Die Erfindung des Landes Israel
Mythos und Wahrheit | Eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründungsmythen Israels
Wem gehört das Heilige Land?
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
Fr. 17.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Erfindung des Landes Israel “
Wem gehört das Heilige Land?
Klappentext zu „Die Erfindung des Landes Israel “
Gehört Israel den Juden? Was bedeutet überhaupt Israel? Wer hat dort gelebt, wer erhebt Ansprüche auf das Land, wie kam es zur Staatsgründung Israels? Der israelische Historiker Shlomo Sand stellt den Gründungsmythos seines Landes radikal in Frage. Überzeugend weist er nach, dass die Juden nie danach gestrebt haben, in ihr »angestammtes Land« zurückzukehren, und dass auch heute ihre Mehrheit nicht in Israel lebt oder leben will. Nachdrücklich fordert er die israelische Gesellschaft auf, sich von den Mythen des Zionismus zu verabschieden und die historischen Tatsachen anzuerkennen.Lese-Probe zu „Die Erfindung des Landes Israel “
Die Erfindung des Landes Israel von Shlomo SandEinleitung
1. Erinnerungen aus dem Land der Väter
Am 5. Juni 1967 überschritt ich auf dem Radarhügel (Dschebel ar-Radar) in den Jerusalemer Bergen die israelisch-jordanische Grenze. Ich war damals ein junger Soldat und, wie viele andere, einberufen worden, mein Land zu verteidigen. Der Abend senkte sich bereits herab, schweigend und zögernd schritten wir über den zerschnittenen Stacheldraht. Diejenigen, die vor uns gingen, wurden von Minen in Stücke gerissen, ihr Fleisch wurde nach allen Seiten verstreut. Ich zitterte vor Angst, ich klapperte wie wild mit den Zähnen, und kalter Schweiß ließ mein Armeehemd am Körper kleben. Doch in meinem verstörten, überreizten Kopf konnte ich, während mein Körper sich vorwärts bewegte wie eine mechanische Puppe, nicht aufhören, daran zu denken, dass ich gerade zum ersten Mal ins Ausland kam. Ich war zwar mit zwei Jahren nach Israel gekommen, doch da ich in einem Armenviertel von Jaffa aufgewachsen war und von Jugend an hatte arbeiten müssen, waren alle Träume, das Land einmal zu verlassen und die Welt zu bereisen, Träume geblieben.
... mehr
Sehr schnell musste ich erkennen, dass meine erste »Auslandsreise « kein abenteuerlicher Vergnügungstrip werden würde, denn meine Kameraden und ich wurden sogleich in die Kämpfe um Jerusalem geschickt. Meine Enttäuschung wuchs noch, als mir klarwurde, dass unser Grenzübertritt von den anderen nicht als Schritt ins Ausland angesehen wurde. Nicht wenige der Soldaten um mich herum betrachteten sich selbst schlicht als Heimkehrer, die die Grenzen des israelischen Staates überquerten, um nach »Erez Israel« zu gelangen, ins Land Israel. Schließlich war unser Stammvater Abraham zwischen Hebron und Betlehem umhergezogen und nicht zwischen Tel Aviv und Netanja. Und König David hatte jenes Jerusalem erobert und besungen, das östlich der Waffenstillstandslinie lag, nicht aber die moderne, pulsierende israelische Metropole im Westen. »Wieso Ausland? Das ist doch das wahre Land deiner Väter«, bekam ich schon damals von den Soldaten zu hören, die an meiner Seite in den schweren Kämpfen um das arabische Viertel Abu Tor in Jerusalem vorrückten.
Meine Kameraden glaubten, sie beträten einen Ort, der immer schon der ihre gewesen war. Ich hingegen hatte das Gefühl, einen Ort verlassen zu haben, der der meine war, weil ich dort fast mein ganzes Leben verbracht hatte, und ich fürchtete, nie wieder dorthin zurückzukehren, da ich die Kämpfe vielleicht nicht überleben würde. Doch das Glück war mir wohlgesinnt, und mit einiger Mühe blieb ich am Leben. Doch meine Sorge, nie mehr an den Ort zurückzukehren, den ich verlassen hatte, sollte sich letztendlich auf eine Art und Weise bewahrheiten, die ich mir damals noch nicht vorstellen konnte.
Am Tag nach den Kämpfen um Abu Tor führte man uns, die wir nicht verwundet worden waren, in die Altstadt, um die Klagemauer zu sehen. Mit entsicherter Waffe marschierten wir angespannt durch die schweigenden Straßen. Ab und an sahen wir verängstigte Gesichter aus den Fenstern lugen. Wenig später erreichten wir eine relativ schmale Gasse, an der sich eine hohe Mauer aus behauenen Steinquadern erhob. Damals waren die Häuser des alten Mughrabi-Viertels noch nicht abgerissen worden, um Raum für den riesigen Vorplatz zu schaffen, der alle Besucher der »Disco-Mauer« oder der »Diskothek von Gottes Gegenwart «, wie Jeshajahu Leibowitz diesen sonderbaren Ort zu bezeichnen pflegte, aufnehmen kann. Wir waren vollkommen erschöpft, unsere verdreckten Uniformen starrten vom Blut der Verwundeten und Toten. Mehr als alles andere beschäftigte uns, einen Ort zum Urinieren zu finden, da wir weder in einem geöffneten Café noch in den Häusern der unter Schock stehenden Anwohner Rast machen konnten. Aus Achtung vor den Religiösen unter uns pinkelten wir an die Wände der Häuser auf der anderen Seite der Gasse und vermieden so die »Entweihung« der äußeren Stützmauer des Plateaus, auf dem der »Bösewicht« Herodes und seine mit Rom treu verbündeten Nachfahren den Tempel errichtet hatten, um ihre despotische Herrschaft mittels gewaltiger Steinquader zu verherrlichen.
