mit altmodischer gusseiserner Wanne. Von dem Wasserbehälter über der Toilette baumelte eine rostige Metallkette. Nachdem Rebecca Wasser aus dem Hahn getrunken hatte, kehrte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie durch eines der hohen Fenster hinausblickte. Der Garten jenseits der großen Terrasse hinter dem Haus wirkte gepflegt. Die Beete wurden von Blumen und Sträuchern gesäumt, und Blüten hoben sich zartrosafarben vom Grün der Rasenflächen ab. Hinter der hohen Eibenhecke, die den Garten einfasste, lag das raue Moor, das deutlich mit den glatten gemähten Rasenflächen kontrastierte. Rebecca schlüpfte aus den Schuhen und legte sich in das Bett mit der angenehm weichen Matratze.
Als Mrs Trevathan zehn Minuten später an der Tür klopfte und eintrat, sah sie, dass Rebecca tief und fest schlief. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch am Kamin ab, deckte sie zu und verließ leise den Raum.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Januar 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Weil ich an diesem besonderen Morgen gern noch eine Weile meinen Gedanken nachhängen möchte, reagiere ich nicht auf Kevas Klopfen. Bestimmt will sie mit mir den Tages- plan besprechen und mir beim Waschen und Anziehen helfen, bevor meine Familie eintrifft.
Während die Sonne die Wolken von den schneebedeckten Bergen verscheucht, suche ich am blauen Himmel nach der Antwort, um die ich jeden einzelnen Morgen der letzten achtundsiebzig Jahre zu den Göttern gebetet habe.
Heute bitte, denke ich, denn mir ist klar, dass mein Sohn noch irgendwo auf dieser Erde lebt. Wenn nicht, hätte ich das wie bei allen Menschen, die ich je geliebt habe, gewusst.
Mit Tränen in den Augen betrachte ich das einzige Foto, das ich von ihm besitze, von einem zwei Jahre alten lächelnden Engel auf meinem Schoß. Das Bild hat mir meine Freundin Indira mit der Sterbeurkunde gegeben, einige Wochen nachdem ich über den Tod meines Sohnes informiert worden war.
Vor einer Ewigkeit. Inzwischen ist mein Sohn ein alter Mann und wird im Oktober dieses Jahres seinen einundachtzigsten Geburtstag feiern. Selbst meine Fantasie reicht nicht aus, ihn mir als solchen vorzustellen.
Ich wende den Blick vom Foto meines Sohnes ab, weil ich heute die Feier genießen möchte, die meine Familie für mich vorbereitet hat. Doch bei solchen Gelegenheiten, wenn ich mein anderes Kind mit ihren Kindern und Kindeskindern sehe, empfinde ich die Abwesenheit ihres Bruders umso schmerzlicher.
Natürlich glauben sie, dass mein Sohn vor achtundsiebzig Jahren gestorben ist.
»Maaji, schau, du hast doch sogar seine Sterbeurkunde! Lass ihn in Frieden ruhen«, sagt meine Tochter Muna immer seufzend. »Freu dich lieber an der Familie, die du hast.«
Mittlerweile begreife ich Munas durchaus gerechtfertigte Frustration. Sie möchte, dass sie mir genügt, sie ganz allein. Aber ein verlorenes Kind lässt sich im Herzen einer Mutter nun einmal nicht ersetzen.
Heute werde ich meiner Tochter die Freude machen, von meinem Stuhl aus wohlwollend die Dynastie zu betrachten, deren Grundstein ich gelegt habe, ohne sie mit meinen Erzählungen über die Vergangenheit zu langweilen. Wenn sie mit ihren Kindern und deren batteriebetriebenen Spielzeugen in ihren schnellen westlichen Jeeps eintreffen, werde ich ihnen nicht schildern, wie Indira und ich die steilen Hügel rund um Darjeeling auf Pferderücken erklommen, dass Strom und fließendes Wasser seinerzeit Luxus waren oder dass ich jedes zerfledderte Buch las, das mir in die Finger kam. Geschichten von früher gehen jungen Leuten auf die Nerven; sie wollen ausschließlich in der Gegenwart leben, genau wie ich damals.
Ich kann mir vorstellen, dass die meisten in meiner Familie sich nicht gerade darüber freuen, meines einhundertsten Geburtstags wegen aus allen Teilen Indiens herfliegen zu müssen, aber vielleicht tue ich ihnen unrecht. In den vergangenen Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, warum die Jungen sich in Gesellschaft der Alten unwohl fühlen; sie könnten so viel von uns lernen. Vermutlich stammt ihr Unbehagen daher, dass unsere schwachen Körper ihnen vor Augen führen, was die Zukunft für sie bereithält. In der Blüte ihres Lebens sehen sie, wie auch sie eines Tages ihre körperliche Kraft und Attraktivität verlieren werden, ohne zu erkennen, was sie dazugewinnen.
Wie sollen sie auch ahnen, dass ihre Seelen wachsen, ihr Ungestüm einmal gezügelt und ihr Egoismus durch die Erfahrungen der Jahre gezähmt werden?
Ich akzeptiere, dass das die Natur des Menschen ist, in ihrer ganzen fantastischen Komplexität, und habe aufgehört, sie zu hinterfragen.
Als Keva das zweite Mal an meiner Tür klopft, lasse ich sie herein. Während sie in schnellem Hindi auf mich einredet, trinke ich Tee und gehe im Geiste die Namen meiner vier Enkel und elf Urenkel durch. Im Alter von einhundert Jahren möchte man beweisen, dass der Kopf noch funktioniert.
Die vier Enkel, die meine Tochter mir geschenkt hat, sind inzwischen alle selbst gute, liebevolle Eltern. Sie haben es in der neuen Welt nach der Unabhängigkeit von Großbritannien zu etwas gebracht, und ihre Kinder sind sogar noch erfolgreicher. Mindestens sechs von ihnen haben sich, soweit ich mich erinnere, selbstständig gemacht oder arbeiten in attraktiven Berufen. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass einer meiner Nachkommen sich für Medizin interessieren und in meine Fußstapfen treten würde, aber man kann nicht alles haben.
Als Keva mich zum Waschen ins Bad bringt, wird mir klar, dass meine Familie mit einer Mischung aus Glück, scharfem Verstand und Kontakten gesegnet ist. Und dass mein geliebtes Indien vermutlich noch ein Jahrhundert brauchen wird, bis bei den zahllosen auf den Straßen Hungernden wenigstens das Minimum der menschlichen Bedürfnisse befriedigt ist. Ich habe immer geholfen, wo ich konnte, weiß jedoch, dass das bei all der Armut und Not lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein war.
Während Keva mich in meinen neuen Sari - ein Geburtstagsgeschenk meiner Tochter Muna - kleidet, beschließe ich, heute nicht so trüben Gedanken nachzuhängen. Ich habe mich immer bemüht, anderen beizustehen, das muss genügen.
»Sie sind wunderschön, Madam.«
Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass sie lügt, doch für diese Lüge bin ich ihr dankbar. Meine Hand wandert zu der Perlenkette, die ich seit fast achtzig Jahren trage. In meinem Testament vermache ich sie meiner Tochter Muna.
»Ihre Tochter kommt um elf, und der Rest der Familie wird eine Stunde später hier sein. Wo wollen Sie auf sie warten?«
»Du kannst mich ans Fenster setzen«, antworte ich lächelnd. »Ich möchte meine Berge sehen.«
Sie hilft mir auf und führt mich zum Sessel.
»Kann ich Ihnen etwas bringen, Madam?«
»Nein. Geh in die Küche und vergewissere dich, dass die Köchin alles im Griff hat.«
»Ja, Madam.« Sie stellt meine Glocke vom Nachtkästchen auf das Tischchen neben mir und verlässt das Zimmer.
Ich drehe mein Gesicht ins Licht der Sonne, das durch das Panoramafenster meines Hauses auf dem Hügel hereinströmt, und denke an die Freunde, die bereits von uns gegangen sind und deshalb meiner Feier nicht beiwohnen werden. Indira, meine beste Freundin, ist vor über fünfzehn Jahren gestorben. Damals musste ich, wie nur selten im Leben, hemmungslos weinen. Nicht einmal die Gefühle meiner mir treu ergebenen Tochter lassen sich mit der Liebe und Zuneigung Indiras vergleichen, die trotz ihrer Ichbezogenheit und Flatterhaftigkeit für mich da war, als ich sie am nötigsten brauchte.
