Die Gruppe 47
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch / Essayistik 2013
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb: die erste umfassende Darstellung der 1947 von Hans Werner Richter gegründeten, legendären Schriftstellervereinigung "Gruppe 47". Mit bisher unveröffentlichten Dokumenten. Geschrieben von Helmut...
lieferbar
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
Fr. 18.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Gruppe 47 “
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb: die erste umfassende Darstellung der 1947 von Hans Werner Richter gegründeten, legendären Schriftstellervereinigung "Gruppe 47". Mit bisher unveröffentlichten Dokumenten. Geschrieben von Helmut Böttiger, der 2012 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik erhielt.
Klappentext zu „Die Gruppe 47 “
Die Gruppe 47 ist zu einem Markenzeichen geworden. Jeder nimmt Bezug auf diese von Hans Werner Richter 1947 ins Leben gerufene lose Schriftstellervereinigung. Jeder hat eine Vorstellung von ihrer Wirkung. Helmut Böttiger legt nun den ersten umfassenden Überblick über die Geschichte dieser Institution vor, die unseren Literaturbetrieb erfunden und die politische Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands mitgeprägt hat. Bei näherer Betrachtung wird aber klar: Vieles von dem, was man zu wissen glaubt, verkehrt sich ins Gegenteil. Die Gruppe 47 war erstaunlich pluralistisch; Paul Celan hatte ihr seinen Erfolg zu verdanken; und wenn es eine Symbolfigur für die Mechanismen der Gruppe 47 gibt, heisst sie viel eher Hans Magnus Enzensberger als Günter Grass. Durch die Auswertung vieler bisher unbekannter Dokumente und Gespräche mit Zeitzeugen entsteht ein lebendiges Bild der Frühgeschichte der BRD: von den Schwierigkeiten, die Prägungen durch den Nationalsozialismus abzustreifen, bis zu einem neuen, prekären Wechselspiel zwischen Literatur, Markt und Mediengesellschaft, das bis heute anhält. Es ist an der Zeit, die Ursprünge kennenzulernen!Ausstattung: mit Abb.
Mit Leseband
Lese-Probe zu „Die Gruppe 47 “
Die Gruppe 47 von Helmut BöttigerEinleitung Literatur zwischen Markt, Macht und Medien
Ein Gespenst geht um im deutschen Literaturbetrieb - das Gespenst der Gruppe 47. Obwohl sie seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr existiert, geistert sie noch immer durch die Debatten: mal als Popanz, mal als Vorbild, mal als abschreckendes Beispiel. Was es mit ihr auf sich hatte, wissen die meisten allenfalls noch durch Gerüchte und meinungsstarke Thesen. Großen Einfluss auf die Art und Weise, wie über diese Autorenvereinigung gesprochen wird, hat zudem die Tatsache, dass einige ihrer Protagonisten im Grunde bis heute den literarischen Diskurs bestimmen. Wenn Günter Grass, Marcel Reich- Ranicki oder Martin Walser auftreten oder anderweitig ihre Ansichten kundtun, findet das immer noch den stärksten Widerhall in den Medien. Sie sind Debattenkönige, Auslöser für Streitgespräche und Artikelserien. Sie mögen polarisieren, aber ihnen gehört immer noch die Aufmerksamkeit. Man wendet sich von ihnen ab, längst hat man Haltungen der Ablehnung oder der Verachtung kultiviert, aber ihre Namen sind nach wie vor Markenzeichen. Noch als 80- bis 90-Jährige schaffen sie es eher, im Mittelpunkt zu stehen, als die meisten Protagonisten der Autorengenerationen danach. Der Verdacht liegt nahe, dass sie die Mechanismen ihrer öffentlichen Wirkung bei der Gruppe 47 gelernt haben. Denn dort wurde die Literatur zum Betrieb, die Gruppentagungen waren eine Art Praktikum für rhetorische Mittel, für moderne Kommunikationstechniken, für die Praxis der Vernetzung, noch ehe überhaupt die Begriffe dafür gefunden wurden.
... mehr
Die Ausgangsbedingungen hätten nicht idealer sein können: Man traf sich einmal, nur in den Anfängen auch zweimal im Jahr, drei Tage lang, und diese drei Tage waren der Katalysator des literarischen Lebens. Es gab keinerlei Konkurrenzveranstaltungen, keine Festivals oder sonstige Events - alles konzentrierte sich auf die jeweilige Tagung der Gruppe 47. Deshalb liegt es nahe, genauer hinzusehen, wie sich hier der Literaturbetrieb verdichtete, wie hier all das entwickelt wurde, was heute als selbstverständlich gilt - vor allem auch alle Aspekte der Medialisierung und Kommerzialisierung von Literatur. Es ist nicht überraschend, dass es eine Vielzahl von Studien und Analysen über die Gruppe 47 gibt. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrem Ende 1967 war sie ein viel diskutierter Gegenstand. Sie erzeugte eine unübersehbare Flut von wissenschaftlichen und von populären Arbeiten. Dabei wurde die immense Bedeutung der Gruppe für das gesellschaftliche und literarische Leben der Bundesrepublik als gegeben vorausgesetzt, man sezierte fieberhaft die diversesten Einzelaspekte. Merkwürdigerweise gibt es aber bis heute keine umfassende Gesamtdarstellung dieser Gruppe und ihrer Geschichte. Es mehren sich zwar polemische Zuspitzungen, aber neben der notwendigerweise gerafften Rowohlt-Monografie von Heinz Ludwig Arnold und seinem eher wissenschaftlich-systematisch ausgerichteten Göttinger »Text + Kritik«-Projekt existiert bisher kaum ein größer angelegter Versuch, die Gruppe 47 als Gesamtes zu betrachten. Dabei wäre es an der Zeit, die historische Distanz zu nutzen und die Gruppe 47 als hochinteressantes Phänomen nachzuzeichnen, als ein wichtiges Kapitel der Literaturgeschichte, ohne sofort in Parteigängertum oder hämische Ablehnung zu verfallen. Die Mitschnitte der Gruppendiskussionen, die in den Rundfunkarchiven liegen, wie auch die verdienstvolle Edition des Briefwechsels des Gruppenchefs Hans Werner Richter, die Sabine Cofalla 1997 vorgelegt hat, bieten schon seit geraumer Zeit eine solide Grundlage dafür.
Am entrücktesten ist mittlerweile wohl die gesellschaftliche Funktion, die die Gruppe gehabt hat und die heute vor allem mit der Person von Günter Grass identifiziert wird - mit jener Art moralischer Instanz, die er für sich in Anspruch nimmt. Man assoziiert mit der Gruppe 47 automatisch etwas sozialdemokratisch Leitartikelhaftes. Es blieb bei den Tagungen der Gruppe allerdings bis zum Schluss so, dass in den Diskussionen nur konkret über die gelesenen literarischen Texte verhandelt wurde. Es war ein Tabu, allgemein zu werden oder gar das Literatur zwischen Markt, Macht und Medien engere Feld des Literarischen zu verlassen. Ein ironisches Statement Helmut Heißenbüttels, das oft zitiert wird, schien sich vor allem gegen eine dominierende sozialdemokratische Moral zu richten: »Versuchte man, den Durchschnitt aller Stile der Autoren der ›Gruppe 47‹ zu bilden, käme der von Siegfried Lenz heraus.«1
Dabei war das vor allem ein listiger Versuch Heißenbüttels, von der Funktion abzulenken, die die Gruppe für ihn selbst gehabt hat. Denn er war seit 1955 bei den Tagungen dabei und galt früh als eine Art Maskottchen der Gruppe - als experimenteller Autor, der zum Teil komische und groteske Wirkungen erreichte. Heißenbüttel galt bald als der Vorzeigeautor der modernen, mit der Sprache als Material operierenden Poesie und nutzte dies auch, wie seine Aussage zeigt, offensiv als exklusives Markenzeichen - die Gruppe 47 aber war das einzig mögliche Forum für ihn. Es gab kein anderes für jemanden mit seinem Profil. Es ist durchaus von einem gewissen Aussagewert, wenn Joachim Kaiser in seinem Bericht über die Tagung im schwedischen Sigtuna 1964, die allgemein als der Höhepunkt der Außenwirkung der Gruppe 47 angesehen wurde, den Satz schrieb: »Heißenbüttel schloß die Sigtuna-Tagung triumphal ab.«2
Günter Grass war zwar durch seinen überragenden Erfolg mit der Blechtrommel der berühmteste Autor der Gruppe, aber durch ihn und durch den vor allem einem reportagehaften Realismus verpflichteten Gruppeninitiator Hans Werner Richter wurde überdeckt, dass sich bald ganz andere Tonlagen entwickelt hatten. Grass, Richter und die wenigen verbliebenen alten Getreuen um den Chef befanden sich schon zu Beginn der sechziger Jahre ästhetisch in der Defensive. Das geschah nicht nur durch das »Maskottchen« Heißenbüttel, sondern vor allem durch Autoren wie Peter Weiss, Reinhard Lettau, Jürgen Becker oder auch Alexander Kluge. Kluge, Mitautor des »Oberhausener Manifests« des jungen deutschen Films 1962, wurde von Richter noch im gleichen Jahr zur Gruppentagung in Berlin eingeladen und war von diesem Zeitpunkt an einer der profiliertesten Autoren auf den Tagungen; er stand, neben seinen ungewohnten und die Normen sprengenden Collage-Texten, auch für die frühe Verbindung zum Film. Dass mit Hubert Fichte, Peter O. Chotjewitz oder Peter Handke auch die ersten deutschen Pop-Autoren vertreten waren und heftig diskutiert wurden, sei hier nur am Rande vermerkt.
Die Gruppe 47 war immer widersprüchlich und heterogen. Sie war weit mehr als ihr Gründer Hans Werner Richter und kann in den in ihr vertretenen literarischen Positionen keineswegs mit ihm gleichgesetzt werden. Richter selbst hielt sich seit Mitte der fünfziger Jahre weitgehend mit ästhetischen Urteilen zurück und fungierte nur noch als Organisator, Herbergsvater und Diskussionsleiter. Dabei bekannte er manchmal auch, dass er mit den Texten, die die literarische Bedeutung der Gruppe 47 erst ausmachen sollten, nicht so viel anfangen konnte - Texte, die mit der unmittelbaren Aufarbeitung der Generations- und Kriegserfahrung seiner Altersgruppe nichts mehr zu tun hatten. Doch Richter und auch Grass stehen, je mehr die konkreten Kenntnisse über die wahren Abläufe verschwinden, umso stärker im Mittelpunkt der Urteile. Ein typisches Beispiel ist das Bonmot vom »sozialdemokratischen Realismus«, das Martin Mosebach in einer Rede vom September 2011 bei der Schwedischen Akademie in Stockholm verwendete.3 Das ist zwar hübsch pointiert, geht aber an den Texten, die in der Gruppe 47 in den fünfziger und sechziger Jahren als die zentralen diskutiert wurden, völlig vorbei. Dass sich in der Entwicklung der Gruppe 47 die Entstehung eines spezifischen bundesdeutschen Literatur betriebs abzeichnete, lag nicht zuletzt daran, dass hier zum ersten Mal wichtige neue literarische Stimmen zu vernehmen waren. Die ästhetischen Auseinandersetzungen, die auf den Tagungen geführt wurden, die Positionen, die dabei aufeinanderprallten, sind ein wichtiges kulturgeschichtliches Zeugnis für die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik. Selbst beim Umgang mit Schriftstellern wie Heimito von Doderer, Albert Vigoleis Thelen oder Paul Celan, die mittlerweile oft pauschal als Kronzeugen für die Beengtheit und Kurzsichtigkeit der Gruppe 47 genannt werden, muss das Urteil weitaus differenzierter ausfallen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird.
Zu einem eigenen Mythologem hat sich mittlerweile der Auftritt von Paul Celan bei der Frühjahrstagung 1952 an der Ostsee ent wickelt. Oft kolportiert worden ist eine unsägliche Attacke Hans Werner Richters, die sich in der Rezeption schnell verselbständigt hat. Dieses Thema ist sehr komplex. Hier sei aber schon darauf hingewiesen, dass das Hauptproblem für Celan keineswegs die Gruppe 47 war. Außer Blick geraten ist in späteren Darstellungen, dass Celan genau registrierte, woher die aggressivsten Angriffe gegen seine Lyrik und seine Person kamen: von jenen einflussreichen Kritikern nämlich, die so etwas wie das Establishment darstellten und gleichzeitig als die heftigsten Gegner der Gruppe 47 in Erscheinung traten. Zwei Namen sind hier vor allem zu nennen: zum einen Günter Blöcker, dessen antisemitischer Verriss des Gedichtbands Sprachgitter 1959 zum wichtigsten Katalysator in Celans Verhältnis zum deutschen Literaturbetrieb wurde.4 Zum anderen Hans Egon Holthusen: Er veröffentlichte in den sechziger Jahren einen zweiten folgenschweren Verriss Celans voller Ressentiments und mit einem engstirnigen Lyrikverständnis.5
Die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit zeigten sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik überall - sosehr man sie auch zu verdrängen versuchte. Auch die Mitglieder der Gruppe 47, so unbeteiligt sich die meisten wähnten, waren davon geprägt. Man muss die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Autorenvereinigung sehr ernst nehmen: Sie durchlief sehr widersprüchliche Prozesse. Durch die marktbeherrschende Stellung der Gruppe 47 in den sechziger Jahren geriet aus dem Blick, dass sie bis Mitte der fünfziger Jahre eher unbedeutend war. Da herrschte noch eine ganz andere Stimmung, eine Form von »Hochkultur«, die dem »deutschen Geist« als etwas unbeschädigt Gebliebenem huldigte und in der religiöse Metaphern eine Hauptrolle spielten. Die Autoren, um die es damals hauptsächlich ging, hießen Hans Carossa, Ernst Wiechert, Werner Bergengruen, Stefan Andres oder Rudolf Alexander Schröder. Auf allen Feldern war die personelle Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus unverkennbar, in der Politik wie in der Literatur. Offen nationalistische und antisemitische Töne waren im gesellschaftlichen Alltag bis hinauf in Ministerränge und die Führungsgremien der Akademien nichts Ungewöhnliches. Und auch die Anfänge der Gruppe 47 waren von jener deutschen Sprache durchdrungen, die der Nationalsozialismus bis ins Detail geprägt hatte. In der von Alfred Andersch und Hans Werner Richter gegründeten Zeitschrift Der Ruf, die so etwas wie die Keimzelle der Gruppe 47 darstellt, spürt man diese Einflüsse deutlich, und gerade in der Person von Alfred Andersch sind noch lange Zeit verschiedenste Einflüsse virulent: Er verehrte Ernst Jünger genauso wie Jean-Paul Sartre oder amerikanische Romanciers im Stile William Faulkners oder Thomas Wolfes.
Die Gruppe 47 war jedoch eines der wenigen Foren - und für Literatur im Grunde das einzige -, das abseits der offiziellen Sprachregelungen und Ressentiments neue Formen von demokratischer Öffentlichkeit einübte. Wie schwierig dieser Prozess war, kann man nur erkennen, wenn man sich die Rahmenbedingungen vergegenwärtigt. Im Umgang mit dem eigenen Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus zeigten sich die Unterschiede am deutlichsten. Frank Thiess zum Beispiel, ein völkisch-nationalistischer Bestsellerautor der damaligen Zeit und einer der dominierenden Literaturfunktionäre, stilisierte sich als großes Naziopfer, während Günter Eich als einer von wenigen der in Deutschland Verbliebenen von Anfang an zugab, kein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Auch in der Gruppe 47 waren die spezifisch deutschen Traumata, Ideologien und Verdrängungen anzutreffen. Bei den trotzig-selbstgefälligen älteren »inneren Emigranten« wie bei den jungen Landsern der Gruppe 47 gab es zudem eine prekäre Gemeinsamkeit: nämlich einen Affekt gegen die Emigranten, die vor den Nazis ins Ausland geflohen waren. Doch auch in diesem Punkt ist die Entwicklung in der Gruppe 47 nicht auf einen Nenner zu bringen. Richter lud zum Beispiel Walter Mehring, mit dem er ästhetische Gemeinsamkeiten hatte, durchaus zu einer Gruppentagung ein - es war aber ausgerechnet der blutjunge, von der Kritischen Theorie Adornos affizierte Joachim Kaiser, der den Emigranten Mehring dann während der Gruppendiskussion verprellte. Dass Richter die Emigranten fast programmatisch von der Selbstfindung der jungen, noch völlig unbekannten Gruppe 47 ausschloss, lag zum einen am Generationsunterschied, zum anderen an einer unterschiedlichen Definition der Rolle des Schriftstellers. Die Entwicklung der Beziehung Hans Werner Richters zum namhaften und in den Medien gut vernetzten Hermann Kesten ist durchaus symptomatisch. Ernst zu nehmen sind dabei die Erfahrungen, die Richter während seines eigenen, knapp einjährigen Exils in Paris Mitte der dreißiger Jahre gemacht hatte: Die Selbstzerfleischung der demokratischen und linken Kräfte, die Kämpfe der Emigranten untereinander wirkten auf ihn abschreckend; er hatte einen Affekt gegen die polemischen Usancen am Ende der Weimarer Republik.
Hier lag auch sein Hauptmotiv dafür, weshalb die Gruppe 47 auf eine rein literarische Diskussion beschränkt sein sollte. Paradoxerweise trug aber gerade ihre gesellschaftspolitische Funktion erheblich zu ihrer Wirkung bei. Es wirkt im Rückblick fast zwangsläufig, dass diese 1967 überholt schien; die Gruppe 47 hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Zweck erfüllt. Was sie aus heutiger Sicht aber immer noch aktuell macht, ist ihr Anteil an der Ausformung des literarischen Marktes. Dies war ein Aspekt, den Richter am Anfang nicht so recht überblickte, obwohl er als hochbefähigter Funktionär und Taktiker die Bedeutung der Medien erkannte und früh begann, Netzwerke zu knüpfen. Der literaturpolitische Erfolg der Gruppe 47, der mit Grass' Blechtrommel- Auftritt 1958 furios begann, überrollte Richter jedoch förmlich - kurz vorher hatte er noch daran gedacht, sich von der Literaturszene zurückzuziehen und sich ausschließlich gesellschaftspolitischen Tätigkeiten wie der außerparlamentarischen Opposition und dem »Kampf gegen den Atomtod« zu widmen. Als gewiefter Aktivist erkannte er dann allerdings sofort die Möglichkeiten, die der wachsende Einfluss der Gruppe 47 auch auf allgemeine bundesdeutsche Debatten und auf die eigene Rolle als Multiplikator mit sich brachte.
