Die Geheimnisse der Toten
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Ein romantischer Weekend-Trip endet jäh: Abby Cormacs Freund wird ermordet, sie selbst schwer verletzt. Michael soll in illegale Geschäfte verwickelt gewesen sein sein Partner ein gesuchter Kriegsverbrecher. Abby findet heraus, dass Michael nahe...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Geheimnisse der Toten “
Ein romantischer Weekend-Trip endet jäh: Abby Cormacs Freund wird ermordet, sie selbst schwer verletzt. Michael soll in illegale Geschäfte verwickelt gewesen sein sein Partner ein gesuchter Kriegsverbrecher. Abby findet heraus, dass Michael nahe Pristina eine Entdeckung gemacht hatte.
Klappentext zu „Die Geheimnisse der Toten “
Alte Gräber, neue Tote.Ein romantischer Wochenendtrip entwickelt sich für Abby Cormac zum Alptraum: Ihr Freund wird vor ihren Augen ermordet, sie selbst überlebt schwer verletzt. Michael, ein angesehener Diplomat, soll illegal mit Antiquitäten gehandelt haben. Sein wichtigster Geschäftspartner: ein international gesuchter Kriegsverbrecher. Abby findet heraus, dass Michael auf dem Balkan auf ein altrömisches Grab gestossen war. Ein Grab, das ein Geheimnis birgt. Und das Vermächtnis eines der grössten Herrscher der Antike ...
Alte Gräber, neue Tote.
Ein romantischer Wochenendtrip entwickelt sich für Abby Cormac zum Alptraum: Ihr Freund wird vor ihren Augen ermordet, sie selbst überlebt schwer verletzt. Michael, ein angesehener Diplomat, soll illegal mit Antiquitäten gehandelt haben. Sein wichtigster Geschäftspartner: ein international gesuchter Kriegsverbrecher. Abby findet heraus, dass Michael auf dem Balkan auf ein altrömisches Grab gestossen war. Ein Grab, das ein Geheimnis birgt. Und das Vermächtnis eines der grössten Herrscher der Antike ...
Ein romantischer Wochenendtrip entwickelt sich für Abby Cormac zum Alptraum: Ihr Freund wird vor ihren Augen ermordet, sie selbst überlebt schwer verletzt. Michael, ein angesehener Diplomat, soll illegal mit Antiquitäten gehandelt haben. Sein wichtigster Geschäftspartner: ein international gesuchter Kriegsverbrecher. Abby findet heraus, dass Michael auf dem Balkan auf ein altrömisches Grab gestossen war. Ein Grab, das ein Geheimnis birgt. Und das Vermächtnis eines der grössten Herrscher der Antike ...
Lese-Probe zu „Die Geheimnisse der Toten “
Die Geheimnisse der Toten von Tom HarperAus dem Englischen von Michael Windgassen
1
Pristina, Kosovo - Gegenwart
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An einem Freitagnachmittag der Arbeit entfliehen zu können war für Abby immer noch ein ungewohnter Luxus.
Zehn Jahre lang hatte sie von früh bis spät an den dunklen Stellen der Welt gearbeitet, hatte zugehört, wenn gebrochene Menschen von unvorstellbar brutalen Gewaltakten berichteten, und hatte abends dann in umgebauten Frachtcontainern, die je nach Jahreszeit unerträglich heiß oder kalt waren, diese Geschichten in ihren Laptop getippt, das Blut und die Tränen aus ihnen herausgewrungen, bis sie nur noch trockenes Papier waren, das am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Zeugnis vorgelegt werden konnte. In dieser Zeit hatte sie nie entfliehen können. Sie hatte ihre Albträume zu zählen aufgehört oder die vielen Male, die sie spät in der Nacht vor der chemischen Toilette gekniet und versucht hatte, sich von den schrecklichen Dingen zu reinigen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Zu dem, was sie über die Jahre hatte opfern müssen, zählten mehrere hoffnungsvolle Beziehungen, eine Ehe und schließlich sogar ihr Mitempfinden. Trotzdem war sie am nächsten Morgen immer wieder zur Stelle gewesen.
Dieser Abschnitt in ihrem Leben war nunmehr Geschichte. Man hatte sie in den Kosovo entsandt, wo sie im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union, kurz EULEX, aus Kosovaren mustergültige Europäer machen sollte. Es war natürlich auch dort zu Kriegsverbrechen gekommen, doch darum kümmerten sich jetzt andere. Sie arbeitete mit den Zivilgerichten zusammen und versuchte, die verwickelten Fragen der Eigentumsrechte für die Nachkriegszeit zu klären. Michael nannte ihre Dienststelle das «Fundbüro». Seine Hänseleien machten ihr nichts aus. Sie konnte nachts wieder schlafen.
Abby sammelte ihre Akten ein, schloss sie weg und räumte den Schreibtisch für die Putzfrauen auf, die am Wochenende kommen würden. Feierabend. Sie wollte gerade ihren Computer ausschalten, als ihr der Eingang einer neuen E-Mail gemeldet wurde. Dass sie davon nicht Notiz nehmen musste, war ebenso ein Luxus. Sie würde sich am Montag damit befassen. Es war zwei Uhr am Mittag, ihre Arbeitswoche war beendet.
Draußen auf der Straße stand Michaels Wagen, ein Porsche Cabrio, Baujahr 1968, wahrscheinlich der einzige seiner Art auf dem Balkan. Obwohl Gewitterwolken aufgezogen waren, war das Verdeck heruntergeklappt. Michael ließ den Motor aufheulen, als Abby vor die Tür trat. Wäre sie nicht so glücklich gewesen, hätte sie sich für diese Angebergeste geschämt. Typisch Michael. Sie glitt auf den Beifahrersitz, gab Michael einen Kuss und spürte seine grau melierten Stoppeln auf der Haut. Leute kamen aus dem Haus und glotzten. Sie fragte sich, ob deren Neugier dem Wagen galt oder ihr. Michael war zwanzig Jahre älter als sie, was durchaus auffiel, doch das Alter stand ihm gut. Die Falten betonten seine angenehmen Seiten: sorglose Heiterkeit, Zuversicht und Stärke. Als seine Haare grau wurden, hatte er sich einen goldenen Ohrring zugelegt. Um keinen allzu respektablen Eindruck zu machen, sagte er. Abby fand, dass er wie ein Pirat aussah.
Er legte ihr eine Hand unters Kinn, hob ihren Kopf an und warf einen Blick auf den Hals. «Du trägst die Kette.»
Offenbar freute er sich darüber. Er hatte ihr die Kette vor einer Woche geschenkt, ein feingliedriges goldenes Gewebe mit fünf roten Glasperlen, in der Mitte ein frühchristliches Monogramm in der Form eines P mit einem Querstrich, obwohl Michael mit Religion eigentlich nichts am Hut hatte. Die Kette fühlte sich uralt an. Das dunkle Gold glänzte wie Honig, der rote Stein war angelaufen. Auf die Frage, woher die Kette stamme, hatte Michael schief gelächelt und gesagt, eine Roma habe sie ihm gegeben.
Den Kopf zur Seite gedreht, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass ihre schwarze Reisetasche auf der Rückbank lag, gleich neben seinem Aktenkoffer.
«Wohin fahren wir?»
«Zur Bucht von Kotor. Montenegro.»
Sie verzog das Gesicht. «Aber das sind sechs Stunden bis dahin.»
«Nicht unbedingt.» Er scherte aus der Parklücke aus und passierte den Sicherheitsposten in seinem blauen Blazer und der Baseballkappe. Der Mann war sichtlich angetan von dem Wagen und salutierte zackig. Unter den vielen schlechten Fahrzeugen, die von der EU gestellt wurden, stach der Porsche wie der seltene Vertreter einer bedrohten Spezies hervor.
Michael löste eine Hand vom Steuer und griff nach einem Flachmann neben der Handbremse. Seine Hand streifte Abbys Schenkel am hochgerutschten Saum ihres leichten Sommerkleides. Er nahm einen Schluck aus dem Fläschchen und reichte es ihr.
«Es wird sich lohnen. Versprochen.»