Ich blicke zum Sekretär in der Nische hinüber, in dessen verschlossener Schublade sich ein über dreihundert Seiten langer, an meinen geliebten Sohn gerichteter Brief befindet, die Geschichte meines Lebens. Irgendwann fürchtete ich, dass ich die Einzelheiten vergessen könnte, dass sie in meinem Gedächtnis verschwimmen und ausbleichen würden wie ein alter Schwarz-Weiß-Film. Wenn mein Sohn, wovon ich bis zum heutigen Tag fest überzeugt bin, am Leben ist und er jemals zu mir zurückkehren sollte, möchte ich in der Lage sein, ihm die Geschichte seiner Mutter und ihrer unauslöschlichen Liebe zu ihrem verlorenen Kind zu präsentieren. Und die Gründe, warum sie es zurücklassen musste ...
Ich begann den Brief in der Mitte meines Lebens, weil ich seinerzeit damit rechnete, bald von dieser Erde genommen zu werden. Nun liegt er seit fast fünfzig Jahren in der Schublade, unberührt und ungelesen, weil ich meinen Sohn nie gefunden habe.
Nicht einmal meine Tochter kennt meine Geschichte vor ihrer Geburt. Manchmal habe ich Gewissensbisse, weil ich sie ihr nicht erzähle. Doch immerhin hat sie meine Liebe gespürt, die ihrem Bruder versagt geblieben ist.
Ich bitte die Götter um Rat. Es wäre schrecklich, wenn der vergilbende Stapel Papier im Schreibtisch bei meinem Tod, der mit Sicherheit nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt, in die falschen Hände geriete. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn zu verbrennen. Nein. Ich schüttle den Kopf. Solange noch Hoffnung besteht, meinen Sohn aufzuspüren, bringe ich das nicht übers Herz. Ich bin einhundert Jahre alt geworden; vielleicht werde ich auch noch einhundertzehn.
Doch wem soll ich die Geschichte bis dahin anvertrauen ...?
Ich gehe im Kopf die Mitglieder meiner Familie Generation für Generation durch und lande schließlich bei einem meiner Urenkel.
Ari Malik, der älteste Sohn meines ältesten Enkels Vivek. Ich schmunzle, als ich eine Gänsehaut bekomme - das Signal der Götter, die so viel mehr wissen als ich. Ari, das einzige Mitglied meiner großen Familie mit blauen Augen, abgesehen von meinem geliebten verlorenen Sohn.
Ich versuche, ihn mir ins Gedächtnis zu rufen; bei elf Urenkeln, tröste ich mich, hätte auch ein Mensch, der nur halb so alt ist wie ich, Mühe, sich zu erinnern. Außerdem leben meine Verwandten über ganz Indien verstreut, und ich sehe sie nur selten.
Vivek, Aris Vater, ist der beruflich erfolgreichste meiner Enkel, wenn auch ein bisschen langweilig. Als Ingenieur verdient er genug, um seiner Frau und seinen drei Kindern ein sehr behagliches Leben bieten zu können. Wenn ich mich recht entsinne, ist Ari, ein ziemlich schlaues Bürschchen, in England zur Schule gegangen. Was er seit dem Schulabschluss macht, weiß ich nicht. Das werde ich heute herausfinden. Ich werde ihn beobachten und überprüfen, ob ich meinem Instinkt trauen kann.
Beruhigt schließe ich die Augen und gestatte mir ein Nickerchen.
»Wo bleibt er nur?«, flüsterte Samina Malik ihrem Mann zu. »Er hat mir hoch und heilig versprochen, diesmal pünktlich zu sein.« Ihr Blick wanderte über die vollständig versammelten Mitglieder von Anahitas großer Familie, die sich im eleganten Salon um die alte Dame scharten und sie mit Geschenken und Komplimenten überhäuften.
»Keine Panik, Samina«, versuchte Vivek seine Frau zu beschwichtigen, »unser Sohn kommt schon noch.«
»Ari hat gesagt, er trifft sich um zehn Uhr am Bahnhof mit uns, damit wir gemeinsam den Hügel hochfahren können ... Vivek, er hat keinen Respekt vor seiner Familie, ich ...«
»Ruhig, pyari, er ist ein vielbeschäftigter junger Mann und ein guter Junge.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Samina. »Ich bin mir da nicht so sicher. Jedes Mal, wenn ich bei ihm anrufe, meldet sich eine andere Frauenstimme. Du weißt, wie's in Mumbai zugeht. Nichts als Bollywood-Nutten und Ganoven«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, weil sie nicht wollte, dass die anderen sie hörten.
»Unser Sohn ist fünfundzwanzig und leitet sein eigenes Unternehmen. Er weiß, was er tut«, erklärte Vivek.
»Die Bediensteten warten mit dem Champagner zum Anstoßen nur noch auf ihn. Wenn Ari in den nächsten zehn Minuten nicht kommt, sollen sie ohne ihn anfangen.«
»Na, hab ich's nicht gesagt?«, verkündete Vivek mit einem breiten Lächeln, als sein Lieblingssohn Ari den Raum betrat. »Deine Mutter hatte wie immer Panik«, begrüßte er ihn und umarmte ihn.
»Du hattest versprochen, am Bahnhof zu sein. Wir haben eine ganze Stunde gewartet! Wo warst du?«, fragte Samina, die wusste, dass sie sich wie immer nicht gegen den Charme ihres attraktiven Sohnes wehren konnte.
»Entschuldige, Ma.« Ari schenkte seiner Mutter ein strahlendes Lächeln und nahm ihre Hände in die seinen. »Ich bin aufgehalten worden und habe versucht, dich über Handy zu erreichen, aber das war wie üblich ausgeschaltet.«
Ari und sein Vater schmunzelten. Über Saminas Handyaversion amüsierte sich die ganze Familie.
»Jetzt bin ich ja da.« Ari sah sich um. »Hab ich was verpasst? «
»Nein. Deine Urgroßmutter war so damit beschäftigt, die übrige Familie zu begrüßen, dass sie deine Abwesenheit hoffentlich nicht bemerkt hat«, antwortete Vivek.
Ari schaute zu seiner Urgroßmutter hinüber, deren Blick auf ihn gerichtet war.
»Ari! Endlich!«, rief sie ihm lächelnd zu. »Komm und gib deiner Urgroßmutter einen Kuss.«
»Sie mag hundert sein, aber ihr entgeht nichts«, flüsterte Samina Vivek zu.
Als Anahita ihre dünnen Arme für Ari ausbreitete, machten die anderen Verwandten Platz, und aller Augen richteten sich auf ihn. Ari ging zu ihr und kniete vor ihr nieder, um ihr seine Hochachtung mit einem tiefen pranaam zu erweisen und auf ihren Segen zu warten.
»Nani«, begrüßte er sie mit dem Kosenamen, den alle ihre Kinder und Enkel für sie verwendeten, »vergib mir die Verspätung. Es ist eine lange Reise von Mumbai hierher«, erklärte er.
Anahita musterte ihn auf diese für sie so typische Weise, als würde sie geradewegs in seine Seele blicken. »Kein Problem. « Dann berührte sie mit ihren kleinen, fast kindlichen Fingern leicht seine Wange und senkte die Stimme, so dass nur er sie verstehen konnte. »Obwohl ich es immer als hilfreich empfinde, den Wecker zu stellen, wenn ich früh aufstehen muss.« Sie zwinkerte ihm zu und gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben. »Du und ich, wir unterhalten uns später. Keva wartet darauf, mit der Feier zu beginnen.«
»Ja, Nani, natürlich«, sagte Ari errötend und stand auf. »Alles Gute zum Geburtstag.«
Als er sich wieder zu seinen Eltern gesellte, fragte er sich, woher seine Urgroßmutter wusste, warum er sich verspätet hatte.
Der Tag verlief wie geplant, und Vivek hielt als ältester von Anahitas Enkeln eine bewegende Rede über ihr bemerkenswertes Leben. Je mehr Champagner floss, desto lockerer wurden alle, und die Anspannung, die bei seltenen Familien- treffen immer herrscht, begann sich zu lösen. Das angeborene Konkurrenzdenken von Geschwistern trat in den Hintergrund, während sie ihren Platz innerhalb der Familienhierarchie suchten, und die jüngeren Cousins und Cousinen legten ihre Scheu ab und entdeckten Gemeinsamkeiten.