Die Erfindung des bundesdeutschen Literaturbetriebs, die aus anfangs intern geführten Werkstattgesprächen heraus geschah, ist das, was in allererster Linie von der Gruppe 47 geblieben ist. Hier wurden Literatur und Medien zueinander in Bezug gesetzt, hier entwickelten sich die Mechanismen von Erfolg und Misserfolg, von öffentlicher Resonanz. Und von daher ist es auch weniger Günter Grass, der als personifiziertes Symbol für die Gruppe 47 stehen könnte, sondern viel eher Hans Magnus Enzensberger. Ohne die Bühne der Gruppe 47 hätte sich Enzensberger nicht so virtuos seine unverwechselbare Medienpraxis aneignen können. Er stieß bereits 1955, als 25-Jähriger, dazu, und hier konnte er direkt umsetzen, was er schon früh in der Theorie als das wichtigste Pfund des zeitgenössischen Schriftstellers erkannt hatte: den Umgang mit der Öffentlichkeit. Er setzte dabei Zeichen, die bis heute in den Feuilletons gelten, er lieferte mit seinen Selbstdarstellungen, seinen Volten, seinen Debattenbeiträgen als Avantgardist des Zeitgeistes ständig die Maßstäbe für das Agieren bundesdeutscher Intellektueller. Enzensberger war zwar früh geprägt von der Kritischen Theorie Adornos, wollte aber dessen Analyse der »Kulturindustrie« nicht kampflos hinnehmen, sie war ihm zu »kulturpessimistisch «. Seine forcierte Auseinandersetzung mit dem, was er in Fortführung von Adorno »Bewusstseinsindustrie« nannte, hatte den Sinn, die Medien benutzen zu lernen, »sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen«6 und sie im Sinne des Autors zu instrumentalisieren. Enzensberger wurde so zum Rollenvorbild für heutige Kulturjournalisten. Er witterte über Jahrzehnte hinweg immer als einer der Ersten, was in der Luft lag, und ist bis heute unumstritten ein Häuptling des Getümmels. In Enzensberger hatte die Gruppe 47 literaturpolitisch
ihren besten Schüler.
In der Gruppe 47 und in ihrem Umfeld erlebte man zum ersten Mal, dass Literaturtreffen zu »Events« werden konnten. Die von Walter Höllerer nach 1960 in Westberlin veranstalteten Lesereihen, unter anderem in der Kongresshalle, gingen in die Offensive und brachten eine neue Dimension in die Vermittlung und Rezeption von Literatur: Hier war zum ersten Mal das Fernsehen dabei, hier wurden neue Formen der Präsentation erprobt, hier ließen sich Autoren öffentlich von Moderatoren befragen - etwas, was damals noch sehr ungewohnt und gewöhnungsbedürftig war. Der Literaturbetrieb erlebte eine unvorhergesehene Konjunktur.
Von diesem widersprüchlichen Prozess soll im Folgenden berichtet werden. Nach dem Ende der Gruppe 47, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, gab es in den Feuilletons ein immer wiederkehrendes Ritual, nämlich die Frage: Brauchen wir wieder eine Gruppe 47? Das Ende dieser Institution hinterließ im Betrieb eine große Lücke, es existierte ein merkwürdiger Phantomschmerz, und alle paar Jahre wiederholte sich diese Diskussion, oft mit einem Pro- und Kontra- Artikel als Vorläufer des heutigen Debattenfeuilletons. Marcel Reich- Ranicki inszenierte den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bewusst in Anknüpfung an die Traditionen der Gruppe 47, Günter Grass organisierte den von ihm gestifteten Alfred-Döblin-Preis in Form von Werkstattlesungen und -diskussionen original getreu im Sinne Hans Werner Richters, und noch 1995 erschien ein Band mit »55 Fragebögen zur deutschen Literatur«, in dem zeitgenössische Schriftsteller gefragt wurden: »Brauchen wir eine neue ›Gruppe 47‹?«7 Ungefähr zur selben Zeit veröffentlichte der Autor Hermann Kinder eine Streitschrift, in der die Gruppe 47 als Modellfall dafür beschrieben wurde, wie die Platzhirsche des Literaturbetriebs die nachkommenden Autoren förmlich erdrückten - auch lange nach ihrem Ableben schien sie immer noch existent zu sein.8
Das vorliegende Buch braucht indes an den emotionalen Auseinandersetzungen um die Gruppe 47 keinen Anteil mehr zu haben. Es beschreibt die Gruppe 47 aus einem mittlerweile unverkenn baren Abstand heraus - als ein historisches Phänomen, mit all seinen wichtigen und zum Teil auch zwiespältigen Folgen. Natürlich war dieses Phänomen unmittelbar zeitverhaftet und ist keineswegs direkt anschlussfähig an heutige literarische Praktiken. Aber einen gewissen Nachhall gibt es gelegentlich immer noch. So stellte Sibylle Lewitscharoff, eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen, 2011 in einer Fernsehdiskussion über Filmausschnitte von der Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1963 fest: Diese Schriftsteller seien damals »wirklich davon durchdrungen gewesen, dass das Wort Gewicht hat, dass es überhaupt so etwas wie moralische Hintergrundprinzipien des Schreibens gibt«. Und: »Die Zeit ist vorangeschritten. Das kann man im Übrigen bedauern. Als Schriftsteller ist es ja nicht schön, in Systeme, die unglaublich multipel und divers sind, hineinzuschreiben. Wenn ich die Wahl hätte, offen gestanden: Ich wär lieber da dabei ...«9
Die Frage, ob man eine neue Gruppe 47 braucht, stellt sich heute schon lange nicht mehr. Aber manchmal taucht sie unvermutet wieder auf, wie ein Gespenst, von Mythen befrachtet, heftig attackiert oder nostalgisch verklärt. Insofern lohnt es sich durchaus, noch einmal genauer hinzuschauen: noch einmal zu fragen,was es mit dieser Gruppe auf sich hatte, die die Literaturgeschichte der Bundesrepublik so nachhaltig geprägt hat.
Vorspiel
Die Hex vom Bannwaldsee
Dort, wo die Gruppe 47 gegründet wurde, steht heute ein Campingplatz. Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel, das ein gutes Dutzend unbekannter Schriftsteller nach vielen Mühen im September 1947 erreichte und das im Briefkopf als »Gut Bannwaldsee« firmierte, ist ein niedriger, knapp zweistöckiger Bau mit sehr schrägen Wänden unter dem Dach. Heute wohnt dort die Betreiberin des Kiosks, der die Camper am Bannwaldsee versorgt, und es ist sorgsam mit einem Holzzaun versehen. Damals allerdings muss das Haus einen ganz anderen Eindruck gemacht haben, es stand völlig allein am See, wie eine Villa, und die Bewohnerin wohnte dort ebenfalls allein. Noch viele Jahre später geisterte sie als die »Hex vom Bannwaldsee« durch die Dorfgespräche im benachbarten Schwangau - eine geheimnisvolle, fremdartige Frau, die irgendwie künstlerisch tätig zu sein schien und mit den Leuten im Ort kaum etwas zu tun hatte. Selbst über ihr Geburtsjahr schwankten die Angaben - 1910 oder doch 1903? -, aber die hochgewachsene Frau hatte im Jahr 1947 offenkundig etwas Jugendlich-Altersloses an sich und löste ungewisse Ängste und Abwehrmechanismen aus. Sie fuhr mit wehenden langen Haaren auf einem Motorrad herum; sie lackierte ihre Fingernägel mit roter Farbe; sie trug ziemlich ausgefallene Kleider und, was in dieser Zeit und in dieser Gegend für eine Frau noch äußerst ungehörig war, lange Hosen, dazu viel und auffälligen Schmuck. Und die Männergeschichten, die sie in den Wirtshausgesprächen zwangsläufig haben musste, entfalteten naturgemäß ihre Eigendynamik.
Im Juli 1947 traf Ilse Schneider-Lengyel bei einem Schriftstellertreffen auf einem Adelssitz im oberbayerischen Altenbeuern unter anderem Hans Werner Richter, dem die ganze Veranstaltung nicht gefiel - man müsse so etwas anders machen, jünger, kritischer. Fraglich war für ihn nur der Ort - in der Nachkriegs- und Besatzungszeit galt es zu improvisieren. Für Ilse Schneider-Lengyel war es keine Frage, dass dieses Treffen bei ihr stattfinden könnte: Sie besaß das Haus am See samt Grundstück, und sie hatte auch die Fischrechte, was für die Verpflegung äußerst notwendig sein würde. 1945 war ihr Vater, ein bayrischer Oberforstmeister, gestorben. Sie hatte alles geerbt und war
an den Bannwaldsee bei Füssen gezogen - nach einigen Jahren ethnologischer und künstlerischer Studien. Das »Andersartige«, das in den wenigen Erinnerungen an diese Frau immer wieder auftaucht, hat auch etwas mit ihrer Biografie zu tun: Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten floh sie aus Berlin nach Frankreich und bewegte sich dort in den Kreisen der surrealistischen Bewegung.
Ihre erste künstlerische Ausbildung erhielt sie in den zwanziger Jahren an der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins in Berlin. 1 Dort entwickelte sie ein ausgeprägtes Interesse für das Fotografieren von Kunstwerken, besonders von Skulpturen. Daneben studierte sie Kunstgeschichte und Ethnologie, fand Kontakt zu den Protagonis-
Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee, ungefähr zur Zeit des Geschehensten des Bauhauses und lernte dabei den ungarisch-jüdischen Architekten und Maler Lászlo Lengyel kennen, den sie heiratete. Im Pariser Exil arbeitete sie als Fotografin für Zeitschriften, veröffentlichte aber auch etliche Kunstbände: über kultische Masken etwa, über griechische Terrakotten oder Michelangelo, Donatello und Rodin. Nach der Besetzung Frankreichs änderte sich die Pariser Kunstszene spürbar. Ilse Schneider-Lengyel kam immer öfter an den elterlichen Bannwaldsee und trennte sich schließlich auch von ihrem Ehemann. Ein Gerücht besagt, sie habe ihm sogar eine neue Frau besorgt.
Im Nachlass von Hans Werner Richter befindet sich eines ihrer künstlerischen Hauptwerke: Die Welt der Maske, 1934 im Piper-Verlag in München erschienen - ein weit gespanntes Panorama der menschlichen Verfremdungs- und Verstellungsrituale, über alle Kontinente hinweg, das vor allem von den vielen überraschenden Abbildungen lebt. Die Widmung an Richter überrascht weniger durch ihre Formulierung - »Für Hans Werner Richter herzlichst die Verfasserin, September 1948« -, sondern durch ihre Form: handschriftlich ausgeführte Druckbuchstaben, penibel geradlinig, fast wie mit einer Schablone geschrieben; eine unpersönlich wirkende, objektivierende Schrift. Und die Gedichte, die sie auf dem Schriftstellertreffen am Bannwaldsee vortrug, wirkten ebenfalls wie aus einer anderen Welt. 1952 erschien ihr Lyrikbändchen September-Phase in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe »studio frankfurt«, in der fast gleichzeitig auch das Debüt Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann herauskam. Im Almanach der Gruppe 47, der 1962 auf dem Höhepunkt des Einflusses dieser Schriftstellervereinigung veröffentlicht wurde, findet sich als erstes der fünf abgedruckten Gedichte Schneider-Lengyels das folgende:
Wort
sprechunfähig fliegen die hexen aus den häusern
der eisenriegel der hütten kommt aus dem boden
man schütze sich gegen die hauchlosen lider
der wenn-wölfe das wort ist ein unerklärliches
geräusch krank wurde der mensch daran
Die Hex vom Bannwaldsee
Nur von fern scheinen die »hexen« dieses Gedichts eine Reaktion auf die Zuschreibungen der unmittelbaren Nachbarn Ilse Schneider-Lengyels zu sein, der Bauern in Schongau. Das Ganze ist viel eher ein Spiel, das die Autorin aus dem Paris der Surrealisten mitgebracht hat und für das im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit jede Grundlage und jegliches vorstellbare Umfeld fehlten. In der Nullnummer der nie erschienenen Zeitschrift Der Skorpion, die Hans Werner Richter in dieser Zeit konzipierte, schreibt Schneider-Lengyel über »Jean Paul Sartre, den Surrealismus und die Antisartristen«, und sie stellt fest, dass der Surrealismus »sich sartriert« habe: »Die Heideggersche Philosophie hat in Frankreich rostrote Blüten getrieben. Ein Herbst war bereits angebrochen. Dieser Herbst lag im Sturm zwischen einer zerstörten Wahrheit und einer noch nicht vorhandenen: Tabula rasa.«2
Masken, Bücher und Bilder bestimmten das Haus dieser schwer greifbaren, exotischen Frau, wie in mehreren Schilderungen nachzulesen ist. Und dass sie ihr Motorrad in jedem neuen Frühling mit einer neuen Farbe lackierte, irritierte die Füssener Landbevölkerung genauso, wie ihre surrealistischen Gedichte die Gruppe 47 irritierten: Sie nahm an den ersten sechs Treffen der Gruppe teil und dann noch einmal 1957. Als ferne Erinnerung geisterte sie auch durch die spätere Gruppengeschichte. Nicolaus Sombart war bereits am Bannwaldsee dabei: »Es hatte uns begrüßt eine grazile, dunkelhäutige Frau mit etwas schräggestellten Augen und dichtem, langem, schwarzem Haarschopf, in den ein buntgewebtes Band geflochten war. Eine Zauberin, wie sich herausstellte, der es gelang, diesen wilden Haufen, der da in ihr Reich hereinbrach, mit einem sanften, mysteriösen Lächeln zu bändigen. Sie hätte Melusine heißen müssen. (...) Sie war völlig anders als wir alle, eine für unsere damaligen Maßstäbe ganz undeutsche Erscheinung, ein Wesen, das einer fremden kosmopolitischen Kultursphäre angehörte. Sie war eine Frau ohne festen Wohnsitz und ohne feste Identität, flüchtig, heimatlos, unfassbar, undinenhaft.«3
Der avantgardistische Zeitschriftenmacher und Kleinverleger Rainer M. Gerhardt, der mit seiner Anknüpfung an die US-amerikanische Avantgarde seiner Zeit weit voraus war und ein radikal modernistisches Literaturkonzept verfolgte, annoncierte in seiner Reihe »galerie ubu« als Nummer 2 Indianische Malerei, »herausgegeben von Ilse Schneider-Lengyel«, und 1954 kündigte er von derselben Herausgeberin eine Veröffentlichung an, die einfach Puppen hieß. 1957, als sie zum letzten Mal bei der Gruppe 47 erschien, nahm der Berliner Kurier noch einmal Notiz von ihr: »eine begabte Übersetzerin von Negerlyrik, Bewunderin der wilden Tiere und des Dschungel und Trägerin von exotischem Schmuck, mit dem sie, reich versehen, auch jetzt wieder erschienen war«.4 Doch danach taucht Ilse Schneider-Lengyel in der Literaturgeschichte nicht mehr auf.
In den sechziger Jahren besuchte sie mehrfach der junge, 1948 in Pfronten geborene Gerhard Köpf, der in Füssen aufs Gymasium ging - für einen versprengten, einsamen Literaturinteressierten in der näheren Umgebung barg die Existenzform Ilse Schneider-Lengyels gerade in dieser Zeit offenkundig ein großes Versprechen. In seinem Debütroman Innerfern aus dem Jahr 1983 beschreibt Köpf die Begegnung mit der fremden, anziehenden, andere Lebenswelten verkörpernden Frau, seiner »Jugendfreundin«, wie er sie rückblickend nennt. Und obwohl er seine Erinnerungen fiktiv einbettet - Ilse Schneider- Lengyel wird im Roman zur Kunstfigur »Karlina Piloti« -, gewinnt die reale Vorlage immer wieder deutliche Konturen: »Karlina trägt eine auffallend bunte, mit großem Fischgrätenmuster versehene Hose, deren untere Beine vom Knie an weit ausgestellt sind. Bügelfalte ist keine mehr da. An der Naht baumeln dafür links und rechts winzige Glöckchen, die bei jeder Bewegung, bei jedem der schnellen Schritte, einen fremden Klang hören lassen. Sie habe diese Hose, auf die hin man sie gelegentlich anspreche, aus Mexiko mitgebracht, daher auch die mexikanischen Stickereien, die mir erst jetzt auffallen. Ich finde die Kleidung einfach toll, großartig, überdies höchst riskant in dieser Gegend. Die Roana, ein ponchoähnliches Tuch mit kurzen Fransen, aus braungrauer Lamawolle mit unauffälligem Mäandermuster, das sie um die Schultern geworfen trägt, stamme aus Bolivien. Dazu ein andermal mehr.«5
Am 2. September 1947, eine Woche vor dem Treffen, schreibt Hans Werner Richter an Ilse Schneider-Lengyel: Wenn es ein oder zwei Personen mehr als die vorgesehenen zehn werden sollten, seien er und ein von ihm vielleicht mitgebrachter »Dr.« vom Münchner Rundfunk »bereit, irgendwo auf dem Fußboden oder Heuboden zu schlafen. Das wird wahrscheinlich allen Teilnehmern wenig ausmachen.«6 Und er erinnert sich im Nachhinein in verwischten schwarz-weißen Sprachbildern, wie die Teilnehmer der Tagung von München aus zum Bannwaldsee reisten - man trieb im oberbayrischen Weilheim, weil es dort keinen Zug für die Weiterfahrt gab, einen alten Lkw mit Holzvergaser auf, der mehr schaukelte als fuhr, und saß auf der offenen Tragefläche.