Wahrscheinlich würde er recht behalten. So war es immer bei ihm: Man wollte ihm glauben, egal, wie verrückt seine Ideen auch sein mochten. Mit halsbrecherischen Manövern, die wohl selbst hiesige Fahrer, die zu den rücksichtslosesten in Europa zählten, nicht gewagt hätten, schlängelten sie sich durch das Verkehrschaos von Pristina. Kaum hatten sie es hinter sich gelassen, drückte Michael das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Abby lehnte sich zurück und sah die Landschaft vorbeifliegen. Mit heruntergelassenem Verdeck jagten sie vor dem Sturm her, der sich hinter ihnen zusammenbraute, über die Ebene des Kosovo und auf die Ausläufer der Berge zu, die die sinkende Sonne gegen den Himmel quetschten. Er schien scharlachrot zu bluten. An der Grenze zu Montenegro wechselte Michael ein paar Worte mit den Zöllnern, die sie sofort durchwinkten.
Sie waren jetzt tief in den Bergen, umwirbelt von kaltem Wind. Obwohl schon August war, hatten sich auf den Höhen vereinzelt Schneefelder gehalten. Michael ließ das Verdeck unten, drehte aber die Heizung voll auf. Abby fand eine Decke im Fußraum und wickelte sie um sich.
Und plötzlich war das Ziel erreicht. Die Straße führte um einen Felsvorsprung herum auf einen Hang hoch über dem Meeresarm, auf den sich die Schatten der Berge gelegt hatten. In kleinen Buchten und an Stränden funkelten dicht an dicht die Lichter der Segel- und Motoryachten wie leuchtender Seetang.
Michael bremste ab und steuerte scharf nach links. Abby schnappte nach Luft. Es schien, als schleuderte er über den Rand der Klippe hinaus. Tatsächlich aber befanden sie sich auf einem unbefestigten Fahrweg, der vor einem schmiedeeisernen Tor in einer verputzten hohen Mauer endete. Aus dem Handschuhfach holte Michael eine Fernbedienung hervor. Das Tor glitt auf.
Abby krauste die Stirn. «Kommst du häufiger hierher?»
«Heute ist es das erste Mal.»
Den Blick durch das geöffnete Tor gerichtet, entdeckte Abby das Flachdach eines Gebäudes, das in der Dämmerung gespenstisch weiß aufleuchtete. Es stand auf einem Felsvorsprung weiter unten am Hang, an der einzigen Stelle diesseits des Meeresarms, wo ein Haus überhaupt stehen konnte. Jenseits der Bucht waren die Lichter einer Stadt zu sehen, die sich über die gesamte Bergflanke ausbreitete.
Michael hielt auf einem kiesbedeckten Vorplatz vor dem Haus an. Er stieg aus, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die schwere Eichentür.
«Nach Ihnen, gnädige Frau.»
Von außen schlicht, war das Innere der Villa umso überwältigender. Als gutdotierte EU-Gesandte wohnte Abby in Pristina durchaus komfortabel, aber dieser Luxus hier rangierte auf einer völlig anderen Ebene. Die Böden waren aus Marmor: grünliche und rosafarbene Fliesen, in geometrischen Mustern verlegt. Das Mobiliar schien von Riesen getischlert worden zu sein. In den Sesseln und Sofas konnte man sich verlieren. Ein Esstisch aus Mahagoni bot Platz für zwölf Personen, und an der Wand hing der größte Flachbildschirm, den Abby je gesehen hatte. Die gegenüberliegende Wand beherrschte eine ebenso große, dreigeteilte Ikone, von der drei orthodoxe Heilige vor einem Hintergrund aus Blattgold auf sie herabblickten.
«Wie viel hat dich das gekostet?»
«Keinen Penny. Das Haus gehört einem italienischen Richter, einem Freund von mir. Er hat es mir für das Wochenende überlassen.»
«Erwarten wir noch andere Gäste?»
Michael schmunzelte. «Wir haben das ganze Haus für uns.»
Sie blickte auf den Aktenkoffer, den er bei sich trug. «Du willst doch hoffentlich nicht arbeiten?»
«Warte, bis du den Pool gesehen hast.»
Er öffnete die Glastür. Abby trat nach draußen und schnappte abermals unwillkürlich nach Luft. Die Pool-Terrasse reichte bis zum Felsrand hinaus und wurde auf drei Seiten flankiert von klassischen Säulen, deren Kannelierung und korinthischen Kapitelle nicht so recht zu der ansonsten modernen Architektur passten. Auf der vierten Seite stürzte der Fels jäh in die Tiefe. Im Dämmerlicht hatte es den Anschein, als schwebte der Pool über dem Meer. Ein Geländer gab es nicht.
Abby hörte ein leises Klicken im Rücken. Michael hatte einen Schalter bedient. Indirektes Licht ließ das Wasser aufleuchten. Abby blickte auf eine Unterwasserwelt aus Nymphen und Delphinen, Meerjungfrauen und Seesternen. Ein kunstvolles Mosaik aus kleinen schwarzen und weißen Steinen zeigte eine Gottheit mit Haaren aus Seetang, die in einem Streitwagen von vier Pferden gezogen wurde. Im flimmernden Licht des leicht bewegten Wassers schien das ganze Ensemble zu tanzen.
Hinter den Säulen flammten weitere Lichter auf, gerichtet auf marmorne Skulpturen: Herkules in einem Löwenfell, auf seine Keule gestützt; eine barbusige Aphrodite, die das bis zu den Hüften heruntergerutschte Gewand mit den Händen festhielt; Medea mit einem Gewusel von Schlangen auf dem Haupt. Abby nahm an, die Skulpturen seien durch und durch aus Marmor, doch als sie eine mit der Hand berührte, geriet sie auf ihrem Sockel ins Wanken. Sie war so leicht, dass ein Windstoß sie zu Fall gebracht hätte. Erschrocken wich Abby zurück.
«Vorsicht», sagte Michael. «Die werden heute nicht mehr hergestellt.»
Abby lachte. «Du willst doch nicht behaupten, das seien Originale?»
«O doch. Das wurde mir jedenfalls versichert.»
Verwirrt schlenderte Abby an den stummen Gestalten vorbei. Sie erreichte das Ende der Terrasse und schaute in die Tiefe. Der Fels war so steil, dass man den Fuß nicht sehen konnte, nur den silbrigen Schaum des von den Klippen aufgewühlten Wassers. Sie fröstelte. Das dünne Sommerkleid, das sie trug, reichte so spät im August bei weitem nicht mehr. Plötzlich knallte es hinter ihr. Irgendetwas flog dicht an ihrem Kopf vorbei, streifte fast ihre Wange. Für einen Moment wähnte sie sich nach Freetown, Mogadischu oder Kinshasa zurückversetzt. Herumwirbelnd geriet sie am Rand der Terrasse aus dem Gleichgewicht und griff instinktiv nach der nächsten Säule, um sich daran festzuhalten.
«Alles in Ordnung?»
Michael stand neben dem Pool. Er hielt zwei Champagnerflöten in der einen und eine geöffnete Flasche Pol Roger in der anderen Hand.
«Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich dachte, wir sollten feiern.»
Feiern? Was? Abby lehnte sich an die Säule und hielt sich fest, als eine Windböe an ihrer goldenen Halskette zupfte. Ein verrückter Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Wollte er ihr etwa einen Antrag machen?, fragte sie sich mit pochendem Herzen.
Michael schenkte den Champagner ein und drückte ihr eines der Gläser in die Hand. Ein kleiner Schluck schwappte über den Rand und tropfte ihr von den Fingern. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. Abby nippte an ihrem Glas. Michael schaute aufs Meer hinaus, als suchte er etwas. Am Horizont verlosch das letzte dünne Lichtband des Tages.
«Ich habe Hunger.»
Michael holte eine Kühltasche aus dem Wagen, und bald duftete es im Haus nach geschmortem Knoblauch, Krevetten und Kräutern. Abby schaute ihm beim Kochen zu und trank. Der Champagner hielt nicht lange vor. Aus der Kühltasche tauchte eine Flasche Sancerre auf, und auch sie war bald leer. Abby fand einen Schalter, mit dem sich die Heizstrahler auf der Terrasse in Betrieb nehmen ließen. Sie aßen draußen am Pool. Ihre nackten Beine baumelten im Wasser. Das Licht umspülte die Säulenreihe, und am Himmel funkelten Sterne.