»Schau dir deinen Sohn an!«, bemerkte Muna, Anahitas Tochter, Vivek gegenüber. »Seine Cousinen himmeln ihn an. Es wird Zeit, dass er ans Heiraten denkt.«
»Das sieht er wahrscheinlich anders«, murmelte Samina. »Heutzutage scheinen junge Männer ihre Freiheit so lange wie möglich genießen zu wollen.«
»Du möchtest also keine Ehe für ihn arrangieren?«, fragte Muna.
»Doch, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich darauf einlässt.« Vivek seufzte. »Ari gehört einer neuen Generation an, er ist sein eigener Herr, hat ein Geschäft und reist in der Welt herum. Die Zeiten haben sich geändert, Ma, und Samina und ich müssen unseren Kindern selbst überlassen, wen sie heiraten.«
»Ach.« Muna hob eine Augenbraue. »Das ist eine sehr moderne Einstellung, Vivek. So schlecht klappt das mit dir und Samina doch nicht, oder?«
»Das stimmt, Ma«, pflichtete Vivek ihr bei und nahm lächelnd die Hand seiner Frau. »Du hast eine gute Wahl für mich getroffen.«
»Wir können uns dem Trend der Zeit nicht widersetzen«, erklärte Samina. »Die jungen Leute tun heutzutage, was sie wollen, und treffen ihre eigenen Entscheidungen.« Sie blickte zu Anahita hinüber. »Deine Mutter scheint den Tag zu genießen. Sie ist das reinste Wunder.«
»Ja.« Muna seufzte. »Aber ich mache mir Sorgen um sie, weil sie ganz allein mit Keva in den Hügeln lebt. Im Winter wird es schrecklich kalt, das kann nicht gut sein für ihre alten Knochen. Ich habe sie schon oft gebeten, zu uns nach Guhagar zu kommen, damit wir uns um sie kümmern können, doch natürlich weigert sie sich. Sie behauptet, sich hier oben ihren Geistern und ihrer Vergangenheit näher zu fühlen.«
»Ihrer geheimnisvollen Vergangenheit.« Vivek runzelte die Stirn. »Ma, glaubst du, du wirst sie je überreden können, dir zu verraten, wer dein Vater war? Ich weiß, dass er vor deiner Geburt gestorben ist, aber nichts Genaueres.«
»Als Kind habe ich sie mit Fragen darüber gelöchert, weil mir das wichtig war, doch jetzt ...« Muna zuckte mit den Achseln. »Soll sie ihre Geheimnisse hüten, wenn sie möchte. Sie hätte mir keine liebevollere Mutter sein können, und ich möchte sie nicht aus der Fassung bringen.« Als sie zu ihrer Mutter hinübersah, winkte diese sie zu sich.
»Ja, Maaji, was ist?«, fragte Muna Anahita.
»Ich bin müde und werde mich zurückziehen«, antwortete Anahita, ein Gähnen unterdrückend. »Und in einer Stunde würde ich gern mit meinem Urenkel Ari sprechen.«
»Gut.« Muna half ihrer Mutter beim Aufstehen und führte sie zwischen den anderen Verwandten hindurch. Keva, wie immer nicht weit von ihrer Herrin entfernt, trat einen Schritt vor. »Meine Mutter möchte sich ausruhen, Keva. Würdest du sie bitte begleiten?«
»Natürlich, es war ein langer Tag.«
Muna sah ihnen nach, bevor sie sich wieder zu Vivek und seiner Frau gesellte. »Sie will sich ausruhen und hat mich gebeten, Ari in einer Stunde zu ihr zu schicken.«
»Tatsächlich?« Vivek runzelte die Stirn. »Warum wohl?«
»Wer weiß schon, was im Kopf meiner Mutter vorgeht?«, seufzte Muna.
»Dann sag ich ihm das mal lieber. Ich weiß, dass er bald wieder aufbrechen wollte, weil er morgen früh einen geschäftlichen Termin in Mumbai hat.«
»Dieses eine Mal muss ihm seine Familie wichtiger sein«, sagte Samina entschlossen. »Ich gehe zu ihm.«
Als Ari von seiner Mutter erfuhr, dass seine Urgroßmutter in einer Stunde mit ihm sprechen wolle, war er darüber, wie sein Vater vermutet hatte, alles andere als glücklich.
»Ich darf den Flieger nicht verpassen«, erklärte er. »Ma, ich muss mich um mein Geschäft kümmern.«
»Dann soll dein Vater seiner Großmutter beibringen, dass ihr ältester Urenkel an ihrem einhundertsten Geburtstag nicht die Zeit erübrigen kann, mit ihr zu sprechen.«
»Aber Ma ...« Als Ari die grimmige Miene seiner Mutter sah, seufzte er. »Okay.« Er nickte. »Ich bleibe. Entschuldige mich bitte. Ich muss versuchen, hier irgendwo Handyempfang zu kriegen und den Termin morgen zu verschieben.«
Samina sah ihrem Sohn nach. Er war immer schon eigensinnig gewesen und als ihr Erstgeborener von ihr verhätschelt worden. Sie hatte Ari von Anfang an als etwas Besonderes empfunden, von dem Moment an, als sie das erste Mal verblüfft in seine blauen Augen blickte. Vivek hatte im Scherz ihre eheliche Treue infrage gestellt, bis sie von Anahita erfuhren, dass Munas toter Vater ebenfalls blaue Augen gehabt hatte.
Aris Haut war heller als die seiner Geschwister, sein ungewöhnliches Aussehen erregte Aufsehen. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die er in seinen fünfundzwanzig Lebensjahren geerntet hatte, besaß er ein gewisses Maß an Arroganz, die allerdings durch seine Gutmütigkeit ausgeglichen wurde. Von ihren Kindern war Ari das liebevollste gewesen. Er hatte ihr immer geholfen, wenn es ein Problem gab - bis zu dem Zeitpunkt, als er nach Mumbai gegangen war, um dort sein eigenes Geschäft aufzubauen ...
Der Ari von heute wirkte härter und ichbezogener, was Samina nicht gefiel. Als sie sich wieder zu ihrem Mann gesellte, betete sie, dass diese Phase bald vorbei wäre.
»Mein Urenkel kann jetzt hereinkommen«, verkündete Anahita, als Keva sie im Bett aufsetzte und die Kissen aufschüttelte.
»Ja, Madam. Ich hole ihn.«
»Ich möchte nicht gestört werden.«
»Nein, Madam.«
»Hallo, Nani«, begrüßte Ari sie, als er das Zimmer wenig später forschen Schrittes betrat. »Hast du dich ein bisschen erholt?«
»Ja.« Anahita deutete auf einen Stuhl. »Ari, bitte setz dich. Tut mir leid, dass ich deine geschäftlichen Termine morgen durcheinanderbringe.«
Ari spürte, wie er zum zweiten Mal an jenem Tag rot wurde. »Kein Problem.« Wieder fragte er sich, wie sie seine Gedanken lesen konnte.
»Dein Vater sagt, du lebst in Mumbai und bist ein erfolgreicher Geschäftsmann.«
»Na ja, ›erfolgreich‹ ist im Moment ein bisschen übertrieben «, entgegnete Ari. »Aber ich arbeite hart.«
»Wie ich sehe, bist du ehrgeizig. Bestimmt wirst du eines Tages den gewünschten Erfolg haben.«
»Danke, Nani.«
Ein Lächeln huschte über Anahitas Gesicht. »Obwohl es dir möglicherweise nicht die Befriedigung verschaffen wird, die du dir erhoffst. Das Leben bietet mehr als Arbeit und Reichtum. Aber das wirst du selber noch merken. Ari, ich möchte dir etwas geben. Bitte öffne den Sekretär mit diesem Schlüssel und nimm die Papiere heraus, die du darin findest.«
Ari steckte den Schlüssel ins Schloss und holte ein vergilbtes Manuskript aus der Schublade.
»Was ist das?«, fragte er.
»Die Lebensgeschichte deiner Urgroßmutter. Geschrieben für meinen verlorenen Sohn, den ich leider nie gefunden habe. «
Ari bemerkte, dass Anahitas Augen feucht wurden. Vor Jahren hatte sein Vater ihm von diesem Sohn erzählt, der als kleines Kind in England gestorben war, wo seine Urgroßmutter sich während des Ersten Weltkriegs aufgehalten hatte. Wenn Ari sich recht erinnerte, hatte sie ihn vor ihrer Rückkehr nach Indien dort zurücklassen müssen. Offenbar weigerte
Anahita sich zu glauben, dass er tot war.
