Die Heilerin von Lübeck
Roman
Lübeck, 1307: Die junge Magd Taleke studiert an der Seite des Medizinstudenten Nicolaus Schriften zur Kräuterkunde. Schon bald kann sie Nachbarinnen heilen. Doch Nicolaus neidet ihr den Erfolg. Dann erkranken die Frauen, die Taleke geheilt hat, auf mysteriöse Weise.
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Produktinformationen zu „Die Heilerin von Lübeck “
Lübeck, 1307: Die junge Magd Taleke studiert an der Seite des Medizinstudenten Nicolaus Schriften zur Kräuterkunde. Schon bald kann sie Nachbarinnen heilen. Doch Nicolaus neidet ihr den Erfolg. Dann erkranken die Frauen, die Taleke geheilt hat, auf mysteriöse Weise.
Klappentext zu „Die Heilerin von Lübeck “
Lübeck, 1307. Die junge Magd Taleke träumt von einem besseren Leben. Als sie den adeligen Nicolaus Parkentin kennenlernt, der im Begriff ist, zum Medizinstudium nach Paris zu gehen, verliebt sich dieser in das hübsche blonde Mädchen und nimmt es mit - für Taleke die Erfüllung eines Traums. An seiner Seite bringt sie sich das Lesen bei und studiert Schriften zur Kräuterkunde. Schon bald kann sie den Nachbarinnen nützliche medizinische Ratschläge geben. Doch Nicolaus neidet ihr den Erfolg, und sie trennen sich. Kurz darauf erkranken die Frauen, die Taleke geheilt hat, auf mysteriöse Weise an den Blattern, und ihr droht ein Prozess. Taleke muss feststellen, dass sie Opfer eines ungeheuerlichen Komplotts ist ...
Lese-Probe zu „Die Heilerin von Lübeck “
Die Heilerin von Lübeck von Kari Köster-LöscheTEIL I
LÜBECK, ANNO 1307
Kapitel 1
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Talekes Flug durch die Luft endete mit einem überraschten Schrei und unter Geplätscher im Wassergraben, der das Herrenhaus umgab.
Sie konnte nicht schwimmen. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben.
Aber es war nur der Schreck, schwimmen war gar nicht nötig. Obwohl ihre Zehen langsam im Modder versanken, hätte sie an dieser Stelle auch schon als Sechsjährige neben den Gänsen, die zu hüten ihre Aufgabe war, stehen können. Und nun war sie wohl neunzehn oder zwanzig Sommer alt, so genau wusste das nicht einmal ihre Mutter, und hütete schon längst keine Gänse mehr.
Mit Wut im Bauch blickte sie kurz zu Wilke Voet hoch, der am Rand des Grabens stehen geblieben war und zu überlegen schien, ob er hinabsteigen und sie ertränken sollte. Aber vor den Augen der dicken Köchin Ghese, die des Weges kam, in Gelächter ausbrach und damit rasch weitere Gesindeleute des holsteinischen Gutes Schönrade herbeilockte, wollte er sich die Blöße tropfnasser Kleidung wohl nicht geben.
»Was haltet ihr hier Maulaffen feil! An die Arbeit, Leute!«, rief Wilke barsch, nachdem er sich eine Weile am Geraune und am spöttischen Kichern seiner Leute ergötzt hatte. Widerwillig zerstreute sich die Menge.
Taleke starrte mit steif werdendem Nacken auf die Wasseroberfläche mit den öliggrauen Schlieren von behäbig treibendem Entenkot, von oben gewiss ein Bild des Schuldbewusstseins. Bis Wilke davonstapfte, wie sie hören konnte. Da hob sie flink den Kopf und spuckte hinter ihm her.
Ihr Blick blieb an dem vierschrötigen Kerl hängen, der sich anfangs den Anschein von emsiger Tätigkeit und Fleiß gab, mit zunehmender Entfernung vom Graben jedoch immer langsamer wurde, bis sein Gang zum steinernen Doppelhaus der Besitzerfamilie zu einem bloßen Schlendern wurde. Als ob er daran Eigentumsrechte besäße und nicht wie jedermann hier sich seinen Lebensunterhalt verdienen müsste.
Taleke hasste den Verwalter, der dem zum Gut gehörenden Wirtschaftshof vorstand, so wie sie den früheren Verwalter gehasst hatte, der sie einmal fast bis auf den Tod verprügelt hatte. Dabei hatte sie sich lediglich in das Herrenhaus geschlichen, um sich ein einziges Mal die hohe Halle anzusehen, mit deren Kenntnis sich die Hausdiener ständig vor dem Feldgesinde hervortaten. Und nur dafür hatte Wilke sie ins Wasser geworfen.
Bis dahin kannte sie nur die Küche, in die Ghese sie hineinließ, wenn sie ihr eine geschlachtete und gerupfte Gans brachte. Zuweilen erwies sie Taleke die Gnade, dort herumlungern zu dürfen, bis der Braten für die Herrschaft fertig war. Kosten durfte sie nie, das blieb Gheses Vorrecht. Aber erschnuppert hatte Taleke alle Stadien des Kochvorgangs, sich jeden Handgriff gemerkt und zu ihrer eigenen Zufriedenheit an gestohlenen Gänschen erprobt.
Taleke schnaubte verächtlich. Im gesamten Gut sah einer auf den anderen hinunter und dünkte sich etwas Besseres: die Hufebauern auf die Hausdienerschaft, die ihrerseits Spott trieb mit allen, denen es verboten war, das Herrenhaus zu betreten, also mit den Insten, die wiederum kaum einen Blick für die Tagelöhner übrighatten. Und alle zusammen verachteten sie die Dorfarmen und die umherstreifenden Bettler. Eifersucht und Neid waren die gängigen Zahlungsmittel.
Ja, Taleke hasste die gesamte Wasserburg derer von Schönrade und das Leben, das ihr durch ihre ärmliche Geburt aufgezwungen war.
Sie hing nicht einmal besonders an ihrer Mutter Hilka Wandmaker, die zu stolz und zu eigensinnig war, einen der Großknechte zu heiraten und so wenigstens in den Stand der Insten mit eigener Kate und kleinem Gärtchen aufzurücken. Dabei stammte sie doch nur aus Schwienkuhlen im dänischen Wohld, das gewiss nicht mehr als drei Hütten um ein Wasserloch aufwies, in dem sich Schweine suhlten.
Mutter Hilka hatte es nicht einmal verstanden, Talekes Vater zu halten oder ihn wenigstens zu heiraten, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Auf dem Gut Schönrade arbeitete sie als Tagelöhnerin auf dem Feld oder im Wirtschaftsgarten, hauste mit ihrer Tochter in einem Verschlag und musste für beides dankbar sein.
Seitdem Taleke aus dem Alter des Gänsehütens heraus war, arbeitete sie wie ihre Mutter täglich viele Stunden auf dem Feld, half gelegentlich beim Kühemelken, bekam dafür eine noch kümmerlichere Entlohnung als ihre Mutter und war keineswegs dankbar, im Gegenteil. Während sie rutschend und laut fluchend aus dem Graben kletterte, beschloss sie, noch in derselben Nacht diesem Gut eines holsteinischen Adeligen den Rücken zu kehren. Es musste doch irgendwo eine Stadt geben, in der sie im Jahre des Herrn 1307 ihr Glück machen konnte.
Schon seit langem trug sie sich mit dem Gedanken an Flucht aus einem erbärmlichen Dasein, das ein Leben lang währen oder gar noch schlimmer werden würde. Lübeck, die mit aller Macht aufstrebende Hafenstadt, lockte.
Zwar sollten Gauner, Betrüger, Diebe und Schelme dort den Einwohnern das Leben schwermachen. Aber wo gab es die nicht? Sie würde schon mit ihnen fertig werden.
Am späten Abend schlich Taleke am Wirtschaftshof vorbei und konnte sich nicht zurückhalten, Wilke Voets Köter mit ihrem Pfiff zu reizen, was ganz ungefährlich war, da der Hund an der Kette lief und der Mann wie üblich stockbesoffen zu Bett lag. Dann tat sie den ersten Schritt in die Freiheit.
Der Weg war sumpfig, aber über Taleke flimmerten Sterne, die Karrenspur nach Oldhenkrempe war gut erkennbar, und trotz des frühen Jahres war die Nacht warm. Für den Fall, dass noch andere auf den Gedanken kamen, einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, hatte Taleke zu ihrer Verteidigung eine grobe Handhacke mit kräftigen Zinken mitgehen lassen. Flüchtig dachte sie an die Wurzelbeete zurück, die sie unter Kraftaufwand mit dieser Hacke aus dem Acker geholt hatte. Nein, sie wollte im Leben auch nie mehr geschmackloses Wurzelbeetemus schlucken, sie wollte speisen wie die reichen Leute im Herrenhaus.
Als sie sich umdrehte, um einen letzten triumphierenden Blick auf die hohen Buchen ihrer Heimat zu werfen, merkte sie die Nässe auf ihren Wangen. Verärgert wischte sie sich die Tränen ab und machte sich wieder auf den Weg.
Der viereckige, stämmige Kirchturm von Oldhenkrempe schimmerte zwischen den schwarzen Baumstämmen hindurch, als sie sich dem kleinen Ort näherte. Es war viel zu früh, um sich jetzt schon zur Nachtruhe zu begeben.
Mit einem bedauernden Blick auf den Turm, dessen Fuß Schutz für ein paar Stunden geboten hätte, schritt Taleke unverdrossen weiter auf dem Karrenweg, der sie nach Neustadt leiten sollte. Im Kopf hatte sie säuberlich gespeichert und geordnet, was sie über lange Zeit durch vorsichtiges Befragen Kundiger zusammengetragen hatte: die ungefährlichsten Wege nach Lübeck, günstige Furten und Fährstellen über die Flüsse und Gewässer, bischöfliche Burgen mit reizbarer Besatzung und besondere Gefahren wie umherstreunende Wölfe und schlechtbezahlte Waffenknechte.
Unverdrossen wanderte Taleke voran, Hügel hinauf und Hügel hinunter, hörte das leise Entenquaken aus der Förde, an der Neustadt liegen sollte, und wusste sich auf dem richtigen Weg.
Neustadt schien ihr günstig für die Nachtruhe, obwohl sie sich, genau genommen, von Schönrade immer noch nicht sehr weit entfernt hatte. Aber wie man ihr erzählt hatte, war der Hafen tatsächlich voll mit Schiffen, sie konnte überall schaukelnde Laternen sehen, möglicherweise von den Holländern, die in Neustadt das Stapelrecht der Lübecker nicht beachten mussten. Es sollte mehrere Kornspeicher geben, in denen das Jahr über Getreide umgeschlagen wurde, und auch andere begehrte Waren wurden hier angeblich angeliefert.
Taleke lauschte. Trotz der inzwischen dunklen Nacht ging es lebhaft zu, höchstens ein wenig gedämpft wegen der Nachtwächter. Das Schwatzen von Stimmen mischte sich mit dem Klappern von Tauwerk an Masten und dem Schlagen von Tuch. Rüsteten sich die Seeleute bereits für den kommenden Tag?
Jedenfalls würde man sie hier nicht finden. Außerdem gab es Menschen, die wach waren und wohl auf einen Hilfeschrei herbeieilen würden. Taleke fand zwischen Fässern einen unordentlichen Haufen Fischernetze, die sie schob und zerrte, bis sie sich ein weiches Nest geschaffen hatte. Ihre Hacke in fester Umklammerung, sank sie zuversichtlich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wanderte Taleke weiter, heiter und guter Dinge stieg sie hügelaufwärts. Sie war ausreichend gesättigt, der Käselaib, den sie aus dem Gut hatte mitgehen lassen, musste bis Lübeck reichen. Buchenhaine und einzelne hohe Eichen lösten einander ab. Gelegentlich sichtete sie andere Wanderer, ausschließlich Männer, aber selbst wenn sie glaubte, in ihnen Pilger zu erkennen, vermied sie es, sich sehen zu lassen, und wartete lieber oder schlug einen Umweg ein.
Dann aber stieß sie auf drei Männer und zwei Frauen, die mit einem Eselskarren unterwegs waren. Die Schellenkappen und auf die Kleidung genähte Glöckchen wiesen sie als Gaukler aus. Einer derart gefahrlosen Gesellschaft konnte sie nicht widerstehen, sie fragte, ob sie sich anschließen dürfe, sie wolle nach Lübeck.
»Je größer der Trupp, desto sicherer die Fahrt«, antwortete der Jüngere der Männer, der auf einem Grashalm kaute, mürrisch, nachdem er Taleke von Kopf bis Fuß gemustert hatte.