Abby fühlte sich völlig entspannt, was wohl nicht zuletzt dem guten Essen und Trinken zu verdanken war. Weil es kühler wurde, machte Michael Feuer im Wohnzimmerkamin. Vom Sofa aus betrachteten sie die Sterne über der Bucht. Abby rollte sich wie ein Kätzchen zusammen, bettete ihren Kopf auf Michaels Schoß und schloss die Augen, während er ihr streichelnd durchs Haar fuhr. Du bist zweiunddreißig, ermahnte eine kleine Stimme sie, keine siebzehn mehr. Was soll's? Es gefiel ihr, gestreichelt zu werden. Michael gegenüber hatte sie keinerlei Verpflichtungen. Das Leben mit ihm war leicht.
Viel später - nach einer zweiten Flasche Wein, als die Lichter der Stadt auf der anderen Seite der Bucht schon verloschen waren und im Kamin nur noch Glut glomm - erhob sich Abby vom Sofa. Sie wankte. Michael, noch überraschend sicher auf den Beinen, gab ihr Halt.
Sie schlang die Arme um ihn und küsste seinen Hals.
«Gehen wir ins Bett?» Ihr war bewusst, dass sie einen Schwips hatte, doch es fühlte sich gut an. Sie wollte ihn und machte sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen, was er aber nicht zuließ.
«Du bist unersättlich», rügte er sie.
Er führte sie ins Schlafzimmer, löste ihr die Kette vom Hals und setzte sie auf das Bett. Abby versuchte, ihn auf sich zu ziehen. Er aber trat einen Schritt zurück.
«Was hast du vor?»
«Ich bin noch nicht müde.»
«Ich auch nicht», log sie. Doch kaum hatte er ihr einen Gutenachtkuss gegeben und die Tür hinter sich zugezogen, schlief sie bereits tief und fest.
Die Kälte weckte sie. Sie lag auf der Decke, immer noch in ihrem Sommerkleid, und spürte den kalten Hauch von der Klimaanlage ihre Haut streifen. Sie wälzte sich auf die Seite, um bei Michael Wärme zu suchen. Tastend streckte sie den Arm aus, über die gesamte Breite des Bettes bis ans Nachttischchen.
Er war nicht da.
Sie blieb eine Weile lang liegen und versuchte, sich in dem ungewohnten Zimmer zu orientieren. Einen Lichtschalter konnte sie nirgends ausmachen. Sie hörte nur das Summen der Klimaanlage und eine tickende Uhr neben dem Bett. Ihre Leuchtziffern schrieben 3:45 Uhr.
Und dann war da noch etwas - eine murmelnde Stimme. Abby lauschte in die Stille des Hauses. Waren es zwei Stimmen, im Gespräch miteinander? Oder hörte sie nur Wellen an den Fuß des Felsens branden?
Es war der Fernseher, glaubte sie endlich zu wissen. Vielleicht hatte Michael ferngesehen und war darüber eingeschlafen. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah ein schwaches bläuliches Licht unter der Tür her vom Flur hereinflackern.
Träge von Schlaf und Alkohol, wusste sie nicht recht, was sie tun sollte. Vielleicht war es besser, Michael schlafen zu lassen, bis er von allein aufwachte. Aber es war so kalt im Bett! Sie stand auf und tappte auf bloßen Füßen durch den Flur ins Wohnzimmer. Der riesige Bildschirm an der Wand schimmerte diodenblau. In einem silbernen Aschenbecher lagen sechs Zigarettenkippen. Das Ledersofa zeigte eine Vertiefung, wo Michael gelegen haben musste.
Aber er war nicht da. Und der Fernseher war auf stumm geschaltet.
Was habe ich da gehört?
Ein Windstoß führte Düfte der Nacht mit sich: Jasmin, Feigen und Chlor. Die Außenbeleuchtung war immer noch eingeschaltet. Die Tür stand offen. Abby sah Michael am Pool stehen und eine Zigarette rauchen. Neben ihm lag auf einem Metalltisch sein Aktenkoffer mit aufgeklapptem Deckel. Ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose begutachtete seinen Inhalt.
Abby ging hinaus, immer noch wacklig auf den Beinen. Hinter der Schwelle prallte sie mit den nackten Zehen gegen einen harten Gegenstand, den sie im Dunkeln nicht gesehen hatte. Vor Schmerz und Schreck stieß sie einen kleinen Schrei aus. Die leere Champagnerflasche rollte über die Fliesen und fiel platschend in den Pool.
Die beiden Männer fuhren herum und starrten ihr entgegen.
«Störe ich?»
«Geh wieder rein!», rief Michael.
Er klang verzweifelt. Irritiert ging sie zwei Schritte weiter und trat ins Licht der Poolscheinwerfer. Der Mann im weißen Hemd griff hinter sich. Als er die Hand wieder zeigte, hielt er eine schwarze Pistole darin.
Es war der letzte Eindruck, an den sie sich später klar erinnerte. Alles andere war im Nachhinein verschwommen und bruchstückhaft. Michael stieß den Mann zurück, worauf der Schuss ins Leere ging. Der Tisch kippte um. Der Aktenkoffer landete mit allem, was darin lag, auf dem Boden. Doch darauf achtete sie nicht. Sie sprang zurück, glitt aus und stürzte.
Hart traf sie auf dem Wasser auf. Zappelnd ging sie unter. Sie schmeckte Chlor in der Kehle und musste würgen. Der Saum des Sommerkleids klebte an ihrem Gesicht.
Wieder an der Oberfläche, strampelte sie auf den Beckenrand zu. Die vom weichen Licht umspülten Nymphen in der Tiefe lockten sie zu sich, doch mit beiden Armen stemmte sie sich aus dem Wasser.
Ausgestreckt am Beckenrand, sah sie aus der Froschperspektive den Aktenkoffer und seinen verstreuten Inhalt am Boden liegen. Die marmornen Gottheiten blickten auf sie herab. Am anderen Ende der Terrasse rangen zwei Männer über dem Abgrund. Michael schlug mit der Faust zu und verfehlte sein Ziel. Von seinem Gegner am Arm gepackt, wurde er zur Felskante hin herumgeschleudert. Für einen Moment sah es so aus, als umarmte sich ein Liebespaar. Doch plötzlich und blitzschnell trat der Fremde auf Michaels Standbein ein und stieß ihn zur Seite. Michael wankte und flatterte mit ausgestreckten Armen wie ein flügellahmer Vogel. Fast wäre es ihm gelungen, das Gleichgewicht wiederzufinden. Doch schon setzte sein Gegner zum Todesstoß an, der aber gar nicht mehr nötig war. Ohne einen Ton von sich zu geben, kippte Michael über den Rand und verschwand in der Tiefe.
Abby konnte nicht anders und schrie laut auf. Der Mann wandte sich ihr zu. Seine Bewegungen waren präzise, ohne jede Hast. Er hob die Pistole vom Boden auf, die er im Kampf mit Michael fallen gelassen hatte, prüfte den Schlitten und das Magazin, ließ die im Lauf steckende Patronenhülse auswerfen und lud neu durch.
Abby stand vom Boden auf, behindert durch das nasse Kleid, das an ihrem Körper klebte. Sie musste fliehen - aber wohin? Zum Wagen? Sie wusste nicht, wo Michael die Schüssel abgelegt hatte. Der fremde Mann kam mit erhobener Waffe auf sie zu. Abby sprang hinter die nächste Säule, als sich der Schuss löste. Stein splitterte, irgendetwas zerbarst krachend.
Geduckt rannte sie die Säulenreihe entlang, an den Skulpturen vorbei. Sie kam sich vor wie auf einem Schießstand, doch es fiel kein weiterer Schuss. War dem Eindringling die Munition ausgegangen?
Am Ende der Kolonnaden angekommen, blieb sie stehen, überragt von einem marmornen Jupiter, der einen Blitz in der Faust hielt. Schritte näherten sich langsam.