»Ich dachte ...«
»Bestimmt hat man dir von seiner Sterbeurkunde erzählt. Und dass ich in meiner Trauer den Tod meines geliebten Sohnes nicht akzeptieren kann.«
Ari rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ja, ich kenne die Geschichte«, gab er zu.
»Ich weiß, was meine Familie denkt, und kann mir vorstellen, was du davon hältst. Doch glaube mir: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein von Menschen verfasstes Dokument erklären kann. Was Herz und Seele einer Mutter sagen, darf man nicht ignorieren. Und ich versichere dir, dass mein Sohn nicht tot ist.«
»Nani, ich glaube dir.«
Anahita zuckte mit den Achseln. »Mir ist klar, dass du das nicht tust, aber das macht mir nichts aus. Zum Teil ist es meine Schuld, dass meine Familie mir nicht glaubt. Ich habe ihr nie erklärt, was damals passiert ist.«
»Warum nicht?«
»Weil ...« Anahita schüttelte, den Blick auf ihre geliebten Berge gerichtet, kaum wahrnehmbar den Kopf. »Es wäre nicht richtig, dir das jetzt darzulegen, denn es steht alles da drin.« Sie deutete auf das Papier in Aris Händen. »Wenn der richtige Moment gekommen ist - und du wirst ihn erkennen -, liest du meine Geschichte vielleicht und entscheidest selbst, ob du Nachforschungen anstellst.«
»Verstehe«, sagte Ari, doch das tat er nicht.
»Ich bitte dich nur, bis zu meinem Tod niemandem in unserer Familie etwas über den Inhalt dieser Aufzeichnungen zu verraten. Ich vertraue dir mein Leben an, Ari. Wie du weißt ...«, Anahita schwieg kurz, »... geht meine Zeit auf Erden allmählich zu Ende.«
Ari sah sie fragend an. »Du möchtest, dass ich die Geschichte lese und dann Nachforschungen über den Verbleib deines Sohnes anstelle?«, vergewisserte er sich.
»Ja.«
»Aber wo soll ich anfangen?«
»Natürlich in England.« Anahita wandte sich wieder zu ihm. »Du folgst meinen Spuren. Was du dazu wissen musst, hältst du in Händen. Dein Vater sagt, du leitest eine Computerfirma. Du kannst sicher mit dem Netz umgehen.«
»Du meinst das Internet?«, fragte Ari schmunzelnd.
»Ja. Du brauchst wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, um den Ort zu finden, an dem alles begann.«
Ari folgte dem Blick seiner Urgroßmutter zu den Bergen. »Schönes Panorama«, bemerkte er.
»Ja, deswegen bleibe ich hier oben, auch wenn es meiner Tochter nicht recht ist. Eines nicht allzu fernen Tages werde ich mit Freuden noch weiter hinaufreisen, höher als diese Gipfel, und viele Menschen wiedersehen, um die ich im Leben getrauert habe. Doch so, wie die Dinge stehen«, sie wandte sich wieder ihrem Urenkel zu, »nicht den, den ich am liebsten treffen würde.«
»Woher weißt du, dass er noch lebt?«
Anahita schloss müde die Augen. »Das steht alles in meiner Geschichte.«
»Gut. Ich lasse dich jetzt wieder allein, Nani.«
Anahita nickte. Ari erhob sich mit einem pranaam und küsste seine Urgroßmutter auf beide Wangen.
»Auf Wiedersehen. Bis bald.«
»Vielleicht«, erwiderte sie.
An der Tür wandte Ari sich noch einmal zu ihr um. »Nani, warum ich? Warum gibst du die Geschichte nicht deiner Tochter oder meinem Vater?«
Anahita sah ihn an. »Weil sie nicht nur deine Vergangenheit, sondern auch deine Zukunft ist, Ari.«
Als Ari den Raum verließ und zur Garderobe an der Haustür ging, wo seine Aktentasche stand, fühlte er sich ausgelaugt. Nachdem er die vergilbten Blätter darin verstaut hatte, betrat er das Wohnzimmer, wo seine Großmutter Muna auf ihn zukam.
»Warum wollte sie dich sehen?«, fragte sie ihn.
»Sie glaubt nicht, dass ihr Sohn tot ist, und möchte, dass ich in England Nachforschungen anstelle.«
»Oje!« Muna verdrehte die Augen. »Ich kann dir die Sterbeurkunde zeigen. Ihr Sohn ist mit knapp drei Jahren gestorben. Bitte, Ari.« Muna legte eine Hand auf die Schulter ihres Enkels. »Achte gar nicht auf sie. Sie redet seit Jahren davon. Das ist das Hirngespinst einer alten Frau und nicht wert, dass du deine wertvolle Zeit damit vergeudest, glaube mir. Komm«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »und trink ein letztes Glas Champagner mit deiner Familie.«
Während des Flugs von Bagdogra zurück nach Mumbai versuchte Ari, sich auf die Zahlen vor ihm zu konzentrieren, doch er musste immer wieder an Anahita denken. Bestimmt hatte seine Großmutter mit ihrer Behauptung recht, seine Urgroßmutter verrenne sich da in etwas. Aber bei ihrem Gespräch unter vier Augen hatte Anahita Dinge über Ari gesagt, die sie eigentlich nicht wissen konnte, die ihn verunsichert hatten. Möglicherweise war doch etwas dran an ihrer Geschichte ... Vielleicht würde er sich zu Hause die Zeit nehmen, einen Blick darauf zu werfen.
Am Flughafen von Mumbai wurde er von seiner gegenwärtigen Freundin Bimbi abgeholt, obwohl es bereits nach Mitternacht war. Den Rest der Nacht verbrachte er auf höchst angenehme Weise mit ihr in seinem Apartment mit Blick auf das Arabische Meer.
Als er am folgenden Morgen die für seinen Termin nötigen Unterlagen in die Aktentasche steckte, nahm er Anahitas Papiere heraus.
Eines Tages werde ich Zeit haben, sie zu lesen, dachte er, legte das Manuskript in die unterste Schublade seines Schreibtischs und verließ hastig die Wohnung.
Ein Jahr später
... Ich erinnere mich. In der Nacht erscheint schon die sanfteste Brise wie eine himmlische Erholung von der ewigen trockenen Hitze in Jaipur. Oft klettern die anderen Frauen und Kinder der zenana und ich zu den Dächern des Mondpalastes hinauf und schlafen dort ...
Wenn ich da liege und zu den Sternen hochblicke, höre ich dieses Singen und weiß, dass ein geliebter Mensch von der Erde genommen und sanft nach oben getragen wird ...
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und finde mich in meinem Zimmer in Darjeeling wieder, nicht auf dem Dach des Palasts in Jaipur. Es war ein Traum, versuche ich, mich ein wenig desorientiert zu beruhigen, als der Gesang in meinen Ohren nachhallt, obwohl mir klar ist, dass ich wach bin.
Ich weiß, was das bedeutet: Gerade stirbt jemand, den ich liebe. Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich schließe die Augen und gehe im Geist meine Familie durch, um herauszufinden, wer.
Ohne Erfolg. Merkwürdig, denke ich, denn noch nie zuvor haben die Götter sich geirrt.
Wer ...?
Ich atme tief durch, horche in mich hinein.
Und plötzlich weiß ich es.
Mein Sohn ... mein geliebter Sohn.
Tränen treten mir in die Augen. Um mich zu trösten, blicke ich durchs Fenster hinauf zum Himmel. Und sehe nur dunkle Nacht.
Es klopft leise an der Tür, und Keva tritt mit besorgter Miene ein.
»Madam, ich habe Sie weinen hören. Sind Sie krank?«, fragt sie, kommt zu mir und fühlt meinen Puls.