Seine Schultern waren breit und der Kopf kahl bis auf ein einzelnes Haarbüschel, das wie ein Horn in die Höhe stand. Der Hornträger hatte das Sagen. Den beiden alten Männern war sein Entschluss gleichgültig, der einen der beiden jungen Frauen nicht. Aber ihre Miene war eher resigniert als feindselig und eine Spur eifersüchtig.
Taleke wartete auf Widerspruch. Sie war sich bewusst, dass sie als hübsch galt, jedenfalls wenn ihre Mutter ihr gerade die hellen Haare gewaschen und gekämmt hatte. »Mein Butterblümchen« hatte sie sie als Kind zärtlich genannt.
Ärgerlich wischte Taleke die melancholischen Erinnerungen beiseite. Sie blickte in die Runde. Zu ihrer Überraschung schwiegen alle, und sie zuckte die Schultern. Bis Lübeck würden sie es schon miteinander aushalten.
In einem Dorf machten sie in Sichtweite der Brücke über die Schwartau halt, weil der Esel lahmte. Allein wäre Taleke zwar schneller vorwärtsgekommen, aber sie entschloss sich, aus Gründen der Sicherheit bei den Gauklern zu bleiben. Unterwegs hatte ihr der Anführer genussvoll von Überfällen in der Gegend erzählt. Strolche und Wegelagerer gebe es genug. Die Bewaffneten des Bischofs, die überall in der Gegend umherstreiften, seien auch nicht zimperlich mit einsamen Wanderern. Er wundere sich ohnehin, dass sie ohne Beschützer durch die Gegend spaziere.
Erstmals verspürte Taleke so etwas wie Unsicherheit. Sie hatte bisher großes Glück gehabt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein geflüstertes kleines Dankesgebet an den Herrn war ihr sein Entgegenkommen schon wert.
In der Schwartau schwammen zahme Enten unter den Weiden, und Gänse wanderten unbeaufsichtigt den Pfad entlang, der das schmale Flüsschen begleitete und nach Gleschendorf hineinführte.
Die beiden Gauklerinnen machten sich wortlos daran, Holz aus einem nahen Hain zu holen. Einige Zeit später waren sie zurück und begannen, den Holzstoß aufzusetzen. Sie waren so abweisend, dass es Taleke die Sprache verschlug. Etwas anderes, als sich still hinzusetzen und abzuwarten, kam ihr nicht in den Sinn.
Der Anführer, der Lutgerd hieß, warf sich dicht neben ihr ins Gras. Taleke rückte unauffällig ein Stück von ihm fort. Er lachte und griff nach ihr. »Nicht so kalt gegenüber deinem Gönner, meine Schöne! Schließlich genießt du meinen Schutz und willst mit uns essen. Oder hast du sonst etwas, das du beisteuern könntest? Ein Scherf, ein paar Pfennige oder einen silbernen Groschen?« Er rieb zwei Finger aneinander, Gier im Blick.
Taleke erschrak, aber so dumm, zuzugeben, dass sie im Besitz einiger Münzen war, war sie nun auch wieder nicht. »Geld habe ich nicht ...«
»Und wir haben kaum Essen genug für uns selber, Lutgerd«, warf die eifersüchtige Frau, die Belia hieß, grollend ein.
»Dann besorgt etwas!«
»Wie denn, Lutgerd?«, rief Belia verzweifelt.
»Fangt etwas! Eichhörnchen, Enten, Wasserratten - alles steht zu eurer Verfügung«, spottete Lutgerd und tauschte den durchgekauten Halm gegen einen neuen aus. »Auch Gänse, wenn du dich noch mal traust ...« Dann sprang er auf, um in Sichtweite sein Wasser abzuschlagen.
Belia schüttelte müde den Kopf. Anscheinend war dieses Thema eines, das täglich aufkam. Da war es auf dem Gutshof ja noch besser gewesen, irgendetwas zu essen hatte sich immer gefunden. Talekes Blick ging zu der Gänseschar, die jetzt offensichtlich auf dem Rückweg zum Dorf war.
»Mach's nicht«, warnte die zweite Frau, die Jacoba gerufen wurde, leise. »Die Ganter sind abgerichtet, glaube ich, besonders wenn keiner sie hütet, und sehr bissig. Und laut. Du würdest die Aufmerksamkeit der Dörfler auf uns ziehen. Das können wir uns nicht erlauben.«
»Warum kümmert Lutgerd sich nicht um Essen?«, erkundigte sich Taleke, ohne den Blick von der letzten Gans zu wenden, die hinter der Herde hertrödelte, kleiner und unerfahrener und augenscheinlich damit beschäftigt, hier und dort zu naschen, bevor sie den abgegrasten Hausgarten erreichte. »Man sollte meinen, ein Bulle wie er könnte es mit jeder Gans aufnehmen.«
»Psst«, zischte die Gauklerin. »Wenn er das hört! Er hat es nicht nötig, er sucht sich abends eine Taverne. Er verwaltet die wenigen Pfennige, die wir verdienen.«
Wenn »Er« das hört! Taleke warf den Kopf zurück und lachte schallend. Ein Gott der Gaukler, der abends allein speisen ging! Über einen solchen Kerl hätte ihre Mutter sich tagelang aufgeregt, und sie selber fand es komisch, wie der Trupp diese Behandlung hinnahm.
Plötzlich stand Lutgerd vor ihr, die Hände in den Seiten. »Was gibt's zu lachen, Weib?«
»Eure lächerliche Angst vor Gänsen«, antwortete Taleke freimütig. »An Eurer Nase spazieren die Braten vorbei, und Ihr hungert freiwillig.«
Ohne Antwort zu geben, bückte Lutgerd sich und schlug Taleke mehrmals mit dem Handrücken hart auf beide Wangen. Ihr Kopf flog von einer Seite zur anderen. »Du kannst auch Prügel beziehen, wenn dir danach ist«, fügte er hinzu. »Dies war nur eine Kostprobe.«
Taleke fasste sich blitzschnell, trotz ihrer Verblüffung. So einer war er also, ein Schläger, wie einige von den feigsten Knechten auf Gut Schönrade. Statt sich dareinzufinden, würde sie diesem Lutgerd zeigen, dass er in Wirklichkeit ein Schwächling war. Sie sprang auf und lief auf leisen Sohlen der Gänseherde nach, die im Gras außer Sicht war. Die kleine, dumme Gans war immer noch ein Stückchen von ihrer Herde entfernt, als Taleke sie einholte. Sie lockte das Tier mit den zärtlichen Worten herbei, die viele Jahre lang Wirkung in ihrer eigenen Herde gezeigt hatten. Die Gans drehte sich um und watschelte auf sie zu, ihrerseits freundliche Laute ausstoßend. Taleke tat es leid um sie. Sie beabsichtigte jedoch nicht, Lutgerds Hohn unbeantwortet zu lassen.
Kaum an ihrem Platz angekommen, schnitt sie dem Tier, das die ganze Zeit keinen Abwehrlaut von sich gegeben hatte, den Hals durch und ließ das Blut in eine Erdkuhle abtropfen, die sie anschließend sorgfältig zuschüttete. Stumm sammelten sich die Gaukler um sie, mit Ausnahme von Lutgerd. »Hast du einen Sack oder einen Balg?«, fragte Taleke Belia knapp. Kaum lag der Ziegenbalg zu ihren Füßen, rupfte sie die Gans in einer Geschwindigkeit, die ihresgleichen suchte, stopfte die Federn ohne einen einzigen Verlust in den Balg, drehte ihn zu und reichte der Gauklerin die Gans. »Kannst du sie ausnehmen, oder soll ich das machen?«, fragte sie.
Belia, immer noch überwältigt, schüttelte stumm den Kopf.
Mit gewohnter Routine nahm Taleke die Gans aus, dann ging sie, um zum Braten passende Kräuter zu suchen. Ihre Achtung vor den Fähigkeiten dieser Gaukler hatte mittlerweile stark abgenommen. Offenbar benötigten sie Städte oder Burgen, in denen für ihre Fertigkeiten mit Münzen bezahlt wurde. Das Leben in freier Natur war nicht das ihre, obwohl dort vom Frühjahr bis zum Herbst keiner wirkliche Not leiden musste.
Nachdem sie eine gehörige Portion Bärlauchblätter im Unterholz gefunden hatte und Brennnesseln, die manche rotes Feuer nannten, sowie Löwenzahn und jungen Giersch, kehrte sie zurück zum Lagerfeuer. Die Gans briet am Spieß, während Taleke Blätter und Stiele des Gemüses voneinander trennte. Der Vogel verströmte einen herrlichen Duft, während das Fett in das Feuer tropfte, wo es zischend verbrannte.
»Warum verschwendest du das Fett? Ich brauche es«, bemerkte Taleke entrüstet und zeigte Belia, wie sie es aufzufangen hatte. Als die Gans gar war, ließ Taleke die Kräuter kurz im Wasser sieden, dann abtropfen und schmorte sie anschließend im Gänseschmalz.
Es wurde eine ganz köstliche Mahlzeit, aber Freude kam trotzdem nicht auf. Vielmehr spürte Taleke Misstrauen, das sich gegen sie richtete. Lutgerd ging an diesem Abend nicht fort. Er suchte vielmehr Talekes Nähe, was ihr unangenehm war, und das hatte nichts mit Belias wachsendem Missmut zu tun. Taleke mochte ihn einfach nicht. Sie trug ihr Bündel an einen anderen Platz, den sie von Ästen säuberte, und bettete dann ihren Kopf auf ihre wenigen Habseligkeiten.
Sie blieb unruhig und fand keinen Schlaf. Erst als sie Lutgerds Stöhnen und Belias Keuchen hörte, dann das Stoßen, das von schmatzenden Geräuschen begleitet war, wusste sie, dass er sie in dieser Nacht nicht mehr behelligen würde. Wie ein Stößel im Butterfass, dachte sie hämisch. Ein feiger Stößel ... Unter Kichern schlief sie ein.
Die Gänseknochen waren bei der abendlichen Mahlzeit bis aufs Letzte abgenagt worden, die Hirse war schon vor Tagen aufgebraucht, wie man Taleke erzählte, und etwas anderes gab es nicht. Hungrig machte sich die Gruppe am nächsten Tag wieder auf den Weg; Taleke hungerte am wenigsten, denn sie hatte im Gebüsch heimlich und hastig ihren Käserest verzehrt.
Kaum hatten sie die Schwartaubrücke und die Dorfkirche hinter sich gebracht, um den steilen Hügel dahinter zu erklimmen, rief Lutgerd, der an der Spitze den Eselskarren führte, herrisch nach Taleke. Sie ging mit Belia und hatte nicht die Absicht, ihr von der Seite zu weichen.
»Du musst gehen«, flüsterte Belia ängstlich. »Wenn du nicht gehorchst, wird er dich bestrafen.«
»Bestrafen? Ich habe nichts getan ...«
»Ungehorsam verdient Strafe. Für uns beide.«
Taleke stieß ein ungläubiges Schnauben aus, wanderte dann aber Belias wegen nach vorne. Jetzt, bei Tage, machte Lutgerd keine Annäherungsversuche, sondern begann sie auszuhorchen. Sie antwortete willig und achtete darauf, dass nichts stimmte, sie jedoch im Kopf behielt, was sie sagte, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Lange würde sie es ohnehin nicht behalten müssen.
»Du schläfst heute Nacht neben mir«, befahl Lutgerd. »Ich bin jetzt dein Beschützer.«
Seinen Schutz, der sich nach Besitztum anhörte, wollte Taleke bestimmt nicht, aber er schien sich ihres Gehorsams so sicher, dass er erst gar keine Antwort erwartete. Jacoba war wohl die einzige Frau in seiner Nähe, die seine Gewalt nicht zu fürchten brauchte. Sie war seine Schwester, aber vielleicht fand er sie auch nur zu hässlich zum Anfassen.
Am späten Nachmittag machten sie oberhalb von Schwartau unter efeubehangenen Eichen halt.
Taleke sah sich, ebenso wie Belia und Jacoba, von Lutgerd in den Ort ausgesandt, nach Essbarem Ausschau zu halten. Geld gab er nicht her, sie sollten betteln oder stehlen und sich dabei nicht erwischen lassen.
Belia und Jacoba eilten voraus, voller Angst vor Lutgerd. Taleke trödelte hinterher, bis sie die beiden aus den Augen verloren hatte, dann nahm sie die Beine in die Hand. An der Brücke über den Fluss Schwartau hatte sie schon von weitem die Anlage eines Klosters gesehen. Dessen steinerne Kapelle stand direkt an der Straße.