Als man endlich am Ziel angekommen war, sprang Isolde Kolbenhoff sofort nackt in den See, worauf sich einige der zukünftigen Dichter schamhaft umdrehten, wie die Teilnehmerin Freia von Wuehlisch in ihren Tagebuchnotizen festhielt, andere dagegen mit »Wohlgefallen« der »jungen Venus« nachblickten.7 Die ländliche Umgebung, Schloss Neuschwanstein und Schloss Hohenschwangau fast im Blickfeld, muss auf die Beteiligten sehr stimulierend gewirkt haben. Maria Friedrich, die Ehefrau des späteren dtv-Verlegers Heinz Friedrich, hat als Einzige über dieses erste Treffen der Gruppe 47 in der Presse berichtet: in einer kurzlebigen Frankfurter Gazette namens Die Epoche, und zwar unter ihrem Mädchennamen Maria Eibach. Ilse Schneider-Lengyels Anwesen wird dort nicht von ungefähr als »Fischgut« bezeichnet. Denn die Fische waren in dieser ausgehungerten Zeit vor allem für die Großstädter ein herausragendes Erlebnis. Walter Kolbenhoff erinnert sich etliche Jahre später: »Am Bannwaldsee angekommen, sahen wir das Haus, in dem wir alle schlafen sollten, ein einsam am See gelegenes kleines Haus. Wie wir die Nacht verbracht haben, weiß ich nicht, die meisten schliefen auf dem Boden, Richter als Häuptling natürlich kriegte ein Bett. Aber wir schliefen auf dem Boden. Dann kam das zweite Problem. Schlecht ausgeschlafen, hungrig, immer noch müde, wollten wir frühstücken. Was? Da hatte Frau Schneider-Lengyel für gesorgt, die war schon um vier Uhr aufgestanden, auf'n See rausgerudert und hatte Hechte und Barsche, und ich weiß nicht, wie die Fische heißen, gefangen. Die wurden gebraten, dann aßen wir jeder ein Stück Fisch, das war das erste Frühstück der Gruppe 47.«8 Und Hans Werner Richter, aus Bansin auf der Ostseeinsel Usedom, spricht wiederholt von den Hechten, die er als eine »Delikatesse« empfand -neine »ungewohnte, langentbehrte Mahlzeit«: »Noch bestand die tägliche Ration aus 1800 Kalorien, noch hatten viele wenig und oft nichts zu essen, noch war die Zeit der Reichsmarkscheine, die keinen Wert mehr besaßen, aber noch war auch alles ungeklärt, und niemand wußte, wohin der Weg morgen oder übermorgen führen würde.«9
Die Gastgeberin fuhr nicht nur morgens um vier Uhr auf den See hinaus, um Fische zu fangen. Sie brachte auf ihrem alten Motorrad auch einen Sack Kartoffeln, den sie schwarz in Füssen besorgt hatte. Und Maria Friedrich geb. Eibach schrieb gegen Ende ihres kurzen Artikels: »Als es fast wieder Tag wurde, las Schneider-Lengyel ihre surrealistischen Gedichte und brachte mit ihnen einen eigentüm lichen Faktor in den Arbeitskreis hinein. Sie vermittelte dem erstaunten Ohr schillernde Eindrücke, die noch lange nachzuschwingen vermochten. «10 Eine Erkenntnis jedenfalls war eindeutig: Während der zwei Tage am Bannwaldsee entwickelte sich eine Dynamik aus Lesen, Kritisieren und Sprechen, eine Mischung aus dem Barackenleben gerade erst vergangener Zeiten und dem bohemeartigen Vorgefühl eines kommenden Lebens. Der intensive Austausch schien auch durch die Abgeschiedenheit der Szenerie erst so richtig möglich geworden zu sein. Die Entrücktheit der Kunst- und Lebenswelt von Ilse Schneider- Lengyel konnte als Maßstab dienen - sie trat so zwar nicht mehr in Erscheinung, aber Hans Werner Richter suchte für die folgenden Treffen immer wieder solche entlegenen Orte, mitten in der Provinz, abseits der großen Städte aus. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1948, fand das dritte Treffen der jetzt »Gruppe 47« genannten Vereinigung in Jugenheim an der Bergstraße statt, und Richter notiert auf einem späteren Blatt, dass vor allem diese Frühjahrstagung in der Pfalz für ihn die Erinnerung an eine unwiederholbare Boheme wachrufe, trotz der Kritik, die dabei an ihm als Autor geübt wurde: »eine Tagung, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann: bohemehaft, schlampig, getragen von dem überschäumenden Lebensgefühl der ersten Nachkriegsjahre, mit den Hoffnungen dieser Zeit (...)«.11
Ruth Rehmann, die in den fünfziger Jahren zur Gruppe 47 stieß, beschreibt in ihrem autobiografisch geprägten Roman Ferne Schwester aus dem Jahr 2009 in einigen atmosphärisch sehr dichten Passagen, woraus sich dieses Bohemegefühl speiste. Die 1922 geborene Autorin lässt ihre Heldin, eine Sängerin, nach Kriegsende durch Deutschland streifen, und in Heidelberg stößt sie bei der Jobsuche auf ein Bartrio, die »Students«, die von der US- Army angeheuert werden, in »für US-Offiziere reservierten Etablissements« aufzutreten: »Kein Vorher, kein Nachher, keine Tiefe, nichts Gemeinsames außer ein paar Stunden Musik in einem der Wirklichkeit abgehobenen, ausgepolsterten Raum, in dem bei sanfter Beleuchtung gegessen, getrunken, getanzt wird, während draußen der Curfew die Straßen leerfegt. (...) Draußen, in der großen Unordnung zwischen Nicht-mehr-Krieg und Noch-nicht- Frieden, haben sie nichts miteinander zu tun. Jeder muss sehen, wie er zurechtkommt. Das Ineinanderstürzen von Endkriegs-Chaos und Besatzerordnung bringt irrwitzige Formen und Situationen hervor, darunter, wie Ostereier versteckt, Momente märchenhafter Leichtigkeit, in denen alles, alles möglich erscheint.«12
Das passt zu dem Ton, den Gerhard Köpf in seiner Erinnerung an Ilse Schneider-Lengyel aufnimmt, die exotische Künstlerin am Bannwaldsee: »Sie erzählt von den Masken, erklärt und deutet, berichtet von Reisen und vom Fotografieren, welches sie eine Kunst nennt, die höchste Geduld fordere. Um die Eigenart der Maskenkunst zu begreifen, höre ich, müsse ich das pantomimische Element besonders beachten: Innenbewegung und Spannung, gröber und leiser schwingend, an- oder abschwellend, seien wichtig, der Rhythmus bringe durch Ilse Schneider-Lengyel mit Fischreuse am See Spannung und Lösung formale Ordnung in die Gesichtszüge.« Und sie zeigt ihre Fotografien von Tänzerinnen auf griechischen Terrakotten: »Karlina Piloti spannt einen Bogen, auf dessen einer Seite ihr Motorrad, auf der anderen die grazilen Bewegungen der Tänzerinnen stehen. Geschwindigkeit und Flug, Bewegung und Anmut, höre ich sie schwärmen.«13
Bis 1950 war diese Exotin bei den Treffen der Gruppe 47 fast immer die einzige Frau. Doch sehr schnell stellte sich heraus, dass sie eine Außenseiterin blieb. Albrecht Knaus etwa schrieb in der Neuen Zeitung über die Frühjahrstagung 1950 in Inzigkofen: »Ilse Schneider- Lengyels Übersetzungen von Dichtungen australischer, indonesischer und amerikanischer Naturvölker riefen die erste ernste Diskussion über das Problem solcher Unternehmungen hervor. Ihre Erzählung ›Der Nomade‹, ein Prosastück von einer unheimlichen Dichte, aus einer höchst fragwürdigen Vorstellungswelt stammend, die etwa an Illustrationen von Max Ernst erinnert, war ebenfalls umstritten.«14
Ilse Schneider-Lengyel musste das Haus 1958 verkaufen, an einen Fabrikanten, der ab und zu kam und das Erdgeschoss in Beschlag nahm, während der ursprünglichen Besitzerin das Obergeschoss mit den Dachschrägen blieb. Irgendwann verliert sich ihre Spur. Dass sie 1972 im psychiatrischen Landeskrankenhaus auf der Insel Reichenau im Bodensee starb, ist die letzte fassbare Nachricht.
»Wir harren, Christ, in dunkler Zeit.«
Die allgemeine literaturpolitische Situation im Nachkriegsdeutschland
Der französisch-elsässische Germanist Robert Minder war sichtlich verblüfft, als er im Jahr 1952 die aktuellen westdeutschen Lesebücher untersuchte: »Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher in die Hände, er dächte: Ein reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahrhunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.«1
Robert Minder war beileibe kein Polemiker. Er hielt einfach fest, was die Atmosphäre dieser Zeit ausmachte, was tonangebend war. Und in den ersten Jahren nach 1945 stand die soeben zurückliegende, industriell aufgerüstete Barbarei keineswegs im Vordergrund. Von der Erfahrung eines Zivilisationsbruchs durch die Nazis war kaum etwas zu spüren, es gab wenig Spuren, die auf eine deutsche Schuld hindeuteten. Die wichtigsten unter den deutschen Schriftstellern waren vor den Nationalsozialisten geflohen und lebten immer noch im Exil. Doch auch im NS-Staat waren literarische Texte geschrieben worden. Und deren Autoren waren alle noch da.
Sie traten nach der Währungsreform 1948 wieder in den Mittelpunkt, als nicht mehr ausschließlich die Besatzungsmächte die literarischen Neuerscheinungen lizenzierten und finanzierten. Die blühende Zeitschriftenszene der unmittelbaren Nachkriegsjahre verwelkte nach 1948 sofort. Die Generation der etwa 50- bis 70-Jährigen beherrschte jetzt die Zeitungen und den Buchmarkt. Sie nahm nahezu geschlossen eine »innere Emigration« für sich in Anspruch. Viel ist nun von den »Dämonen« die Rede, von der »dunklen Zeit«, von »Heimsuchung«.
Gertrud von le Fort dichtete: »Die Schuld ist ausgeweint.«2 Als der größte zeitgenössische Lyriker galt Rudolf Alexander Schröder. Er war der Repräsentant der deutschen Gegenwartsliteratur und hielt fast jeden feierlichen Festvortrag. Am Silvesterabend 1951 wurde seine »Hymne an Deutschland« anlässlich der Neujahrsansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss in den Rundfunkanstalten gesendet, die nach dessen Willen auch die neue Nationalhymne werden sollte, und die erste Zeile enthält schon das ganze Credo: »Land des Glaubens, deutsches Land.« Schröders religiöse Dichtung drückte das deutsche Selbstgefühl um 1950 ideal aus. Seine Geistlichen Gedichte bestimmten die Feuilletons und waren ein Bestseller: Wir harren, Christ, in dunkler Zeit. Gib deinen Stern uns zum Geleit auf winterlichem Feld. Du kamest sonst doch Jahr um Jahr! Nimm heut auch unsre Armut wahr in der verworrnen Welt.3
Am wichtigsten war den Deutschen der deutsche »Geist«, der trotz des Hitlerregimes immer noch existiere. Das sahen die Emigranten naturgemäß etwas anders. Irmgard Keun schrieb 1947 in einem Brief aus Deutschland nach New York: »Der ganze Boden in Deutschland stinkt nach Mord und Leichen, und nun zieht sich ein Schleim von Frömmigkeit darüber hin. In der Ostzone beten sie anders herum.«4
Zur zentralen Symbolfigur wurde Thomas Mann. Zum Wortführer seiner Gegner schwang sich sofort nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der Schriftsteller Frank Thiess auf. Er veröffentlichte am 18. August 1945 in der Münchener Zeitung einen programmatischen Text mit dem Titel »Die innere Emigration« und der viel zitierten Passage, wonach die Exilanten »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschauten«. Der wohl eindrucksvollste Beleg für das Verhältnis der meisten Deutschen zu Thomas Mann ist aber der Geburtstagsartikel, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 6. Juni 1950 als Aufmacher im Feuilleton druckt - pünktlich zum 75. Geburtstag des Schriftstellers. Der Verfasser ist Gerhard Nebel: »Es geht nicht an, in Geburtstags-Sentimentalität zu vergessen, was uns von Thomas Mann scheidet. Er tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen, und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut. Dieser Schriftsteller ist eine Linse, die die Strahlen der Partisanen-Bosheit sammelt - aber freilich einer besonders gearteten. Wie seinem Werk, seinem Denken, seiner Sprache alles Elementare fehlt, so ist auch dieser Haß kein flackerndes, sondern ein schwelendes Feuer, Vernichtungslust in Form von moralischen Urteilen, kein freier Ausbruch, sondern ein Würgen des Kloßes, der sich in der Kehle verklemmt hat. Zudem ist der Haß weltgeschichtlich nicht mehr aktuell, er gilt einer untergegangenen Gestalt des globalen Bürgerkrieges, in dem wir stehen, er ist Thomas Manns private Lust.«
Gerhard Nebel war mit dieser Tonlage nicht allein. Es gab fast ein Unisono. Eine Formulierung Thomas Manns fachte besonders den Hass an: In seiner »Antwort auf die inneren Emigranten« schrieb der Nobelpreisträger von 1929 am 28. September 1945 im New Yorker Aufbau: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.«
Der in Deutschland gebliebene und hoch angesehene Schriftsteller Otto Flake nahm diese Formulierung zum Anlass, ein groß angelegtes politisches Panorama zu entwerfen: »Autoren wie Wiechert oder Carossa oder, um in eigener Sache zu sprechen, ich selbst waren weit davon entfernt, Lektüre zu veröffentlichen, die nach Blut und Schande roch. (...) Der Deutsche war töricht genug, der modernen Welt die Gefahr vorzuleben, die ihr tatsächlich droht, die Maßlosigkeit nämlich, die auftritt, sobald man die Bindungen zerstört, in ihrer Verblendung waren die Deutschen bereit, eine Art satanischer Arbeitsteilung zu bejahen - dieselbe, die den allzu Beflissenen den Kloakendienst überlässt, während die anderen, die Hände in den Hosen, verächtlich zuschauen. Damit die Menschheit zur schrecklichsten der Erfahrungen kommen konnte, zu einer Lehre, die hoffentlich unvergessen bleibt, haben die Deutschen die Kastanien aus dem Feuer geholt.«5 Diese Mischung aus Selbstmitleid, Trotz und Aggression entwickelte über Jahre hinweg ihre Dynamik und konnte im Laufe der fünfziger Jahre im Kalten Krieg als Antikommunismus gut eingebunden werden.
1948 erschien Thomas Manns monumentaler Roman Doktor Faustus in Deutschland. Er zielte mitten ins gegenwärtige deutsche Bewusstsein: Ausgangspunkt ist die Frage, wie deutsche Kultur und der Nationalsozialismus zusammengedacht werden können. In der deutschen Kritik gaben jene Meinungsträger den Ton an, die in den nächsten Jahren den kulturellen Diskurs in Deutschland maßgeblich bestimmen sollten, vor allem Friedrich Sieburg und Hans Egon Holt husen.
Friedrich Sieburg arbeitete von 1932 bis 1939 als Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris. 1939 wurde er in den auswärtigen Dienst berufen und 1940 zum Botschaftsrat in Paris im besetzten Frankreich ernannt. In der Rede »Frankreich gestern und heute« vor der »Groupe Collaboration« im März 1941 erklärte Sieburg: »Ich bin durch das Leben in Frankreich zum Kämpfer und zum Natio nalsozialisten erzogen worden.«6 1942 kehrte er nach Deutschland zurück. Er arbeitete wieder als Journalist und wurde Ehrenbegleiter von Marschall Pétain, dem Chef der französischen Kollaborationsregierung. Die französische Besatzungsmacht verhängte über Sieburg bis 1948 ein Publikationsverbot. In der Zeitung Die Gegenwart vom 15.Juli 1949 veröffentlichte er, in einer gewitzten Mischung aus Talleyrand und Heidegger, einen Aufsatz mit dem Titel »Frieden mit Thomas Mann«: »Wenn wir nicht ahnten, was es ist, so würden wir sagen, daß es Haß gegen Deutschland ist, der sein Leben während der Entstehung des Faust-Romans zu einem so beklemmenden Gespinst von Selbstquälerei, Gefühlsausbrüchen, Zweifeln und öffentlicher Geschäftigkeit macht. ›Für eine dezente liberal-demokratische Republik ist dieses Land verloren‹, notiert er kummervoll. Wer glaubte das auch außerhalb Kaliforniens nicht manchmal selbst, obwohl man die nicht minder kummervolle Frage hinzufügen darf, wie lange sich der Geschmack für eine solche ›Dezenz‹ überhaupt noch in der Welt halten wird. Es würde den großen ›Signalisierern‹ vielleicht Ehre machen, wenn sie Vermutungen dieser düsteren Art nicht zu sehr an ein einzelnes Land knüpften. Unversehens wird der Dichter dank dieser Verengung seines Blickfeldes zu einem Parteigänger, ja zu einem Parteipolitiker, zu einem amerikanischen natürlich.« Thomas Mann reagierte darauf in einem Brief an seinen Schweizer Freund Otto Basler: »Wenn Sie von deutscher Hysterie einen starken und greulichen, aber auch sehr komischen Eindruck haben wollen, so lesen Sie den Artikel von Friedrich Sieburg in der ›Gegenwart‹, einem Blatt der französischen Zone. Es ist monströs.«7
Hans Egon Holthusen machte nach dem Krieg eine große Karriere als Lyriker und Essayist, indem er sich flexibel den wandelnden Zeitströmungen in Deutschland anpasste. Im Merkur, der in dieser Zeit vehement die Belange der »inneren Emigration« vertrat, schrieb der 35-jährige Holthusen in den beiden ersten Heften des Jahrgangs 1949 einen langen Essay: »Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns ›Dr. Faustus‹ und seinen Nebenschriften«, der im selben Jahr auch als eigenständiger Druck erschien. Darin heißt es: »Es kann nicht verschwiegen werden, daß es Taschenspielerei ist, den Namen Luthers mit den Verbrechen der Nazis in einem Atem zu nennen. Diese Untaten wurden im Namen Deutschlands begangen, aber wurde denn dieser Name nicht mißbraucht? Wo war ›Deutschland‹ in jenen Jahren? War es in der Reichskanzlei oder in den Zellen der Widerstandskämpfer? Etwa bei den Männern um den unvergesslichen Grafen Moltke, die mitten in einer satanischen Welt das Zeugnis eines bis in den Tod getreuen Christentums abgelegt haben, bis sie am Strick des Henkers ihre Passion vollenden mußten, während jemand anders auf kalifornischem Boden den Namen Luthers verdächtigte und die Theologie als Teufelswissenschaft ›entlarvte‹?«
Holthusens Frage »Wo war Deutschland in jenen Jahren?« kann man mit seiner eigenen Biografie ziemlich eindeutig beantworten. Er war seit 1933 SS-Mitglied, 1937 trat er auch der NSDAP bei. Im April 1940 schrieb er in der Monatszeitschrift Eckart: »Der Sinn unseres Marsches war ein Jahrtausend alt. ›Nach Ostland wollen wir reiten‹, hatten die niederdeutschen Ordensritter und Siedler des ottonischen und stauffischen Mittelalters gesungen, und heute war es dasselbe Lied, das uns geleitete ...«8
Hans Egon Holthusen wurde mit seinem Essayband Der unbehauste Mensch berühmt, seine Haltung und seine ästhetischen Prämissen wirken darauf etliche Jahre lang hegemonial. Hier wird sehr deutlich, in welchem Umfeld sich die Gruppe 47 in der frühen Bundesrepublik bewegte. Es galt nicht zuletzt ihr, was Holthusen 1952 im Merkur schrieb: »Wenn die ›grand old men‹ der deutschen Gelehrtenrepublik wie Rudolf Alexander Schröder und Ernst Robert Curtius einander über die Köpfe des profanum vulgus der literarischen Tagesproduktion hinweg zublinzeln und kleine kritische Blumensträuße darbringen, dann fällt gleichsam die ganze mittlere und jüngere Generation der heutigen deutschen Literatur als unerheblich unter den Tisch. Denn wo noch der strenge erzene Kontur eines Vergil-Verses als maßgebend angesehen wird, da ist ein moderner Romanschreiber nicht diskutabel.«9
Die Verrisse seines Doktor Faustus setzten Thomas Mann durchaus zu. Er konstatierte: »Deutschland ist arroganter und selbstgerechter als je. Die Holthusen, die mein Buch heruntermachen, glauben Literaturkritik zu treiben, sind aber in Wahrheit die Sprecher der deutschen Restauration - zum Alten-Unerträglichen.«10
Will man die Atmosphäre und die Vielfalt der literarischen Ausdrucksformen in der Nachkriegszeit einfangen, so stößt man auf ein Problem. Denn eigentlich möchte man nicht stehen bleiben bei der Rede vom Mief der Adenauerzeit, von der Restauration in den ersten Jahren der Bundesrepublik, also bei rituell wiederholten Formeln, die inzwischen ihrerseits drohen, einen gewissen Mief anzunehmen. Und dennoch: Wer sich mit dieser Zeit näher befasst, kommt an jenem Mief nicht vorbei. Unübersehbar werden die Schwierigkeiten, die jüngere, unbekannte Autoren hatten, wenn sie nach etwas Offenem suchten, sich ins Unbekannte vorwagten. Sie stießen dabei zwangsläufig auf die Herren des Diskurses. Der Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hatte 1926 als Oberbürgermeister der Stadt Köln nach der Uraufführung von Béla Bartóks musikalischer Pantomime Der wunderbare Mandarin weitere Aufführungen untersagt; es hieß, das sei »sexuelle Musik par excellence«.11 Und es konnte keine Rede davon sein, dass sich an diesem Kunstverständnis mittlerweile grundsätzlich etwas geändert hatte. Erinnert sei auch daran, dass der sogenannte »Gehorsamkeitsparagraph « erst 1957 gesetzlich abgeschafft wurde: Er sprach dem Ehemann das Recht zur Entscheidung aller das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu.
Heute kennt man die damaligen Drahtzieher des Literaturbetriebs, die die herrschende Atmosphäre verkörperten, kaum noch. Sie sind von der später einsetzenden Wirkung der Gruppe 47 verdeckt worden. Um das Charakteristische dieser Jahre differenzierter betrachten zu können, lohnt es sich aber, zwei herausragende Protagonisten näher unter die Lupe zu nehmen.