Mit Entsetzen wurde ihr klar, warum er seine Waffe nicht mehr auf sie abfeuerte. Sie hatte sich in eine Ecke abdrängen lassen, in der sie wie in einer Falle steckte. Sie kauerte sich hinter den Sockel einer Statue und hörte, wie der Mann stehen blieb.
Die Stille war schlimmer als alles andere.
«Was wollen Sie?», rief sie.
Eine Antwort blieb aus. Wasser tropfte von ihrem nassen Kleid und lief unter ihr zu einer Pfütze zusammen. Worauf wartet er?
Sie hatte geglaubt zu wissen, wie es war, den Tod vor Augen zu haben. Ihr waren in zahllosen Berichten solche Momente geschildert worden. Aber alle, die Zeugnis ablegen konnten, hatten schließlich doch überlebt. Manche hatten, als die Mörder kamen, fliehen können; andere hatten sich auf den Schlachtfeldern tot gestellt, stundenlang, während Familienangehörige und Nachbarn um sie herum starben.
Ihr blieb jetzt nur eine einzige Chance. Sie schnellte in die Höhe, warf sich mit voller Wucht gegen die Statue und stürzte die Gottheit vom Sockel. Der fremde Mann wich vor den fliegenden Scherben zurück und geriet ins Wanken. Abby rannte los. Sie überquerte die Terrasse und hastete ins Haus. Auf dem riesigen Bildschirm waren die üblichen Szenen von Krieg und Rache zu sehen, fernab von dem realen Schrecken, dem sie ausgeliefert war.
Wohin?
Der Killer hatte sich offenbar wieder gefangen. Die erste Kugel ließ die Scheibe hinter ihr zerplatzen, die zweite traf ihre Schulter und wirbelte sie herum. Sie sah ihn durch das zerbrochene Fenster steigen, die Waffe auf sie gerichtet. «Bitte», flehte sie. Sie wollte fliehen, fühlte sich aber wie gelähmt. «Warum tun Sie das?»
Der Mann zuckte mit den Achseln. Er hatte einen schwarzen Schnauzbart und ein behaartes Muttermal auf der rechten Wange. Seine Augen waren dunkel und hart.
Ihr letzter Gedanke galt einer Zeugin, die sie vor Jahren interviewt hatte, einer ergrauten Hutu-Frau, die in irgendeinem Dschungellager zwischen Kongo und Ruanda Getreide mahlte. «Sie haben nie aufgegeben», hatte Abby voller Bewunderung zu ihr gesagt, doch die Frau schüttelte den Kopf.
«Ich hatte einfach nur Glück. Im Unterschied zu den anderen.»
Der Mann hob die Pistole und drückte ab.
2
Römische Provinz Moesia - August 337
Es ist noch August, aber schon hat der Herbst Einzug gehalten. Wie jeder alte Mann fürchte ich diese Jahreszeit. Schatten fallen, die Nächte werden länger, Messer blitzen. An Abenden wie diesem, wenn die kalte Luft meine alten Wunden quält, ziehe ich mich ins Badehaus zurück und lasse von meinen Sklaven Feuer machen. Das Becken ist leer. Trotzdem setze ich mich an den Rand und gieße Wasser über die heißen Steine. Der Dampf steigt mir in die Nase und tut meiner Haut gut. Vielleicht mache ich es so meinen Mördern, wenn sie kommen, leichter.
Ich bin bereit zum Sterben - es schreckt mich nicht. Mein Leben währt schon länger, als ich es verdient habe. Ich war Soldat, Höfling und Politiker. Keines dieser Ämter steht für Langlebigkeit. Wenn meine Mörder kommen - und ich weiß, dass sie kommen -, werden sie nicht zögern. Sie haben in diesen Tagen viel zu tun. Ich bin nicht der Letzte, den sie töten müssen. Foltern werden sie mich nicht, denn dazu fehlen ihnen die Fragen.
Sie haben keine Ahnung, was sie von mir erfahren könnten.
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich habe mich nicht ausgezogen - nackt will ich nicht sterben -, und meine Kleider sind durchnässt. Ich gieße noch mehr Wasser ins Becken, beuge mich in den Dampf und starre durch die Schwaden auf die schwarzweißen Meeresgötter am Boden. Sie starren vorwurfsvoll zurück. Sterbende Götter einer sterbenden Welt. Wissen sie, welche Rolle ich bei ihrem Niedergang gespielt habe?
Wieder schaudert es mich. Ich bin bereit zum Sterben. Was mich schreckt, ist der Tod. Das Danach. Götter, die im Frühling sterben, finden mitunter ins Leben zurück. Nicht so alte Männer, die im Herbst getötet werden. Aber wohin gehen sie stattdessen?
Der Dampf wird dichter.
Zeit meines Lebens habe ich mit Göttern gerungen, genauer: mit einem Gott, der Mensch wurde, und einem Menschen, der Gott wurde. Jetzt, zum Ende hin, blicke ich in den dampfenden Abgrund und weiß ebenso wenig, was die Götter mit mir vorhaben, wie vor all den Jahren, als ich gerade über den Rand meiner Wiege hinausschaute. Rätselhaft bleibt mir auch das, was mir vor vier Monaten an einem staubigen Apriltag in Konstantinopel geweissagt wurde, dass nämlich ein toter Mann mein Leben verändern würde. Das, was davon übrig geblieben ist.
Erinnerungen umwölken mich und gerinnen zu Tropfen auf meiner Haut. Der Geist ist ein fremdes Land mit vielen Mauern, aber ohne Entfernung. Ich bin nicht mehr im Badehaus, sondern an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, und mein ältester Freund sagt ...
«... ich brauche dich.»
Wir sind im Audienzsaal des Palastes, doch außer uns ist niemand zugegen. Zwei alte Männer, gezeichnet von der Zeit. Doch zwischen uns hat sich nichts geändert. Seit ich denken kann, führt er das Wort, und ich applaudiere.
Diesmal aber applaudiere ich nicht. Ich höre ihm zu - er spricht von einem Toten -, und ich frage mich, ob meine Miene angemessen ist. Nach so vielen Jahren bei Hof kann ich meine Gefühle wie Masken aufsetzen, die aus einer gutgeölten Lade hervorgeholt werden. Doch ich weiß nicht, was dieser Augenblick verlangt. Ich möchte dem Toten Respekt zollen, aber nicht zu viel, denn in seinen Tod investieren, wie es von mir verlangt wird, will ich nicht. Bin ich deshalb gefühllos und abgestumpft?
«Sie fanden ihn vor zwei Stunden in der Bibliothek der Akademie. Und kaum dass ihnen bewusst war, wer er ist, schickten sie einen Boten zum Palast.» Er versucht, mir die Geschichte schmackhaft zu machen, meine Neugier zu wecken. Ich schweige. Es gibt nicht viele, die stumm bleiben, wenn er zu ihnen spricht. Vielleicht bin ich der Einzige. Wir sind wie Brüder aufgewachsen, waren die unzertrennlichen Söhne zweier Offiziere in derselben Region. Seine Mutter führte ein Wirtshaus, meine eine Wäscherei. Heute schmücken ihn Titel, so zahlreich wie die in sein Gewand gestickten Edelsteine. Flavius Valerius Constantinus - Kaiser, Cäsar und Augustus, Konsul und Prokonsul, Hohepriester. Konstantin der Fromme, der Gläubige, der Gesegnete und Gütige. Konstantin der Siegreiche, der Triumphator, der Unbezwungene. Kurzum: Konstantin der Große.
Und noch immer, obwohl er ein alternder Großvater ist, strahlt er Größe aus. Das spüre ich. Sein rundes Gesicht, puppenhaft und verführerisch, als er jung war, mag dick und schlaff geworden sein, die Muskeln, die ein Imperium errungen haben, sind vielleicht verkümmert. Aber die Größe bleibt. Künstler, die ihn mit goldener Gloriole darstellen, kolorieren nur, was jedermann weiß. Er verkörpert Macht - jene unbezwingbare Zuversicht, die nur von den Göttern verliehen werden kann.
«Der Name des Toten ist Alexander. Er war ein Bischof und von großer Bedeutung für die christliche Gemeinschaft. Und offenbar unterwies er einen meiner Söhne.»