Ich schüttle stumm den Kopf, während sie mit einem Taschentuch die Tränen von meinen Wangen wischt. »Nein«, beruhige ich sie. »Ich bin nicht krank.«
»Was ist dann? Haben Sie schlecht geträumt?«
»Nein.« Sie wird es nicht verstehen. »Mein Kind ist gerade gestorben.«
Keva sieht mich entsetzt an. »Woher wissen Sie, dass Madam Muna tot ist?«
»Nicht meine Tochter, Keva, sondern mein Sohn, den ich vor so vielen Jahren in England zurücklassen musste. Er ist einundachtzig Jahre alt geworden«, murmle ich. »Immerhin hatte er ein langes Leben.«
Keva legt verwirrt eine Hand auf meine Stirn, um zu prüfen, ob ich Fieber habe. »Madam, Ihr Sohn ist schon lange tot. Wahrscheinlich haben Sie geträumt.«
»Möglich«, sage ich, um sie nicht zu beunruhigen. »Notiere bitte trotzdem Datum und Stunde für mich. Diesen Augenblick möchte ich nicht vergessen. Die Zeit des Wartens ist vorüber. «
Sie tut mir den Gefallen und gibt mir den Zettel.
»Ich komme jetzt allein zurecht. Du kannst gehen.«
»Sehr wohl, Madam. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja. Gute Nacht, Keva.«
Als sie das Zimmer verlässt, schreibe ich einen kurzen Brief. Dann hole ich die abgegriffene Sterbeurkunde meines Sohns aus der Schublade des Nachtkästchens. Morgen soll Keva beides in einen Umschlag stecken und diesen an den Anwalt schicken, der meinen Nachlass regeln wird. In dem Brief bitte ich ihn, mich anzurufen, damit ich ihm sagen kann, an wen er den Umschlag nach meinem Tod senden soll.
Ich schließe die Augen, um zu schlafen. Plötzlich fühle ich mich hier auf Erden sehr allein, und mir wird klar, dass ich auf diesen Moment gewartet habe. Bald werde ich meinem Sohn folgen ...
Drei Tage später klopfte Keva zur üblichen Zeit an der Tür ihrer Herrin. Nicht sofort eine Antwort zu erhalten war nichts Ungewöhnliches, denn Madam Chavan döste oft bis spät in den Vormittag hinein. Also erledigte Keva eine halbe Stunde lang andere Dinge im Haushalt, bevor sie noch einmal klopfte und wieder keine Reaktion erfolgte. Das war nun allerdings ungewöhnlich. Als Keva leise die Tür öffnete, stellte sie fest, dass ihre Herrin tief und fest schlief. Erst nachdem sie die Vorhänge zurückgezogen und ihr dabei wie immer Belanglosigkeiten erzählt hatte, merkte sie, dass Madam Chavan nicht antwortete.
Aris Handy klingelte mitten im chaotischen Verkehr von Mumbai. Als er die Nummer seines Vaters sah, mit dem er Wochen nicht gesprochen hatte, ging er ran und stellte laut.
»Papa!«, rief er fröhlich aus. »Wie geht's?«
»Hallo, Ari, gut, aber ...«
Die Stimme seines Vaters klang traurig.
»Ja?«, fragte er. »Was ist los?«
»Deine Urgroßmutter Anahita ist heute in den frühen Morgenstunden gestorben.«
»Oh, Papa, das tut mir leid.«
»Es tut uns allen leid. Sie war eine wunderbare Frau und wird uns fehlen.«
»Immerhin hatte sie ein langes Leben«, stellte Ari fest, während er mit seinem Wagen einem Taxi auswich, das unvermittelt vor ihm stehen geblieben war.
»Ja. Die Beisetzung findet in vier Tagen statt, damit die Verwandten genug Zeit haben herzukommen. Deine Geschwister und alle anderen werden da sein. Du hoffentlich auch«, sagte Vivek.
»Diesen Freitag?«, fragte Ari entsetzt.
»Ja, mittags. Sie wird nur in Anwesenheit der Familie am ghaat von Darjeeling verbrannt. Später findet eine Trauerfeier für sie statt.«
»Papa«, stöhnte Ari. »Wirklich, Freitag geht nicht. Ein potenzieller Kunde fliegt wegen einem Softwarevertrag eigens aus den Staaten her. Der Auftrag würde mein Unternehmen von einem Tag auf den anderen aus der Verlust-in die Gewinnzone bringen. Beim besten Willen: Am Freitag kann ich nicht nach Darjeeling kommen.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ari«, seufzte sein Vater schließlich, »sogar ich weiß, dass es Situationen gibt, in denen die Familie wichtiger ist als der Beruf. Deine Mutter würde dir das nie verzeihen, gerade deswegen, weil Anahita dir bei ihrer Geburtstagsfeier letztes Jahr zu verstehen gegeben hat, wie sehr du ihr am Herzen liegst.«
»Tut mir leid, Papa«, beharrte Ari. »Das schaffe ich nicht.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Ja.«
Ari hörte, wie sein Vater den Hörer auf die Gabel knallte.
Am folgenden Freitagabend kehrte Ari bestens gelaunt nach Hause zurück. Das Treffen mit den Amerikanern war so gut gelaufen, dass sie sich sofort auf den Deal verständigt hatten. Da er zur Feier des Tages mit Bimbi ausgehen wollte, fuhr er zuvor zum Duschen und Umziehen zu seinem Apartment. Unten holte er einen Brief aus seinem Postfach und nahm dann den Lift in den sechzehnten Stock. Im Schlafzimmer riss er den Umschlag auf und las den Brief darin.
Anwaltskanzlei Khan & Chauhan
Chowrasta Square
Darjeeling
Westbengalen
Indien
2. März 2001
Sehr geehrter Herr,
den Anweisungen meiner Mandantin Anahita Chavan folgend sende ich Ihnen diesen Umschlag. Wie Sie vielleicht schon wissen, ist Madam Chavan vor ein paar Tagen verstorben.
Mit herzlichem Beileid
Devak Khan
Partner
Ari setzte sich aufs Bett. In der Aufregung um den Geschäftstermin hatte er die Beisetzung seiner Urgroßmutter völlig vergessen. Mit einem tiefen Seufzen öffnete er das Kuvert, das der Anwalt beigelegt hatte. Bestimmt, dachte er, würden seine Eltern es ihm nie verzeihen, dass er sie nicht einmal angerufen hatte.
»Egal, so ist es nun mal«, brummte Ari, als er den Brief entfaltete.
Mein lieber Ari,
wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Beigefügt sende ich Dir das Datum und die genaue Uhrzeit des Todes von meinem Sohn Moh sowie seine Sterbeurkunde von damals. Wie Du siehst, stimmen die Daten nicht überein. Im Moment mag Dir das vielleicht noch nichts sagen, doch wenn Du Dich irgendwann entschließen solltest, Nachforschungen darüber anzustellen, was mit ihm geschehen ist, könnte es Dir möglicherweise helfen. In der Zwischenzeit schicke ich Dir, bis wir uns an einem anderen Ort wiedersehen, meine Liebe. Vergiss nicht, dass wir unsere Geschicke niemals ganz selbst lenken können. Lausche auf das, was Deine Ohren Dir sagen, und halte Deine Augen offen, das wird Dich leiten.
Deine Dich liebende Urgroßmutter
Anahita
Ari seufzte. Er war nicht in der Stimmung, sich Gedanken über dieses Gewäsch seiner Urgroßmutter oder darüber zu machen, wie wütend seine Eltern im Moment wahrscheinlich auf ihn waren, und wollte sich den Abend nicht verderben lassen.
Bevor er das Wasser in der Dusche aufdrehte, stellte er den CD-Player neben seinem Bett laut, damit er die dröhnende Musik hören konnte.
Nach dem Duschen schlüpfte er in einen seiner maßgeschneiderten Anzüge und schaltete die Musik aus. Beim Verlassen des Schlafzimmers fiel sein Blick auf Anahitas Brief. Einem plötzlichen Impuls folgend faltete er ihn wieder, steckte ihn zurück in den Umschlag und legte ihn zu dem vergilbten Manuskript in die Schublade. Dann löschte er das Licht und verließ die Wohnung.
London, Juli 2011
1
Als das Flugzeug sich London näherte, betrachtete Rebecca Bradley durchs Fenster die an diesem klaren Sommermorgen herrlich grün schimmernden Felder sowie Big Ben und die Houses of Parliament unter ihr, die sie, verglichen mit New York, an eine Spielzeugstadt erinnerten.
»Miss Bradley, wir sorgen dafür, dass Sie das Flugzeug als Erste verlassen können«, versicherte ihr eine Flugbegleiterin.
Rebecca bedankte sich mit einem Lächeln und nahm die große dunkle Sonnenbrille aus ihrer Umhängetasche, obwohl sie nicht damit rechnete, von Fotografen erwartet zu werden. Denn um schnell von New York wegzukommen, hatte sie einen früheren Flug als ursprünglich geplant genommen.