Frank Thiess, geboren 1895, war bis Mitte der fünfziger Jahre einer der führenden deutschen Schriftsteller und ständig präsent. Mit einem Doppelroman über den neapolitanischen Tenor Enrico Caruso feierte er wahre Publikumstriumphe, das Buch erlebte etliche Auflagen und Buchclublizenzen. Thiess knüpfte damit nahtlos an den Erfolg von Rudi Schurickes Schlager über die »Caprifischer« an und wurde zum Avantgardisten deutscher Italiensehnsucht der fünfziger Jahre. 1950 ernannte der Schutzverband deutscher Autoren, die zentrale Schriftstellervereinigung, Frank Thiess in einem seltenen, feierlichen Akt zum Ehrenmitglied. Außerdem wählte man ihn auf der ersten Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1950 zum Vizepräsidenten. 1955 schließlich wurde er Vorsitzender der Sektion Literatur in der Akademie in Mainz und damit Nachfolger Alfred Döblins, der entsetzt ein »zweites Exil« in Frankreich angetreten hatte. Ein Schriftsteller wie Frank Thiess ist auf seine Weise repräsentativ für die deutsche Entwicklung. 1929 etwa hatte er geschrieben: »Die Demokratie hat in Deutschland die Mittagshöhe ihres Ruhms überschritten, ihre Ideenlosigkeit offenbart und die Sympathien der Jugend verloren. «12 Die Weimarer Republik lehnte er ab, seine politische Haltung trug ständisch-elitäre, preußisch-junkerhafte Züge. Dabei verachtete er Hitler durchaus. Thiess fühlte sich dem kleinbürgerlichen Pöbel und der proletarischen Masse überlegen.
Frank Thiess' Haltung ist für die geistige Atmosphäre in den ersten Jahren der Adenauerrepublik besonders aufschlussreich. Er hatte mit der NSDAP nichts zu tun, er war kein Nazi. Aber das ist nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist: Frank Thiess steht für eine bruchlose Kontinuität völkischer, deutschnationaler und antidemokratischer Strömungen von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis zur Gründungsphase der Bundesrepublik. Seine Haltung ist somit symptomatisch für ein deutsches Bürgertum, das dem Natio nalsozialismus den Boden bereitete. Nach 1945 begriffen sich dann viele Vertreter dieser Sphäre subjektiv als Widerstandskämpfer. Das wiederum hatte ganz konkrete politische Auswirkungen.Am 2.März 1947 schrieb Thiess an Luise Jodl, die Frau des Chefs des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl, der bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tod durch Strang verurteilt werden sollte: »Vom Standpunkt der Pharisäer aus gesehen, wurde auch Jesus bestraft, doch die Christen wendeten diese ›Strafe‹ in ein Opfer, das er für die Sünden der Menschheit brachte, und so ging von Golgatha ein Strom des Lebens aus. Die Zelle des Generalobersten Jodl ist heute so groß wie ganz Deutschland, und die Richter über uns werden andere sein als die Männer in Nürnberg. Die Geschichte richtet immer anders als die Gegenwart.«13
Etwas anders verlief die Entwicklung von Kasimir Edschmid. Im Gegensatz zu Thiess war Edschmid der klassische Opportunist, der seine Positionen je nach Windrichtung wechseln konnte. Edschmid machte nach 1950 die Stadt Darmstadt, seinen Geburts- und Wohnort, zu einer Art Verwaltungshauptstadt der deutschen Literatur. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die ihren Sitz eigentlich in Stuttgart haben sollte, entschied sich dann doch überraschend für Darmstadt, weil Kasimir Edschmid dort relativ viel Geld ergattert hatte. Und nicht nur die Akademie, auch das bundesdeutsche PEN-Zentrum nahm 1951 seinen Sitz in Darmstadt - erster Generalsekretär war Kasimir Edschmid. Bei allen Intrigen in der Akademie gelang es Edschmid als Einzigem, ständig ein hoher Würdenträger zu bleiben, in den letzten Jahren vor seinem Tod 1966 war er sogar ihr Ehrenpräsident. Noch 1965 hielt er die Laudatio auf den Büchnerpreisträger Günter Grass.
Wie Thiess war Edschmid in der Weimarer Republik durch völkisches und deutschnationales Denken aufgefallen. 1932 veröffentlichte er den Roman Deutsches Schicksal, und die herausragendste Kritik stammte von Hanns Johst, der kurze Zeit später Präsident der NS- Reichsschrifttumskammer werden sollte. Johst verglich Edschmids Buch emphatisch mit Hans Grimms Volk ohne Raum.
Edschmid hatte jedoch einen Makel: Er war in seinen Anfängen ein Expressionist gewesen. Als Hitler an die Macht kam, suchte er deshalb umso heftiger den Schulterschluss. Am 15. Mai 1933 schrieb er an Hans Grimm: »Zu meinem Entsetzen sah ich, daß mein Name plötzlich auf einer Liste auftauchte, die zur Säuberung der Bibliotheken vorderhand bestimmt sein soll und infolgedessen ist es auch geschehen, daß in ein paar Städten meine Bücher verbrannt worden sind. Die Scham, der Schmerz und die Enttäuschung, die es mir bereitet hat, mich plötzlich mit der ganzen zersetzenden Literatengesellschaft zusammen zu sehen, gegen welche sich jede Faser in meinem Herzen wehrt, kann ich Ihnen nicht schildern. Wenn ich mir überlege, was ich seit Jahren von jener Seite her auszustehen hatte, weil meine Einstellung eben immer positiv für Deutschland war, weil ich nie auch nur die Spur einer marxistischen Bewegung hatte, wenn ich denke, daß ich immer wieder die Welt durchstreift habe von den Einkünften aus meiner Schriftstellerei, um für positive deutsche Dinge eintreten zu können - und wenn ich nun bedenke, daß Bücher wie Deutsches Schicksal von Jungens verbrannt worden sind, die diese Bücher nicht kennen und die unsere deutsche Hoffnung darstellen und dass unzählig viele Bücher von Autoren, die mich zerrissen haben und die absolut antideutsch eingestellt waren, nicht angetastet wurden, so erscheint mir dieser Wahnsinn unfaßbar. Können Sie sich vorstellen, was ich, der ich nicht außen stehen will und kann in dem Deutschland, das kommt, empfinde, wenn ich meinen Namen neben Namen wie Iwan Goll, Emil Ludwig, Rubiner, Toller usw. lese. Sie müssen mir glauben, daß dieser Tag einer der schlimmsten in meinem Leben war. Ich bin, solange ich denken kann, mit allen meinen Kräften gegen das destruktive Literatentum gesegelt. Das haben auch alle führenden Zeitungen von rechts festgestellt. Und ich kann nicht mehr atmen, wenn gegen alle Vernunft und gegen alle Gerechtigkeit mein Name mit den Leuten genannt wird, die ich verachtet habe. Mag man mich für einen Juden gehalten haben (ich habe den besten arischen Stammbaum, den man sich denken kann): solange es Gerechtigkeit und Männlichkeit gibt, muß ich versuchen, in dieser Sache nicht für mich als Person sondern für meine Ideen und für meine Haltung Gerechtigkeit zu finden.«14 Edschmid kam mit seinem »besten arischen Stammbaum« tatsächlich glimpflich davon. Zwischen 1933 und 1941 publizierte er zehn Bücher. Und noch 1944 verhandelte er mit einem Protagonisten des engsten Führungszirkels der NSDAP, mit Baldur von Schirach, dem Reichsstatthalter in Wien, über ein repräsentatives Wien-Buch. Er besuchte von Schirach und dessen Frau privat. Einer der vielen, zum Teil langen Briefe, die Kasimir Edschmid an Baldur von Schirachs Ehefrau Henriette schrieb, endet mit den Worten: »Das Bild Ihrer Kinder steht in meinem Arbeitszimmer. Bitte umarmen Sie sie von uns.«15
Im Frühjahr 1950 erlebte Edschmid wegen seiner Kontakte mit Baldur von Schirach eine Überraschung: Die Oberösterreichischen Nachrichten hatten über seine Vergangenheit recherchiert. Mehrere deutsche Zeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, brachten die Nachricht. Edschmid veranlasste sofort Klageandrohungen und Gegendarstellungen. Er berief sich dabei auf Namen wie Carlo Mierendorff und Theodor Haubach, beide vor 1945 aktive und getötete Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich. In der FAZ schrieb Edschmid: »Ich habe in der Tat eine Besprechung mit Schirach gehabt und daraus kein Geheimnis gemacht, davon überall erzählt und das Ergebnis der amerikanischen Militärregierung in München mitgeteilt. Ich hatte diese Besprechung auf Wunsch meiner Freunde Mierendorff und Haubach, die über den Stand der Opposition bei Schirach informiert zu sein wünschten. Die Bemerkung, die Sie in diesem Zusammenhang weiterhin bringen, ›Er kam nicht nur einmal, er kam des öfteren‹ ist erlogen. Es hat nur eine Besprechung stattgefunden. Es hieße zum mindesten meine Intelligenz reichlich unterschätzen, wollte man glauben machen, daß ich als Autor, dem es seit Jahren verboten war, Bücher zu publizieren, im Jahre 1944 noch versucht hätte, als der Krieg längst verloren war, mich bei den Nazis anzubiedern.«
Heute ist die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine allgemein akzeptierte Institution, der von ihr verliehene Büchnerpreis gilt als die bedeutendste literarische Auszeichnung in Deutschland.
Doch auch in ihren ersten, unbekannten Jahren ist sie ein Modellfall, und zwar für den Geist der frühen Bundesrepublik. In ihr sammelten sich die typischen Protagonisten der Zeit: Intellektuelle wie Edschmid oder Thiess, die zwar nicht direkt der NSDAP zuzuordnen sind und sich zum Teil von Hitler abwandten, aber bereits der Weimarer Republik feindlich gegenüberstanden. In der Akademie fanden sich deutsch nationale, antidemokratische, ständisch-dünkelhafte Positionen, die sich eher wider Willen den von außen aufgezwungenen demokratischen Strukturen anpassten. Alfred Döblin schreibt in seinen autobiografischen Aufzeichnungen über die ersten Begegnungen mit deutschen Geistesmenschen nach seiner Rückkehr nach Deutschland: »Vor diesen Leuten von Demokratie zu reden, war schwierig. Sie lächelten oder grinsten. Das Fräulein Demokratie kannten sie nun schon aus der Nähe.«16
Auf der ersten Tagung im Frühjahr 1950 wählte die Akademie den 70-jährigen Rudolf Pechel zum Präsidenten, den langjährigen Herausgeber der Monatszeitschrift Deutsche Rundschau. Auch Pechels Profil ist exemplarisch für die »moralischen Instanzen«, die nach 1945 für den Neubeginn standen: In den zwanziger Jahren gehörte er dezidiert zum antirepublikanischen Lager. In der NS-Zeit betonte er dann national- und christlich-konservative Überzeugungen und wurde 1942 verhaftet. Oskar Jancke, der die erste Tagung und die Präsidentenwahl vorbereitete, zog bei den entscheidenden Überlegungen Frank Thiess ins Vertrauen: »Für Pechel als Präsidenten spräche eine gewisse literarische Neutralität, sein Ansehen als Widerstandskämpfer und als Deutscher konservativer Prägung. Sie als Vizepräsident gäben (mit ihm) eindeutig dem Charakter der Akademie als einer deutschen Ausdruck, also einer Selbstbehauptung, mit der man zu rechnen hat.«17
Die entscheidende totalitäre Gefahr kam für Rudolf Pechel aus dem Osten. Nicht zuletzt dieser Antikommunismus überdeckte von vornherein eine tiefere Auseinandersetzung mit der unmittelbaren NS-Vergangenheit Deutschlands. Wie lautete doch die Formulierung Gerhard Nebels im Geburtstagsartikel für Thomas Mann? Der Zweite Weltkrieg sei »eine untergegangene Gestalt des globalen Bürgerkrieges, in dem wir stehen«. Seine heutige Gestalt, so legte Nebel dabei nahe, sei zweifellos der Kampf gegen den Kommunismus. Auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1950 hielt Präsident Rudolf Pechel eine Grundsatzrede, in der er die herrschende Stimmung im Westen auf den Punkt brachte. Im Proto koll heißt es: »Wenn es noch eines Anstoßes zum Eintritt in den Kampf für geistige Freiheit bedurft hätte, so böten ihn die Vorgänge im östlichen Deutschland; sie gingen in ihrer Roheit, Gemeinheit und Dummheit noch über das hinaus, was sich die Nationalsozialisten an Unter drückung des freien Geistes geleistet hätten.«18
Das sah auch Frank Thiess so, der Vizepräsident. Seine Briefe wurden in dieser Zeit immer stürmischer. An Kasimir Edschmid etwa schrieb er: »Die Einheit Deutschlands in Ehren, doch man kann und darf sie nur auf Deutsche erstrecken, wobei ich ganz privat der Ansicht bin, daß Döblin, Zweig und Becher drei Juden und Emigranten sind, die gefühlsmäßig zusammengehören.«19
Die großen Dichternamen in der Anfangszeit der Akademie waren Rudolf Alexander Schröder und Werner Bergengruen. Aber es gab noch andere Gründungsmitglieder, die den Geist der frühen Jahre repräsentierten, etwa den Schriftsteller Werner von der Schulenburg. Dieser schrieb am 14. September 1951 an den Präsidenten Pechel: »Ich beobachte ein Vordrängen der jüdischen Autoren, vor allem der Ausländer, speziell in unserem Theater. Wir deutschen Bühnenautoren werden, bis auf einige Emigranten, überhaupt nicht gespielt, gespielt werden dagegen sehr viele Juden, die eine lebhafte Unterstützung in der deutschen Presse finden.«20
Dies ist die Situation in der frühen Bundesrepublik, dies ist die Grundstimmung der tonangebenden Kreise bis mindestens in die Mitte der fünfziger Jahre hinein. Die Gruppe 47 war längere Zeit eine atmosphärisch eindeutig oppositionelle, aber von den bestimmenden Funktionären und Kulturpolitikern kaum ernst genommene Randerscheinung. Angesichts von Stimmen in der damals etablierten Literaturszene wie derjenigen Werner von der Schulenburgs verwundert es, wenn Klaus Briegleb in einer Polemik schreibt, die Gruppe 47 habe in ihren Anfangsjahren »die Ausblendung der Shoah so gründlich betrieben wie keine andere kulturelle Agentur in der westdeutschen Nachkriegszeit«.21 In seiner unhistorischen Fixierung auf die Gruppe 47 als den geschlossenen Machtblock späterer Jahre verkennt Briegleb die zeitgeschichtlichen Konstellationen. Wenn man die Gründungs- und Frühgeschichte der Gruppe 47 in den Blick nimmt, ist es unvermeidlich, die deutsche Gesellschaft insgesamt wahrzunehmen. Die Kontinuität der NS-Ideologie war in der herrschenden politischen Klasse ebenso anzutreffen wie bei den hegemonialen literarischen Institutionen und Medien, und dies beleuchtet die Schwierigkeiten der weiteren Entwicklung, gerade auch von Gegenbewegungen wie der Gruppe 47. Erst langsam mehrten sich die Hinweise darauf, dass Mitte und Ende der fünfziger Jahre ein offeneres Klima herrschen könnte.
Das literarische Ereignis dieser Jahre war der kometenhafte Wiederaufstieg von Gottfried Benn. Er ist freilich ein Sonderfall, und das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Benn seine Zeit überlebt hat, dass man ihn heute noch liest. An Benn wird die gesamte Paradoxie der Entwicklung deutlich, er hat sowohl ein rückwärtsgewandtes als auch ein erstaunlich modernes Gesicht. 1933 hatte sich Benn den Nationalsozialisten begeistert angeschlossen, doch es dauerte nur etwas mehr als ein Jahr, bis auch er merkte, dass ihm seine expressionistische Vergangenheit zum Verhängnis werden konnte. 1935 tauchte er als Militärarzt bei der Reichswehr unter, er nannte das »die aristokratische Form der Emigrierung«.22 Nach 1945 glaubte Benn, zwischen allen Stühlen zu sitzen, und entwickelte eine Ästhetik vom Geist, der über den Dingen steht. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1945 schrieb er über die beabsichtigte Wiedergründung der Preußischen Dichterakademie: »Meine Frage, welchen Sinn und Inhalt diese Akademie heute haben solle, wird mit ›Repräsentation‹ beantwortet. Gelächter, sage ich! Wer, für wen und was? 1933 wurden die Mitglieder auf Befehl der Faschisten gestrichen, heute auf Befehl der Antifaschisten, kommen morgen die Katholiken zur Macht, hängen wir eine Madonna an die Wand und legen Rosenkränze vor die Sitzungsteilnehmer - also: entweder es gibt die Kunst, dann ist sie autonom, oder es gibt sie nicht, dann wollen wir nach Hause gehn.«23
Solche Sentenzen, die die Unabhängigkeit des großen, einzelnen Geistes betonen, entsprachen nach 1945 einem breiten Bedürfnis. Nach dem Krieg glaubte Benn zunächst, dass ein neues Buch von ihm im neuen, von den Besatzungsbehörden zur Demokratie zu erziehenden Deutschland kaum erscheinen könne. Doch sein suggestiver Ton, seine Sogwirkung, seine kunstvolle Beschwörung von Elite und Einsamkeit stifteten massenhaft Identifikationsmöglichkeiten. Benns Feilen am Artistischen, sein exklusiver Begriff des Ästhetischen bezogen ihre Dynamik vor allem daraus, der Geschichte und dem menschlichen Tun jeglichen höheren Sinn abzusprechen. Dieter Wellershoff nannte Benn in seiner Dissertation nicht ohne Grund den »Phänotyp dieser Stunde« - und das wurde der monologische Lyriker vor allem dadurch, dass er die Flucht seiner Zeitgenossen ins Unpolitische als die einzig angemessene Haltung definierte.
Es gibt allerdings eine Besonderheit bei Benn, die ihn über den allgemein herrschenden Ton hinaushebt. Er sprach im Gegensatz zu den raunenden und mystifizierenden Stimmen um ihn herum eine erfrischend klare Sprache. Benn neigte nicht zu großen Gefühlen. Aber da er sie trotz allem ständig in sich spürte, hebelte er sie durch eine zwischen Zynismus und abgründiger Weisheit ständig changierende Artistik immer wieder aus. Einmal schickte ihm sein Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze eine Liste mit Fragen zu den neues ten Manuskripten, und bei Oelzes Frage nach dem Begriff »Colt« entfährt es Benn: »Colt - aber, Herr Oelze! Lesen Sie keine Kriminalromane? Ich ständig, wöchentlich 6, Radiergummi fürs Gehirn - ein berühmter amerikanischer Revolver, ohne den kein Scotland Yardmann auftritt. «24
Damit ließ Benn die zeitgenössische deutsche Diskussion um »Geist« und Schicksal weit hinter sich. Benn hatte aber auch, und das unterscheidet ihn von den hohen Tönen um ihn herum, eine Neigung zum Schlager. Blumen und Pflanzen leisteten ihm immer wieder gute Dienste zur Seinsvergewisserung. Die Anemone kommt in seinen Gedichten vor und einmal auch die Eberesche, am meisten aber hatte es ihm die Rose angetan, und man kann sich das durchaus auch in einer anderen Form vorstellen, gesungen von der dunklen Stimme Zarah Leanders:
Wenn erst die Rosen verrinnen aus Vasen oder vom Strauch und ihr Entblättern beginnen, fallen die Tränen auch.25
Der alte, zynische, sentimentale und ästhetisch faszinierende Benn erwies sich als äußerst zukunftsträchtig. Die nachfolgende Generation aber stand angesichts dessen vor einem Trümmerfeld. Sie kehrte mit Anfang, Mitte 30 aus den Schützengräben und den Kriegsgefangenenlagern nach Deutschland zurück und hatte noch nichts veröffentlicht. Die Gruppe 47 erwies sich schnell als das beinahe einzige Forum, in dem sie zu Wort kommen und nach ihrer eigenen Sprache suchen konnte. Literarische Kriterien waren dabei noch gar nicht recht entwickelt. Von der literarischen Moderne war man abgekoppelt gewesen, und so war man zunächst damit beschäftigt, die eigenen Landsererfahrungen mit diesen fremden Lektüren in Beziehung zu setzen. Aber dabei wurden Spielregeln erprobt, die für frischen Wind und für geistige Auseinandersetzung sorgten. Das war man in Deutschland nicht mehr gewohnt.