Einen meiner Söhne, offenbar. Mir ist, als spülte eine kalte Meeresströmung über mich hinweg, doch ich zucke nicht. Ich verziehe keine Miene. So wenig wie er.
Ohne Vorwarnung wirft er mir etwas zu. Ich bin zwar langsam und schwerfällig geworden, kann mich aber immer noch auf meine Reflexe verlassen. Ich fange es mit einer Hand auf und öffne meine Faust.
«Das hat man neben seiner Leiche gefunden.»
Es ist eine Kette mit Amulett, ungefähr so groß wie mein Handteller. Konstantins Monogramm, leicht verändert, der Buchstabe P mit einem aufrechten Kreuz verbunden, eingefasst in ein feinziseliertes Goldgewebe und besetzt mit roten Glasperlen. Die Kette ist aufgebrochen und scheint von jemandes Hals gerissen worden zu sein.
«Gehörte es dem Bischof?»
«Sein Diener sagt nein.»
«Hat sein Mörder die Kette verloren?»
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
An einem Freitagnachmittag der Arbeit entfliehen zu können war für Abby immer noch ein ungewohnter Luxus.
Zehn Jahre lang hatte sie von früh bis spät an den dunklen Stellen der Welt gearbeitet, hatte zugehört, wenn gebrochene Menschen von unvorstellbar brutalen Gewaltakten berichteten, und hatte abends dann in umgebauten Frachtcontainern, die je nach Jahreszeit unerträglich heiß oder kalt waren, diese Geschichten in ihren Laptop getippt, das Blut und die Tränen aus ihnen herausgewrungen, bis sie nur noch trockenes Papier waren, das am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Zeugnis vorgelegt werden konnte. In dieser Zeit hatte sie nie entfliehen können. Sie hatte ihre Albträume zu zählen aufgehört oder die vielen Male, die sie spät in der Nacht vor der chemischen Toilette gekniet und versucht hatte, sich von den schrecklichen Dingen zu reinigen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Zu dem, was sie über die Jahre hatte opfern müssen, zählten mehrere hoffnungsvolle Beziehungen, eine Ehe und schließlich sogar ihr Mitempfinden. Trotzdem war sie am nächsten Morgen immer wieder zur Stelle gewesen.
Dieser Abschnitt in ihrem Leben war nunmehr Geschichte. Man hatte sie in den Kosovo entsandt, wo sie im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union, kurz EULEX, aus Kosovaren mustergültige Europäer machen sollte. Es war natürlich auch dort zu Kriegsverbrechen gekommen, doch darum kümmerten sich jetzt andere. Sie arbeitete mit den Zivilgerichten zusammen und versuchte, die verwickelten Fragen der Eigentumsrechte für die Nachkriegszeit zu klären. Michael nannte ihre Dienststelle das «Fundbüro». Seine Hänseleien machten ihr nichts aus. Sie konnte nachts wieder schlafen.
Abby sammelte ihre Akten ein, schloss sie weg und räumte den Schreibtisch für die Putzfrauen auf, die am Wochenende kommen würden. Feierabend. Sie wollte gerade ihren Computer ausschalten, als ihr der Eingang einer neuen E-Mail gemeldet wurde. Dass sie davon nicht Notiz nehmen musste, war ebenso ein Luxus. Sie würde sich am Montag damit befassen. Es war zwei Uhr am Mittag, ihre Arbeitswoche war beendet.
Draußen auf der Straße stand Michaels Wagen, ein Porsche Cabrio, Baujahr 1968, wahrscheinlich der einzige seiner Art auf dem Balkan. Obwohl Gewitterwolken aufgezogen waren, war das Verdeck heruntergeklappt. Michael ließ den Motor aufheulen, als Abby vor die Tür trat. Wäre sie nicht so glücklich gewesen, hätte sie sich für diese Angebergeste geschämt. Typisch Michael. Sie glitt auf den Beifahrersitz, gab Michael einen Kuss und spürte seine grau melierten Stoppeln auf der Haut. Leute kamen aus dem Haus und glotzten. Sie fragte sich, ob deren Neugier dem Wagen galt oder ihr. Michael war zwanzig Jahre älter als sie, was durchaus auffiel, doch das Alter stand ihm gut. Die Falten betonten seine angenehmen Seiten: sorglose Heiterkeit, Zuversicht und Stärke. Als seine Haare grau wurden, hatte er sich einen goldenen Ohrring zugelegt. Um keinen allzu respektablen Eindruck zu machen, sagte er. Abby fand, dass er wie ein Pirat aussah.
Er legte ihr eine Hand unters Kinn, hob ihren Kopf an und warf einen Blick auf den Hals. «Du trägst die Kette.»
Offenbar freute er sich darüber. Er hatte ihr die Kette vor einer Woche geschenkt, ein feingliedriges goldenes Gewebe mit fünf roten Glasperlen, in der Mitte ein frühchristliches Monogramm in der Form eines P mit einem Querstrich, obwohl Michael mit Religion eigentlich nichts am Hut hatte. Die Kette fühlte sich uralt an. Das dunkle Gold glänzte wie Honig, der rote Stein war angelaufen. Auf die Frage, woher die Kette stamme, hatte Michael schief gelächelt und gesagt, eine Roma habe sie ihm gegeben.
Den Kopf zur Seite gedreht, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass ihre schwarze Reisetasche auf der Rückbank lag, gleich neben seinem Aktenkoffer.
«Wohin fahren wir?»
«Zur Bucht von Kotor. Montenegro.»
Sie verzog das Gesicht. «Aber das sind sechs Stunden bis dahin.»
«Nicht unbedingt.» Er scherte aus der Parklücke aus und passierte den Sicherheitsposten in seinem blauen Blazer und der Baseballkappe. Der Mann war sichtlich angetan von dem Wagen und salutierte zackig. Unter den vielen schlechten Fahrzeugen, die von der EU gestellt wurden, stach der Porsche wie der seltene Vertreter einer bedrohten Spezies hervor.
Michael löste eine Hand vom Steuer und griff nach einem Flachmann neben der Handbremse. Seine Hand streifte Abbys Schenkel am hochgerutschten Saum ihres leichten Sommerkleides. Er nahm einen Schluck aus dem Fläschchen und reichte es ihr.
«Es wird sich lohnen. Versprochen.»
Wahrscheinlich würde er recht behalten. So war es immer bei ihm: Man wollte ihm glauben, egal, wie verrückt seine Ideen auch sein mochten. Mit halsbrecherischen Manövern, die wohl selbst hiesige Fahrer, die zu den rücksichtslosesten in Europa zählten, nicht gewagt hätten, schlängelten sie sich durch das Verkehrschaos von Pristina. Kaum hatten sie es hinter sich gelassen, drückte Michael das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Abby lehnte sich zurück und sah die Landschaft vorbeifliegen. Mit heruntergelassenem Verdeck jagten sie vor dem Sturm her, der sich hinter ihnen zusammenbraute, über die Ebene des Kosovo und auf die Ausläufer der Berge zu, die die sinkende Sonne gegen den Himmel quetschten. Er schien scharlachrot zu bluten. An der Grenze zu Montenegro wechselte Michael ein paar Worte mit den Zöllnern, die sie sofort durchwinkten.
Sie waren jetzt tief in den Bergen, umwirbelt von kaltem Wind. Obwohl schon August war, hatten sich auf den Höhen vereinzelt Schneefelder gehalten. Michael ließ das Verdeck unten, drehte aber die Heizung voll auf. Abby fand eine Decke im Fußraum und wickelte sie um sich.
Und plötzlich war das Ziel erreicht. Die Straße führte um einen Felsvorsprung herum auf einen Hang hoch über dem Meeresarm, auf den sich die Schatten der Berge gelegt hatten. In kleinen Buchten und an Stränden funkelten dicht an dicht die Lichter der Segel- und Motoryachten wie leuchtender Seetang.