Es erfüllte sie mit Befriedigung, dass niemand, nicht einmal ihr Agent oder Jack, wusste, wo sie sich aufhielt. Jack hatte ihre Wohnung am Nachmittag verlassen, um seinen Flug zurück nach Los Angeles zu erreichen, ohne von ihr die gewünschte Antwort erhalten zu haben. Sie hatte ihm erklärt, dass sie Zeit zum Nachdenken brauche.
Rebecca nahm das rote Samtetui aus ihrer Tasche und öffnete es. Der Ring darin war ziemlich groß und für ihren Geschmack zu protzig. Als einer der berühmtesten und bestbezahlten Filmstars der Welt neigte Jack zum Auffälligen und konnte ihr kaum etwas Kleineres geben, denn wenn sie seinen Antrag annahm, würde der Ring in Zeitungen und Zeitschriften auf der ganzen Welt zu sehen sein. Jack Heyward und Rebecca Bradley waren das heißeste Paar Hollywoods, um das sich die Medien rissen.
Als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte, schloss sie das Samtetui. Seit sie und Jack sich im Jahr zuvor bei den Dreharbeiten zu einer romantischen Komödie kennengelernt hatten, fühlte sie sich fremdbestimmt. In Wahrheit - Rebecca biss sich auf die Lippe - war die »Traumbeziehung«, die sie und Jack nach Ansicht der Welt führten, genauso Fiktion wie ihre Filme.
Sogar ihr Agent Victor ermutigte sie zu der Beziehung mit Jack und erklärte ihr immer wieder, dass sie ihrer Karriere förderlich sei.
»Die Öffentlichkeit liebt Hollywoodpaare, Schätzchen«, sagte er. »Wenn's mit den Filmen mal nicht so gut läuft, machen sie immer noch gern Fotos von euren Kindern im Park.«
Rebecca überlegte, wie viel Zeit sie und Jack im vergangenen Jahr tatsächlich miteinander verbracht hatten. Er lebte in Hollywood, sie in New York; oft führte ihr voller Terminplan dazu, dass sie einander wochenlang nicht sahen. Und wenn sie tatsächlich zusammen waren, wurden sie von Paparazzi verfolgt. Selbst tags zuvor in dem kleinen Italiener waren sie von Autogrammjägern belagert worden. Am Ende war Jack mit ihr in den Central Park gegangen, um ihr in Ruhe den Antrag machen zu können. Sie hoffte nur, dass niemand sie dort beobachtet hatte ...
Das überwältigende Gefühl der Klaustrophobie während der Taxifahrt zu ihrer Wohnung in SoHo, als Jack auf eine Antwort wartete, hatte zu ihrem unvermittelten Beschluss geführt, früher nach England zu fliegen. Ständig unter Beobachtung der ganzen Welt zu stehen und von Fremden verfolgt zu werden, die meinten, man gehöre ihnen, empfand Rebecca momentan als unerträglich. Allmählich forderten der Mangel an Privatsphäre, den eine Beziehung in der Öffentlichkeit mit sich brachte, und die Tatsache, dass sie sich nicht einmal einen Bagel und eine Latte Macchiato aus dem Coffeeshop an der Ecke holen konnte, ohne angesprochen zu werden, ihren Tribut.
Ihr Arzt hatte ihr ein paar Wochen zuvor Valium verschrieben, nachdem sie bis zu ihrer Haustür verfolgt worden war, sie sich in ihrem Bad eingeschlossen und dort hemmungslos geweint hatte. Das Valium hatte geholfen, aber Rebecca war klar, dass dieser Weg ins Nichts führte, möglicherweise sogar in die Sucht. Was Jack nur zu gut wusste.
Zu Beginn ihrer Beziehung hatte er ihr versichert, dass er nicht vom Kokain abhängig sei. Er könne es nehmen oder auch nicht; es helfe ihm, sich zu entspannen. Später hatte Rebecca herausgefunden, dass das nicht stimmte. Als sie ihn auf seinen fortgesetzten starken Kokain-und Alkoholkonsum angesprochen hatte, war er in die Defensive gegangen und aggressiv geworden. Rebecca, die keinerlei Drogen nahm und nur selten Alkohol trank, hasste es, wenn Jack high war.
Anfangs hatte sie ihr Leben für fast vollkommen gehalten: Was konnte man sich mehr wünschen als eine steile Karriere und einen attraktiven, erfolgreichen Partner? Doch aufgrund der Drogen, der langen Trennungszeiten und Jacks Unsicherheit, die sich in einem Wutanfall entlud, als sie ein halbes Jahr zuvor für einen Golden Globe nominiert worden war und er nicht, hatte sich die rosa Brille allmählich grau gefärbt.
Das Angebot, in einem britischen Film mit dem Titel Die Stille der Nacht mitzuwirken, der in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielen und in dessen Mittelpunkt eine englische Adelsfamilie stehen sollte, hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Nicht nur, dass sich diese Rolle deutlich von ihren bisherigen seichten Parts unterschied, nein, es war auch eine große Ehre, von Robert Hope, dem gefeierten britischen Regisseur, auserwählt worden zu sein. Jack hatte jedoch auch diesmal wieder ihre Freude gedämpft, indem er sagte, sie bräuchten sie lediglich ihres Hollywoodnamens wegen, um die Geldgeber zufrieden- zustellen. Anschließend hatte er ihr erklärt, sie müsse nur gut in den historischen Kostümen aussehen und solle sich keinen Illusionen hingeben, dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten ihr das Engagement eingebracht hätten.
»Du bist viel zu schön, um als Schauspielerin ernst genommen zu werden, Schatz«, hatte er hinzugefügt und sein Wodkaglas aufgefüllt.
Nachdem das Flugzeug in Heathrow gelandet und zum Stillstand gekommen war, löste Rebecca ihren Sicherheitsgurt.
»Bereit, Miss Bradley?«, erkundigte sich die Flugbegleiterin.
»Ja danke.«
»Wir sind gleich so weit.«
Rebecca kämmte hastig ihre langen dunklen Haare und schlang sie zu einem Knoten im Nacken. Jack nannte das ihren »Audrey-Hepburn-Look«, und auch die Medien verglichen Rebecca gern mit dieser Schauspielikone. Es war sogar die Rede von einem Remake des Films Frühstück bei Tiffany im folgenden Jahr.
Sie durfte nicht auf ihn hören, sich ihr Selbstbewusstsein als Schauspielerin nicht von ihm nehmen lassen. Die letzten beiden Filme von Jack waren Flops gewesen, und er stand nicht mehr so sehr im Rampenlicht wie früher. Die schreckliche Wahrheit sah folgendermaßen aus: Er beneidete sie um ihren Erfolg. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Egal, was Jack zu ihr gesagt hatte: Sie würde beweisen, dass sie mehr zu bieten hatte als ein hübsches Gesicht, und das hervorragende Drehbuch gab ihr Gelegenheit, genau das zu tun.
Auf dem englischen Land, weit weg von der Öffentlichkeit, erhoffte Rebecca sich Ruhe zum Nachdenken. Sie wusste, dass sich hinter den Problemen ein Jack verbarg, den sie liebte. Doch solange er nicht bereit war, gegen seine wachsende Abhängigkeit zu kämpfen, würde sie seinen Antrag nicht annehmen.
»Ich begleite Sie aus dem Flugzeug, Miss Bradley«, verkündete ein dunkel gekleideter Mann vom Sicherheitsdienst.
Rebecca setzte die Sonnenbrille auf und verließ die erste Klasse. Während sie in der VIP-Lounge auf ihr Gepäck wartete, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich in einer Sackgasse befand, wenn Jack sich nicht endlich seinen Problemen stellte. Vielleicht, überlegte sie, als sie das Handy aus ihrer Tasche nahm und einen Blick aufs Display warf, sollte sie ihm genau das sagen.