Klöster pflegten nicht nur Kranke, sondern auch Arme zu verköstigen. Gaukler galten nicht als arm, sie gingen einem Gewerbe nach, das ihnen bei einigem Geschick durchaus den Lebensunterhalt sicherte, wie Jacoba Taleke erzählt hatte. Leider waren sie in letzter Zeit vom Pech verfolgt gewesen und hatten kaum Gönner gefunden. Taleke hingegen gehörte nicht zu den Fahrenden, und sie war arm.
Forsch bog sie um die Ecke der Kapelle, hinter der mehrere steinerne Klostergebäude angeordnet waren. Fast wäre sie einem Mönch auf die Zehen getreten, der in genau der gleichen Eile zur Straße strebte. Er packte sie an den Schultern, hielt sie fest und betrachtete ausgiebig ihr Gesicht.
»Du bist nicht krank«, sagte er. »Das glaube ich dir nicht.«
»Ich habe doch mit keinem Wort behauptet, dass ich krank bin«, entgegnete Taleke empört. »Gott zum Gruße.«
»Der Herr sei auch mit dir. Wer in dieser Klause Zuflucht sucht, ist krank.«
»Ich suche keine Zuflucht.« Taleke war verunsichert. »Ich habe Hunger. Ich weiß, dass Klöster Hungrigen was zu essen geben, bevor sie vor den Klostermauern tot umfallen und die Brüder als Geizhälse entlarven.«
Der Mönch gluckste. »Du siehst eher wie das blühende Leben aus, und deine Zunge ist so scharf, dass ihr der Hunger noch nicht geschadet haben kann. Dieses Gemäuer ist kein Kloster. Es beherbergt ein Domus leprosorum, ein Siechenhaus für Miselsüchtige, für Aussätzige, und ist dem heiligen Georg gewidmet.«
»Oh!« Taleke machte einen Satz rückwärts und wollte auf und davon laufen.
»Halt, junge Frau«, rief der Mönch gebieterisch. »Ich will mit dir reden. Der Herr auch.«
Zögernd kehrte Taleke zurück. Vor dem Mönch hatte sie weniger Angst als vor dem Herrn. Der Herr war ihr unbegreiflich. Man wusste nie, was er als Nächstes tun würde. Er strafte, ohne dass man erfuhr, warum. Ihre Mutter hatte er mit einem elenden Leben gestraft, vermutlich, weil sie Männern gegenüber nicht zur Gefügigkeit neigte. Und das ließ auch der himmlische Herr keiner Frau durchgehen.
»Du hast also Hunger und bist gesund. Kannst du dir deinen Lebensunterhalt nicht mit Arbeit verdienen?«
»Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet.« Taleke sah ihn trotzig an. »Aber jetzt gerade bin ich auf dem Weg nach Lübeck und habe nichts mehr zu essen. Mein Beutel ist leer«, rief sie in jammerndem Ton aus, als ihr wieder einfiel, dass der Mönch zu Mitleid verpflichtet war.
Da lachte er schallend. »So nicht! Und bei mir nicht! Ich kenne jeden Schwindel von euresgleichen. Aber die Küche wird wohl noch einen Brotkanten, eine Speckschwarte und ein paar trockene Pflaumen für dich erübrigen können.«
Er meinte es ehrlich mit ihr. »Danke, Eminenz«, sagte Taleke voller Inbrunst und trat näher an ihn heran, was für sie einen Vertrauensbeweis bedeutete.
»Du neigst zu Übertreibungen.« Der Mönch rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. »Irgendeine Art von Erziehung ist dir wohl unbekannt?«
»Weit gefehlt, edler Herr Mönch, ich habe tagtäglich Gänse erzogen.« Taleke bemühte sich, sich nicht von ihm beleidigt zu fühlen. Sie ahnte nicht einmal, warum er so streng mit ihr sprach.
»Das meinte ich weniger, Herrin der Gänse. Du stinkst wie der Höllenpfuhl.«
»Ist das schlimm?« Taleke war vollkommen überrascht. Wer stank denn nicht?
»Ja, sehr schlimm. Wenn du beabsichtigst, noch ein paar weitere Jahre in der Jauche zu verbringen, kann ich dir auf den Kopf zusagen, dass du eines Tages ein Fall für mein Siechenhaus wirst.«
»Ha! Ihr schwindelt!«, rief Taleke triumphierend. »Und wie! Der Pastor, der auf dem Gut predigt, hat uns davor gewarnt zu sündigen, weil Gott der Herr uns sonst mit Aussatz strafen würde. Von Schmutz war nie die Rede!«
»Hm«, brummelte der Mönch unschlüssig.
»Stimmt das nicht?«
»Sagen wir so: Der Pastor meinte wahrscheinlich, dass der Herr zürnt, weil Er Adam und Eva sauber erschuf und erwartet, dass alle Menschen ihnen nacheifern. So gesehen begeht eine Sünde, wer von Dreck strotzt. Solchen Menschen schickt er zur Strafe den Aussatz. Zuweilen.«
Taleke folgte seinen Ausführungen mit gerunzelter Stirn. »Unser Pastor war selber von den Sohlen bis an die Knie voll mit Stallschiet. Und er war kerngesund, soviel ich weiß, allerdings schnorrte er sich in allen Küchen immer das beste Essen. Ich habe auch gehört, dass manche Mönche sich kaum waschen. Nennt Ihr sie auch sündig?«
Der Mönch warf die Arme abwehrend in die Höhe. »Du stiehlst mir mit deinen Einwänden Zeit. Das ist auf jeden Fall eine Sünde, denn ich hätte die Zeit sonst für meine Gebete verwandt.«
Taleke starrte ihn stumm an. Er war ein Lügner. Ein Mönch, den sie als Lügner ertappt hatte. Die Welt erwies sich jetzt schon als anders, als sie geglaubt hatte.
»Geh in die Küche und lass dir Brot, Speck und Pflaumen geben«, setzte der Mönch nörgelnd fort. »Dort, wo Rauch aufsteigt. Hab keine Angst vor den Siechen, in so kurzer Zeit passiert dir nichts.«
Taleke, die sich voller Erleichterung bereits wieder auf den Weg gemacht hatte, stoppte und drehte sich zu ihrem Gönner um. »Wie meint Ihr das? Ist deren dreckige Sünde ansteckend?«
»Nein! Aber das traute Zusammensein mit den Miselsüchtigen! Tu dich nie mit einem Mann zusammen, der aus dem Morgenland zurückgekommen ist und dessen Haut helle Male aufweist, die unempfindlich sind. Erst hat er den Aussatz, dann du!«
»Ja, nein.« Taleke war vollends verwirrt. Sie würde über seine Worte nachdenken, weil sie das Gefühl hatte, dass seine Erfahrungen eine andere Erklärung für den Aussatz lieferten als die, die der Priester auf dem Gut gegeben hatte. Sie verstand sie nicht. Aber das lag an ihr, nicht an ihm. »Ich werde mir das überlegen«, sagte sie würdevoll. »Darf ich Euch noch etwas fragen?«
»Gewiss.«
»Gibt es einen anderen Weg nach Lübeck als den zum Holstentor?«
»Das klingt drollig, weil es der einfachste und nächste ist, aber du wirst deine Gründe haben. Natürlich gibt es mehrere Wege nach Lübeck. Du wendest dich am besten Richtung Sonnenaufgang und wanderst die Straße nach Travemünde entlang. Dort, wo du auf der gegenüberliegenden Traveseite viele Schiffe siehst, liegt der Weiler Gothmund. Da machen die Schiffer Zwischenhalt auf ihrem Weg von der Travemündung zum Lübecker Stadthafen. Du musst dich auf die andere Traveseite übersetzen lassen. Vielleicht nimmt dich ein Schiffer mit. Wenn nicht, gibt es den Treidelpfad entlang des Flusses, dem du nur in die Stadt zu folgen brauchst. Du kommst dann am Burgtor an. Dort betreibt mein Orden ebenfalls ein Leprosenhaus ...«
»Oh, das ist ja einfach«, sagte Taleke erfreut.
»Für die Füße einfacher als für die Seele«, bemerkte der Mönch knurrig und setzte sich mit wehender Kutte in Bewegung.
»Für die Füße einfacher als für die Seele, für die Füße einfacher als für die Seele«, murmelte Taleke, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, was der rätselhafte Mönch damit gemeint haben mochte, während sie nach allen Seiten Ausschau hielt, um nicht den Weg der Gauklerinnen zu kreuzen.
Unbehelligt gelangte sie aus Schwartau hinaus. Der Weg nach Osten führte durch dichten Wald, und es war hier einsamer als auf der größeren Straße zum Holstentor.
Die Gaukler hatte sie ohne Reue verlassen. In der nächsten Nacht hätte sich Lutgerd über sie hergemacht, das ahnte sie, und sie hegte nicht das geringste Verlangen, wie ihre Mutter zu enden: auf einem verabscheuten Hof mit verabscheuter Arbeit und einer Tochter, der kein besseres Schicksal als das einer Tagelöhnerin beschieden war. Möglicherweise sogar das einer Hure.
Taleke kam trotz ihrer Müdigkeit allein schneller vorwärts als hinter dem lahmenden Esel. Erleichtert und einigermaßen satt legte sie einen flotten Schritt vor, der ein jähes Ende fand, als ihr eine Gruppe Reiter, gekleidet in gelb-grüne Farben, entgegenkam. Noch während sie ins dichte Gebüsch abtauchte, fiel ihr die Warnung des unsäglichen Lutgerd ein: die Bewaffneten des Bischofs. Vermutlich kamen sie vom Wehrturm, den sie in der Ferne sah.
Als die Pferde plötzlich antrabten, hielt Taleke den Atem an. Hatten die Kerle sie gesehen, obwohl sie miteinander geschwatzt hatten? Und wenn? Sollte sie Lutgerd überhaupt Glauben schenken? Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass Männer, die gewiss jeden Morgen beten mussten und vom Bischof höchstselbst den Segen erhielten, Frauen überfielen. Sie hatte nicht gewildert - schließlich war eine zahme Gans kein Jagdtier - , nicht gestohlen und auch sonst kein Gebot, von dem sie wusste, übertreten.
Die bewaffneten Reiter in ledernen Harnischen passierten ihr Versteck, ohne zu erkennen zu geben, ob sie wussten, dass dort jemand hockte.
Mit einem erleichterten Schmunzeln kroch Taleke auf die Straße zurück, klopfte sich Laub und Erdkrümel aus dem Rock und nahm ihre Wanderung wieder auf, zufrieden mit sich selbst und der Welt. Alles verlief aufs beste.
Die Wegbeschreibung des Mönchs stimmte aufs Haar. Taleke entdeckte die Masten der Schiffe auf der anderen Seite der Wasserstraße und fand als Letzte Platz in einem Nachen, den der Fährmann gerade zum Hafen hinüberstaken wollte. Abgesetzt hatte er Krämer, deren Ziel Travemünde war, und jetzt war er auf dem Rückweg zum Anlegeplatz Gothmund. Zu ihrer Überraschung sparte sie das Fährgeld, denn die Travefähre am Weg von Travemünde nach Lübeck war die fromme Stiftung eines Lübecker Kaufmanns.
Gothmunds Hafenbecken lag geschützt hinter einem Schilfgürtel, und erst als der Fährnachen in die Einfahrt eingebogen war, sah Taleke die flachen Lastkähne, in die Ware geladen wurde, und die zahlreichen kleinen Ruderboote der Fischer, die auf Grasland hochgezogen waren.
Hier ging es noch lebhafter zu als in Neustadt, die Seeleute der großen seegehenden Koggen waren ausgelassen wie junge Hunde. Taleke, die sich an das hölzerne Bollwerk setzte, um den Betrieb zu beobachten und zu überlegen, wie es mit ihr weitergehen sollte, erkannte nach einer Weile, dass die besonders Lustigen diejenigen waren, deren Reise in Lübeck enden würde. Warum auch nicht, wenn die Handelsfahrt erfolgreich gewesen war und die Männer morgen schon ihre Ehefrauen und Kinder in die Arme schließen würden?
Ein Hauch von Neid keimte in Taleke auf, sie sprang hoch und schlenderte an den seegehenden Schiffen entlang, die längsseits des Ufers vertäut waren. Aus dem größten und stattlichsten schleppten die Stauer Fässer und Ballen heraus und verluden sie in die flachen Kähne. Ein markanter Duft von Fisch umwehte die Kogge.
