Die Kastratin
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DieKastratin von Iny Lorentz
Leseprobe
Giulia wagte nicht, an die Folgen einer Entdeckung zudenken, die ihr Vater unnötigerweise immer wieder ausgemalt hatte. Die Angstsass ihr wie ein dicker Knoten im Bauch, und ihre Augen waren so verschleiert,dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Als sie stolperte, packte ihr Vater sieam Arm, bewahrte sie davor, die Treppe hinabzustürzen, und funkelte sie zornigan. »Reiss dich zusammen, Giulio!« Seine Stimme klang leise, aber sehr scharf.»Denke daran, was Assumpta auf meine Anordnung mit dir gemacht hat. Also seiganz vorsichtig. Wenn das Ding abfällt oder zerbricht, ehe wir die Begutachtunghinter uns haben, brennen wir beide. Hast du mich verstanden?«
Sie biss sich auf die Lippen, um kein böses Wort darüber schlüpfen zu lassen.Seit ihrer Flucht war der Name Giulia kein einziges Mal mehr über seine Lippengekommen. Er nannte sie stets Giulio und schien vergessen zu haben, dass ihm jeeine Tochter geboren worden war. Was Assumptas Werk betraf, konnte Giulia kauman etwas anderes denken. Die Dienerin hatte ihr nämlich mit Harz einen winzigenPenis aus Wachs an die bei einem Jungen vorgesehene Stelle geklebt. Es zieptebei jedem Schritt und war so störend, dass sie kaum richtig gehen konnte. Allesin ihr schrie danach, ihren Vater anzuflehen, sein Vorhaben fahren zu lassen,doch ihr Mund blieb verschlossen. Jedes Wort wäre sinnlos gewesen. So folgtesie ihrem Vater bis unter das Dach, wo unter der Schräge eine kleine Tür zumVorschein kam.
Fassi klopfte daran, zuerst eher verhalten, und als sich nicht sofort etwastat, um einiges fester, bis eine mürrische Stimme ihnen antwortete. »Ja, ja,ich komm ja schon!«
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und ein alter, hagerer Mann in einerPriestersoutane steckte den Kopf heraus.
Girolamo Fassi verbeugte sich schwungvoll. »Guten Tag, Hochwürden. Mein Nameist Girolamo Casamonte. Ich habe mein Erscheinen angekündigt.«
Giulia verzog das Gesicht, als sie den falschen Namen hörte. Irgendwie war mitdem Namenswechsel, den ihr Vater mit Hilfe gefälschter Papiere vorgenommenhatte, die letzte Verbindung zu ihrer Kindheit in Saletto zerschnitten worden.Sie fand, ihr Vater hätte besser einige Empfehlungsschreiben für sich fälschensollen, um eine Stellung zu erhalten. Doch alles, was sie dazu gesagt hatte,war von ihrem Vater mit Vorwürfen, Klagen oder Spott zurückgewiesen worden.
Sie folgte ihrem Vater und dem Priester in den unbehaglichsten Raum, den sie jebetreten hatte. Innen war es so dunkel, dass man kaum das Gesicht seinesGegenübers erkennen konnte, geschweige denn die spärliche Möblierung, die sichnur durch noch dunklere Schattierungen in der vorherrschenden Finsternisverriet. Ein winziges Fenster in der Dachschräge liess kaum Licht herein.Darunter stand ein Tisch mit einem Stuhl, dem bereits ein Bein fehlte, unddaneben an der glatten Wand standen ein paar Bücher auf einem primitivgeschreinerten Bord. Der Strohsack in der anderen Ecke verriet sich und seinehrwürdiges Alter durch den Geruch, und die Tatsache, dass es auch noch eineTruhe gab, stellte Giulias Schienbein schmerzhaft fest.
Als der Priester neben dem Fenster stehen blieb, konnte sie sehen, wieschmutzig seine Soutane war. An seiner Nase hing ein Tropfen, der nach einerWeile herabfiel und sofort einem neuen Platz machte.
Der Priester zeigte mit dem dürren Zeigefinger seiner rechten Hand auf Giuliaund sah Fassi beinahe angewidert an. »Ist dies der Knabe, um den es geht?«
Giulia fand seine Stimme unangenehm knarzend.