Copyright © Deutsche Verlags Anstalt
Die Ausgangsbedingungen hätten nicht idealer sein können: Man traf sich einmal, nur in den Anfängen auch zweimal im Jahr, drei Tage lang, und diese drei Tage waren der Katalysator des literarischen Lebens. Es gab keinerlei Konkurrenzveranstaltungen, keine Festivals oder sonstige Events - alles konzentrierte sich auf die jeweilige Tagung der Gruppe 47. Deshalb liegt es nahe, genauer hinzusehen, wie sich hier der Literaturbetrieb verdichtete, wie hier all das entwickelt wurde, was heute als selbstverständlich gilt - vor allem auch alle Aspekte der Medialisierung und Kommerzialisierung von Literatur. Es ist nicht überraschend, dass es eine Vielzahl von Studien und Analysen über die Gruppe 47 gibt. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrem Ende 1967 war sie ein viel diskutierter Gegenstand. Sie erzeugte eine unübersehbare Flut von wissenschaftlichen und von populären Arbeiten. Dabei wurde die immense Bedeutung der Gruppe für das gesellschaftliche und literarische Leben der Bundesrepublik als gegeben vorausgesetzt, man sezierte fieberhaft die diversesten Einzelaspekte. Merkwürdigerweise gibt es aber bis heute keine umfassende Gesamtdarstellung dieser Gruppe und ihrer Geschichte. Es mehren sich zwar polemische Zuspitzungen, aber neben der notwendigerweise gerafften Rowohlt-Monografie von Heinz Ludwig Arnold und seinem eher wissenschaftlich-systematisch ausgerichteten Göttinger »Text + Kritik«-Projekt existiert bisher kaum ein größer angelegter Versuch, die Gruppe 47 als Gesamtes zu betrachten. Dabei wäre es an der Zeit, die historische Distanz zu nutzen und die Gruppe 47 als hochinteressantes Phänomen nachzuzeichnen, als ein wichtiges Kapitel der Literaturgeschichte, ohne sofort in Parteigängertum oder hämische Ablehnung zu verfallen. Die Mitschnitte der Gruppendiskussionen, die in den Rundfunkarchiven liegen, wie auch die verdienstvolle Edition des Briefwechsels des Gruppenchefs Hans Werner Richter, die Sabine Cofalla 1997 vorgelegt hat, bieten schon seit geraumer Zeit eine solide Grundlage dafür.
Am entrücktesten ist mittlerweile wohl die gesellschaftliche Funktion, die die Gruppe gehabt hat und die heute vor allem mit der Person von Günter Grass identifiziert wird - mit jener Art moralischer Instanz, die er für sich in Anspruch nimmt. Man assoziiert mit der Gruppe 47 automatisch etwas sozialdemokratisch Leitartikelhaftes. Es blieb bei den Tagungen der Gruppe allerdings bis zum Schluss so, dass in den Diskussionen nur konkret über die gelesenen literarischen Texte verhandelt wurde. Es war ein Tabu, allgemein zu werden oder gar das Literatur zwischen Markt, Macht und Medien engere Feld des Literarischen zu verlassen. Ein ironisches Statement Helmut Heißenbüttels, das oft zitiert wird, schien sich vor allem gegen eine dominierende sozialdemokratische Moral zu richten: »Versuchte man, den Durchschnitt aller Stile der Autoren der ›Gruppe 47‹ zu bilden, käme der von Siegfried Lenz heraus.«1
Dabei war das vor allem ein listiger Versuch Heißenbüttels, von der Funktion abzulenken, die die Gruppe für ihn selbst gehabt hat. Denn er war seit 1955 bei den Tagungen dabei und galt früh als eine Art Maskottchen der Gruppe - als experimenteller Autor, der zum Teil komische und groteske Wirkungen erreichte. Heißenbüttel galt bald als der Vorzeigeautor der modernen, mit der Sprache als Material operierenden Poesie und nutzte dies auch, wie seine Aussage zeigt, offensiv als exklusives Markenzeichen - die Gruppe 47 aber war das einzig mögliche Forum für ihn. Es gab kein anderes für jemanden mit seinem Profil. Es ist durchaus von einem gewissen Aussagewert, wenn Joachim Kaiser in seinem Bericht über die Tagung im schwedischen Sigtuna 1964, die allgemein als der Höhepunkt der Außenwirkung der Gruppe 47 angesehen wurde, den Satz schrieb: »Heißenbüttel schloß die Sigtuna-Tagung triumphal ab.«2
Günter Grass war zwar durch seinen überragenden Erfolg mit der Blechtrommel der berühmteste Autor der Gruppe, aber durch ihn und durch den vor allem einem reportagehaften Realismus verpflichteten Gruppeninitiator Hans Werner Richter wurde überdeckt, dass sich bald ganz andere Tonlagen entwickelt hatten. Grass, Richter und die wenigen verbliebenen alten Getreuen um den Chef befanden sich schon zu Beginn der sechziger Jahre ästhetisch in der Defensive. Das geschah nicht nur durch das »Maskottchen« Heißenbüttel, sondern vor allem durch Autoren wie Peter Weiss, Reinhard Lettau, Jürgen Becker oder auch Alexander Kluge. Kluge, Mitautor des »Oberhausener Manifests« des jungen deutschen Films 1962, wurde von Richter noch im gleichen Jahr zur Gruppentagung in Berlin eingeladen und war von diesem Zeitpunkt an einer der profiliertesten Autoren auf den Tagungen; er stand, neben seinen ungewohnten und die Normen sprengenden Collage-Texten, auch für die frühe Verbindung zum Film. Dass mit Hubert Fichte, Peter O. Chotjewitz oder Peter Handke auch die ersten deutschen Pop-Autoren vertreten waren und heftig diskutiert wurden, sei hier nur am Rande vermerkt.
Die Gruppe 47 war immer widersprüchlich und heterogen. Sie war weit mehr als ihr Gründer Hans Werner Richter und kann in den in ihr vertretenen literarischen Positionen keineswegs mit ihm gleichgesetzt werden. Richter selbst hielt sich seit Mitte der fünfziger Jahre weitgehend mit ästhetischen Urteilen zurück und fungierte nur noch als Organisator, Herbergsvater und Diskussionsleiter. Dabei bekannte er manchmal auch, dass er mit den Texten, die die literarische Bedeutung der Gruppe 47 erst ausmachen sollten, nicht so viel anfangen konnte - Texte, die mit der unmittelbaren Aufarbeitung der Generations- und Kriegserfahrung seiner Altersgruppe nichts mehr zu tun hatten. Doch Richter und auch Grass stehen, je mehr die konkreten Kenntnisse über die wahren Abläufe verschwinden, umso stärker im Mittelpunkt der Urteile. Ein typisches Beispiel ist das Bonmot vom »sozialdemokratischen Realismus«, das Martin Mosebach in einer Rede vom September 2011 bei der Schwedischen Akademie in Stockholm verwendete.3 Das ist zwar hübsch pointiert, geht aber an den Texten, die in der Gruppe 47 in den fünfziger und sechziger Jahren als die zentralen diskutiert wurden, völlig vorbei. Dass sich in der Entwicklung der Gruppe 47 die Entstehung eines spezifischen bundesdeutschen Literatur betriebs abzeichnete, lag nicht zuletzt daran, dass hier zum ersten Mal wichtige neue literarische Stimmen zu vernehmen waren. Die ästhetischen Auseinandersetzungen, die auf den Tagungen geführt wurden, die Positionen, die dabei aufeinanderprallten, sind ein wichtiges kulturgeschichtliches Zeugnis für die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik. Selbst beim Umgang mit Schriftstellern wie Heimito von Doderer, Albert Vigoleis Thelen oder Paul Celan, die mittlerweile oft pauschal als Kronzeugen für die Beengtheit und Kurzsichtigkeit der Gruppe 47 genannt werden, muss das Urteil weitaus differenzierter ausfallen, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird.
Zu einem eigenen Mythologem hat sich mittlerweile der Auftritt von Paul Celan bei der Frühjahrstagung 1952 an der Ostsee ent wickelt. Oft kolportiert worden ist eine unsägliche Attacke Hans Werner Richters, die sich in der Rezeption schnell verselbständigt hat. Dieses Thema ist sehr komplex. Hier sei aber schon darauf hingewiesen, dass das Hauptproblem für Celan keineswegs die Gruppe 47 war. Außer Blick geraten ist in späteren Darstellungen, dass Celan genau registrierte, woher die aggressivsten Angriffe gegen seine Lyrik und seine Person kamen: von jenen einflussreichen Kritikern nämlich, die so etwas wie das Establishment darstellten und gleichzeitig als die heftigsten Gegner der Gruppe 47 in Erscheinung traten. Zwei Namen sind hier vor allem zu nennen: zum einen Günter Blöcker, dessen antisemitischer Verriss des Gedichtbands Sprachgitter 1959 zum wichtigsten Katalysator in Celans Verhältnis zum deutschen Literaturbetrieb wurde.4 Zum anderen Hans Egon Holthusen: Er veröffentlichte in den sechziger Jahren einen zweiten folgenschweren Verriss Celans voller Ressentiments und mit einem engstirnigen Lyrikverständnis.5
Die Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit zeigten sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik überall - sosehr man sie auch zu verdrängen versuchte. Auch die Mitglieder der Gruppe 47, so unbeteiligt sich die meisten wähnten, waren davon geprägt. Man muss die zeitgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Autorenvereinigung sehr ernst nehmen: Sie durchlief sehr widersprüchliche Prozesse. Durch die marktbeherrschende Stellung der Gruppe 47 in den sechziger Jahren geriet aus dem Blick, dass sie bis Mitte der fünfziger Jahre eher unbedeutend war. Da herrschte noch eine ganz andere Stimmung, eine Form von »Hochkultur«, die dem »deutschen Geist« als etwas unbeschädigt Gebliebenem huldigte und in der religiöse Metaphern eine Hauptrolle spielten. Die Autoren, um die es damals hauptsächlich ging, hießen Hans Carossa, Ernst Wiechert, Werner Bergengruen, Stefan Andres oder Rudolf Alexander Schröder. Auf allen Feldern war die personelle Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus unverkennbar, in der Politik wie in der Literatur. Offen nationalistische und antisemitische Töne waren im gesellschaftlichen Alltag bis hinauf in Ministerränge und die Führungsgremien der Akademien nichts Ungewöhnliches. Und auch die Anfänge der Gruppe 47 waren von jener deutschen Sprache durchdrungen, die der Nationalsozialismus bis ins Detail geprägt hatte. In der von Alfred Andersch und Hans Werner Richter gegründeten Zeitschrift Der Ruf, die so etwas wie die Keimzelle der Gruppe 47 darstellt, spürt man diese Einflüsse deutlich, und gerade in der Person von Alfred Andersch sind noch lange Zeit verschiedenste Einflüsse virulent: Er verehrte Ernst Jünger genauso wie Jean-Paul Sartre oder amerikanische Romanciers im Stile William Faulkners oder Thomas Wolfes.
Die Gruppe 47 war jedoch eines der wenigen Foren - und für Literatur im Grunde das einzige -, das abseits der offiziellen Sprachregelungen und Ressentiments neue Formen von demokratischer Öffentlichkeit einübte. Wie schwierig dieser Prozess war, kann man nur erkennen, wenn man sich die Rahmenbedingungen vergegenwärtigt. Im Umgang mit dem eigenen Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus zeigten sich die Unterschiede am deutlichsten. Frank Thiess zum Beispiel, ein völkisch-nationalistischer Bestsellerautor der damaligen Zeit und einer der dominierenden Literaturfunktionäre, stilisierte sich als großes Naziopfer, während Günter Eich als einer von wenigen der in Deutschland Verbliebenen von Anfang an zugab, kein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Auch in der Gruppe 47 waren die spezifisch deutschen Traumata, Ideologien und Verdrängungen anzutreffen. Bei den trotzig-selbstgefälligen älteren »inneren Emigranten« wie bei den jungen Landsern der Gruppe 47 gab es zudem eine prekäre Gemeinsamkeit: nämlich einen Affekt gegen die Emigranten, die vor den Nazis ins Ausland geflohen waren. Doch auch in diesem Punkt ist die Entwicklung in der Gruppe 47 nicht auf einen Nenner zu bringen. Richter lud zum Beispiel Walter Mehring, mit dem er ästhetische Gemeinsamkeiten hatte, durchaus zu einer Gruppentagung ein - es war aber ausgerechnet der blutjunge, von der Kritischen Theorie Adornos affizierte Joachim Kaiser, der den Emigranten Mehring dann während der Gruppendiskussion verprellte. Dass Richter die Emigranten fast programmatisch von der Selbstfindung der jungen, noch völlig unbekannten Gruppe 47 ausschloss, lag zum einen am Generationsunterschied, zum anderen an einer unterschiedlichen Definition der Rolle des Schriftstellers. Die Entwicklung der Beziehung Hans Werner Richters zum namhaften und in den Medien gut vernetzten Hermann Kesten ist durchaus symptomatisch. Ernst zu nehmen sind dabei die Erfahrungen, die Richter während seines eigenen, knapp einjährigen Exils in Paris Mitte der dreißiger Jahre gemacht hatte: Die Selbstzerfleischung der demokratischen und linken Kräfte, die Kämpfe der Emigranten untereinander wirkten auf ihn abschreckend; er hatte einen Affekt gegen die polemischen Usancen am Ende der Weimarer Republik.
Hier lag auch sein Hauptmotiv dafür, weshalb die Gruppe 47 auf eine rein literarische Diskussion beschränkt sein sollte. Paradoxerweise trug aber gerade ihre gesellschaftspolitische Funktion erheblich zu ihrer Wirkung bei. Es wirkt im Rückblick fast zwangsläufig, dass diese 1967 überholt schien; die Gruppe 47 hatte zu diesem Zeitpunkt ihren Zweck erfüllt. Was sie aus heutiger Sicht aber immer noch aktuell macht, ist ihr Anteil an der Ausformung des literarischen Marktes. Dies war ein Aspekt, den Richter am Anfang nicht so recht überblickte, obwohl er als hochbefähigter Funktionär und Taktiker die Bedeutung der Medien erkannte und früh begann, Netzwerke zu knüpfen. Der literaturpolitische Erfolg der Gruppe 47, der mit Grass' Blechtrommel- Auftritt 1958 furios begann, überrollte Richter jedoch förmlich - kurz vorher hatte er noch daran gedacht, sich von der Literaturszene zurückzuziehen und sich ausschließlich gesellschaftspolitischen Tätigkeiten wie der außerparlamentarischen Opposition und dem »Kampf gegen den Atomtod« zu widmen. Als gewiefter Aktivist erkannte er dann allerdings sofort die Möglichkeiten, die der wachsende Einfluss der Gruppe 47 auch auf allgemeine bundesdeutsche Debatten und auf die eigene Rolle als Multiplikator mit sich brachte.
Die Erfindung des bundesdeutschen Literaturbetriebs, die aus anfangs intern geführten Werkstattgesprächen heraus geschah, ist das, was in allererster Linie von der Gruppe 47 geblieben ist. Hier wurden Literatur und Medien zueinander in Bezug gesetzt, hier entwickelten sich die Mechanismen von Erfolg und Misserfolg, von öffentlicher Resonanz. Und von daher ist es auch weniger Günter Grass, der als personifiziertes Symbol für die Gruppe 47 stehen könnte, sondern viel eher Hans Magnus Enzensberger. Ohne die Bühne der Gruppe 47 hätte sich Enzensberger nicht so virtuos seine unverwechselbare Medienpraxis aneignen können. Er stieß bereits 1955, als 25-Jähriger, dazu, und hier konnte er direkt umsetzen, was er schon früh in der Theorie als das wichtigste Pfund des zeitgenössischen Schriftstellers erkannt hatte: den Umgang mit der Öffentlichkeit. Er setzte dabei Zeichen, die bis heute in den Feuilletons gelten, er lieferte mit seinen Selbstdarstellungen, seinen Volten, seinen Debattenbeiträgen als Avantgardist des Zeitgeistes ständig die Maßstäbe für das Agieren bundesdeutscher Intellektueller. Enzensberger war zwar früh geprägt von der Kritischen Theorie Adornos, wollte aber dessen Analyse der »Kulturindustrie« nicht kampflos hinnehmen, sie war ihm zu »kulturpessimistisch «. Seine forcierte Auseinandersetzung mit dem, was er in Fortführung von Adorno »Bewusstseinsindustrie« nannte, hatte den Sinn, die Medien benutzen zu lernen, »sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen«6 und sie im Sinne des Autors zu instrumentalisieren. Enzensberger wurde so zum Rollenvorbild für heutige Kulturjournalisten. Er witterte über Jahrzehnte hinweg immer als einer der Ersten, was in der Luft lag, und ist bis heute unumstritten ein Häuptling des Getümmels. In Enzensberger hatte die Gruppe 47 literaturpolitisch
ihren besten Schüler.
In der Gruppe 47 und in ihrem Umfeld erlebte man zum ersten Mal, dass Literaturtreffen zu »Events« werden konnten. Die von Walter Höllerer nach 1960 in Westberlin veranstalteten Lesereihen, unter anderem in der Kongresshalle, gingen in die Offensive und brachten eine neue Dimension in die Vermittlung und Rezeption von Literatur: Hier war zum ersten Mal das Fernsehen dabei, hier wurden neue Formen der Präsentation erprobt, hier ließen sich Autoren öffentlich von Moderatoren befragen - etwas, was damals noch sehr ungewohnt und gewöhnungsbedürftig war. Der Literaturbetrieb erlebte eine unvorhergesehene Konjunktur.