»Du da«, rief ein Mann an Deck energisch nach unten. »Das Fass bring zurück auf die ›Brücke‹! Mein Malvasier ist keine Handelsware!«
Taleke drehte sich um sich selber, um alles begierig aufzusaugen.
»Staune gerne, aber steh nicht im Weg, Frau«, rief derselbe Mann ihr zu. »Mit solch schweren Lasten rennen sie dich über den Haufen, ohne es zu beabsichtigen.«
»Sie könnten ja auch aufpassen!« Trotz ihres Widerspruchs sprang Taleke zurück und schenkte dem großen, schlanken Mann mit den wehenden blonden Haaren ein vorsichtiges Lächeln, weil er sie nicht unhöflich behandelt hatte.
Er nickte schmunzelnd und wandte sich dann wieder den Stauern zu. Bestimmt war er der Herr des Schiffes, einer von denen, die weite Fahrten machten, um Gold und Silber nach Lübeck zu holen. Aber verpackte man Gold wirklich in mannshohen Ballen?
Taleke wandte sich den Lastkähnen zu. Die wurden bis hoch über die Wasseroberfläche hinaus beladen. Hinten blieb eine Plattform frei, auf der ein Mann stehen konnte. Unmöglich, dass die jemanden in den Stadthafen mitnahmen. Und die vornehmen Schiffer auf den geleichterten Hochseeschiffen wagte Taleke gar nicht erst anzusprechen.
Aber sie fand sich schnell mit dem Gedanken ab, am nächsten Tag auf dem Treidelpfad nach Lübeck zu wandern, und machte sich auf, einen Schlafplatz zu suchen. Unter dem vorspringenden Reetdach eines Geräteschuppens fand sie hinter Brennholz einen trockenen, warmen Platz.
Sie war hundemüde, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Der Duft eines am Spieß gedrehten Ferkels zog in Schwaden in ihr Versteck, ebenso wie der von ofenwarmem Brot. Schließlich konnte sie dem fröhlichen Schwatzen der Seeleute am Ufer nicht widerstehen, schlich hin und ließ sich geräuschlos hinter den Männern im Gras nieder. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, während sie die Männer beobachtete, die über mehreren Feuern frisch gefangene, auf Stöcke aufgespießte Fische garten. Auch deren Geruch war unwiderstehlich, und Talekes Hunger gewaltig.
Noch während sie überlegte, ob es ihr gelingen würde, einen Fisch zu stehlen, wurde ihr, wie allen anderen, eine Forelle gereicht und als Draufgabe ein Becher Bier, das ebenso großzügig ausgeteilt wurde. Staunend griff sie zu.
Das Bier war himmlisch. Diese Sorte hatte sie noch nie gekostet. Stillschweigend genoss sie alles, was ihr geboten wurde, auch, dass man sie nicht fragte, woher und wohin, sondern sie einfach eine glückliche Rückkehr mitfeiern ließ. Mit solchen Männern hatte sie noch nie zu tun gehabt.
Der einzige Rückkehrer war die Kogge namens »Brücke«, die Getreide aus dem Süden und Salz ins norwegische Bergen gebracht hatte und als Rückfracht Stockfisch fuhr. Der Schiffer hieß Volrad Wittenborch. Er pflegte das Glück auf seiner Seite zu haben, so auch bei dieser ersten Fahrt im Frühjahr: Sie hatten eine schnelle Fahrt ohne Sturmschäden, Unfälle und Seeräuberüberfälle gehabt, und der Handel war zügig und in vollem Einvernehmen mit den norwegischen Kaufleuten abgewickelt worden. Besser konnte es gar nicht gehen, erfuhr Taleke.
»Alles zu eurer Zufriedenheit, Männer?«, fragte plötzlich aus der schon dunklen Nacht eine Stimme.
»Jawohl, Schiffer, und besten Dank auch für das Bier«, antworteten die Seeleute im Chor.
»Gut, Männer, dann feiert in Demut und Bescheidenheit weiter«, mahnte der Mann, der Taleke vom Schiff aus angesprochen und jetzt seine blonden Haare mit einem Samtbarett gebändigt hatte, wie sie erkannte, als er in den Lichtschein trat. »Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit. Wenn die Fässer mit unserem guten Hopfenbier geleert sind, geht still zur Koje. Hütet euch vor Besuchern an eurem Feuer, die Wasserbrand oder Gagelbier mitbringen. Beides ist Teufelszeug und gefährlich.«
»Wir wissen es, Schiffer«, antwortete einer der Männer ernst, ein junger, rothaariger Kerl.
»Gut, Tideke. Dann wünsche ich euch allen eine bekömmliche Nacht, die kurz sein wird. Die ›Brücke‹ wird morgen in aller Frühe getreidelt, und am Nachmittag seid ihr zu Hause.«
Die Seeleute klapperten zustimmend mit allem, was dazu geeignet war: mit den Essmessern an den Trinkbechern, mit Holz am Bierfass, mit einer Flöte am Drehspieß. Taleke stimmte mit Löffel und Messer begeistert ein.
»Ihr seid auch hier?«, fragte Wittenborch lächelnd.
»Nicht Ihr, Herr Schiffer. Du ist angemessen für jemanden wie mich«, erwiderte Taleke ungewohnt bescheiden und schlug die Augen nieder. »Ich bin nur eine Magd, zurzeit auf Wanderschaft nach Lübeck. Ich danke für die Gastfreundschaft, die unverdient ist. Eure Männer sind sehr großzügig. Ich habe nicht gebettelt, ich wäre mit der Gesellschaft froher Menschen zufrieden gewesen.«
»Du warst hungrig?«
»Oh ja, Herr Schiffer, ich hatte nur einen kleinen Käselaib, der bis gestern reichte, und heute war meinem leeren Magen nach einem großen Wal zumute. Wir sagen: 'n grawen Knust is beter as 'n leddig Fust, aber die Brotkruste hätte mir heute nicht gereicht.«
Er lächelte auf sie herunter. »Dann stärke dich nur tüchtig und danke dem Herrn dafür.«
Taleke nickte voller Ernst.
Ohne ein weiteres Wort verließ Wittenborch seine Mannschaft. Taleke blickte ihm fassungslos nach. Ein stattlicher Mann von vornehmer Gesinnung, wie sie noch keinen kennengelernt hatte. Rohlinge, Holzköpfe, Flegel, Rabauken und Vergewaltiger - alles war auf dem Gut vertreten gewesen, außerdem hatte es verlogene Geistliche gegeben. Dem ersten Mann in ihrem Leben, vor dem sie so etwas wie Respekt empfand, war sie soeben begegnet.
Ein weiteres großes Schiff legte an. Da es fast dunkel war, wurde nicht mehr ent- oder umgeladen. Stattdessen wurde ein viertes Feuer entfacht, an dem die Seeleute des Neuankömmlings ihr Abendessen kochten und brieten. Allmählich mischten sich die Mannschaften der beiden Hochseeschiffe, vermehrt um Binnenschiffer und Flussfischer von Gothmund, dazu die Stauer, die in der Nachbarschaft wohnen mochten.
Die neu Angekommenen waren Gotlandfahrer. Übereinstimmend dünkten sie sich vornehmer als die Bergenfahrer der »Brücke«. Darüber brach nach dem Essen ein Streitgespräch aus, das die beiden Steuerleute lauthals miteinander führten.
Mit offenem Mund hörte Taleke zu.
Die Tradition der Gotlandfahrer war älter, gewiss, aber die Bergenfahrer sahen die Zukunft auf ihrer Seite. »Angeber! Wir werden eine Vereinigung der Bergenfahrer gründen!«, polterte einer. »Dann sind wir die Stärkeren! Stockfisch ist wichtiger als Pelz! Wer frisst schon Pelze?«
»Die Reichen gestalten die Zukunft! Nicht die Armen, die von Stockfisch leben.«
Die sind ja bissig wie die Aale, dachte Taleke. Wie konnte das sein, war doch keiner hungrig geblieben, und warm hatten sie es obendrein.
»Nun, nun«, brüllte ein vierschrötiger Kerl, der gerade mit zwei Knechten angelangt war, beschwichtigend. Er gehörte nicht zu den Seeleuten und brachte diese allein schon durch seine Statur zum Schweigen. »Trinkt, Männer! Bier beruhigt die Gemüter! Nur fünfzig Scherf das Fass.«
Johlend stürzten sich die Männer auf die Fässer, die, dem Geräusch nach zu urteilen, oberhalb der Hütten von Gothmund von Karren abgeladen und zur Landzunge herabgerollt worden waren. Taleke bekam ihren Teil ab und wusste sofort, dass dies das Bier war, das sie kannte, das gewöhnliche Bier der Armen. Das Gagelbier, vor dem Wittenborch gewarnt hatte. Sie wusste nicht, warum. Sie war daran gewöhnt, und ihr schmeckte es.
Mit dem Bierverzehr verschärfte sich zwischen beiden Mannschaften der gereizte Ton. Plötzlich warf sich einer aus der Mannschaft der Gotlandfahrer auf einen von der »Brücke« und vesuchte, ihn zu würgen. Andere Männer wollten schlichten, was nicht gelang. Stattdessen prügelten sie sich derart, dass weder Freund noch Feind erkennbar war. Taleke, die die Flucht zu ergreifen versuchte, wurde von einem Seemann am Knöchel gepackt und zu Boden gezogen.
»Erst mal bist du dran«, keuchte er, bevor er sich der Länge nach auf sie sacken ließ. Sein biergeschwängerter Atem umhüllte Taleke, und sie entging seinem vollen Gewicht nur dadurch, dass sie sich mit aller Gewalt zur Seite warf.
»Hilfe!«, stieß sie aus, obwohl sie kaum noch Luft bekam.
Mit einer Hand hatte er sie an der Kehle gepackt, mit der anderen nestelte er an seinem Wams, und obwohl Taleke sich wie ein Aal wand, kam sie nicht frei.
Er rieb sein gewaltiges Gemächt an ihr, immer schneller und schneller, während er sich bemühte, es bloßzulegen. Taleke wehrte sich verzweifelt. Ihre Faust stieß ins Leere, und der Kerl wieherte vor Vergnügen.
Plötzlich strömte ihr köstliche frische Luft in die Nase, sie konnte wieder atmen und fühlte sich leicht wie ein Vogel. Der zudringliche Seemann landete neben ihr im Gras, und auf sie herab blickte im flackernden Feuerschein Schiffer Wittenborch.
»Eine erfahrene Frau macht sich aus dem Staub, wenn an Männer, die sich streiten, minderwertiges Bier ausgegeben wird«, sagte er und reichte ihr seine Hand.
»Ich wusste nicht, was Ihr damit meintet«, gab Taleke kläglich zu und setzte sich auf. »Ich kannte bis heute nichts anderes.«
»Ja, das verstehe ich. Aber manchmal verdreht das minderwertige oder gepanschte Bier den Männern den Kopf, und sie werden gefährlich, bevor sie an Vergiftung sterben.«
Taleke schnappte vor Entsetzen nach Luft. Davon hatte sie noch nichts gehört.
»Dabei halten Bergenfahrer und Gotlandfahrer im Allgemeinen zusammen. Auch daran kannst du erkennen, welche Auswirkungen das Teufelszeug hat.« Wittenborch musterte sie nachdenklich. »War es klug von dir, von zu Hause wegzulaufen? Zumindest muss ich das vermuten.«
Eine Ermahnung, als sei er ihre Mutter! Wie eine überraschte Spinne schnellte Taleke in die Höhe. »Ich bin so gut wie andere Menschen auch in der Lage, mich in einer freien Stadt zurechtzufinden! Ich kann alles lernen, wonach mir der Sinn steht, das ist nicht allein einem Bergenschiffer vorbehalten, Herr Wittenborch!«
»Schon gut«, beendete Wittenborch ihren Wutausbruch ohne Anzeichen von Belustigung oder Verachtung. »Du willst nach Lübeck. Wenn du möchtest, kannst du auf meinem Schiff bis in den Stadthafen mitfahren. Es erspart dir den langen Marsch auf dem Treidelpfad und außerdem die Überprüfung deiner Person am Burgtor.«
Überprüfung? Am Ende ließ man sie gar nicht in die Stadt hinein! An dergleichen hatte Taleke überhaupt noch keinen Gedanken verschwendet. »Wenn Ihr so freundlich wärt«, murmelte sie beschämt.
»Gut. Melde dich im Morgengrauen an der ›Brücke‹.«
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Talekes Flug durch die Luft endete mit einem überraschten Schrei und unter Geplätscher im Wassergraben, der das Herrenhaus umgab.