Michael bremste ab und steuerte scharf nach links. Abby schnappte nach Luft. Es schien, als schleuderte er über den Rand der Klippe hinaus. Tatsächlich aber befanden sie sich auf einem unbefestigten Fahrweg, der vor einem schmiedeeisernen Tor in einer verputzten hohen Mauer endete. Aus dem Handschuhfach holte Michael eine Fernbedienung hervor. Das Tor glitt auf.
Abby krauste die Stirn. «Kommst du häufiger hierher?»
«Heute ist es das erste Mal.»
Den Blick durch das geöffnete Tor gerichtet, entdeckte Abby das Flachdach eines Gebäudes, das in der Dämmerung gespenstisch weiß aufleuchtete. Es stand auf einem Felsvorsprung weiter unten am Hang, an der einzigen Stelle diesseits des Meeresarms, wo ein Haus überhaupt stehen konnte. Jenseits der Bucht waren die Lichter einer Stadt zu sehen, die sich über die gesamte Bergflanke ausbreitete.
Michael hielt auf einem kiesbedeckten Vorplatz vor dem Haus an. Er stieg aus, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die schwere Eichentür.
«Nach Ihnen, gnädige Frau.»
Von außen schlicht, war das Innere der Villa umso überwältigender. Als gutdotierte EU-Gesandte wohnte Abby in Pristina durchaus komfortabel, aber dieser Luxus hier rangierte auf einer völlig anderen Ebene. Die Böden waren aus Marmor: grünliche und rosafarbene Fliesen, in geometrischen Mustern verlegt. Das Mobiliar schien von Riesen getischlert worden zu sein. In den Sesseln und Sofas konnte man sich verlieren. Ein Esstisch aus Mahagoni bot Platz für zwölf Personen, und an der Wand hing der größte Flachbildschirm, den Abby je gesehen hatte. Die gegenüberliegende Wand beherrschte eine ebenso große, dreigeteilte Ikone, von der drei orthodoxe Heilige vor einem Hintergrund aus Blattgold auf sie herabblickten.
«Wie viel hat dich das gekostet?»
«Keinen Penny. Das Haus gehört einem italienischen Richter, einem Freund von mir. Er hat es mir für das Wochenende überlassen.»
«Erwarten wir noch andere Gäste?»
Michael schmunzelte. «Wir haben das ganze Haus für uns.»
Sie blickte auf den Aktenkoffer, den er bei sich trug. «Du willst doch hoffentlich nicht arbeiten?»
«Warte, bis du den Pool gesehen hast.»
Er öffnete die Glastür. Abby trat nach draußen und schnappte abermals unwillkürlich nach Luft. Die Pool-Terrasse reichte bis zum Felsrand hinaus und wurde auf drei Seiten flankiert von klassischen Säulen, deren Kannelierung und korinthischen Kapitelle nicht so recht zu der ansonsten modernen Architektur passten. Auf der vierten Seite stürzte der Fels jäh in die Tiefe. Im Dämmerlicht hatte es den Anschein, als schwebte der Pool über dem Meer. Ein Geländer gab es nicht.
Abby hörte ein leises Klicken im Rücken. Michael hatte einen Schalter bedient. Indirektes Licht ließ das Wasser aufleuchten. Abby blickte auf eine Unterwasserwelt aus Nymphen und Delphinen, Meerjungfrauen und Seesternen. Ein kunstvolles Mosaik aus kleinen schwarzen und weißen Steinen zeigte eine Gottheit mit Haaren aus Seetang, die in einem Streitwagen von vier Pferden gezogen wurde. Im flimmernden Licht des leicht bewegten Wassers schien das ganze Ensemble zu tanzen.
Hinter den Säulen flammten weitere Lichter auf, gerichtet auf marmorne Skulpturen: Herkules in einem Löwenfell, auf seine Keule gestützt; eine barbusige Aphrodite, die das bis zu den Hüften heruntergerutschte Gewand mit den Händen festhielt; Medea mit einem Gewusel von Schlangen auf dem Haupt. Abby nahm an, die Skulpturen seien durch und durch aus Marmor, doch als sie eine mit der Hand berührte, geriet sie auf ihrem Sockel ins Wanken. Sie war so leicht, dass ein Windstoß sie zu Fall gebracht hätte. Erschrocken wich Abby zurück.
«Vorsicht», sagte Michael. «Die werden heute nicht mehr hergestellt.»
Abby lachte. «Du willst doch nicht behaupten, das seien Originale?»
«O doch. Das wurde mir jedenfalls versichert.»
Verwirrt schlenderte Abby an den stummen Gestalten vorbei. Sie erreichte das Ende der Terrasse und schaute in die Tiefe. Der Fels war so steil, dass man den Fuß nicht sehen konnte, nur den silbrigen Schaum des von den Klippen aufgewühlten Wassers. Sie fröstelte. Das dünne Sommerkleid, das sie trug, reichte so spät im August bei weitem nicht mehr. Plötzlich knallte es hinter ihr. Irgendetwas flog dicht an ihrem Kopf vorbei, streifte fast ihre Wange. Für einen Moment wähnte sie sich nach Freetown, Mogadischu oder Kinshasa zurückversetzt. Herumwirbelnd geriet sie am Rand der Terrasse aus dem Gleichgewicht und griff instinktiv nach der nächsten Säule, um sich daran festzuhalten.
«Alles in Ordnung?»
Michael stand neben dem Pool. Er hielt zwei Champagnerflöten in der einen und eine geöffnete Flasche Pol Roger in der anderen Hand.
«Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich dachte, wir sollten feiern.»
Feiern? Was? Abby lehnte sich an die Säule und hielt sich fest, als eine Windböe an ihrer goldenen Halskette zupfte. Ein verrückter Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Wollte er ihr etwa einen Antrag machen?, fragte sie sich mit pochendem Herzen.
Michael schenkte den Champagner ein und drückte ihr eines der Gläser in die Hand. Ein kleiner Schluck schwappte über den Rand und tropfte ihr von den Fingern. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. Abby nippte an ihrem Glas. Michael schaute aufs Meer hinaus, als suchte er etwas. Am Horizont verlosch das letzte dünne Lichtband des Tages.
«Ich habe Hunger.»
Michael holte eine Kühltasche aus dem Wagen, und bald duftete es im Haus nach geschmortem Knoblauch, Krevetten und Kräutern. Abby schaute ihm beim Kochen zu und trank. Der Champagner hielt nicht lange vor. Aus der Kühltasche tauchte eine Flasche Sancerre auf, und auch sie war bald leer. Abby fand einen Schalter, mit dem sich die Heizstrahler auf der Terrasse in Betrieb nehmen ließen. Sie aßen draußen am Pool. Ihre nackten Beine baumelten im Wasser. Das Licht umspülte die Säulenreihe, und am Himmel funkelten Sterne.
Abby fühlte sich völlig entspannt, was wohl nicht zuletzt dem guten Essen und Trinken zu verdanken war. Weil es kühler wurde, machte Michael Feuer im Wohnzimmerkamin. Vom Sofa aus betrachteten sie die Sterne über der Bucht. Abby rollte sich wie ein Kätzchen zusammen, bettete ihren Kopf auf Michaels Schoß und schloss die Augen, während er ihr streichelnd durchs Haar fuhr. Du bist zweiunddreißig, ermahnte eine kleine Stimme sie, keine siebzehn mehr. Was soll's? Es gefiel ihr, gestreichelt zu werden. Michael gegenüber hatte sie keinerlei Verpflichtungen. Das Leben mit ihm war leicht.
Viel später - nach einer zweiten Flasche Wein, als die Lichter der Stadt auf der anderen Seite der Bucht schon verloschen waren und im Kamin nur noch Glut glomm - erhob sich Abby vom Sofa. Sie wankte. Michael, noch überraschend sicher auf den Beinen, gab ihr Halt.
Sie schlang die Arme um ihn und küsste seinen Hals.
«Gehen wir ins Bett?» Ihr war bewusst, dass sie einen Schwips hatte, doch es fühlte sich gut an. Sie wollte ihn und machte sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen, was er aber nicht zuließ.
«Du bist unersättlich», rügte er sie.
Er führte sie ins Schlafzimmer, löste ihr die Kette vom Hals und setzte sie auf das Bett. Abby versuchte, ihn auf sich zu ziehen. Er aber trat einen Schritt zurück.