Ihr Vater nickte eifrig, verbeugte sich noch mehrmals und zog ein Blatt Papierunter seinem Wams hervor. »Das ist mein Sohn Giulio. Hier habe ich dieBestätigung des Barbiers und Chirurgen Francesco, genannt Dellarino aus Rocca,der die nötige Operation durchgeführt hat.« Er wollte dem Priester dasgefälschte Attest reichen, doch dieser achtete nicht darauf.
Giulia fand den Humor ihres Vaters etwas arg derb, denn er hatte den Namen desAbtes von San Ippolito di Saletto verballhornt und ihm dem nicht existierendenBarbier verliehen, der einen ebenfalls nicht existierenden Knaben namens GiulioCasamonte kastriert hatte.
Der Priester setzte sich auf seinen Stuhl und balancierte dabei geschickt dasfehlende Bein aus. »Wie seid Ihr eigentlich auf mich gekommen, SignoreCasamonte? Schliesslich ist bekannt, dass ich nicht gerade als Freund desVerschneidens von Knaben gelte. Wenn Gott gewollt hätte, dass es Kastratengibt, hätte er sie selbst geschaffen und dieses Werk nicht den Messernirgendwelcher Stümper überlassen.«
Diese Aussage liess Giulia den Priester beinahe sympathisch werden. Ihr Vaterhingegen schluckte sichtlich und schien fieberhaft nach einer Antwort zusuchen. »Wir sind fremd in Mantua, Don Giantolo, und wurden von unseremHerbergswirt, dem braven Toldino Bandi, an Euch verwiesen. Wir sind auf dieBestätigung eines angesehenen Kirchenmanns angewiesen, damit Giulio zu EhrenGottes singen kann.«
Der Priester murmelte etwas, was weder Giulia noch ihr Vater richtigverstanden, und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Da es nun einmalgeschehen ist, will ich es für euch tun. Zieh dich aus, mein Junge.«
Giulia versteifte vor Entsetzen. Wenn sie sich jetzt entkleidete, würde DonGiantolo ihren Busen sehen, den Assumpta mit einem breiten Leinenstreifen flachgebunden hatte. Warum hatte ihr Vater sie nicht vor einem Jahr zu einemPriester bringen können, als sie oben herum noch halbwegs flach gewesen war?,fuhr es ihr durch den Kopf.
Ihr Vater bemerkte ihre Verwirrung und versetzte ihr einen Rippenstoss. »Los,Giulio, zieh deine Hose herunter!«
Zitternd vor Scham gehorchte das Mädchen. Sie wandte den beiden Männern dabeiden Rücken zu, stöhnte aber dann unter dem harten Griff auf, mit dem ihr Vatersie wieder herumdrehte. Sein Gesicht wirkte bis aufs Äusserste angespannt, undseine flackernden Augen sogen sich an ihrem nackten Unterkörper fest. Fasthoffte Giulia, der Priester würde den Betrug bemerken, so sehr ekelte sie sichin diesem Moment vor ihrem Vater. Don Giantolo warf jedoch nur einen kurzenBlick auf das verschrumpelte Ding, das Assumpta ihr angeklebt hatte, undbemerkte zutreffenderweise, dass die Hoden fehlen würden.
»Möge Gott gnädiger mit dir sein, als dein Vater es war, mein Sohn«, sagte erfreundlich und forderte sie auf, sich wieder anzuziehen. Dann wandte er sichab, um ein Pergament für die Bescheinigung hervorzukramen.
Giulia zog die Hose so rasch hoch, dass der künstliche Penis abriss. Es tatfürchterlich weh, doch war der Schmerz harmlos gegen die Qualen, in denen ihreSeele sich wand. Kurz darauf war der Priester fertig und reichte Girolamo Fassi-Casamontedas begehrte Schreiben.
Giulias Vater warf einen kurzen Blick darauf und steckte es mit triumphierenderMiene ein. Mit dieser Bestätigung konnte er seine Tochter in jeder Kirche derkatholischen Christenheit als Kastratensänger auftreten lassen. Es hatte ihnviel Mühe gekostet, einen Priester zu finden, dem er das Mädchen als angeblichverschnittenen Knaben unterschieben konnte. Don Giantolo war nicht nur halbblind, sondern sah es auch als Sünde an, einen Knaben zu berühren, selbst wennes ein Kastrat war. Andere Priester hätten hingegen ihr Geschlecht abgetastet,um die Kastrationsnarbe zu begutachten. »Ich danke Euch, ehrwürdiger Vater«,erklärte er zufrieden. »Ihr habt damit den Herzenswunsch meines seligen Weibeserfüllt, die unseren Sohn zur Ehre Gottes in den geweihten Kirchen singen hörenwollte.«
Giulia kniff die Lippen zusammen, als ihre Mutter so leichthin verleumdetwurde. Sie singen zu hören, wäre das Letzte gewesen, was sich Maria Fassigewünscht hätte. Ihrem Vater schien die Lüge nicht das Geringste auszumachen.Er zog seine Börse und reichte dem Priester gönnerhaft mehrere Scudi.