Sie konnte nicht schwimmen. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um an der Oberfläche zu bleiben.
Aber es war nur der Schreck, schwimmen war gar nicht nötig. Obwohl ihre Zehen langsam im Modder versanken, hätte sie an dieser Stelle auch schon als Sechsjährige neben den Gänsen, die zu hüten ihre Aufgabe war, stehen können. Und nun war sie wohl neunzehn oder zwanzig Sommer alt, so genau wusste das nicht einmal ihre Mutter, und hütete schon längst keine Gänse mehr.
Mit Wut im Bauch blickte sie kurz zu Wilke Voet hoch, der am Rand des Grabens stehen geblieben war und zu überlegen schien, ob er hinabsteigen und sie ertränken sollte. Aber vor den Augen der dicken Köchin Ghese, die des Weges kam, in Gelächter ausbrach und damit rasch weitere Gesindeleute des holsteinischen Gutes Schönrade herbeilockte, wollte er sich die Blöße tropfnasser Kleidung wohl nicht geben.
»Was haltet ihr hier Maulaffen feil! An die Arbeit, Leute!«, rief Wilke barsch, nachdem er sich eine Weile am Geraune und am spöttischen Kichern seiner Leute ergötzt hatte. Widerwillig zerstreute sich die Menge.
Taleke starrte mit steif werdendem Nacken auf die Wasseroberfläche mit den öliggrauen Schlieren von behäbig treibendem Entenkot, von oben gewiss ein Bild des Schuldbewusstseins. Bis Wilke davonstapfte, wie sie hören konnte. Da hob sie flink den Kopf und spuckte hinter ihm her.
Ihr Blick blieb an dem vierschrötigen Kerl hängen, der sich anfangs den Anschein von emsiger Tätigkeit und Fleiß gab, mit zunehmender Entfernung vom Graben jedoch immer langsamer wurde, bis sein Gang zum steinernen Doppelhaus der Besitzerfamilie zu einem bloßen Schlendern wurde. Als ob er daran Eigentumsrechte besäße und nicht wie jedermann hier sich seinen Lebensunterhalt verdienen müsste.
Taleke hasste den Verwalter, der dem zum Gut gehörenden Wirtschaftshof vorstand, so wie sie den früheren Verwalter gehasst hatte, der sie einmal fast bis auf den Tod verprügelt hatte. Dabei hatte sie sich lediglich in das Herrenhaus geschlichen, um sich ein einziges Mal die hohe Halle anzusehen, mit deren Kenntnis sich die Hausdiener ständig vor dem Feldgesinde hervortaten. Und nur dafür hatte Wilke sie ins Wasser geworfen.
Bis dahin kannte sie nur die Küche, in die Ghese sie hineinließ, wenn sie ihr eine geschlachtete und gerupfte Gans brachte. Zuweilen erwies sie Taleke die Gnade, dort herumlungern zu dürfen, bis der Braten für die Herrschaft fertig war. Kosten durfte sie nie, das blieb Gheses Vorrecht. Aber erschnuppert hatte Taleke alle Stadien des Kochvorgangs, sich jeden Handgriff gemerkt und zu ihrer eigenen Zufriedenheit an gestohlenen Gänschen erprobt.
Taleke schnaubte verächtlich. Im gesamten Gut sah einer auf den anderen hinunter und dünkte sich etwas Besseres: die Hufebauern auf die Hausdienerschaft, die ihrerseits Spott trieb mit allen, denen es verboten war, das Herrenhaus zu betreten, also mit den Insten, die wiederum kaum einen Blick für die Tagelöhner übrighatten. Und alle zusammen verachteten sie die Dorfarmen und die umherstreifenden Bettler. Eifersucht und Neid waren die gängigen Zahlungsmittel.
Ja, Taleke hasste die gesamte Wasserburg derer von Schönrade und das Leben, das ihr durch ihre ärmliche Geburt aufgezwungen war.
Sie hing nicht einmal besonders an ihrer Mutter Hilka Wandmaker, die zu stolz und zu eigensinnig war, einen der Großknechte zu heiraten und so wenigstens in den Stand der Insten mit eigener Kate und kleinem Gärtchen aufzurücken. Dabei stammte sie doch nur aus Schwienkuhlen im dänischen Wohld, das gewiss nicht mehr als drei Hütten um ein Wasserloch aufwies, in dem sich Schweine suhlten.
Mutter Hilka hatte es nicht einmal verstanden, Talekes Vater zu halten oder ihn wenigstens zu heiraten, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Auf dem Gut Schönrade arbeitete sie als Tagelöhnerin auf dem Feld oder im Wirtschaftsgarten, hauste mit ihrer Tochter in einem Verschlag und musste für beides dankbar sein.
Seitdem Taleke aus dem Alter des Gänsehütens heraus war, arbeitete sie wie ihre Mutter täglich viele Stunden auf dem Feld, half gelegentlich beim Kühemelken, bekam dafür eine noch kümmerlichere Entlohnung als ihre Mutter und war keineswegs dankbar, im Gegenteil. Während sie rutschend und laut fluchend aus dem Graben kletterte, beschloss sie, noch in derselben Nacht diesem Gut eines holsteinischen Adeligen den Rücken zu kehren. Es musste doch irgendwo eine Stadt geben, in der sie im Jahre des Herrn 1307 ihr Glück machen konnte.
Schon seit langem trug sie sich mit dem Gedanken an Flucht aus einem erbärmlichen Dasein, das ein Leben lang währen oder gar noch schlimmer werden würde. Lübeck, die mit aller Macht aufstrebende Hafenstadt, lockte.
Zwar sollten Gauner, Betrüger, Diebe und Schelme dort den Einwohnern das Leben schwermachen. Aber wo gab es die nicht? Sie würde schon mit ihnen fertig werden.
Am späten Abend schlich Taleke am Wirtschaftshof vorbei und konnte sich nicht zurückhalten, Wilke Voets Köter mit ihrem Pfiff zu reizen, was ganz ungefährlich war, da der Hund an der Kette lief und der Mann wie üblich stockbesoffen zu Bett lag. Dann tat sie den ersten Schritt in die Freiheit.
Der Weg war sumpfig, aber über Taleke flimmerten Sterne, die Karrenspur nach Oldhenkrempe war gut erkennbar, und trotz des frühen Jahres war die Nacht warm. Für den Fall, dass noch andere auf den Gedanken kamen, einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, hatte Taleke zu ihrer Verteidigung eine grobe Handhacke mit kräftigen Zinken mitgehen lassen. Flüchtig dachte sie an die Wurzelbeete zurück, die sie unter Kraftaufwand mit dieser Hacke aus dem Acker geholt hatte. Nein, sie wollte im Leben auch nie mehr geschmackloses Wurzelbeetemus schlucken, sie wollte speisen wie die reichen Leute im Herrenhaus.
Als sie sich umdrehte, um einen letzten triumphierenden Blick auf die hohen Buchen ihrer Heimat zu werfen, merkte sie die Nässe auf ihren Wangen. Verärgert wischte sie sich die Tränen ab und machte sich wieder auf den Weg.
Der viereckige, stämmige Kirchturm von Oldhenkrempe schimmerte zwischen den schwarzen Baumstämmen hindurch, als sie sich dem kleinen Ort näherte. Es war viel zu früh, um sich jetzt schon zur Nachtruhe zu begeben.
Mit einem bedauernden Blick auf den Turm, dessen Fuß Schutz für ein paar Stunden geboten hätte, schritt Taleke unverdrossen weiter auf dem Karrenweg, der sie nach Neustadt leiten sollte. Im Kopf hatte sie säuberlich gespeichert und geordnet, was sie über lange Zeit durch vorsichtiges Befragen Kundiger zusammengetragen hatte: die ungefährlichsten Wege nach Lübeck, günstige Furten und Fährstellen über die Flüsse und Gewässer, bischöfliche Burgen mit reizbarer Besatzung und besondere Gefahren wie umherstreunende Wölfe und schlechtbezahlte Waffenknechte.
Unverdrossen wanderte Taleke voran, Hügel hinauf und Hügel hinunter, hörte das leise Entenquaken aus der Förde, an der Neustadt liegen sollte, und wusste sich auf dem richtigen Weg.
Neustadt schien ihr günstig für die Nachtruhe, obwohl sie sich, genau genommen, von Schönrade immer noch nicht sehr weit entfernt hatte. Aber wie man ihr erzählt hatte, war der Hafen tatsächlich voll mit Schiffen, sie konnte überall schaukelnde Laternen sehen, möglicherweise von den Holländern, die in Neustadt das Stapelrecht der Lübecker nicht beachten mussten. Es sollte mehrere Kornspeicher geben, in denen das Jahr über Getreide umgeschlagen wurde, und auch andere begehrte Waren wurden hier angeblich angeliefert.
Taleke lauschte. Trotz der inzwischen dunklen Nacht ging es lebhaft zu, höchstens ein wenig gedämpft wegen der Nachtwächter. Das Schwatzen von Stimmen mischte sich mit dem Klappern von Tauwerk an Masten und dem Schlagen von Tuch. Rüsteten sich die Seeleute bereits für den kommenden Tag?
Jedenfalls würde man sie hier nicht finden. Außerdem gab es Menschen, die wach waren und wohl auf einen Hilfeschrei herbeieilen würden. Taleke fand zwischen Fässern einen unordentlichen Haufen Fischernetze, die sie schob und zerrte, bis sie sich ein weiches Nest geschaffen hatte. Ihre Hacke in fester Umklammerung, sank sie zuversichtlich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wanderte Taleke weiter, heiter und guter Dinge stieg sie hügelaufwärts. Sie war ausreichend gesättigt, der Käselaib, den sie aus dem Gut hatte mitgehen lassen, musste bis Lübeck reichen. Buchenhaine und einzelne hohe Eichen lösten einander ab. Gelegentlich sichtete sie andere Wanderer, ausschließlich Männer, aber selbst wenn sie glaubte, in ihnen Pilger zu erkennen, vermied sie es, sich sehen zu lassen, und wartete lieber oder schlug einen Umweg ein.
Dann aber stieß sie auf drei Männer und zwei Frauen, die mit einem Eselskarren unterwegs waren. Die Schellenkappen und auf die Kleidung genähte Glöckchen wiesen sie als Gaukler aus. Einer derart gefahrlosen Gesellschaft konnte sie nicht widerstehen, sie fragte, ob sie sich anschließen dürfe, sie wolle nach Lübeck.
»Je größer der Trupp, desto sicherer die Fahrt«, antwortete der Jüngere der Männer, der auf einem Grashalm kaute, mürrisch, nachdem er Taleke von Kopf bis Fuß gemustert hatte.
Seine Schultern waren breit und der Kopf kahl bis auf ein einzelnes Haarbüschel, das wie ein Horn in die Höhe stand. Der Hornträger hatte das Sagen. Den beiden alten Männern war sein Entschluss gleichgültig, der einen der beiden jungen Frauen nicht. Aber ihre Miene war eher resigniert als feindselig und eine Spur eifersüchtig.
Taleke wartete auf Widerspruch. Sie war sich bewusst, dass sie als hübsch galt, jedenfalls wenn ihre Mutter ihr gerade die hellen Haare gewaschen und gekämmt hatte. »Mein Butterblümchen« hatte sie sie als Kind zärtlich genannt.
Ärgerlich wischte Taleke die melancholischen Erinnerungen beiseite. Sie blickte in die Runde. Zu ihrer Überraschung schwiegen alle, und sie zuckte die Schultern. Bis Lübeck würden sie es schon miteinander aushalten.
In einem Dorf machten sie in Sichtweite der Brücke über die Schwartau halt, weil der Esel lahmte. Allein wäre Taleke zwar schneller vorwärtsgekommen, aber sie entschloss sich, aus Gründen der Sicherheit bei den Gauklern zu bleiben. Unterwegs hatte ihr der Anführer genussvoll von Überfällen in der Gegend erzählt. Strolche und Wegelagerer gebe es genug. Die Bewaffneten des Bischofs, die überall in der Gegend umherstreiften, seien auch nicht zimperlich mit einsamen Wanderern. Er wundere sich ohnehin, dass sie ohne Beschützer durch die Gegend spaziere.
Erstmals verspürte Taleke so etwas wie Unsicherheit. Sie hatte bisher großes Glück gehabt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein geflüstertes kleines Dankesgebet an den Herrn war ihr sein Entgegenkommen schon wert.
In der Schwartau schwammen zahme Enten unter den Weiden, und Gänse wanderten unbeaufsichtigt den Pfad entlang, der das schmale Flüsschen begleitete und nach Gleschendorf hineinführte.