«Was hast du vor?»
«Ich bin noch nicht müde.»
«Ich auch nicht», log sie. Doch kaum hatte er ihr einen Gutenachtkuss gegeben und die Tür hinter sich zugezogen, schlief sie bereits tief und fest.
Die Kälte weckte sie. Sie lag auf der Decke, immer noch in ihrem Sommerkleid, und spürte den kalten Hauch von der Klimaanlage ihre Haut streifen. Sie wälzte sich auf die Seite, um bei Michael Wärme zu suchen. Tastend streckte sie den Arm aus, über die gesamte Breite des Bettes bis ans Nachttischchen.
Er war nicht da.
Sie blieb eine Weile lang liegen und versuchte, sich in dem ungewohnten Zimmer zu orientieren. Einen Lichtschalter konnte sie nirgends ausmachen. Sie hörte nur das Summen der Klimaanlage und eine tickende Uhr neben dem Bett. Ihre Leuchtziffern schrieben 3:45 Uhr.
Und dann war da noch etwas - eine murmelnde Stimme. Abby lauschte in die Stille des Hauses. Waren es zwei Stimmen, im Gespräch miteinander? Oder hörte sie nur Wellen an den Fuß des Felsens branden?
Es war der Fernseher, glaubte sie endlich zu wissen. Vielleicht hatte Michael ferngesehen und war darüber eingeschlafen. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah ein schwaches bläuliches Licht unter der Tür her vom Flur hereinflackern.
Träge von Schlaf und Alkohol, wusste sie nicht recht, was sie tun sollte. Vielleicht war es besser, Michael schlafen zu lassen, bis er von allein aufwachte. Aber es war so kalt im Bett! Sie stand auf und tappte auf bloßen Füßen durch den Flur ins Wohnzimmer. Der riesige Bildschirm an der Wand schimmerte diodenblau. In einem silbernen Aschenbecher lagen sechs Zigarettenkippen. Das Ledersofa zeigte eine Vertiefung, wo Michael gelegen haben musste.
Aber er war nicht da. Und der Fernseher war auf stumm geschaltet.
Was habe ich da gehört?
Ein Windstoß führte Düfte der Nacht mit sich: Jasmin, Feigen und Chlor. Die Außenbeleuchtung war immer noch eingeschaltet. Die Tür stand offen. Abby sah Michael am Pool stehen und eine Zigarette rauchen. Neben ihm lag auf einem Metalltisch sein Aktenkoffer mit aufgeklapptem Deckel. Ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose begutachtete seinen Inhalt.
Abby ging hinaus, immer noch wacklig auf den Beinen. Hinter der Schwelle prallte sie mit den nackten Zehen gegen einen harten Gegenstand, den sie im Dunkeln nicht gesehen hatte. Vor Schmerz und Schreck stieß sie einen kleinen Schrei aus. Die leere Champagnerflasche rollte über die Fliesen und fiel platschend in den Pool.
Die beiden Männer fuhren herum und starrten ihr entgegen.
«Störe ich?»
«Geh wieder rein!», rief Michael.
Er klang verzweifelt. Irritiert ging sie zwei Schritte weiter und trat ins Licht der Poolscheinwerfer. Der Mann im weißen Hemd griff hinter sich. Als er die Hand wieder zeigte, hielt er eine schwarze Pistole darin.
Es war der letzte Eindruck, an den sie sich später klar erinnerte. Alles andere war im Nachhinein verschwommen und bruchstückhaft. Michael stieß den Mann zurück, worauf der Schuss ins Leere ging. Der Tisch kippte um. Der Aktenkoffer landete mit allem, was darin lag, auf dem Boden. Doch darauf achtete sie nicht. Sie sprang zurück, glitt aus und stürzte.
Hart traf sie auf dem Wasser auf. Zappelnd ging sie unter. Sie schmeckte Chlor in der Kehle und musste würgen. Der Saum des Sommerkleids klebte an ihrem Gesicht.
Wieder an der Oberfläche, strampelte sie auf den Beckenrand zu. Die vom weichen Licht umspülten Nymphen in der Tiefe lockten sie zu sich, doch mit beiden Armen stemmte sie sich aus dem Wasser.
Ausgestreckt am Beckenrand, sah sie aus der Froschperspektive den Aktenkoffer und seinen verstreuten Inhalt am Boden liegen. Die marmornen Gottheiten blickten auf sie herab. Am anderen Ende der Terrasse rangen zwei Männer über dem Abgrund. Michael schlug mit der Faust zu und verfehlte sein Ziel. Von seinem Gegner am Arm gepackt, wurde er zur Felskante hin herumgeschleudert. Für einen Moment sah es so aus, als umarmte sich ein Liebespaar. Doch plötzlich und blitzschnell trat der Fremde auf Michaels Standbein ein und stieß ihn zur Seite. Michael wankte und flatterte mit ausgestreckten Armen wie ein flügellahmer Vogel. Fast wäre es ihm gelungen, das Gleichgewicht wiederzufinden. Doch schon setzte sein Gegner zum Todesstoß an, der aber gar nicht mehr nötig war. Ohne einen Ton von sich zu geben, kippte Michael über den Rand und verschwand in der Tiefe.
Abby konnte nicht anders und schrie laut auf. Der Mann wandte sich ihr zu. Seine Bewegungen waren präzise, ohne jede Hast. Er hob die Pistole vom Boden auf, die er im Kampf mit Michael fallen gelassen hatte, prüfte den Schlitten und das Magazin, ließ die im Lauf steckende Patronenhülse auswerfen und lud neu durch.
Abby stand vom Boden auf, behindert durch das nasse Kleid, das an ihrem Körper klebte. Sie musste fliehen - aber wohin? Zum Wagen? Sie wusste nicht, wo Michael die Schüssel abgelegt hatte. Der fremde Mann kam mit erhobener Waffe auf sie zu. Abby sprang hinter die nächste Säule, als sich der Schuss löste. Stein splitterte, irgendetwas zerbarst krachend.
Geduckt rannte sie die Säulenreihe entlang, an den Skulpturen vorbei. Sie kam sich vor wie auf einem Schießstand, doch es fiel kein weiterer Schuss. War dem Eindringling die Munition ausgegangen?
Am Ende der Kolonnaden angekommen, blieb sie stehen, überragt von einem marmornen Jupiter, der einen Blitz in der Faust hielt. Schritte näherten sich langsam.
Mit Entsetzen wurde ihr klar, warum er seine Waffe nicht mehr auf sie abfeuerte. Sie hatte sich in eine Ecke abdrängen lassen, in der sie wie in einer Falle steckte. Sie kauerte sich hinter den Sockel einer Statue und hörte, wie der Mann stehen blieb.
Die Stille war schlimmer als alles andere.
«Was wollen Sie?», rief sie.
Eine Antwort blieb aus. Wasser tropfte von ihrem nassen Kleid und lief unter ihr zu einer Pfütze zusammen. Worauf wartet er?
Sie hatte geglaubt zu wissen, wie es war, den Tod vor Augen zu haben. Ihr waren in zahllosen Berichten solche Momente geschildert worden. Aber alle, die Zeugnis ablegen konnten, hatten schließlich doch überlebt. Manche hatten, als die Mörder kamen, fliehen können; andere hatten sich auf den Schlachtfeldern tot gestellt, stundenlang, während Familienangehörige und Nachbarn um sie herum starben.
Ihr blieb jetzt nur eine einzige Chance. Sie schnellte in die Höhe, warf sich mit voller Wucht gegen die Statue und stürzte die Gottheit vom Sockel. Der fremde Mann wich vor den fliegenden Scherben zurück und geriet ins Wanken. Abby rannte los. Sie überquerte die Terrasse und hastete ins Haus. Auf dem riesigen Bildschirm waren die üblichen Szenen von Krieg und Rache zu sehen, fernab von dem realen Schrecken, dem sie ausgeliefert war.
Wohin?
Der Killer hatte sich offenbar wieder gefangen. Die erste Kugel ließ die Scheibe hinter ihr zerplatzen, die zweite traf ihre Schulter und wirbelte sie herum. Sie sah ihn durch das zerbrochene Fenster steigen, die Waffe auf sie gerichtet. «Bitte», flehte sie. Sie wollte fliehen, fühlte sich aber wie gelähmt. «Warum tun Sie das?»