Don Giantolo starrte indigniert auf die Silbermünzen und schüttelte heftig denKopf. »Für so etwas nehme ich kein Geld!« Es sah schon aus, als wollte er seineBesucher unhöflich rasch verabschieden, doch da wandte er sich noch einmal anGiulia. »Bevor du gehst, will ich doch hören, ob deine Stimme dieses Opfer wertwar. Singe das Ave-Maria.«
Fassi-Casamonte gab seiner Tochter einen aufmunternden Stoss. »Mache demehrwürdigen Vater die Freude.«
Giulia schluckte und versuchte, ihre schwirrenden Gedanken so weit zuberuhigen, dass sie sich an den Text und die Melodie des Gebetes erinnernkonnte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich weit genug gefangen hatte.Ihr Vater wurde schon sichtlich nervös, während der Priester ihr begütigendzulächelte. Mit einem Mal wich der Klumpen in ihrem Hals, und sie holte tiefLuft. Eigentlich hatte sie nicht laut singen wollen, doch nun wurde das Zimmerzu eng für die süssen, eindringlichen Töne.
Don Giantolo schien den Klang ihrer Stimme in sich aufsaugen zu wollen, soandächtig lauschte er. Als sie endete, räusperte er sich ein paarmal, ehe erzum Sprechen ansetzte. »Deine Stimme ist wirklich göttlich, mein Sohn.«
Er rang die Hände, als müsse er mit sich selbst einen Kampf ausfechten. Dannsah er Giulias Vater beinahe entschuldigend an. »Wenn Ihr mir wirklich dankenwollt, so lasst Euren Sohn an diesem Sonntag in meiner Kirche die Messesingen.«
»Aber selbstverständlich, Hochwürden.« Fassi-Casamonte war sichtlicherleichtert, so billig davongekommen zu sein. Er verabschiedete sichüberschwänglich von Don Giantolo und verliess den düsteren Raum wie aufSchwingen. Giulias Bewegungen glichen dagegen denen einer hölzernenKinderpuppe, und so fühlte sie sich auch.
© Verlagsgruppe DroemerKnaur
Bevor der Leser sich ob dieses Fleißes nun allzu sehr wundert, sei verraten: Iny musste die Arbeit nicht allein erledigen, ihr Mann Elmar war und ist immer dabei. „Iny Lorentz“ ist ein Pseudonym, hinter dem sich das Schriftstellerehepaar Iny und Elmar verbirgt. Der Verlag kreierte aus ihrem Vornamen und dem Namen von Elmars Vater den Künstlernamen, kurz und einprägsam.
Iny wurde 1949 in Köln geboren, wo sie die Schule besuchte und eine Ausbildung als Arzthelferin absolvierte. Nach dem Abitur im Abendgymnasium begann sie ein Medizinstudium, das sie aber aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Sie wurde Programmiererin und zog 1980 nach München, um bei einer großen Versicherung zu arbeiten. Ihr Ehemann Elmar arbeitete seit 1981 ebenfalls dort. Er ist gebürtiger Bayer und stammt aus einem kleinen Bauerndorf mit gerade einmal fünf Höfen.
Beiden gemeinsam ist die große Leidenschaft für das Geschichtenerzählen. Elmar begann bereits in der Schule mit dem Schreiben, die Religionslehrerin erkannte und förderte sein Talent. Iny veröffentlichte schon in jungen Jahren Kurzgeschichten in Zeitschriften. Schließlich trafen sich die verwandten Seelen in einem Fantasy-Club und heirateten 1982, um von da an alles gemeinsam zu machen, auch das Schreiben. Zunächst arbeiteten sie viele Jahre abends und im Urlaub an ihren Büchern, nach den ersten Erfolgen widmeten sie sich dann ganz dem Schreiben.
Wie schon die Titel verraten (u. a. „Die
- Autor: Iny Lorentz
- 2003, 22. Aufl., 512 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426623668
- ISBN-13: 9783426623664
- Erscheinungsdatum: 01.09.2003
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