Die beiden Gauklerinnen machten sich wortlos daran, Holz aus einem nahen Hain zu holen. Einige Zeit später waren sie zurück und begannen, den Holzstoß aufzusetzen. Sie waren so abweisend, dass es Taleke die Sprache verschlug. Etwas anderes, als sich still hinzusetzen und abzuwarten, kam ihr nicht in den Sinn.
Der Anführer, der Lutgerd hieß, warf sich dicht neben ihr ins Gras. Taleke rückte unauffällig ein Stück von ihm fort. Er lachte und griff nach ihr. »Nicht so kalt gegenüber deinem Gönner, meine Schöne! Schließlich genießt du meinen Schutz und willst mit uns essen. Oder hast du sonst etwas, das du beisteuern könntest? Ein Scherf, ein paar Pfennige oder einen silbernen Groschen?« Er rieb zwei Finger aneinander, Gier im Blick.
Taleke erschrak, aber so dumm, zuzugeben, dass sie im Besitz einiger Münzen war, war sie nun auch wieder nicht. »Geld habe ich nicht ...«
»Und wir haben kaum Essen genug für uns selber, Lutgerd«, warf die eifersüchtige Frau, die Belia hieß, grollend ein.
»Dann besorgt etwas!«
»Wie denn, Lutgerd?«, rief Belia verzweifelt.
»Fangt etwas! Eichhörnchen, Enten, Wasserratten - alles steht zu eurer Verfügung«, spottete Lutgerd und tauschte den durchgekauten Halm gegen einen neuen aus. »Auch Gänse, wenn du dich noch mal traust ...« Dann sprang er auf, um in Sichtweite sein Wasser abzuschlagen.
Belia schüttelte müde den Kopf. Anscheinend war dieses Thema eines, das täglich aufkam. Da war es auf dem Gutshof ja noch besser gewesen, irgendetwas zu essen hatte sich immer gefunden. Talekes Blick ging zu der Gänseschar, die jetzt offensichtlich auf dem Rückweg zum Dorf war.
»Mach's nicht«, warnte die zweite Frau, die Jacoba gerufen wurde, leise. »Die Ganter sind abgerichtet, glaube ich, besonders wenn keiner sie hütet, und sehr bissig. Und laut. Du würdest die Aufmerksamkeit der Dörfler auf uns ziehen. Das können wir uns nicht erlauben.«
»Warum kümmert Lutgerd sich nicht um Essen?«, erkundigte sich Taleke, ohne den Blick von der letzten Gans zu wenden, die hinter der Herde hertrödelte, kleiner und unerfahrener und augenscheinlich damit beschäftigt, hier und dort zu naschen, bevor sie den abgegrasten Hausgarten erreichte. »Man sollte meinen, ein Bulle wie er könnte es mit jeder Gans aufnehmen.«
»Psst«, zischte die Gauklerin. »Wenn er das hört! Er hat es nicht nötig, er sucht sich abends eine Taverne. Er verwaltet die wenigen Pfennige, die wir verdienen.«
Wenn »Er« das hört! Taleke warf den Kopf zurück und lachte schallend. Ein Gott der Gaukler, der abends allein speisen ging! Über einen solchen Kerl hätte ihre Mutter sich tagelang aufgeregt, und sie selber fand es komisch, wie der Trupp diese Behandlung hinnahm.
Plötzlich stand Lutgerd vor ihr, die Hände in den Seiten. »Was gibt's zu lachen, Weib?«
»Eure lächerliche Angst vor Gänsen«, antwortete Taleke freimütig. »An Eurer Nase spazieren die Braten vorbei, und Ihr hungert freiwillig.«
Ohne Antwort zu geben, bückte Lutgerd sich und schlug Taleke mehrmals mit dem Handrücken hart auf beide Wangen. Ihr Kopf flog von einer Seite zur anderen. »Du kannst auch Prügel beziehen, wenn dir danach ist«, fügte er hinzu. »Dies war nur eine Kostprobe.«
Taleke fasste sich blitzschnell, trotz ihrer Verblüffung. So einer war er also, ein Schläger, wie einige von den feigsten Knechten auf Gut Schönrade. Statt sich dareinzufinden, würde sie diesem Lutgerd zeigen, dass er in Wirklichkeit ein Schwächling war. Sie sprang auf und lief auf leisen Sohlen der Gänseherde nach, die im Gras außer Sicht war. Die kleine, dumme Gans war immer noch ein Stückchen von ihrer Herde entfernt, als Taleke sie einholte. Sie lockte das Tier mit den zärtlichen Worten herbei, die viele Jahre lang Wirkung in ihrer eigenen Herde gezeigt hatten. Die Gans drehte sich um und watschelte auf sie zu, ihrerseits freundliche Laute ausstoßend. Taleke tat es leid um sie. Sie beabsichtigte jedoch nicht, Lutgerds Hohn unbeantwortet zu lassen.
Kaum an ihrem Platz angekommen, schnitt sie dem Tier, das die ganze Zeit keinen Abwehrlaut von sich gegeben hatte, den Hals durch und ließ das Blut in eine Erdkuhle abtropfen, die sie anschließend sorgfältig zuschüttete. Stumm sammelten sich die Gaukler um sie, mit Ausnahme von Lutgerd. »Hast du einen Sack oder einen Balg?«, fragte Taleke Belia knapp. Kaum lag der Ziegenbalg zu ihren Füßen, rupfte sie die Gans in einer Geschwindigkeit, die ihresgleichen suchte, stopfte die Federn ohne einen einzigen Verlust in den Balg, drehte ihn zu und reichte der Gauklerin die Gans. »Kannst du sie ausnehmen, oder soll ich das machen?«, fragte sie.
Belia, immer noch überwältigt, schüttelte stumm den Kopf.
Mit gewohnter Routine nahm Taleke die Gans aus, dann ging sie, um zum Braten passende Kräuter zu suchen. Ihre Achtung vor den Fähigkeiten dieser Gaukler hatte mittlerweile stark abgenommen. Offenbar benötigten sie Städte oder Burgen, in denen für ihre Fertigkeiten mit Münzen bezahlt wurde. Das Leben in freier Natur war nicht das ihre, obwohl dort vom Frühjahr bis zum Herbst keiner wirkliche Not leiden musste.
Nachdem sie eine gehörige Portion Bärlauchblätter im Unterholz gefunden hatte und Brennnesseln, die manche rotes Feuer nannten, sowie Löwenzahn und jungen Giersch, kehrte sie zurück zum Lagerfeuer. Die Gans briet am Spieß, während Taleke Blätter und Stiele des Gemüses voneinander trennte. Der Vogel verströmte einen herrlichen Duft, während das Fett in das Feuer tropfte, wo es zischend verbrannte.
»Warum verschwendest du das Fett? Ich brauche es«, bemerkte Taleke entrüstet und zeigte Belia, wie sie es aufzufangen hatte. Als die Gans gar war, ließ Taleke die Kräuter kurz im Wasser sieden, dann abtropfen und schmorte sie anschließend im Gänseschmalz.
Es wurde eine ganz köstliche Mahlzeit, aber Freude kam trotzdem nicht auf. Vielmehr spürte Taleke Misstrauen, das sich gegen sie richtete. Lutgerd ging an diesem Abend nicht fort. Er suchte vielmehr Talekes Nähe, was ihr unangenehm war, und das hatte nichts mit Belias wachsendem Missmut zu tun. Taleke mochte ihn einfach nicht. Sie trug ihr Bündel an einen anderen Platz, den sie von Ästen säuberte, und bettete dann ihren Kopf auf ihre wenigen Habseligkeiten.
Sie blieb unruhig und fand keinen Schlaf. Erst als sie Lutgerds Stöhnen und Belias Keuchen hörte, dann das Stoßen, das von schmatzenden Geräuschen begleitet war, wusste sie, dass er sie in dieser Nacht nicht mehr behelligen würde. Wie ein Stößel im Butterfass, dachte sie hämisch. Ein feiger Stößel ... Unter Kichern schlief sie ein.
Die Gänseknochen waren bei der abendlichen Mahlzeit bis aufs Letzte abgenagt worden, die Hirse war schon vor Tagen aufgebraucht, wie man Taleke erzählte, und etwas anderes gab es nicht. Hungrig machte sich die Gruppe am nächsten Tag wieder auf den Weg; Taleke hungerte am wenigsten, denn sie hatte im Gebüsch heimlich und hastig ihren Käserest verzehrt.
Kaum hatten sie die Schwartaubrücke und die Dorfkirche hinter sich gebracht, um den steilen Hügel dahinter zu erklimmen, rief Lutgerd, der an der Spitze den Eselskarren führte, herrisch nach Taleke. Sie ging mit Belia und hatte nicht die Absicht, ihr von der Seite zu weichen.
»Du musst gehen«, flüsterte Belia ängstlich. »Wenn du nicht gehorchst, wird er dich bestrafen.«
»Bestrafen? Ich habe nichts getan ...«
»Ungehorsam verdient Strafe. Für uns beide.«
Taleke stieß ein ungläubiges Schnauben aus, wanderte dann aber Belias wegen nach vorne. Jetzt, bei Tage, machte Lutgerd keine Annäherungsversuche, sondern begann sie auszuhorchen. Sie antwortete willig und achtete darauf, dass nichts stimmte, sie jedoch im Kopf behielt, was sie sagte, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Lange würde sie es ohnehin nicht behalten müssen.
»Du schläfst heute Nacht neben mir«, befahl Lutgerd. »Ich bin jetzt dein Beschützer.«
Seinen Schutz, der sich nach Besitztum anhörte, wollte Taleke bestimmt nicht, aber er schien sich ihres Gehorsams so sicher, dass er erst gar keine Antwort erwartete. Jacoba war wohl die einzige Frau in seiner Nähe, die seine Gewalt nicht zu fürchten brauchte. Sie war seine Schwester, aber vielleicht fand er sie auch nur zu hässlich zum Anfassen.
Am späten Nachmittag machten sie oberhalb von Schwartau unter efeubehangenen Eichen halt.
Taleke sah sich, ebenso wie Belia und Jacoba, von Lutgerd in den Ort ausgesandt, nach Essbarem Ausschau zu halten. Geld gab er nicht her, sie sollten betteln oder stehlen und sich dabei nicht erwischen lassen.
Belia und Jacoba eilten voraus, voller Angst vor Lutgerd. Taleke trödelte hinterher, bis sie die beiden aus den Augen verloren hatte, dann nahm sie die Beine in die Hand. An der Brücke über den Fluss Schwartau hatte sie schon von weitem die Anlage eines Klosters gesehen. Dessen steinerne Kapelle stand direkt an der Straße.
Klöster pflegten nicht nur Kranke, sondern auch Arme zu verköstigen. Gaukler galten nicht als arm, sie gingen einem Gewerbe nach, das ihnen bei einigem Geschick durchaus den Lebensunterhalt sicherte, wie Jacoba Taleke erzählt hatte. Leider waren sie in letzter Zeit vom Pech verfolgt gewesen und hatten kaum Gönner gefunden. Taleke hingegen gehörte nicht zu den Fahrenden, und sie war arm.
Forsch bog sie um die Ecke der Kapelle, hinter der mehrere steinerne Klostergebäude angeordnet waren. Fast wäre sie einem Mönch auf die Zehen getreten, der in genau der gleichen Eile zur Straße strebte. Er packte sie an den Schultern, hielt sie fest und betrachtete ausgiebig ihr Gesicht.
»Du bist nicht krank«, sagte er. »Das glaube ich dir nicht.«
»Ich habe doch mit keinem Wort behauptet, dass ich krank bin«, entgegnete Taleke empört. »Gott zum Gruße.«
»Der Herr sei auch mit dir. Wer in dieser Klause Zuflucht sucht, ist krank.«
»Ich suche keine Zuflucht.« Taleke war verunsichert. »Ich habe Hunger. Ich weiß, dass Klöster Hungrigen was zu essen geben, bevor sie vor den Klostermauern tot umfallen und die Brüder als Geizhälse entlarven.«
Der Mönch gluckste. »Du siehst eher wie das blühende Leben aus, und deine Zunge ist so scharf, dass ihr der Hunger noch nicht geschadet haben kann. Dieses Gemäuer ist kein Kloster. Es beherbergt ein Domus leprosorum, ein Siechenhaus für Miselsüchtige, für Aussätzige, und ist dem heiligen Georg gewidmet.«
»Oh!« Taleke machte einen Satz rückwärts und wollte auf und davon laufen.