Der Mann zuckte mit den Achseln. Er hatte einen schwarzen Schnauzbart und ein behaartes Muttermal auf der rechten Wange. Seine Augen waren dunkel und hart.
Ihr letzter Gedanke galt einer Zeugin, die sie vor Jahren interviewt hatte, einer ergrauten Hutu-Frau, die in irgendeinem Dschungellager zwischen Kongo und Ruanda Getreide mahlte. «Sie haben nie aufgegeben», hatte Abby voller Bewunderung zu ihr gesagt, doch die Frau schüttelte den Kopf.
«Ich hatte einfach nur Glück. Im Unterschied zu den anderen.»
Der Mann hob die Pistole und drückte ab.
2
Römische Provinz Moesia - August 337
Es ist noch August, aber schon hat der Herbst Einzug gehalten. Wie jeder alte Mann fürchte ich diese Jahreszeit. Schatten fallen, die Nächte werden länger, Messer blitzen. An Abenden wie diesem, wenn die kalte Luft meine alten Wunden quält, ziehe ich mich ins Badehaus zurück und lasse von meinen Sklaven Feuer machen. Das Becken ist leer. Trotzdem setze ich mich an den Rand und gieße Wasser über die heißen Steine. Der Dampf steigt mir in die Nase und tut meiner Haut gut. Vielleicht mache ich es so meinen Mördern, wenn sie kommen, leichter.
Ich bin bereit zum Sterben - es schreckt mich nicht. Mein Leben währt schon länger, als ich es verdient habe. Ich war Soldat, Höfling und Politiker. Keines dieser Ämter steht für Langlebigkeit. Wenn meine Mörder kommen - und ich weiß, dass sie kommen -, werden sie nicht zögern. Sie haben in diesen Tagen viel zu tun. Ich bin nicht der Letzte, den sie töten müssen. Foltern werden sie mich nicht, denn dazu fehlen ihnen die Fragen.
Sie haben keine Ahnung, was sie von mir erfahren könnten.
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich habe mich nicht ausgezogen - nackt will ich nicht sterben -, und meine Kleider sind durchnässt. Ich gieße noch mehr Wasser ins Becken, beuge mich in den Dampf und starre durch die Schwaden auf die schwarzweißen Meeresgötter am Boden. Sie starren vorwurfsvoll zurück. Sterbende Götter einer sterbenden Welt. Wissen sie, welche Rolle ich bei ihrem Niedergang gespielt habe?
Wieder schaudert es mich. Ich bin bereit zum Sterben. Was mich schreckt, ist der Tod. Das Danach. Götter, die im Frühling sterben, finden mitunter ins Leben zurück. Nicht so alte Männer, die im Herbst getötet werden. Aber wohin gehen sie stattdessen?
Der Dampf wird dichter.
Zeit meines Lebens habe ich mit Göttern gerungen, genauer: mit einem Gott, der Mensch wurde, und einem Menschen, der Gott wurde. Jetzt, zum Ende hin, blicke ich in den dampfenden Abgrund und weiß ebenso wenig, was die Götter mit mir vorhaben, wie vor all den Jahren, als ich gerade über den Rand meiner Wiege hinausschaute. Rätselhaft bleibt mir auch das, was mir vor vier Monaten an einem staubigen Apriltag in Konstantinopel geweissagt wurde, dass nämlich ein toter Mann mein Leben verändern würde. Das, was davon übrig geblieben ist.
Erinnerungen umwölken mich und gerinnen zu Tropfen auf meiner Haut. Der Geist ist ein fremdes Land mit vielen Mauern, aber ohne Entfernung. Ich bin nicht mehr im Badehaus, sondern an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, und mein ältester Freund sagt ...
«... ich brauche dich.»
Wir sind im Audienzsaal des Palastes, doch außer uns ist niemand zugegen. Zwei alte Männer, gezeichnet von der Zeit. Doch zwischen uns hat sich nichts geändert. Seit ich denken kann, führt er das Wort, und ich applaudiere.
Diesmal aber applaudiere ich nicht. Ich höre ihm zu - er spricht von einem Toten -, und ich frage mich, ob meine Miene angemessen ist. Nach so vielen Jahren bei Hof kann ich meine Gefühle wie Masken aufsetzen, die aus einer gutgeölten Lade hervorgeholt werden. Doch ich weiß nicht, was dieser Augenblick verlangt. Ich möchte dem Toten Respekt zollen, aber nicht zu viel, denn in seinen Tod investieren, wie es von mir verlangt wird, will ich nicht. Bin ich deshalb gefühllos und abgestumpft?
«Sie fanden ihn vor zwei Stunden in der Bibliothek der Akademie. Und kaum dass ihnen bewusst war, wer er ist, schickten sie einen Boten zum Palast.» Er versucht, mir die Geschichte schmackhaft zu machen, meine Neugier zu wecken. Ich schweige. Es gibt nicht viele, die stumm bleiben, wenn er zu ihnen spricht. Vielleicht bin ich der Einzige. Wir sind wie Brüder aufgewachsen, waren die unzertrennlichen Söhne zweier Offiziere in derselben Region. Seine Mutter führte ein Wirtshaus, meine eine Wäscherei. Heute schmücken ihn Titel, so zahlreich wie die in sein Gewand gestickten Edelsteine. Flavius Valerius Constantinus - Kaiser, Cäsar und Augustus, Konsul und Prokonsul, Hohepriester. Konstantin der Fromme, der Gläubige, der Gesegnete und Gütige. Konstantin der Siegreiche, der Triumphator, der Unbezwungene. Kurzum: Konstantin der Große.
Und noch immer, obwohl er ein alternder Großvater ist, strahlt er Größe aus. Das spüre ich. Sein rundes Gesicht, puppenhaft und verführerisch, als er jung war, mag dick und schlaff geworden sein, die Muskeln, die ein Imperium errungen haben, sind vielleicht verkümmert. Aber die Größe bleibt. Künstler, die ihn mit goldener Gloriole darstellen, kolorieren nur, was jedermann weiß. Er verkörpert Macht - jene unbezwingbare Zuversicht, die nur von den Göttern verliehen werden kann.
«Der Name des Toten ist Alexander. Er war ein Bischof und von großer Bedeutung für die christliche Gemeinschaft. Und offenbar unterwies er einen meiner Söhne.»
Einen meiner Söhne, offenbar. Mir ist, als spülte eine kalte Meeresströmung über mich hinweg, doch ich zucke nicht. Ich verziehe keine Miene. So wenig wie er.
Ohne Vorwarnung wirft er mir etwas zu. Ich bin zwar langsam und schwerfällig geworden, kann mich aber immer noch auf meine Reflexe verlassen. Ich fange es mit einer Hand auf und öffne meine Faust.
«Das hat man neben seiner Leiche gefunden.»
Es ist eine Kette mit Amulett, ungefähr so groß wie mein Handteller. Konstantins Monogramm, leicht verändert, der Buchstabe P mit einem aufrechten Kreuz verbunden, eingefasst in ein feinziseliertes Goldgewebe und besetzt mit roten Glasperlen. Die Kette ist aufgebrochen und scheint von jemandes Hals gerissen worden zu sein.
«Gehörte es dem Bischof?»
«Sein Diener sagt nein.»
«Hat sein Mörder die Kette verloren?»
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Autoren-Porträt von Tom Harper
Harper, TomDer britische Autor Tom Harper, geboren 1977 in Westdeutschland, hat in Oxford alte Geschichte studiert und, teilweise unter Pseudonym, bereits mehrere historische Romane veröffentlicht. Tom Harper lebt mit Frau und Sohn in York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tom Harper
- 2013, Neuausg., 576 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Windgassen, Michael
- Übersetzer: Michael Windgassen
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499264048
- ISBN-13: 9783499264047
- Erscheinungsdatum: 01.06.2013
Rezension zu „Die Geheimnisse der Toten “
Grossartig erzählt und exzellent recherchiert. Faszinierend und unterhaltsam zugleich The Times
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