»Miss Bradley, Ihr Gepäck wird gerade zum Wagen gebracht «, erklärte der Mann vom Sicherheitsdienst. »Ich fürchte, draußen warten schon die Fotografen auf Sie.«
»O nein!« Sie sah ihn entsetzt an. »Wie viele?«
»Viele. Keine Sorge, ich bringe Sie sicher hinaus.«
»Damit hatte ich nicht gerechnet«, bemerkte sie, als sie mit ihm den Ankunftsbereich betrat. »Ich habe einen früheren Flug als geplant genommen.«
»Aber Sie treffen an dem Morgen in London ein, an dem die große Neuigkeit publik geworden ist. Darf ich gratulieren?«
Rebecca blieb wie angewurzelt stehen. »Was für eine ›Neuigkeit‹? «
»Ihre ... Verlobung mit Jack Heyward, Miss Bradley.«
»Oje«, stöhnte sie.
»Auf den Titelseiten ist heute ein hübsches Foto von Ihnen und Mr Heyward im Central Park, wie er Ihnen einen Ring an den Finger steckt.« Er blieb vor der automatischen Tür stehen. »Sind Sie bereit?«
Rebecca, der hinter der Sonnenbrille Zornestränen in die Augen traten, nickte.
»Gut, wir gehen so schnell wie möglich durch.«
Als der Wagen fünfzehn Minuten später das Gelände von Heathrow verließ, betrachtete Rebecca kopfschüttelnd das Foto von ihr und Jack, das auf der ersten Seite der Daily Mail prangte, und die Schlagzeile:
JACK UND BECKS - ES IST OFFIZIELL!
Auf dem unscharfen Foto war zu erkennen, wie Jack ihr im Central Park den Ring ansteckte. Rebecca sah ihn darauf mit einem Ausdruck an, der, wie sie wusste, von Panik zeugte, den der Reporter jedoch als Überraschung und Freude interpretierte. Zu allem Überfluss bestätigte Jack in einem Statement, das er offenbar nach dem Verlassen ihrer Wohnung am Nachmittag des vergangenen Tages abgegeben hatte, dass er Rebecca einen Heiratsantrag gemacht habe. Allerdings stehe noch kein Hochzeitstermin fest.
Mit zitternden Fingern zog sie das Handy aus der Handtasche. Als sie sah, dass sich darauf mehrere Nachrichten von Jack, ihrem Agenten und Journalisten befanden, schaltete sie es aus und steckte es zurück. Im Moment hatte sie keine Lust, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Und sie war wütend auf Jack, dass er sich überhaupt zu dem, was im Park geschehen war, geäußert hatte.
Bestimmt würden die Medien schon am folgenden Tag Spekulationen über Brautkleid und Ort der Trauung sowie eine mögliche Schwangerschaft anstellen.
Rebecca schloss die Augen und atmete tief durch. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, und bis zum Abend zuvor hatte sie Ehe und Kinder als ferne Zukunftsprojekte erachtet.
Jack ging bereits auf die vierzig zu, war mit den meisten seiner Schauspielerkolleginnen im Bett gewesen und hatte das Gefühl, dass es allmählich Zeit wurde, sesshaft zu werden, während es für sie erst die zweite ernsthafte Beziehung nach vielen Jahren mit ihrer Jugendliebe war, einer Liebe, die Karriere und Ruhm zerstört hatten.
»Nach Devon werden wir ein paar Stunden brauchen, Miss Bradley«, erklärte ihr der freundliche Fahrer. »Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Graham. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich unterwegs irgendwo anhalten soll.«
»Ja«, sagte Rebecca, die sich von ihm am liebsten in eine afrikanische Wüste ohne Fotografen, Zeitungen oder Mobilfunknetze hätte chauffieren lassen.
»Unser Ziel ist ziemlich abgelegen, Miss Bradley«, erklärte Graham, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Im Dartmoor gibt's keine großen Städte und Läden. Tolles altes Anwesen, wo die Dreharbeiten stattfinden. Wie aus der Zeit gefallen. Hätte nicht gedacht, dass in solchen Herrenhäusern noch Leute wohnen. Für mich ist das eine angenehme Abwechslung. Normalerweise kutschiere ich die Schauspieler durch den Londoner Verkehr zu den Studios.«
Seine Worte trösteten Rebecca etwas. Vielleicht würde die Pressemeute sie dort draußen in Ruhe lassen.
»Sieht aus, als würde uns ein Motorradfahrer folgen, Miss Bradley«, teilte Graham ihr nach einem Blick in den Rückspiegel mit und zerstörte damit ihre Hoffnungen auf Privatsphäre. »Keine Sorge, auf der Autobahn hängen wir ihn schnell ab.«
»Danke«, sagte Rebecca, sank erschöpft in ihren Sitz zurück und schloss die Augen.
»Wir sind fast da, Miss Bradley.«
Nach viereinhalb Stunden im Wagen, in denen sie immer wieder eingenickt war, spürte Rebecca nun den Jetlag. Sie schaute benommen aus dem Fenster. »Wo sind wir?«, fragte sie beim Anblick der rauen, menschenleeren Moorlandschaft.
»Im Dartmoor. Bei Sonnenschein wie heute ist es hier sehr schön, aber im Winter kann's ziemlich düster sein. Entschuldigen Sie«, sagte Graham, als sein Handy klingelte. »Der Produktionsleiter. Ich fahre kurz zum Telefonieren an den Straßenrand.«
Während Graham telefonierte, trat Rebecca in das stoppelige Gras am Rand der schmalen Straße, um die frische Luft einzuatmen. Eine leichte Brise wehte übers Moor, und in der Ferne erkannte sie gezackte Felsen. Kilometerweit war keine Menschenseele zu sehen. »Himmlisch«, flüsterte sie, als Graham den Motor anließ und sie sich wieder in den Wagen setzte. »Es ist so friedlich hier.«
»Ja«, pflichtete er ihr bei, »aber leider hat mir der Produktionsleiter gerade gesagt, dass vor dem Hotel der Schauspieler eine Horde Fotografen wartet, Miss Bradley. Deshalb soll ich Sie direkt nach Astbury Hall fahren, wo die Dreharbeiten stattfinden. «
»Okay.« Rebecca biss sich frustriert auf die Lippe.
»Tut mir leid, Miss Bradley. Ich sage meinen Kindern immer, dass reiche, berühmte Filmstars es gar nicht so leicht haben, wie die meisten Leute denken. Muss ganz schön hart sein, besonders in solchen Momenten.«
»Stimmt, manchmal schon.«
»Zum Glück kann Ihnen während der Dreharbeiten niemand nahekommen. Der Landsitz liegt mitten in einem großen Park, und von der Einfahrt zum Gebäude ist es ungefähr ein Kilometer.«
Sie erreichten ein schmiedeeisernes Doppeltor mit einem Mann vom Sicherheitsdienst, der das Tor öffnete, als Graham ihm ein Zeichen gab. Rebecca betrachtete mit großen Augen die uralten Eichen, Rosskastanien und Buchen zu beiden Seiten der Straße, die durch das weitläufige Grundstück führte.
Vor ihnen lag ein riesiges Gebäude, eher ein Palast, wie sie ihn nur aus Büchern oder Geschichtssendungen im Fernsehen kannte, ein barockes Ensemble aus gemeißeltem Stein und kannelierten Säulen.
»Wow«, staunte sie.
»Beeindruckend, was? Ich möchte nicht wissen, wie viel das Heizen im Winter hier kostet«, scherzte Graham.
Als sie näher kamen und Rebecca den Marmorspringbrunnen vor dem Haus entdeckte, hätte sie sich bessere Architekturkenntnisse gewünscht, um alles exakter beschreiben zu können. Die elegante Symmetrie des Gebäudes mit den Flügeln zu beiden Seiten einer zentralen Kuppel raubte ihr den Atem. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern, die die gesamte Front wie Edelsteine schmückten, und das Mauerwerk dazwischen war mit Putten und Urnen verziert. Unter dem wuchtigen Portikus in der Mitte, der von vier gewaltigen Säulen getragen wurde, befand sich eine prächtige Doppeltür aus Eiche.
»Ein richtiges Schloss, was?«, bemerkte Graham, als er den Wagen um das Gebäude herum in den Hof lenkte, auf dem es von Lieferwagen und Lastern wimmelte und von dem aus Leute Kameras, Scheinwerfer und Kabel hineinschleppten. »Soweit ich weiß, sollen die Dreharbeiten morgen beginnen «, erklärte Graham und stellte den Motor ab.
Rebecca bedankte sich und stieg aus, während Graham ihre Tasche aus dem Kofferraum holte.
»Haben Sie nicht mehr Gepäck, Miss Bradley? Filmstars wie Sie reisen normalerweise mit jeder Menge Koffer.«
»Ich war in Eile«, gestand Rebecca und folgte ihm über den Hof zum Haus.