Von diesem widersprüchlichen Prozess soll im Folgenden berichtet werden. Nach dem Ende der Gruppe 47, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, gab es in den Feuilletons ein immer wiederkehrendes Ritual, nämlich die Frage: Brauchen wir wieder eine Gruppe 47? Das Ende dieser Institution hinterließ im Betrieb eine große Lücke, es existierte ein merkwürdiger Phantomschmerz, und alle paar Jahre wiederholte sich diese Diskussion, oft mit einem Pro- und Kontra- Artikel als Vorläufer des heutigen Debattenfeuilletons. Marcel Reich- Ranicki inszenierte den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bewusst in Anknüpfung an die Traditionen der Gruppe 47, Günter Grass organisierte den von ihm gestifteten Alfred-Döblin-Preis in Form von Werkstattlesungen und -diskussionen original getreu im Sinne Hans Werner Richters, und noch 1995 erschien ein Band mit »55 Fragebögen zur deutschen Literatur«, in dem zeitgenössische Schriftsteller gefragt wurden: »Brauchen wir eine neue ›Gruppe 47‹?«7 Ungefähr zur selben Zeit veröffentlichte der Autor Hermann Kinder eine Streitschrift, in der die Gruppe 47 als Modellfall dafür beschrieben wurde, wie die Platzhirsche des Literaturbetriebs die nachkommenden Autoren förmlich erdrückten - auch lange nach ihrem Ableben schien sie immer noch existent zu sein.8
Das vorliegende Buch braucht indes an den emotionalen Auseinandersetzungen um die Gruppe 47 keinen Anteil mehr zu haben. Es beschreibt die Gruppe 47 aus einem mittlerweile unverkenn baren Abstand heraus - als ein historisches Phänomen, mit all seinen wichtigen und zum Teil auch zwiespältigen Folgen. Natürlich war dieses Phänomen unmittelbar zeitverhaftet und ist keineswegs direkt anschlussfähig an heutige literarische Praktiken. Aber einen gewissen Nachhall gibt es gelegentlich immer noch. So stellte Sibylle Lewitscharoff, eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen, 2011 in einer Fernsehdiskussion über Filmausschnitte von der Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1963 fest: Diese Schriftsteller seien damals »wirklich davon durchdrungen gewesen, dass das Wort Gewicht hat, dass es überhaupt so etwas wie moralische Hintergrundprinzipien des Schreibens gibt«. Und: »Die Zeit ist vorangeschritten. Das kann man im Übrigen bedauern. Als Schriftsteller ist es ja nicht schön, in Systeme, die unglaublich multipel und divers sind, hineinzuschreiben. Wenn ich die Wahl hätte, offen gestanden: Ich wär lieber da dabei ...«9
Die Frage, ob man eine neue Gruppe 47 braucht, stellt sich heute schon lange nicht mehr. Aber manchmal taucht sie unvermutet wieder auf, wie ein Gespenst, von Mythen befrachtet, heftig attackiert oder nostalgisch verklärt. Insofern lohnt es sich durchaus, noch einmal genauer hinzuschauen: noch einmal zu fragen,was es mit dieser Gruppe auf sich hatte, die die Literaturgeschichte der Bundesrepublik so nachhaltig geprägt hat.
Vorspiel
Die Hex vom Bannwaldsee
Dort, wo die Gruppe 47 gegründet wurde, steht heute ein Campingplatz. Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel, das ein gutes Dutzend unbekannter Schriftsteller nach vielen Mühen im September 1947 erreichte und das im Briefkopf als »Gut Bannwaldsee« firmierte, ist ein niedriger, knapp zweistöckiger Bau mit sehr schrägen Wänden unter dem Dach. Heute wohnt dort die Betreiberin des Kiosks, der die Camper am Bannwaldsee versorgt, und es ist sorgsam mit einem Holzzaun versehen. Damals allerdings muss das Haus einen ganz anderen Eindruck gemacht haben, es stand völlig allein am See, wie eine Villa, und die Bewohnerin wohnte dort ebenfalls allein. Noch viele Jahre später geisterte sie als die »Hex vom Bannwaldsee« durch die Dorfgespräche im benachbarten Schwangau - eine geheimnisvolle, fremdartige Frau, die irgendwie künstlerisch tätig zu sein schien und mit den Leuten im Ort kaum etwas zu tun hatte. Selbst über ihr Geburtsjahr schwankten die Angaben - 1910 oder doch 1903? -, aber die hochgewachsene Frau hatte im Jahr 1947 offenkundig etwas Jugendlich-Altersloses an sich und löste ungewisse Ängste und Abwehrmechanismen aus. Sie fuhr mit wehenden langen Haaren auf einem Motorrad herum; sie lackierte ihre Fingernägel mit roter Farbe; sie trug ziemlich ausgefallene Kleider und, was in dieser Zeit und in dieser Gegend für eine Frau noch äußerst ungehörig war, lange Hosen, dazu viel und auffälligen Schmuck. Und die Männergeschichten, die sie in den Wirtshausgesprächen zwangsläufig haben musste, entfalteten naturgemäß ihre Eigendynamik.
Im Juli 1947 traf Ilse Schneider-Lengyel bei einem Schriftstellertreffen auf einem Adelssitz im oberbayerischen Altenbeuern unter anderem Hans Werner Richter, dem die ganze Veranstaltung nicht gefiel - man müsse so etwas anders machen, jünger, kritischer. Fraglich war für ihn nur der Ort - in der Nachkriegs- und Besatzungszeit galt es zu improvisieren. Für Ilse Schneider-Lengyel war es keine Frage, dass dieses Treffen bei ihr stattfinden könnte: Sie besaß das Haus am See samt Grundstück, und sie hatte auch die Fischrechte, was für die Verpflegung äußerst notwendig sein würde. 1945 war ihr Vater, ein bayrischer Oberforstmeister, gestorben. Sie hatte alles geerbt und war
an den Bannwaldsee bei Füssen gezogen - nach einigen Jahren ethnologischer und künstlerischer Studien. Das »Andersartige«, das in den wenigen Erinnerungen an diese Frau immer wieder auftaucht, hat auch etwas mit ihrer Biografie zu tun: Nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten floh sie aus Berlin nach Frankreich und bewegte sich dort in den Kreisen der surrealistischen Bewegung.
Ihre erste künstlerische Ausbildung erhielt sie in den zwanziger Jahren an der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins in Berlin. 1 Dort entwickelte sie ein ausgeprägtes Interesse für das Fotografieren von Kunstwerken, besonders von Skulpturen. Daneben studierte sie Kunstgeschichte und Ethnologie, fand Kontakt zu den Protagonis-
Das Haus von Ilse Schneider-Lengyel am Bannwaldsee, ungefähr zur Zeit des Geschehensten des Bauhauses und lernte dabei den ungarisch-jüdischen Architekten und Maler Lászlo Lengyel kennen, den sie heiratete. Im Pariser Exil arbeitete sie als Fotografin für Zeitschriften, veröffentlichte aber auch etliche Kunstbände: über kultische Masken etwa, über griechische Terrakotten oder Michelangelo, Donatello und Rodin. Nach der Besetzung Frankreichs änderte sich die Pariser Kunstszene spürbar. Ilse Schneider-Lengyel kam immer öfter an den elterlichen Bannwaldsee und trennte sich schließlich auch von ihrem Ehemann. Ein Gerücht besagt, sie habe ihm sogar eine neue Frau besorgt.
Im Nachlass von Hans Werner Richter befindet sich eines ihrer künstlerischen Hauptwerke: Die Welt der Maske, 1934 im Piper-Verlag in München erschienen - ein weit gespanntes Panorama der menschlichen Verfremdungs- und Verstellungsrituale, über alle Kontinente hinweg, das vor allem von den vielen überraschenden Abbildungen lebt. Die Widmung an Richter überrascht weniger durch ihre Formulierung - »Für Hans Werner Richter herzlichst die Verfasserin, September 1948« -, sondern durch ihre Form: handschriftlich ausgeführte Druckbuchstaben, penibel geradlinig, fast wie mit einer Schablone geschrieben; eine unpersönlich wirkende, objektivierende Schrift. Und die Gedichte, die sie auf dem Schriftstellertreffen am Bannwaldsee vortrug, wirkten ebenfalls wie aus einer anderen Welt. 1952 erschien ihr Lyrikbändchen September-Phase in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe »studio frankfurt«, in der fast gleichzeitig auch das Debüt Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann herauskam. Im Almanach der Gruppe 47, der 1962 auf dem Höhepunkt des Einflusses dieser Schriftstellervereinigung veröffentlicht wurde, findet sich als erstes der fünf abgedruckten Gedichte Schneider-Lengyels das folgende:
Wort
sprechunfähig fliegen die hexen aus den häusern
der eisenriegel der hütten kommt aus dem boden
man schütze sich gegen die hauchlosen lider
der wenn-wölfe das wort ist ein unerklärliches
geräusch krank wurde der mensch daran
Die Hex vom Bannwaldsee
Nur von fern scheinen die »hexen« dieses Gedichts eine Reaktion auf die Zuschreibungen der unmittelbaren Nachbarn Ilse Schneider-Lengyels zu sein, der Bauern in Schongau. Das Ganze ist viel eher ein Spiel, das die Autorin aus dem Paris der Surrealisten mitgebracht hat und für das im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit jede Grundlage und jegliches vorstellbare Umfeld fehlten. In der Nullnummer der nie erschienenen Zeitschrift Der Skorpion, die Hans Werner Richter in dieser Zeit konzipierte, schreibt Schneider-Lengyel über »Jean Paul Sartre, den Surrealismus und die Antisartristen«, und sie stellt fest, dass der Surrealismus »sich sartriert« habe: »Die Heideggersche Philosophie hat in Frankreich rostrote Blüten getrieben. Ein Herbst war bereits angebrochen. Dieser Herbst lag im Sturm zwischen einer zerstörten Wahrheit und einer noch nicht vorhandenen: Tabula rasa.«2
Masken, Bücher und Bilder bestimmten das Haus dieser schwer greifbaren, exotischen Frau, wie in mehreren Schilderungen nachzulesen ist. Und dass sie ihr Motorrad in jedem neuen Frühling mit einer neuen Farbe lackierte, irritierte die Füssener Landbevölkerung genauso, wie ihre surrealistischen Gedichte die Gruppe 47 irritierten: Sie nahm an den ersten sechs Treffen der Gruppe teil und dann noch einmal 1957. Als ferne Erinnerung geisterte sie auch durch die spätere Gruppengeschichte. Nicolaus Sombart war bereits am Bannwaldsee dabei: »Es hatte uns begrüßt eine grazile, dunkelhäutige Frau mit etwas schräggestellten Augen und dichtem, langem, schwarzem Haarschopf, in den ein buntgewebtes Band geflochten war. Eine Zauberin, wie sich herausstellte, der es gelang, diesen wilden Haufen, der da in ihr Reich hereinbrach, mit einem sanften, mysteriösen Lächeln zu bändigen. Sie hätte Melusine heißen müssen. (...) Sie war völlig anders als wir alle, eine für unsere damaligen Maßstäbe ganz undeutsche Erscheinung, ein Wesen, das einer fremden kosmopolitischen Kultursphäre angehörte. Sie war eine Frau ohne festen Wohnsitz und ohne feste Identität, flüchtig, heimatlos, unfassbar, undinenhaft.«3
Der avantgardistische Zeitschriftenmacher und Kleinverleger Rainer M. Gerhardt, der mit seiner Anknüpfung an die US-amerikanische Avantgarde seiner Zeit weit voraus war und ein radikal modernistisches Literaturkonzept verfolgte, annoncierte in seiner Reihe »galerie ubu« als Nummer 2 Indianische Malerei, »herausgegeben von Ilse Schneider-Lengyel«, und 1954 kündigte er von derselben Herausgeberin eine Veröffentlichung an, die einfach Puppen hieß. 1957, als sie zum letzten Mal bei der Gruppe 47 erschien, nahm der Berliner Kurier noch einmal Notiz von ihr: »eine begabte Übersetzerin von Negerlyrik, Bewunderin der wilden Tiere und des Dschungel und Trägerin von exotischem Schmuck, mit dem sie, reich versehen, auch jetzt wieder erschienen war«.4 Doch danach taucht Ilse Schneider-Lengyel in der Literaturgeschichte nicht mehr auf.
In den sechziger Jahren besuchte sie mehrfach der junge, 1948 in Pfronten geborene Gerhard Köpf, der in Füssen aufs Gymasium ging - für einen versprengten, einsamen Literaturinteressierten in der näheren Umgebung barg die Existenzform Ilse Schneider-Lengyels gerade in dieser Zeit offenkundig ein großes Versprechen. In seinem Debütroman Innerfern aus dem Jahr 1983 beschreibt Köpf die Begegnung mit der fremden, anziehenden, andere Lebenswelten verkörpernden Frau, seiner »Jugendfreundin«, wie er sie rückblickend nennt. Und obwohl er seine Erinnerungen fiktiv einbettet - Ilse Schneider- Lengyel wird im Roman zur Kunstfigur »Karlina Piloti« -, gewinnt die reale Vorlage immer wieder deutliche Konturen: »Karlina trägt eine auffallend bunte, mit großem Fischgrätenmuster versehene Hose, deren untere Beine vom Knie an weit ausgestellt sind. Bügelfalte ist keine mehr da. An der Naht baumeln dafür links und rechts winzige Glöckchen, die bei jeder Bewegung, bei jedem der schnellen Schritte, einen fremden Klang hören lassen. Sie habe diese Hose, auf die hin man sie gelegentlich anspreche, aus Mexiko mitgebracht, daher auch die mexikanischen Stickereien, die mir erst jetzt auffallen. Ich finde die Kleidung einfach toll, großartig, überdies höchst riskant in dieser Gegend. Die Roana, ein ponchoähnliches Tuch mit kurzen Fransen, aus braungrauer Lamawolle mit unauffälligem Mäandermuster, das sie um die Schultern geworfen trägt, stamme aus Bolivien. Dazu ein andermal mehr.«5
Am 2. September 1947, eine Woche vor dem Treffen, schreibt Hans Werner Richter an Ilse Schneider-Lengyel: Wenn es ein oder zwei Personen mehr als die vorgesehenen zehn werden sollten, seien er und ein von ihm vielleicht mitgebrachter »Dr.« vom Münchner Rundfunk »bereit, irgendwo auf dem Fußboden oder Heuboden zu schlafen. Das wird wahrscheinlich allen Teilnehmern wenig ausmachen.«6 Und er erinnert sich im Nachhinein in verwischten schwarz-weißen Sprachbildern, wie die Teilnehmer der Tagung von München aus zum Bannwaldsee reisten - man trieb im oberbayrischen Weilheim, weil es dort keinen Zug für die Weiterfahrt gab, einen alten Lkw mit Holzvergaser auf, der mehr schaukelte als fuhr, und saß auf der offenen Tragefläche.
Als man endlich am Ziel angekommen war, sprang Isolde Kolbenhoff sofort nackt in den See, worauf sich einige der zukünftigen Dichter schamhaft umdrehten, wie die Teilnehmerin Freia von Wuehlisch in ihren Tagebuchnotizen festhielt, andere dagegen mit »Wohlgefallen« der »jungen Venus« nachblickten.7 Die ländliche Umgebung, Schloss Neuschwanstein und Schloss Hohenschwangau fast im Blickfeld, muss auf die Beteiligten sehr stimulierend gewirkt haben. Maria Friedrich, die Ehefrau des späteren dtv-Verlegers Heinz Friedrich, hat als Einzige über dieses erste Treffen der Gruppe 47 in der Presse berichtet: in einer kurzlebigen Frankfurter Gazette namens Die Epoche, und zwar unter ihrem Mädchennamen Maria Eibach. Ilse Schneider-Lengyels Anwesen wird dort nicht von ungefähr als »Fischgut« bezeichnet. Denn die Fische waren in dieser ausgehungerten Zeit vor allem für die Großstädter ein herausragendes Erlebnis. Walter Kolbenhoff erinnert sich etliche Jahre später: »Am Bannwaldsee angekommen, sahen wir das Haus, in dem wir alle schlafen sollten, ein einsam am See gelegenes kleines Haus. Wie wir die Nacht verbracht haben, weiß ich nicht, die meisten schliefen auf dem Boden, Richter als Häuptling natürlich kriegte ein Bett. Aber wir schliefen auf dem Boden. Dann kam das zweite Problem. Schlecht ausgeschlafen, hungrig, immer noch müde, wollten wir frühstücken. Was? Da hatte Frau Schneider-Lengyel für gesorgt, die war schon um vier Uhr aufgestanden, auf'n See rausgerudert und hatte Hechte und Barsche, und ich weiß nicht, wie die Fische heißen, gefangen. Die wurden gebraten, dann aßen wir jeder ein Stück Fisch, das war das erste Frühstück der Gruppe 47.«8 Und Hans Werner Richter, aus Bansin auf der Ostseeinsel Usedom, spricht wiederholt von den Hechten, die er als eine »Delikatesse« empfand -neine »ungewohnte, langentbehrte Mahlzeit«: »Noch bestand die tägliche Ration aus 1800 Kalorien, noch hatten viele wenig und oft nichts zu essen, noch war die Zeit der Reichsmarkscheine, die keinen Wert mehr besaßen, aber noch war auch alles ungeklärt, und niemand wußte, wohin der Weg morgen oder übermorgen führen würde.«9
Die Gastgeberin fuhr nicht nur morgens um vier Uhr auf den See hinaus, um Fische zu fangen. Sie brachte auf ihrem alten Motorrad auch einen Sack Kartoffeln, den sie schwarz in Füssen besorgt hatte. Und Maria Friedrich geb. Eibach schrieb gegen Ende ihres kurzen Artikels: »Als es fast wieder Tag wurde, las Schneider-Lengyel ihre surrealistischen Gedichte und brachte mit ihnen einen eigentüm lichen Faktor in den Arbeitskreis hinein. Sie vermittelte dem erstaunten Ohr schillernde Eindrücke, die noch lange nachzuschwingen vermochten. «10 Eine Erkenntnis jedenfalls war eindeutig: Während der zwei Tage am Bannwaldsee entwickelte sich eine Dynamik aus Lesen, Kritisieren und Sprechen, eine Mischung aus dem Barackenleben gerade erst vergangener Zeiten und dem bohemeartigen Vorgefühl eines kommenden Lebens. Der intensive Austausch schien auch durch die Abgeschiedenheit der Szenerie erst so richtig möglich geworden zu sein. Die Entrücktheit der Kunst- und Lebenswelt von Ilse Schneider- Lengyel konnte als Maßstab dienen - sie trat so zwar nicht mehr in Erscheinung, aber Hans Werner Richter suchte für die folgenden Treffen immer wieder solche entlegenen Orte, mitten in der Provinz, abseits der großen Städte aus. Ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1948, fand das dritte Treffen der jetzt »Gruppe 47« genannten Vereinigung in Jugenheim an der Bergstraße statt, und Richter notiert auf einem späteren Blatt, dass vor allem diese Frühjahrstagung in der Pfalz für ihn die Erinnerung an eine unwiederholbare Boheme wachrufe, trotz der Kritik, die dabei an ihm als Autor geübt wurde: »eine Tagung, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann: bohemehaft, schlampig, getragen von dem überschäumenden Lebensgefühl der ersten Nachkriegsjahre, mit den Hoffnungen dieser Zeit (...)«.11
Ruth Rehmann, die in den fünfziger Jahren zur Gruppe 47 stieß, beschreibt in ihrem autobiografisch geprägten Roman Ferne Schwester aus dem Jahr 2009 in einigen atmosphärisch sehr dichten Passagen, woraus sich dieses Bohemegefühl speiste. Die 1922 geborene Autorin lässt ihre Heldin, eine Sängerin, nach Kriegsende durch Deutschland streifen, und in Heidelberg stößt sie bei der Jobsuche auf ein Bartrio, die »Students«, die von der US- Army angeheuert werden, in »für US-Offiziere reservierten Etablissements« aufzutreten: »Kein Vorher, kein Nachher, keine Tiefe, nichts Gemeinsames außer ein paar Stunden Musik in einem der Wirklichkeit abgehobenen, ausgepolsterten Raum, in dem bei sanfter Beleuchtung gegessen, getrunken, getanzt wird, während draußen der Curfew die Straßen leerfegt. (...) Draußen, in der großen Unordnung zwischen Nicht-mehr-Krieg und Noch-nicht- Frieden, haben sie nichts miteinander zu tun. Jeder muss sehen, wie er zurechtkommt. Das Ineinanderstürzen von Endkriegs-Chaos und Besatzerordnung bringt irrwitzige Formen und Situationen hervor, darunter, wie Ostereier versteckt, Momente märchenhafter Leichtigkeit, in denen alles, alles möglich erscheint.«12
Das passt zu dem Ton, den Gerhard Köpf in seiner Erinnerung an Ilse Schneider-Lengyel aufnimmt, die exotische Künstlerin am Bannwaldsee: »Sie erzählt von den Masken, erklärt und deutet, berichtet von Reisen und vom Fotografieren, welches sie eine Kunst nennt, die höchste Geduld fordere. Um die Eigenart der Maskenkunst zu begreifen, höre ich, müsse ich das pantomimische Element besonders beachten: Innenbewegung und Spannung, gröber und leiser schwingend, an- oder abschwellend, seien wichtig, der Rhythmus bringe durch Ilse Schneider-Lengyel mit Fischreuse am See Spannung und Lösung formale Ordnung in die Gesichtszüge.« Und sie zeigt ihre Fotografien von Tänzerinnen auf griechischen Terrakotten: »Karlina Piloti spannt einen Bogen, auf dessen einer Seite ihr Motorrad, auf der anderen die grazilen Bewegungen der Tänzerinnen stehen. Geschwindigkeit und Flug, Bewegung und Anmut, höre ich sie schwärmen.«13
Bis 1950 war diese Exotin bei den Treffen der Gruppe 47 fast immer die einzige Frau. Doch sehr schnell stellte sich heraus, dass sie eine Außenseiterin blieb. Albrecht Knaus etwa schrieb in der Neuen Zeitung über die Frühjahrstagung 1950 in Inzigkofen: »Ilse Schneider- Lengyels Übersetzungen von Dichtungen australischer, indonesischer und amerikanischer Naturvölker riefen die erste ernste Diskussion über das Problem solcher Unternehmungen hervor. Ihre Erzählung ›Der Nomade‹, ein Prosastück von einer unheimlichen Dichte, aus einer höchst fragwürdigen Vorstellungswelt stammend, die etwa an Illustrationen von Max Ernst erinnert, war ebenfalls umstritten.«14
Ilse Schneider-Lengyel musste das Haus 1958 verkaufen, an einen Fabrikanten, der ab und zu kam und das Erdgeschoss in Beschlag nahm, während der ursprünglichen Besitzerin das Obergeschoss mit den Dachschrägen blieb. Irgendwann verliert sich ihre Spur. Dass sie 1972 im psychiatrischen Landeskrankenhaus auf der Insel Reichenau im Bodensee starb, ist die letzte fassbare Nachricht.