»Halt, junge Frau«, rief der Mönch gebieterisch. »Ich will mit dir reden. Der Herr auch.«
Zögernd kehrte Taleke zurück. Vor dem Mönch hatte sie weniger Angst als vor dem Herrn. Der Herr war ihr unbegreiflich. Man wusste nie, was er als Nächstes tun würde. Er strafte, ohne dass man erfuhr, warum. Ihre Mutter hatte er mit einem elenden Leben gestraft, vermutlich, weil sie Männern gegenüber nicht zur Gefügigkeit neigte. Und das ließ auch der himmlische Herr keiner Frau durchgehen.
»Du hast also Hunger und bist gesund. Kannst du dir deinen Lebensunterhalt nicht mit Arbeit verdienen?«
»Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet.« Taleke sah ihn trotzig an. »Aber jetzt gerade bin ich auf dem Weg nach Lübeck und habe nichts mehr zu essen. Mein Beutel ist leer«, rief sie in jammerndem Ton aus, als ihr wieder einfiel, dass der Mönch zu Mitleid verpflichtet war.
Da lachte er schallend. »So nicht! Und bei mir nicht! Ich kenne jeden Schwindel von euresgleichen. Aber die Küche wird wohl noch einen Brotkanten, eine Speckschwarte und ein paar trockene Pflaumen für dich erübrigen können.«
Er meinte es ehrlich mit ihr. »Danke, Eminenz«, sagte Taleke voller Inbrunst und trat näher an ihn heran, was für sie einen Vertrauensbeweis bedeutete.
»Du neigst zu Übertreibungen.« Der Mönch rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. »Irgendeine Art von Erziehung ist dir wohl unbekannt?«
»Weit gefehlt, edler Herr Mönch, ich habe tagtäglich Gänse erzogen.« Taleke bemühte sich, sich nicht von ihm beleidigt zu fühlen. Sie ahnte nicht einmal, warum er so streng mit ihr sprach.
»Das meinte ich weniger, Herrin der Gänse. Du stinkst wie der Höllenpfuhl.«
»Ist das schlimm?« Taleke war vollkommen überrascht. Wer stank denn nicht?
»Ja, sehr schlimm. Wenn du beabsichtigst, noch ein paar weitere Jahre in der Jauche zu verbringen, kann ich dir auf den Kopf zusagen, dass du eines Tages ein Fall für mein Siechenhaus wirst.«
»Ha! Ihr schwindelt!«, rief Taleke triumphierend. »Und wie! Der Pastor, der auf dem Gut predigt, hat uns davor gewarnt zu sündigen, weil Gott der Herr uns sonst mit Aussatz strafen würde. Von Schmutz war nie die Rede!«
»Hm«, brummelte der Mönch unschlüssig.
»Stimmt das nicht?«
»Sagen wir so: Der Pastor meinte wahrscheinlich, dass der Herr zürnt, weil Er Adam und Eva sauber erschuf und erwartet, dass alle Menschen ihnen nacheifern. So gesehen begeht eine Sünde, wer von Dreck strotzt. Solchen Menschen schickt er zur Strafe den Aussatz. Zuweilen.«
Taleke folgte seinen Ausführungen mit gerunzelter Stirn. »Unser Pastor war selber von den Sohlen bis an die Knie voll mit Stallschiet. Und er war kerngesund, soviel ich weiß, allerdings schnorrte er sich in allen Küchen immer das beste Essen. Ich habe auch gehört, dass manche Mönche sich kaum waschen. Nennt Ihr sie auch sündig?«
Der Mönch warf die Arme abwehrend in die Höhe. »Du stiehlst mir mit deinen Einwänden Zeit. Das ist auf jeden Fall eine Sünde, denn ich hätte die Zeit sonst für meine Gebete verwandt.«
Taleke starrte ihn stumm an. Er war ein Lügner. Ein Mönch, den sie als Lügner ertappt hatte. Die Welt erwies sich jetzt schon als anders, als sie geglaubt hatte.
»Geh in die Küche und lass dir Brot, Speck und Pflaumen geben«, setzte der Mönch nörgelnd fort. »Dort, wo Rauch aufsteigt. Hab keine Angst vor den Siechen, in so kurzer Zeit passiert dir nichts.«
Taleke, die sich voller Erleichterung bereits wieder auf den Weg gemacht hatte, stoppte und drehte sich zu ihrem Gönner um. »Wie meint Ihr das? Ist deren dreckige Sünde ansteckend?«
»Nein! Aber das traute Zusammensein mit den Miselsüchtigen! Tu dich nie mit einem Mann zusammen, der aus dem Morgenland zurückgekommen ist und dessen Haut helle Male aufweist, die unempfindlich sind. Erst hat er den Aussatz, dann du!«
»Ja, nein.« Taleke war vollends verwirrt. Sie würde über seine Worte nachdenken, weil sie das Gefühl hatte, dass seine Erfahrungen eine andere Erklärung für den Aussatz lieferten als die, die der Priester auf dem Gut gegeben hatte. Sie verstand sie nicht. Aber das lag an ihr, nicht an ihm. »Ich werde mir das überlegen«, sagte sie würdevoll. »Darf ich Euch noch etwas fragen?«
»Gewiss.«
»Gibt es einen anderen Weg nach Lübeck als den zum Holstentor?«
»Das klingt drollig, weil es der einfachste und nächste ist, aber du wirst deine Gründe haben. Natürlich gibt es mehrere Wege nach Lübeck. Du wendest dich am besten Richtung Sonnenaufgang und wanderst die Straße nach Travemünde entlang. Dort, wo du auf der gegenüberliegenden Traveseite viele Schiffe siehst, liegt der Weiler Gothmund. Da machen die Schiffer Zwischenhalt auf ihrem Weg von der Travemündung zum Lübecker Stadthafen. Du musst dich auf die andere Traveseite übersetzen lassen. Vielleicht nimmt dich ein Schiffer mit. Wenn nicht, gibt es den Treidelpfad entlang des Flusses, dem du nur in die Stadt zu folgen brauchst. Du kommst dann am Burgtor an. Dort betreibt mein Orden ebenfalls ein Leprosenhaus ...«
»Oh, das ist ja einfach«, sagte Taleke erfreut.
»Für die Füße einfacher als für die Seele«, bemerkte der Mönch knurrig und setzte sich mit wehender Kutte in Bewegung.
»Für die Füße einfacher als für die Seele, für die Füße einfacher als für die Seele«, murmelte Taleke, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, was der rätselhafte Mönch damit gemeint haben mochte, während sie nach allen Seiten Ausschau hielt, um nicht den Weg der Gauklerinnen zu kreuzen.
Unbehelligt gelangte sie aus Schwartau hinaus. Der Weg nach Osten führte durch dichten Wald, und es war hier einsamer als auf der größeren Straße zum Holstentor.
Die Gaukler hatte sie ohne Reue verlassen. In der nächsten Nacht hätte sich Lutgerd über sie hergemacht, das ahnte sie, und sie hegte nicht das geringste Verlangen, wie ihre Mutter zu enden: auf einem verabscheuten Hof mit verabscheuter Arbeit und einer Tochter, der kein besseres Schicksal als das einer Tagelöhnerin beschieden war. Möglicherweise sogar das einer Hure.
Taleke kam trotz ihrer Müdigkeit allein schneller vorwärts als hinter dem lahmenden Esel. Erleichtert und einigermaßen satt legte sie einen flotten Schritt vor, der ein jähes Ende fand, als ihr eine Gruppe Reiter, gekleidet in gelb-grüne Farben, entgegenkam. Noch während sie ins dichte Gebüsch abtauchte, fiel ihr die Warnung des unsäglichen Lutgerd ein: die Bewaffneten des Bischofs. Vermutlich kamen sie vom Wehrturm, den sie in der Ferne sah.
Als die Pferde plötzlich antrabten, hielt Taleke den Atem an. Hatten die Kerle sie gesehen, obwohl sie miteinander geschwatzt hatten? Und wenn? Sollte sie Lutgerd überhaupt Glauben schenken? Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass Männer, die gewiss jeden Morgen beten mussten und vom Bischof höchstselbst den Segen erhielten, Frauen überfielen. Sie hatte nicht gewildert - schließlich war eine zahme Gans kein Jagdtier - , nicht gestohlen und auch sonst kein Gebot, von dem sie wusste, übertreten.
Die bewaffneten Reiter in ledernen Harnischen passierten ihr Versteck, ohne zu erkennen zu geben, ob sie wussten, dass dort jemand hockte.
Mit einem erleichterten Schmunzeln kroch Taleke auf die Straße zurück, klopfte sich Laub und Erdkrümel aus dem Rock und nahm ihre Wanderung wieder auf, zufrieden mit sich selbst und der Welt. Alles verlief aufs beste.
Die Wegbeschreibung des Mönchs stimmte aufs Haar. Taleke entdeckte die Masten der Schiffe auf der anderen Seite der Wasserstraße und fand als Letzte Platz in einem Nachen, den der Fährmann gerade zum Hafen hinüberstaken wollte. Abgesetzt hatte er Krämer, deren Ziel Travemünde war, und jetzt war er auf dem Rückweg zum Anlegeplatz Gothmund. Zu ihrer Überraschung sparte sie das Fährgeld, denn die Travefähre am Weg von Travemünde nach Lübeck war die fromme Stiftung eines Lübecker Kaufmanns.
Gothmunds Hafenbecken lag geschützt hinter einem Schilfgürtel, und erst als der Fährnachen in die Einfahrt eingebogen war, sah Taleke die flachen Lastkähne, in die Ware geladen wurde, und die zahlreichen kleinen Ruderboote der Fischer, die auf Grasland hochgezogen waren.
Hier ging es noch lebhafter zu als in Neustadt, die Seeleute der großen seegehenden Koggen waren ausgelassen wie junge Hunde. Taleke, die sich an das hölzerne Bollwerk setzte, um den Betrieb zu beobachten und zu überlegen, wie es mit ihr weitergehen sollte, erkannte nach einer Weile, dass die besonders Lustigen diejenigen waren, deren Reise in Lübeck enden würde. Warum auch nicht, wenn die Handelsfahrt erfolgreich gewesen war und die Männer morgen schon ihre Ehefrauen und Kinder in die Arme schließen würden?
Ein Hauch von Neid keimte in Taleke auf, sie sprang hoch und schlenderte an den seegehenden Schiffen entlang, die längsseits des Ufers vertäut waren. Aus dem größten und stattlichsten schleppten die Stauer Fässer und Ballen heraus und verluden sie in die flachen Kähne. Ein markanter Duft von Fisch umwehte die Kogge.
»Du da«, rief ein Mann an Deck energisch nach unten. »Das Fass bring zurück auf die ›Brücke‹! Mein Malvasier ist keine Handelsware!«
Taleke drehte sich um sich selber, um alles begierig aufzusaugen.
»Staune gerne, aber steh nicht im Weg, Frau«, rief derselbe Mann ihr zu. »Mit solch schweren Lasten rennen sie dich über den Haufen, ohne es zu beabsichtigen.«
»Sie könnten ja auch aufpassen!« Trotz ihres Widerspruchs sprang Taleke zurück und schenkte dem großen, schlanken Mann mit den wehenden blonden Haaren ein vorsichtiges Lächeln, weil er sie nicht unhöflich behandelt hatte.
Er nickte schmunzelnd und wandte sich dann wieder den Stauern zu. Bestimmt war er der Herr des Schiffes, einer von denen, die weite Fahrten machten, um Gold und Silber nach Lübeck zu holen. Aber verpackte man Gold wirklich in mannshohen Ballen?
Taleke wandte sich den Lastkähnen zu. Die wurden bis hoch über die Wasseroberfläche hinaus beladen. Hinten blieb eine Plattform frei, auf der ein Mann stehen konnte. Unmöglich, dass die jemanden in den Stadthafen mitnahmen. Und die vornehmen Schiffer auf den geleichterten Hochseeschiffen wagte Taleke gar nicht erst anzusprechen.
Aber sie fand sich schnell mit dem Gedanken ab, am nächsten Tag auf dem Treidelpfad nach Lübeck zu wandern, und machte sich auf, einen Schlafplatz zu suchen. Unter dem vorspringenden Reetdach eines Geräteschuppens fand sie hinter Brennholz einen trockenen, warmen Platz.