»Ich stehe während der gesamten Dreharbeiten zu Ihrer Verfügung, Miss Bradley. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie irgendwohin wollen, ja? War mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. «
»Ah, Sie sind da!« Ein schlanker junger Mann schritt auf Rebecca zu und streckte ihr die Hand hin. »Willkommen in England, Miss Bradley. Ich bin Steve Campion, der Produktionsleiter. Tut mir leid, dass Sie den heutigen Morgen mit einem Spießrutenlauf vor der britischen Boulevardpresse beginnen mussten. Hier sind Sie immerhin vor Reportern sicher. «
»Danke. Wissen Sie, wann ich ins Hotel kann? Eine Dusche und ein bisschen Schlaf wären schön«, sagte Rebecca, von der Reise müde.
»Nach dem Empfang am Flughafen wollten wir Ihnen nicht noch die Meute vor dem Hotel zumuten«, erklärte Steve. »Lord Astbury stellt Ihnen fürs Erste ein Zimmer im Haus zur Verfügung, bis wir eine passende Unterkunft für Sie gefunden haben. Wie Ihnen schon aufgefallen sein dürfte«, fügte Steve mit einem Blick auf das riesige Gebäude hinzu, »gibt es hier mehr als genug Räume. Robert, der Regisseur, möchte morgen mit dem Drehen anfangen und wollte verhindern, dass Sie und die anderen Schauspieler im Hotel gestört werden.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache«, entschuldigte sich Rebecca mit schlechtem Gewissen.
»Keine Ursache. Dafür haben wir ja eine berühmte junge Schauspielerin in unserem Film. Die Haushälterin hat mich gebeten, Sie zu ihr zu schicken, sobald Sie da sind, damit sie Ihnen Ihr Zimmer zeigen kann. Heute Nachmittag um fünf treffen sich alle im Salon, so dass Sie noch Zeit für ein paar Stunden Schlaf haben.«
Rebecca, der Steves leicht gereizter Tonfall nicht entgangen war, bedankte sich ein weiteres Mal. Offenbar hatte er sie bereits als »schwierig« eingestuft, und vermutlich würden ihre britischen Schauspielerkollegen, deren Ruhm und Einspielergebnisse im Moment längst nicht an die ihren heranreichten, sie auch so einschätzen.
»Warten Sie hier, ich suche Mrs Trevathan«, sagte Steve und ließ Rebecca mitten auf dem Hof stehen, wo das Kamerateam schwere Ausrüstung an ihr vorbeischleppte.
Wenig später eilte eine rundliche Frau mittleren Alters mit grau gelockten Haaren und rosigem Teint durch die Tür auf sie zu.
»Miss Rebecca Bradley?«
»Ja.«
Die Frau lächelte breit. »Ich hab Sie sofort erkannt. In Wirklichkeit sind Sie noch hübscher als im Kino. Ich hab all Ihre Filme gesehen, und es freut mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen. Ich bin Mrs Trevathan, die Haushälterin. Wenn Sie mir folgen wollen ... Ich führe Sie zu Ihrem Zimmer. Leider ist es ziemlich weit weg. Graham bringt Ihnen Ihr Gepäck später nach«, erklärte sie, als Rebecca sich nach ihrer Tasche bückte. »Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Strecken ich jeden Tag zurücklegen muss.«
»Wahrscheinlich nicht.« Rebecca hatte Mühe, den starken Devon-Akzent der Frau zu verstehen. »Ein imposantes Gebäude. «
»Jetzt nicht mehr so, weil sich nur noch ich und eine Tageshilfe drum kümmern. Ich bin mit den Nerven am Ende. Früher haben hier dreißig Bedienstete rund um die Uhr gearbeitet, aber die Zeiten sind vorbei.«
Rebecca nickte, als Mrs Trevathan sie durch eine Reihe von Türen in eine riesige Küche führte, wo eine Frau in Schwesterntracht am Tisch Kaffee trank.
»Von der Küche aus kommt man über die Bedienstetentreppe am schnellsten hinauf zu den Zimmern«, erklärte Mrs Trevathan und ging Rebecca die steilen Stufen voran. »Ich habe Sie in einem hübschen Raum auf der Rückseite des Hauses untergebracht. Von dort aus haben Sie einen schönen Blick auf die Gärten und das Moor. Sie können von Glück sagen, dass Lord Astbury Ihnen ein Zimmer im Haus zur Verfügung stellt. Er mag Gäste nicht sonderlich. Früher mal haben hier bequem vierzig Leute übernachten können, aber das ist lange her.«
Sie erreichten ein Zwischengeschoss, wo Rebecca kurz die prächtige Kuppel bewunderte, bevor sie Mrs Trevathan einen breiten, dunklen Flur entlang folgte.
»Sie schlafen hier«, verkündete sie und öffnete die Tür zu einem geräumigen Zimmer mit hoher Decke, das von einem großen Doppelbett beherrscht wurde. »Ich habe gut durchgelüftet, deswegen ist es ein bisschen kühl. Aber das ist besser als der modrige Geruch. Wenn Ihnen kalt sein sollte, können Sie den Elektroofen einschalten.«
»Danke. Würden Sie mir noch verraten, wo die Toilette ist?«
»Die zweite Tür links, auf der anderen Seite des Flurs. Leider haben wir keine eigenen Toiletten und Bäder für die einzelnen Zimmer. Ich lasse Sie jetzt ausruhen.«
»Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«, fragte Rebecca schüchtern.
Mrs Trevathan blieb an der Tür stehen. »Natürlich. Sie sind sicher halb verdurstet. Haben Sie was gegessen?«
»Nein, im Flugzeug hatte ich keinen Appetit auf Frühstück.«
»Soll ich Ihnen eine Kanne Tee und ein paar Scheiben Toast bringen? Sie sehen ein bisschen blass um die Nase aus.«
»Das wäre wunderbar.« Plötzlich merkte Rebecca, dass ihr vor Hunger fast schwindlig war.
»Gut, dann hol ich mal die Sachen.« Mrs Trevathan musterte Rebecca mitfühlend. »Stars müssen auch essen, was? Machen Sie sich's bequem. Bin gleich wieder da.«
Kurz darauf trat Rebecca auf den Flur und landete nach einem Fehlversuch in einem Wäscheschrank und einem anderen Zimmer in einem großen Bad mit altmodischer gusseiserner Wanne. Von dem Wasserbehälter über der Toilette baumelte eine rostige Metallkette. Nachdem Rebecca Wasser aus dem Hahn getrunken hatte, kehrte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie durch eines der hohen Fenster hinausblickte. Der Garten jenseits der großen Terrasse hinter dem Haus wirkte gepflegt. Die Beete wurden von Blumen und Sträuchern gesäumt, und Blüten hoben sich zartrosafarben vom Grün der Rasenflächen ab. Hinter der hohen Eibenhecke, die den Garten einfasste, lag das raue Moor, das deutlich mit den glatten gemähten Rasenflächen kontrastierte. Rebecca schlüpfte aus den Schuhen und legte sich in das Bett mit der angenehm weichen Matratze.
Als Mrs Trevathan zehn Minuten später an der Tür klopfte und eintrat, sah sie, dass Rebecca tief und fest schlief. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch am Kamin ab, deckte sie zu und verließ leise den Raum.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Januar 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Lucinda Riley
Riley, LucindaLucinda Riley wurde in Irland geboren und verbrachte als Kind mehrere Jahre in Fernost. Sie liebt es zu reisen und ist nach wie vor den Orten ihrer Kindheit sehr verbunden. Nach einer Karriere als Theater- und Fernsehschauspielerin konzentriert sich Lucinda Riley heute ganz auf das Schreiben - und das mit sensationellem Erfolg: Seit ihrem gefeierten Roman »Das Orchideenhaus« stürmte jedes ihrer Bücher die internationalen Bestsellerlisten. Lucinda Riley lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern an der englischen Küste in North Norfolk und in West Cork, Irland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lucinda Riley
- 2014, 576 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hauser, Sonja
- Übersetzer: Sonja Hauser
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313600
- ISBN-13: 9783442313600
- Erscheinungsdatum: 27.01.2014
Rezension zu „Die Mitternachtsrose “
"Herzerwärmend und mitreissend ist der Roman von Lucindy Riley" LAURA Wohnen kreativ
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