»Wir harren, Christ, in dunkler Zeit.«
Die allgemeine literaturpolitische Situation im Nachkriegsdeutschland
Der französisch-elsässische Germanist Robert Minder war sichtlich verblüfft, als er im Jahr 1952 die aktuellen westdeutschen Lesebücher untersuchte: »Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher in die Hände, er dächte: Ein reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahrhunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.«1
Robert Minder war beileibe kein Polemiker. Er hielt einfach fest, was die Atmosphäre dieser Zeit ausmachte, was tonangebend war. Und in den ersten Jahren nach 1945 stand die soeben zurückliegende, industriell aufgerüstete Barbarei keineswegs im Vordergrund. Von der Erfahrung eines Zivilisationsbruchs durch die Nazis war kaum etwas zu spüren, es gab wenig Spuren, die auf eine deutsche Schuld hindeuteten. Die wichtigsten unter den deutschen Schriftstellern waren vor den Nationalsozialisten geflohen und lebten immer noch im Exil. Doch auch im NS-Staat waren literarische Texte geschrieben worden. Und deren Autoren waren alle noch da.
Sie traten nach der Währungsreform 1948 wieder in den Mittelpunkt, als nicht mehr ausschließlich die Besatzungsmächte die literarischen Neuerscheinungen lizenzierten und finanzierten. Die blühende Zeitschriftenszene der unmittelbaren Nachkriegsjahre verwelkte nach 1948 sofort. Die Generation der etwa 50- bis 70-Jährigen beherrschte jetzt die Zeitungen und den Buchmarkt. Sie nahm nahezu geschlossen eine »innere Emigration« für sich in Anspruch. Viel ist nun von den »Dämonen« die Rede, von der »dunklen Zeit«, von »Heimsuchung«.
Gertrud von le Fort dichtete: »Die Schuld ist ausgeweint.«2 Als der größte zeitgenössische Lyriker galt Rudolf Alexander Schröder. Er war der Repräsentant der deutschen Gegenwartsliteratur und hielt fast jeden feierlichen Festvortrag. Am Silvesterabend 1951 wurde seine »Hymne an Deutschland« anlässlich der Neujahrsansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss in den Rundfunkanstalten gesendet, die nach dessen Willen auch die neue Nationalhymne werden sollte, und die erste Zeile enthält schon das ganze Credo: »Land des Glaubens, deutsches Land.« Schröders religiöse Dichtung drückte das deutsche Selbstgefühl um 1950 ideal aus. Seine Geistlichen Gedichte bestimmten die Feuilletons und waren ein Bestseller: Wir harren, Christ, in dunkler Zeit. Gib deinen Stern uns zum Geleit auf winterlichem Feld. Du kamest sonst doch Jahr um Jahr! Nimm heut auch unsre Armut wahr in der verworrnen Welt.3
Am wichtigsten war den Deutschen der deutsche »Geist«, der trotz des Hitlerregimes immer noch existiere. Das sahen die Emigranten naturgemäß etwas anders. Irmgard Keun schrieb 1947 in einem Brief aus Deutschland nach New York: »Der ganze Boden in Deutschland stinkt nach Mord und Leichen, und nun zieht sich ein Schleim von Frömmigkeit darüber hin. In der Ostzone beten sie anders herum.«4
Zur zentralen Symbolfigur wurde Thomas Mann. Zum Wortführer seiner Gegner schwang sich sofort nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der Schriftsteller Frank Thiess auf. Er veröffentlichte am 18. August 1945 in der Münchener Zeitung einen programmatischen Text mit dem Titel »Die innere Emigration« und der viel zitierten Passage, wonach die Exilanten »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschauten«. Der wohl eindrucksvollste Beleg für das Verhältnis der meisten Deutschen zu Thomas Mann ist aber der Geburtstagsartikel, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 6. Juni 1950 als Aufmacher im Feuilleton druckt - pünktlich zum 75. Geburtstag des Schriftstellers. Der Verfasser ist Gerhard Nebel: »Es geht nicht an, in Geburtstags-Sentimentalität zu vergessen, was uns von Thomas Mann scheidet. Er tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen, und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut. Dieser Schriftsteller ist eine Linse, die die Strahlen der Partisanen-Bosheit sammelt - aber freilich einer besonders gearteten. Wie seinem Werk, seinem Denken, seiner Sprache alles Elementare fehlt, so ist auch dieser Haß kein flackerndes, sondern ein schwelendes Feuer, Vernichtungslust in Form von moralischen Urteilen, kein freier Ausbruch, sondern ein Würgen des Kloßes, der sich in der Kehle verklemmt hat. Zudem ist der Haß weltgeschichtlich nicht mehr aktuell, er gilt einer untergegangenen Gestalt des globalen Bürgerkrieges, in dem wir stehen, er ist Thomas Manns private Lust.«
Gerhard Nebel war mit dieser Tonlage nicht allein. Es gab fast ein Unisono. Eine Formulierung Thomas Manns fachte besonders den Hass an: In seiner »Antwort auf die inneren Emigranten« schrieb der Nobelpreisträger von 1929 am 28. September 1945 im New Yorker Aufbau: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.«
Der in Deutschland gebliebene und hoch angesehene Schriftsteller Otto Flake nahm diese Formulierung zum Anlass, ein groß angelegtes politisches Panorama zu entwerfen: »Autoren wie Wiechert oder Carossa oder, um in eigener Sache zu sprechen, ich selbst waren weit davon entfernt, Lektüre zu veröffentlichen, die nach Blut und Schande roch. (...) Der Deutsche war töricht genug, der modernen Welt die Gefahr vorzuleben, die ihr tatsächlich droht, die Maßlosigkeit nämlich, die auftritt, sobald man die Bindungen zerstört, in ihrer Verblendung waren die Deutschen bereit, eine Art satanischer Arbeitsteilung zu bejahen - dieselbe, die den allzu Beflissenen den Kloakendienst überlässt, während die anderen, die Hände in den Hosen, verächtlich zuschauen. Damit die Menschheit zur schrecklichsten der Erfahrungen kommen konnte, zu einer Lehre, die hoffentlich unvergessen bleibt, haben die Deutschen die Kastanien aus dem Feuer geholt.«5 Diese Mischung aus Selbstmitleid, Trotz und Aggression entwickelte über Jahre hinweg ihre Dynamik und konnte im Laufe der fünfziger Jahre im Kalten Krieg als Antikommunismus gut eingebunden werden.
1948 erschien Thomas Manns monumentaler Roman Doktor Faustus in Deutschland. Er zielte mitten ins gegenwärtige deutsche Bewusstsein: Ausgangspunkt ist die Frage, wie deutsche Kultur und der Nationalsozialismus zusammengedacht werden können. In der deutschen Kritik gaben jene Meinungsträger den Ton an, die in den nächsten Jahren den kulturellen Diskurs in Deutschland maßgeblich bestimmen sollten, vor allem Friedrich Sieburg und Hans Egon Holt husen.
Friedrich Sieburg arbeitete von 1932 bis 1939 als Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris. 1939 wurde er in den auswärtigen Dienst berufen und 1940 zum Botschaftsrat in Paris im besetzten Frankreich ernannt. In der Rede »Frankreich gestern und heute« vor der »Groupe Collaboration« im März 1941 erklärte Sieburg: »Ich bin durch das Leben in Frankreich zum Kämpfer und zum Natio nalsozialisten erzogen worden.«6 1942 kehrte er nach Deutschland zurück. Er arbeitete wieder als Journalist und wurde Ehrenbegleiter von Marschall Pétain, dem Chef der französischen Kollaborationsregierung. Die französische Besatzungsmacht verhängte über Sieburg bis 1948 ein Publikationsverbot. In der Zeitung Die Gegenwart vom 15.Juli 1949 veröffentlichte er, in einer gewitzten Mischung aus Talleyrand und Heidegger, einen Aufsatz mit dem Titel »Frieden mit Thomas Mann«: »Wenn wir nicht ahnten, was es ist, so würden wir sagen, daß es Haß gegen Deutschland ist, der sein Leben während der Entstehung des Faust-Romans zu einem so beklemmenden Gespinst von Selbstquälerei, Gefühlsausbrüchen, Zweifeln und öffentlicher Geschäftigkeit macht. ›Für eine dezente liberal-demokratische Republik ist dieses Land verloren‹, notiert er kummervoll. Wer glaubte das auch außerhalb Kaliforniens nicht manchmal selbst, obwohl man die nicht minder kummervolle Frage hinzufügen darf, wie lange sich der Geschmack für eine solche ›Dezenz‹ überhaupt noch in der Welt halten wird. Es würde den großen ›Signalisierern‹ vielleicht Ehre machen, wenn sie Vermutungen dieser düsteren Art nicht zu sehr an ein einzelnes Land knüpften. Unversehens wird der Dichter dank dieser Verengung seines Blickfeldes zu einem Parteigänger, ja zu einem Parteipolitiker, zu einem amerikanischen natürlich.« Thomas Mann reagierte darauf in einem Brief an seinen Schweizer Freund Otto Basler: »Wenn Sie von deutscher Hysterie einen starken und greulichen, aber auch sehr komischen Eindruck haben wollen, so lesen Sie den Artikel von Friedrich Sieburg in der ›Gegenwart‹, einem Blatt der französischen Zone. Es ist monströs.«7
Hans Egon Holthusen machte nach dem Krieg eine große Karriere als Lyriker und Essayist, indem er sich flexibel den wandelnden Zeitströmungen in Deutschland anpasste. Im Merkur, der in dieser Zeit vehement die Belange der »inneren Emigration« vertrat, schrieb der 35-jährige Holthusen in den beiden ersten Heften des Jahrgangs 1949 einen langen Essay: »Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns ›Dr. Faustus‹ und seinen Nebenschriften«, der im selben Jahr auch als eigenständiger Druck erschien. Darin heißt es: »Es kann nicht verschwiegen werden, daß es Taschenspielerei ist, den Namen Luthers mit den Verbrechen der Nazis in einem Atem zu nennen. Diese Untaten wurden im Namen Deutschlands begangen, aber wurde denn dieser Name nicht mißbraucht? Wo war ›Deutschland‹ in jenen Jahren? War es in der Reichskanzlei oder in den Zellen der Widerstandskämpfer? Etwa bei den Männern um den unvergesslichen Grafen Moltke, die mitten in einer satanischen Welt das Zeugnis eines bis in den Tod getreuen Christentums abgelegt haben, bis sie am Strick des Henkers ihre Passion vollenden mußten, während jemand anders auf kalifornischem Boden den Namen Luthers verdächtigte und die Theologie als Teufelswissenschaft ›entlarvte‹?«
Holthusens Frage »Wo war Deutschland in jenen Jahren?« kann man mit seiner eigenen Biografie ziemlich eindeutig beantworten. Er war seit 1933 SS-Mitglied, 1937 trat er auch der NSDAP bei. Im April 1940 schrieb er in der Monatszeitschrift Eckart: »Der Sinn unseres Marsches war ein Jahrtausend alt. ›Nach Ostland wollen wir reiten‹, hatten die niederdeutschen Ordensritter und Siedler des ottonischen und stauffischen Mittelalters gesungen, und heute war es dasselbe Lied, das uns geleitete ...«8
Hans Egon Holthusen wurde mit seinem Essayband Der unbehauste Mensch berühmt, seine Haltung und seine ästhetischen Prämissen wirken darauf etliche Jahre lang hegemonial. Hier wird sehr deutlich, in welchem Umfeld sich die Gruppe 47 in der frühen Bundesrepublik bewegte. Es galt nicht zuletzt ihr, was Holthusen 1952 im Merkur schrieb: »Wenn die ›grand old men‹ der deutschen Gelehrtenrepublik wie Rudolf Alexander Schröder und Ernst Robert Curtius einander über die Köpfe des profanum vulgus der literarischen Tagesproduktion hinweg zublinzeln und kleine kritische Blumensträuße darbringen, dann fällt gleichsam die ganze mittlere und jüngere Generation der heutigen deutschen Literatur als unerheblich unter den Tisch. Denn wo noch der strenge erzene Kontur eines Vergil-Verses als maßgebend angesehen wird, da ist ein moderner Romanschreiber nicht diskutabel.«9
Die Verrisse seines Doktor Faustus setzten Thomas Mann durchaus zu. Er konstatierte: »Deutschland ist arroganter und selbstgerechter als je. Die Holthusen, die mein Buch heruntermachen, glauben Literaturkritik zu treiben, sind aber in Wahrheit die Sprecher der deutschen Restauration - zum Alten-Unerträglichen.«10
Will man die Atmosphäre und die Vielfalt der literarischen Ausdrucksformen in der Nachkriegszeit einfangen, so stößt man auf ein Problem. Denn eigentlich möchte man nicht stehen bleiben bei der Rede vom Mief der Adenauerzeit, von der Restauration in den ersten Jahren der Bundesrepublik, also bei rituell wiederholten Formeln, die inzwischen ihrerseits drohen, einen gewissen Mief anzunehmen. Und dennoch: Wer sich mit dieser Zeit näher befasst, kommt an jenem Mief nicht vorbei. Unübersehbar werden die Schwierigkeiten, die jüngere, unbekannte Autoren hatten, wenn sie nach etwas Offenem suchten, sich ins Unbekannte vorwagten. Sie stießen dabei zwangsläufig auf die Herren des Diskurses. Der Bundeskanzler, Konrad Adenauer, hatte 1926 als Oberbürgermeister der Stadt Köln nach der Uraufführung von Béla Bartóks musikalischer Pantomime Der wunderbare Mandarin weitere Aufführungen untersagt; es hieß, das sei »sexuelle Musik par excellence«.11 Und es konnte keine Rede davon sein, dass sich an diesem Kunstverständnis mittlerweile grundsätzlich etwas geändert hatte. Erinnert sei auch daran, dass der sogenannte »Gehorsamkeitsparagraph « erst 1957 gesetzlich abgeschafft wurde: Er sprach dem Ehemann das Recht zur Entscheidung aller das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu.
Heute kennt man die damaligen Drahtzieher des Literaturbetriebs, die die herrschende Atmosphäre verkörperten, kaum noch. Sie sind von der später einsetzenden Wirkung der Gruppe 47 verdeckt worden. Um das Charakteristische dieser Jahre differenzierter betrachten zu können, lohnt es sich aber, zwei herausragende Protagonisten näher unter die Lupe zu nehmen.
Frank Thiess, geboren 1895, war bis Mitte der fünfziger Jahre einer der führenden deutschen Schriftsteller und ständig präsent. Mit einem Doppelroman über den neapolitanischen Tenor Enrico Caruso feierte er wahre Publikumstriumphe, das Buch erlebte etliche Auflagen und Buchclublizenzen. Thiess knüpfte damit nahtlos an den Erfolg von Rudi Schurickes Schlager über die »Caprifischer« an und wurde zum Avantgardisten deutscher Italiensehnsucht der fünfziger Jahre. 1950 ernannte der Schutzverband deutscher Autoren, die zentrale Schriftstellervereinigung, Frank Thiess in einem seltenen, feierlichen Akt zum Ehrenmitglied. Außerdem wählte man ihn auf der ersten Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1950 zum Vizepräsidenten. 1955 schließlich wurde er Vorsitzender der Sektion Literatur in der Akademie in Mainz und damit Nachfolger Alfred Döblins, der entsetzt ein »zweites Exil« in Frankreich angetreten hatte. Ein Schriftsteller wie Frank Thiess ist auf seine Weise repräsentativ für die deutsche Entwicklung. 1929 etwa hatte er geschrieben: »Die Demokratie hat in Deutschland die Mittagshöhe ihres Ruhms überschritten, ihre Ideenlosigkeit offenbart und die Sympathien der Jugend verloren. «12 Die Weimarer Republik lehnte er ab, seine politische Haltung trug ständisch-elitäre, preußisch-junkerhafte Züge. Dabei verachtete er Hitler durchaus. Thiess fühlte sich dem kleinbürgerlichen Pöbel und der proletarischen Masse überlegen.