Sie war hundemüde, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Der Duft eines am Spieß gedrehten Ferkels zog in Schwaden in ihr Versteck, ebenso wie der von ofenwarmem Brot. Schließlich konnte sie dem fröhlichen Schwatzen der Seeleute am Ufer nicht widerstehen, schlich hin und ließ sich geräuschlos hinter den Männern im Gras nieder. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, während sie die Männer beobachtete, die über mehreren Feuern frisch gefangene, auf Stöcke aufgespießte Fische garten. Auch deren Geruch war unwiderstehlich, und Talekes Hunger gewaltig.
Noch während sie überlegte, ob es ihr gelingen würde, einen Fisch zu stehlen, wurde ihr, wie allen anderen, eine Forelle gereicht und als Draufgabe ein Becher Bier, das ebenso großzügig ausgeteilt wurde. Staunend griff sie zu.
Das Bier war himmlisch. Diese Sorte hatte sie noch nie gekostet. Stillschweigend genoss sie alles, was ihr geboten wurde, auch, dass man sie nicht fragte, woher und wohin, sondern sie einfach eine glückliche Rückkehr mitfeiern ließ. Mit solchen Männern hatte sie noch nie zu tun gehabt.
Der einzige Rückkehrer war die Kogge namens »Brücke«, die Getreide aus dem Süden und Salz ins norwegische Bergen gebracht hatte und als Rückfracht Stockfisch fuhr. Der Schiffer hieß Volrad Wittenborch. Er pflegte das Glück auf seiner Seite zu haben, so auch bei dieser ersten Fahrt im Frühjahr: Sie hatten eine schnelle Fahrt ohne Sturmschäden, Unfälle und Seeräuberüberfälle gehabt, und der Handel war zügig und in vollem Einvernehmen mit den norwegischen Kaufleuten abgewickelt worden. Besser konnte es gar nicht gehen, erfuhr Taleke.
»Alles zu eurer Zufriedenheit, Männer?«, fragte plötzlich aus der schon dunklen Nacht eine Stimme.
»Jawohl, Schiffer, und besten Dank auch für das Bier«, antworteten die Seeleute im Chor.
»Gut, Männer, dann feiert in Demut und Bescheidenheit weiter«, mahnte der Mann, der Taleke vom Schiff aus angesprochen und jetzt seine blonden Haare mit einem Samtbarett gebändigt hatte, wie sie erkannte, als er in den Lichtschein trat. »Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit. Wenn die Fässer mit unserem guten Hopfenbier geleert sind, geht still zur Koje. Hütet euch vor Besuchern an eurem Feuer, die Wasserbrand oder Gagelbier mitbringen. Beides ist Teufelszeug und gefährlich.«
»Wir wissen es, Schiffer«, antwortete einer der Männer ernst, ein junger, rothaariger Kerl.
»Gut, Tideke. Dann wünsche ich euch allen eine bekömmliche Nacht, die kurz sein wird. Die ›Brücke‹ wird morgen in aller Frühe getreidelt, und am Nachmittag seid ihr zu Hause.«
Die Seeleute klapperten zustimmend mit allem, was dazu geeignet war: mit den Essmessern an den Trinkbechern, mit Holz am Bierfass, mit einer Flöte am Drehspieß. Taleke stimmte mit Löffel und Messer begeistert ein.
»Ihr seid auch hier?«, fragte Wittenborch lächelnd.
»Nicht Ihr, Herr Schiffer. Du ist angemessen für jemanden wie mich«, erwiderte Taleke ungewohnt bescheiden und schlug die Augen nieder. »Ich bin nur eine Magd, zurzeit auf Wanderschaft nach Lübeck. Ich danke für die Gastfreundschaft, die unverdient ist. Eure Männer sind sehr großzügig. Ich habe nicht gebettelt, ich wäre mit der Gesellschaft froher Menschen zufrieden gewesen.«
»Du warst hungrig?«
»Oh ja, Herr Schiffer, ich hatte nur einen kleinen Käselaib, der bis gestern reichte, und heute war meinem leeren Magen nach einem großen Wal zumute. Wir sagen: 'n grawen Knust is beter as 'n leddig Fust, aber die Brotkruste hätte mir heute nicht gereicht.«
Er lächelte auf sie herunter. »Dann stärke dich nur tüchtig und danke dem Herrn dafür.«
Taleke nickte voller Ernst.
Ohne ein weiteres Wort verließ Wittenborch seine Mannschaft. Taleke blickte ihm fassungslos nach. Ein stattlicher Mann von vornehmer Gesinnung, wie sie noch keinen kennengelernt hatte. Rohlinge, Holzköpfe, Flegel, Rabauken und Vergewaltiger - alles war auf dem Gut vertreten gewesen, außerdem hatte es verlogene Geistliche gegeben. Dem ersten Mann in ihrem Leben, vor dem sie so etwas wie Respekt empfand, war sie soeben begegnet.
Ein weiteres großes Schiff legte an. Da es fast dunkel war, wurde nicht mehr ent- oder umgeladen. Stattdessen wurde ein viertes Feuer entfacht, an dem die Seeleute des Neuankömmlings ihr Abendessen kochten und brieten. Allmählich mischten sich die Mannschaften der beiden Hochseeschiffe, vermehrt um Binnenschiffer und Flussfischer von Gothmund, dazu die Stauer, die in der Nachbarschaft wohnen mochten.
Die neu Angekommenen waren Gotlandfahrer. Übereinstimmend dünkten sie sich vornehmer als die Bergenfahrer der »Brücke«. Darüber brach nach dem Essen ein Streitgespräch aus, das die beiden Steuerleute lauthals miteinander führten.
Mit offenem Mund hörte Taleke zu.
Die Tradition der Gotlandfahrer war älter, gewiss, aber die Bergenfahrer sahen die Zukunft auf ihrer Seite. »Angeber! Wir werden eine Vereinigung der Bergenfahrer gründen!«, polterte einer. »Dann sind wir die Stärkeren! Stockfisch ist wichtiger als Pelz! Wer frisst schon Pelze?«
»Die Reichen gestalten die Zukunft! Nicht die Armen, die von Stockfisch leben.«
Die sind ja bissig wie die Aale, dachte Taleke. Wie konnte das sein, war doch keiner hungrig geblieben, und warm hatten sie es obendrein.
»Nun, nun«, brüllte ein vierschrötiger Kerl, der gerade mit zwei Knechten angelangt war, beschwichtigend. Er gehörte nicht zu den Seeleuten und brachte diese allein schon durch seine Statur zum Schweigen. »Trinkt, Männer! Bier beruhigt die Gemüter! Nur fünfzig Scherf das Fass.«
Johlend stürzten sich die Männer auf die Fässer, die, dem Geräusch nach zu urteilen, oberhalb der Hütten von Gothmund von Karren abgeladen und zur Landzunge herabgerollt worden waren. Taleke bekam ihren Teil ab und wusste sofort, dass dies das Bier war, das sie kannte, das gewöhnliche Bier der Armen. Das Gagelbier, vor dem Wittenborch gewarnt hatte. Sie wusste nicht, warum. Sie war daran gewöhnt, und ihr schmeckte es.
Mit dem Bierverzehr verschärfte sich zwischen beiden Mannschaften der gereizte Ton. Plötzlich warf sich einer aus der Mannschaft der Gotlandfahrer auf einen von der »Brücke« und vesuchte, ihn zu würgen. Andere Männer wollten schlichten, was nicht gelang. Stattdessen prügelten sie sich derart, dass weder Freund noch Feind erkennbar war. Taleke, die die Flucht zu ergreifen versuchte, wurde von einem Seemann am Knöchel gepackt und zu Boden gezogen.
»Erst mal bist du dran«, keuchte er, bevor er sich der Länge nach auf sie sacken ließ. Sein biergeschwängerter Atem umhüllte Taleke, und sie entging seinem vollen Gewicht nur dadurch, dass sie sich mit aller Gewalt zur Seite warf.
»Hilfe!«, stieß sie aus, obwohl sie kaum noch Luft bekam.
Mit einer Hand hatte er sie an der Kehle gepackt, mit der anderen nestelte er an seinem Wams, und obwohl Taleke sich wie ein Aal wand, kam sie nicht frei.
Er rieb sein gewaltiges Gemächt an ihr, immer schneller und schneller, während er sich bemühte, es bloßzulegen. Taleke wehrte sich verzweifelt. Ihre Faust stieß ins Leere, und der Kerl wieherte vor Vergnügen.
Plötzlich strömte ihr köstliche frische Luft in die Nase, sie konnte wieder atmen und fühlte sich leicht wie ein Vogel. Der zudringliche Seemann landete neben ihr im Gras, und auf sie herab blickte im flackernden Feuerschein Schiffer Wittenborch.
»Eine erfahrene Frau macht sich aus dem Staub, wenn an Männer, die sich streiten, minderwertiges Bier ausgegeben wird«, sagte er und reichte ihr seine Hand.
»Ich wusste nicht, was Ihr damit meintet«, gab Taleke kläglich zu und setzte sich auf. »Ich kannte bis heute nichts anderes.«
»Ja, das verstehe ich. Aber manchmal verdreht das minderwertige oder gepanschte Bier den Männern den Kopf, und sie werden gefährlich, bevor sie an Vergiftung sterben.«
Taleke schnappte vor Entsetzen nach Luft. Davon hatte sie noch nichts gehört.
»Dabei halten Bergenfahrer und Gotlandfahrer im Allgemeinen zusammen. Auch daran kannst du erkennen, welche Auswirkungen das Teufelszeug hat.« Wittenborch musterte sie nachdenklich. »War es klug von dir, von zu Hause wegzulaufen? Zumindest muss ich das vermuten.«
Eine Ermahnung, als sei er ihre Mutter! Wie eine überraschte Spinne schnellte Taleke in die Höhe. »Ich bin so gut wie andere Menschen auch in der Lage, mich in einer freien Stadt zurechtzufinden! Ich kann alles lernen, wonach mir der Sinn steht, das ist nicht allein einem Bergenschiffer vorbehalten, Herr Wittenborch!«
»Schon gut«, beendete Wittenborch ihren Wutausbruch ohne Anzeichen von Belustigung oder Verachtung. »Du willst nach Lübeck. Wenn du möchtest, kannst du auf meinem Schiff bis in den Stadthafen mitfahren. Es erspart dir den langen Marsch auf dem Treidelpfad und außerdem die Überprüfung deiner Person am Burgtor.«
Überprüfung? Am Ende ließ man sie gar nicht in die Stadt hinein! An dergleichen hatte Taleke überhaupt noch keinen Gedanken verschwendet. »Wenn Ihr so freundlich wärt«, murmelte sie beschämt.
»Gut. Melde dich im Morgengrauen an der ›Brücke‹.«
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Autoren-Porträt von Kari Köster-Lösche
Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Bücher, bevor sie mit ihren historischen Romanen, darunter "Die Hakima", "Die Heilerin von Alexandria" und "Die Wagenlenkerin", ein begeistertes Publikum fand. Kari Köster-Lösche lebt als freie Schriftstellerin auf der Hallig Langeneß und an der nordfriesischen Küste.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kari Köster-Lösche
- 2013, 464 Seiten, Masse: 12,5 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426507056
- ISBN-13: 9783426507056
- Erscheinungsdatum: 15.03.2013
Rezension zu „Die Heilerin von Lübeck “
"Grossartiger und fesselnder Historienroman über eine Zeit, in der Frauen nichts zu melden hatten." -- Frankfurter Stadtkurier, 23.07.2013"Ein rundum unterhaltsames Buch" -- Wochenspiegel Lübeck, 06.06.2013
"Die deutsche Autorin Kari Köster-Lösche macht Geschichte zu einem lebendigen Erlebnis, das den Leser ganz gefangen nimmt und alle Sinne berauscht. (...) Kari Köster-Lösches Romanen kann niemand widerstehen. Diese bedeuten nämlich (Lese-)Spass vom Feinsten und sind so spannend wie ein packender Krimi. DIE HEILERIN VON LÜBECK ziegt eindrucksvoll, wie unglaublich mitreissend die Historie sein kann." -- Literaturmarkt.info, 22.04.2013
"Abenteuerliche Zeitreise" -- Lübecker Nachrichten, 21.04.2013
"Der Roman ist eine phantastische Mischung Freundschaft, Vertrauen, Hoffnung, Verrat und auch Liebe. Daher können wir diesen Roman auch wärmstens empfehlen." -- fachbuchkritik.de, 09.04.2013
"Mit viel Fingerspitzengefühl gelingt es der Autorin ein ums andere Mal, spannende Aspekte der Medizingeschichte mit dem Schicksal einzelner Frauen zu verbinden und so für Kurzweil und Spannnug zu sorgen. (...) Ein Werk, das seine Leser fesselt." -- Miroque, Juni 2013
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