Frank Thiess' Haltung ist für die geistige Atmosphäre in den ersten Jahren der Adenauerrepublik besonders aufschlussreich. Er hatte mit der NSDAP nichts zu tun, er war kein Nazi. Aber das ist nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist: Frank Thiess steht für eine bruchlose Kontinuität völkischer, deutschnationaler und antidemokratischer Strömungen von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis zur Gründungsphase der Bundesrepublik. Seine Haltung ist somit symptomatisch für ein deutsches Bürgertum, das dem Natio nalsozialismus den Boden bereitete. Nach 1945 begriffen sich dann viele Vertreter dieser Sphäre subjektiv als Widerstandskämpfer. Das wiederum hatte ganz konkrete politische Auswirkungen.Am 2.März 1947 schrieb Thiess an Luise Jodl, die Frau des Chefs des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl, der bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tod durch Strang verurteilt werden sollte: »Vom Standpunkt der Pharisäer aus gesehen, wurde auch Jesus bestraft, doch die Christen wendeten diese ›Strafe‹ in ein Opfer, das er für die Sünden der Menschheit brachte, und so ging von Golgatha ein Strom des Lebens aus. Die Zelle des Generalobersten Jodl ist heute so groß wie ganz Deutschland, und die Richter über uns werden andere sein als die Männer in Nürnberg. Die Geschichte richtet immer anders als die Gegenwart.«13
Etwas anders verlief die Entwicklung von Kasimir Edschmid. Im Gegensatz zu Thiess war Edschmid der klassische Opportunist, der seine Positionen je nach Windrichtung wechseln konnte. Edschmid machte nach 1950 die Stadt Darmstadt, seinen Geburts- und Wohnort, zu einer Art Verwaltungshauptstadt der deutschen Literatur. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die ihren Sitz eigentlich in Stuttgart haben sollte, entschied sich dann doch überraschend für Darmstadt, weil Kasimir Edschmid dort relativ viel Geld ergattert hatte. Und nicht nur die Akademie, auch das bundesdeutsche PEN-Zentrum nahm 1951 seinen Sitz in Darmstadt - erster Generalsekretär war Kasimir Edschmid. Bei allen Intrigen in der Akademie gelang es Edschmid als Einzigem, ständig ein hoher Würdenträger zu bleiben, in den letzten Jahren vor seinem Tod 1966 war er sogar ihr Ehrenpräsident. Noch 1965 hielt er die Laudatio auf den Büchnerpreisträger Günter Grass.
Wie Thiess war Edschmid in der Weimarer Republik durch völkisches und deutschnationales Denken aufgefallen. 1932 veröffentlichte er den Roman Deutsches Schicksal, und die herausragendste Kritik stammte von Hanns Johst, der kurze Zeit später Präsident der NS- Reichsschrifttumskammer werden sollte. Johst verglich Edschmids Buch emphatisch mit Hans Grimms Volk ohne Raum.
Edschmid hatte jedoch einen Makel: Er war in seinen Anfängen ein Expressionist gewesen. Als Hitler an die Macht kam, suchte er deshalb umso heftiger den Schulterschluss. Am 15. Mai 1933 schrieb er an Hans Grimm: »Zu meinem Entsetzen sah ich, daß mein Name plötzlich auf einer Liste auftauchte, die zur Säuberung der Bibliotheken vorderhand bestimmt sein soll und infolgedessen ist es auch geschehen, daß in ein paar Städten meine Bücher verbrannt worden sind. Die Scham, der Schmerz und die Enttäuschung, die es mir bereitet hat, mich plötzlich mit der ganzen zersetzenden Literatengesellschaft zusammen zu sehen, gegen welche sich jede Faser in meinem Herzen wehrt, kann ich Ihnen nicht schildern. Wenn ich mir überlege, was ich seit Jahren von jener Seite her auszustehen hatte, weil meine Einstellung eben immer positiv für Deutschland war, weil ich nie auch nur die Spur einer marxistischen Bewegung hatte, wenn ich denke, daß ich immer wieder die Welt durchstreift habe von den Einkünften aus meiner Schriftstellerei, um für positive deutsche Dinge eintreten zu können - und wenn ich nun bedenke, daß Bücher wie Deutsches Schicksal von Jungens verbrannt worden sind, die diese Bücher nicht kennen und die unsere deutsche Hoffnung darstellen und dass unzählig viele Bücher von Autoren, die mich zerrissen haben und die absolut antideutsch eingestellt waren, nicht angetastet wurden, so erscheint mir dieser Wahnsinn unfaßbar. Können Sie sich vorstellen, was ich, der ich nicht außen stehen will und kann in dem Deutschland, das kommt, empfinde, wenn ich meinen Namen neben Namen wie Iwan Goll, Emil Ludwig, Rubiner, Toller usw. lese. Sie müssen mir glauben, daß dieser Tag einer der schlimmsten in meinem Leben war. Ich bin, solange ich denken kann, mit allen meinen Kräften gegen das destruktive Literatentum gesegelt. Das haben auch alle führenden Zeitungen von rechts festgestellt. Und ich kann nicht mehr atmen, wenn gegen alle Vernunft und gegen alle Gerechtigkeit mein Name mit den Leuten genannt wird, die ich verachtet habe. Mag man mich für einen Juden gehalten haben (ich habe den besten arischen Stammbaum, den man sich denken kann): solange es Gerechtigkeit und Männlichkeit gibt, muß ich versuchen, in dieser Sache nicht für mich als Person sondern für meine Ideen und für meine Haltung Gerechtigkeit zu finden.«14 Edschmid kam mit seinem »besten arischen Stammbaum« tatsächlich glimpflich davon. Zwischen 1933 und 1941 publizierte er zehn Bücher. Und noch 1944 verhandelte er mit einem Protagonisten des engsten Führungszirkels der NSDAP, mit Baldur von Schirach, dem Reichsstatthalter in Wien, über ein repräsentatives Wien-Buch. Er besuchte von Schirach und dessen Frau privat. Einer der vielen, zum Teil langen Briefe, die Kasimir Edschmid an Baldur von Schirachs Ehefrau Henriette schrieb, endet mit den Worten: »Das Bild Ihrer Kinder steht in meinem Arbeitszimmer. Bitte umarmen Sie sie von uns.«15
Im Frühjahr 1950 erlebte Edschmid wegen seiner Kontakte mit Baldur von Schirach eine Überraschung: Die Oberösterreichischen Nachrichten hatten über seine Vergangenheit recherchiert. Mehrere deutsche Zeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, brachten die Nachricht. Edschmid veranlasste sofort Klageandrohungen und Gegendarstellungen. Er berief sich dabei auf Namen wie Carlo Mierendorff und Theodor Haubach, beide vor 1945 aktive und getötete Widerstandskämpfer gegen das Dritte Reich. In der FAZ schrieb Edschmid: »Ich habe in der Tat eine Besprechung mit Schirach gehabt und daraus kein Geheimnis gemacht, davon überall erzählt und das Ergebnis der amerikanischen Militärregierung in München mitgeteilt. Ich hatte diese Besprechung auf Wunsch meiner Freunde Mierendorff und Haubach, die über den Stand der Opposition bei Schirach informiert zu sein wünschten. Die Bemerkung, die Sie in diesem Zusammenhang weiterhin bringen, ›Er kam nicht nur einmal, er kam des öfteren‹ ist erlogen. Es hat nur eine Besprechung stattgefunden. Es hieße zum mindesten meine Intelligenz reichlich unterschätzen, wollte man glauben machen, daß ich als Autor, dem es seit Jahren verboten war, Bücher zu publizieren, im Jahre 1944 noch versucht hätte, als der Krieg längst verloren war, mich bei den Nazis anzubiedern.«
Heute ist die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine allgemein akzeptierte Institution, der von ihr verliehene Büchnerpreis gilt als die bedeutendste literarische Auszeichnung in Deutschland.
Doch auch in ihren ersten, unbekannten Jahren ist sie ein Modellfall, und zwar für den Geist der frühen Bundesrepublik. In ihr sammelten sich die typischen Protagonisten der Zeit: Intellektuelle wie Edschmid oder Thiess, die zwar nicht direkt der NSDAP zuzuordnen sind und sich zum Teil von Hitler abwandten, aber bereits der Weimarer Republik feindlich gegenüberstanden. In der Akademie fanden sich deutsch nationale, antidemokratische, ständisch-dünkelhafte Positionen, die sich eher wider Willen den von außen aufgezwungenen demokratischen Strukturen anpassten. Alfred Döblin schreibt in seinen autobiografischen Aufzeichnungen über die ersten Begegnungen mit deutschen Geistesmenschen nach seiner Rückkehr nach Deutschland: »Vor diesen Leuten von Demokratie zu reden, war schwierig. Sie lächelten oder grinsten. Das Fräulein Demokratie kannten sie nun schon aus der Nähe.«16
Auf der ersten Tagung im Frühjahr 1950 wählte die Akademie den 70-jährigen Rudolf Pechel zum Präsidenten, den langjährigen Herausgeber der Monatszeitschrift Deutsche Rundschau. Auch Pechels Profil ist exemplarisch für die »moralischen Instanzen«, die nach 1945 für den Neubeginn standen: In den zwanziger Jahren gehörte er dezidiert zum antirepublikanischen Lager. In der NS-Zeit betonte er dann national- und christlich-konservative Überzeugungen und wurde 1942 verhaftet. Oskar Jancke, der die erste Tagung und die Präsidentenwahl vorbereitete, zog bei den entscheidenden Überlegungen Frank Thiess ins Vertrauen: »Für Pechel als Präsidenten spräche eine gewisse literarische Neutralität, sein Ansehen als Widerstandskämpfer und als Deutscher konservativer Prägung. Sie als Vizepräsident gäben (mit ihm) eindeutig dem Charakter der Akademie als einer deutschen Ausdruck, also einer Selbstbehauptung, mit der man zu rechnen hat.«17
Die entscheidende totalitäre Gefahr kam für Rudolf Pechel aus dem Osten. Nicht zuletzt dieser Antikommunismus überdeckte von vornherein eine tiefere Auseinandersetzung mit der unmittelbaren NS-Vergangenheit Deutschlands. Wie lautete doch die Formulierung Gerhard Nebels im Geburtstagsartikel für Thomas Mann? Der Zweite Weltkrieg sei »eine untergegangene Gestalt des globalen Bürgerkrieges, in dem wir stehen«. Seine heutige Gestalt, so legte Nebel dabei nahe, sei zweifellos der Kampf gegen den Kommunismus. Auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1950 hielt Präsident Rudolf Pechel eine Grundsatzrede, in der er die herrschende Stimmung im Westen auf den Punkt brachte. Im Proto koll heißt es: »Wenn es noch eines Anstoßes zum Eintritt in den Kampf für geistige Freiheit bedurft hätte, so böten ihn die Vorgänge im östlichen Deutschland; sie gingen in ihrer Roheit, Gemeinheit und Dummheit noch über das hinaus, was sich die Nationalsozialisten an Unter drückung des freien Geistes geleistet hätten.«18
Das sah auch Frank Thiess so, der Vizepräsident. Seine Briefe wurden in dieser Zeit immer stürmischer. An Kasimir Edschmid etwa schrieb er: »Die Einheit Deutschlands in Ehren, doch man kann und darf sie nur auf Deutsche erstrecken, wobei ich ganz privat der Ansicht bin, daß Döblin, Zweig und Becher drei Juden und Emigranten sind, die gefühlsmäßig zusammengehören.«19
Die großen Dichternamen in der Anfangszeit der Akademie waren Rudolf Alexander Schröder und Werner Bergengruen. Aber es gab noch andere Gründungsmitglieder, die den Geist der frühen Jahre repräsentierten, etwa den Schriftsteller Werner von der Schulenburg. Dieser schrieb am 14. September 1951 an den Präsidenten Pechel: »Ich beobachte ein Vordrängen der jüdischen Autoren, vor allem der Ausländer, speziell in unserem Theater. Wir deutschen Bühnenautoren werden, bis auf einige Emigranten, überhaupt nicht gespielt, gespielt werden dagegen sehr viele Juden, die eine lebhafte Unterstützung in der deutschen Presse finden.«20
Dies ist die Situation in der frühen Bundesrepublik, dies ist die Grundstimmung der tonangebenden Kreise bis mindestens in die Mitte der fünfziger Jahre hinein. Die Gruppe 47 war längere Zeit eine atmosphärisch eindeutig oppositionelle, aber von den bestimmenden Funktionären und Kulturpolitikern kaum ernst genommene Randerscheinung. Angesichts von Stimmen in der damals etablierten Literaturszene wie derjenigen Werner von der Schulenburgs verwundert es, wenn Klaus Briegleb in einer Polemik schreibt, die Gruppe 47 habe in ihren Anfangsjahren »die Ausblendung der Shoah so gründlich betrieben wie keine andere kulturelle Agentur in der westdeutschen Nachkriegszeit«.21 In seiner unhistorischen Fixierung auf die Gruppe 47 als den geschlossenen Machtblock späterer Jahre verkennt Briegleb die zeitgeschichtlichen Konstellationen. Wenn man die Gründungs- und Frühgeschichte der Gruppe 47 in den Blick nimmt, ist es unvermeidlich, die deutsche Gesellschaft insgesamt wahrzunehmen. Die Kontinuität der NS-Ideologie war in der herrschenden politischen Klasse ebenso anzutreffen wie bei den hegemonialen literarischen Institutionen und Medien, und dies beleuchtet die Schwierigkeiten der weiteren Entwicklung, gerade auch von Gegenbewegungen wie der Gruppe 47. Erst langsam mehrten sich die Hinweise darauf, dass Mitte und Ende der fünfziger Jahre ein offeneres Klima herrschen könnte.
Das literarische Ereignis dieser Jahre war der kometenhafte Wiederaufstieg von Gottfried Benn. Er ist freilich ein Sonderfall, und das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Benn seine Zeit überlebt hat, dass man ihn heute noch liest. An Benn wird die gesamte Paradoxie der Entwicklung deutlich, er hat sowohl ein rückwärtsgewandtes als auch ein erstaunlich modernes Gesicht. 1933 hatte sich Benn den Nationalsozialisten begeistert angeschlossen, doch es dauerte nur etwas mehr als ein Jahr, bis auch er merkte, dass ihm seine expressionistische Vergangenheit zum Verhängnis werden konnte. 1935 tauchte er als Militärarzt bei der Reichswehr unter, er nannte das »die aristokratische Form der Emigrierung«.22 Nach 1945 glaubte Benn, zwischen allen Stühlen zu sitzen, und entwickelte eine Ästhetik vom Geist, der über den Dingen steht. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1945 schrieb er über die beabsichtigte Wiedergründung der Preußischen Dichterakademie: »Meine Frage, welchen Sinn und Inhalt diese Akademie heute haben solle, wird mit ›Repräsentation‹ beantwortet. Gelächter, sage ich! Wer, für wen und was? 1933 wurden die Mitglieder auf Befehl der Faschisten gestrichen, heute auf Befehl der Antifaschisten, kommen morgen die Katholiken zur Macht, hängen wir eine Madonna an die Wand und legen Rosenkränze vor die Sitzungsteilnehmer - also: entweder es gibt die Kunst, dann ist sie autonom, oder es gibt sie nicht, dann wollen wir nach Hause gehn.«23
Solche Sentenzen, die die Unabhängigkeit des großen, einzelnen Geistes betonen, entsprachen nach 1945 einem breiten Bedürfnis. Nach dem Krieg glaubte Benn zunächst, dass ein neues Buch von ihm im neuen, von den Besatzungsbehörden zur Demokratie zu erziehenden Deutschland kaum erscheinen könne. Doch sein suggestiver Ton, seine Sogwirkung, seine kunstvolle Beschwörung von Elite und Einsamkeit stifteten massenhaft Identifikationsmöglichkeiten. Benns Feilen am Artistischen, sein exklusiver Begriff des Ästhetischen bezogen ihre Dynamik vor allem daraus, der Geschichte und dem menschlichen Tun jeglichen höheren Sinn abzusprechen. Dieter Wellershoff nannte Benn in seiner Dissertation nicht ohne Grund den »Phänotyp dieser Stunde« - und das wurde der monologische Lyriker vor allem dadurch, dass er die Flucht seiner Zeitgenossen ins Unpolitische als die einzig angemessene Haltung definierte.
Es gibt allerdings eine Besonderheit bei Benn, die ihn über den allgemein herrschenden Ton hinaushebt. Er sprach im Gegensatz zu den raunenden und mystifizierenden Stimmen um ihn herum eine erfrischend klare Sprache. Benn neigte nicht zu großen Gefühlen. Aber da er sie trotz allem ständig in sich spürte, hebelte er sie durch eine zwischen Zynismus und abgründiger Weisheit ständig changierende Artistik immer wieder aus. Einmal schickte ihm sein Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze eine Liste mit Fragen zu den neues ten Manuskripten, und bei Oelzes Frage nach dem Begriff »Colt« entfährt es Benn: »Colt - aber, Herr Oelze! Lesen Sie keine Kriminalromane? Ich ständig, wöchentlich 6, Radiergummi fürs Gehirn - ein berühmter amerikanischer Revolver, ohne den kein Scotland Yardmann auftritt. «24
Damit ließ Benn die zeitgenössische deutsche Diskussion um »Geist« und Schicksal weit hinter sich. Benn hatte aber auch, und das unterscheidet ihn von den hohen Tönen um ihn herum, eine Neigung zum Schlager. Blumen und Pflanzen leisteten ihm immer wieder gute Dienste zur Seinsvergewisserung. Die Anemone kommt in seinen Gedichten vor und einmal auch die Eberesche, am meisten aber hatte es ihm die Rose angetan, und man kann sich das durchaus auch in einer anderen Form vorstellen, gesungen von der dunklen Stimme Zarah Leanders:
Wenn erst die Rosen verrinnen aus Vasen oder vom Strauch und ihr Entblättern beginnen, fallen die Tränen auch.25
Der alte, zynische, sentimentale und ästhetisch faszinierende Benn erwies sich als äußerst zukunftsträchtig. Die nachfolgende Generation aber stand angesichts dessen vor einem Trümmerfeld. Sie kehrte mit Anfang, Mitte 30 aus den Schützengräben und den Kriegsgefangenenlagern nach Deutschland zurück und hatte noch nichts veröffentlicht. Die Gruppe 47 erwies sich schnell als das beinahe einzige Forum, in dem sie zu Wort kommen und nach ihrer eigenen Sprache suchen konnte. Literarische Kriterien waren dabei noch gar nicht recht entwickelt. Von der literarischen Moderne war man abgekoppelt gewesen, und so war man zunächst damit beschäftigt, die eigenen Landsererfahrungen mit diesen fremden Lektüren in Beziehung zu setzen. Aber dabei wurden Spielregeln erprobt, die für frischen Wind und für geistige Auseinandersetzung sorgten. Das war man in Deutschland nicht mehr gewohnt.
Copyright © Deutsche Verlags Anstalt
... weniger
Autoren-Porträt von Helmut Böttiger
Helmut Böttiger, geboren 1956, ist einer der renommiertesten Literaturkritiker des Landes. Nach Studium und Promotion war er als Literaturredakteur u.a. bei der Frankfurter Rundschau tätig. Seit 2002 lebt er als freier Autor und Kritiker in Berlin und veröffentlichte u.a. »Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (2004) und »Celan am Meer« (2006). Er war Kurator der Ausstellung »Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland« (2009) und Verfasser des Begleitbuchs. 1996 erhielt er den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik, 2012 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Für sein zuletzt veröffentlichtes Buch »Die Gruppe 47« wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Helmut Böttiger
- 2012, 3. Aufl., 477 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 15,5 x 23,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421043159
- ISBN-13: 9783421043153
- Erscheinungsdatum: 13.11.2012
Rezension zu „Die Gruppe 47 “
»Böttiger beschreibt detailliert und faktenreich, wie aus einem literarischen >Gesinnungsclub< für ein paar wenige das Zentrum neuer deutschsprachiger Literatur werden konnte, wo Verleger auf Suche nach jungen Autoren gingen und Verträge abgewickelt wurden.«
Pressezitat
»Die erste breit angelegte und gut lesbare Gesamtdarstellung. Sie überzeugt, weil sie fair urteilt und weder in Ehrfurcht noch in hämischer Polemik erstarrt.« DIE WELT
Kommentar zu "Die Gruppe 47"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Gruppe 47“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Gruppe 47".
Kommentar verfassen