Tatsächlich flößte mir die schiere Größe der behauenen Felsblöcke Ehrfurcht ein. Ich erinnere mich, dass ich mich sehr klein und schwach bei ihrem Anblick gefühlt habe, offenbar auch wegen der Enge der Gasse, die ihre Größe noch unterstrich, und auch aus Angst vor den arabischen Anwohnern, die noch nicht ahnten, dass sie schon sehr bald aus ihrem Viertel vertrieben werden würden. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich nicht viel über König Herodes und die Klagemauer. Ich hatte sie bislang bloß auf alten Postkarten gesehen, die in unseren Schulbüchern reproduziert waren, und kannte niemanden, der das Bestreben gehabt hätte, zu ihr zu gelangen. Auch wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, dass diese Mauer niemals Teil des Tempels gewesen war und die meiste Zeit nach dessen Zerstörung - im Gegensatz zum Tempelberg etwa, dessen Betreten strenggläubigen Juden wegen der Unreinheit der Toten untersagt ist - nicht als heilige Stätte gegolten hatte.1 Aber all jene säkularen Kulturschaffenden und Erinnerungspolitiker, die sich schon bald daranmachten, mit Hilfe triumphaler Erinnerungsalben eine neue Tradition zu erschaffen und zu überhöhen, kannten kein Zaudern bei ihrem nationalen Sturmangriff auf die Geschichte. Bewusst wählten sie die inszenierte Aufnahme dreier Soldaten - der »Aschkenase« in der Mitte hat seinen Helm abgenommen und steht barhäuptig, als betete er in einer Kirche -, deren Augen von der zweitausendjährigen Sehnsucht nach der geheiligten Mauer erfüllt sind und deren Herzen angesichts der »Befreiung« des Lands der Väter übergehen.
Fortan wurden wir nicht müde, mit großer Inbrunst »Jerusalem aus Gold« anzustimmen. Naomi Schemers ebenso sehnsüchtige wie annexionistische Hymne, die erst kurz vor Beginn der Kämpfe entstanden war, trug höchst effektiv dazu bei, die Eroberung Ostjerusalems als selbstverständliche Verwirklichung eines historischen Anrechts erscheinen zu lassen. Jeder, der in jenen schweißtreibenden Junitagen des Jahres 1967 in das arabische Jerusalem einmarschierte, hätte wissen müssen, dass der Text des Liedes, der so viel zur psychologischen Vorbereitung auf den Krieg beigesteuert hatte - »Die Brunnen sind leer von Wasser, der Marktplatz wie ausgestorben, der Tempelberg dunkel und verlassen, dort in der Altstadt ...« - nichts mit der Realität zu tun hatte.2 Doch nur wenige, wenn überhaupt, haben schon damals verstanden, wie gefährlich und sogar antijüdisch diese Zeilen waren. Zugegeben - sind die Besiegten derart schwach, halten sich die singenden Sieger nicht mit Kleinigkeiten auf. Die sprachlosen Verlierer hatten sich uns nicht einfach nur gebeugt, sie verschwanden geradezu vor der Kulisse der heiligen, ewigen jüdischen Stadt, als hätte es sie nie gegeben.
Nach dem Ende der Kämpfe wurde ich zusammen mit zehn meiner Kameraden zur Bewachung des jordanischen Hotels Intercontinental abkommandiert, das später in jüdischen Besitz übergehen sollte und heute Seven Arches heißt. Der luxuriöse Hotelkomplex thront auf dem Gipfel des Ölbergs, in unmittelbarer Nachbarschaft zum alten jüdischen Friedhof. Als ich mit meinem Vater, der damals in Tel Aviv wohnte, telefonierte und ihm erzählte, ich befände mich auf dem Ölberg, rief er mir die alte Geschichte in Erinnerung, die in unserer Familie kursierte, die ich aber aus Mangel an Interesse vollkommen vergessen hatte.
Kurz vor seinem Tod hatte mein Urgroßvater beschlossen, seine Heimatstadt Lodz zu verlassen und nach Jerusalem zu reisen. Zionist war er nicht im Entferntesten, dafür aber ein gottesfürchtiger, die Gebote wahrender Chasside, weshalb er neben seinem Schiffsfahrschein auch seinen Grabstein mit auf die Reise nahm. Denn das Bestreben eines jeden guten Juden war nicht, in Zion zu leben, sondern auf dem Ölberg begraben zu werden. Einem Midrasch aus dem 11. Jahrhundert zufolge wird die Auferstehung der Toten auf dieser Erhebung Jerusalems beginnen, vis-à-vis zum Berg Moriah, auf dem einstmals der Tempel stand. Der alte Gutenberg, so hieß mein Ururgroßvater, verkaufte all seinen Besitz, investierte sein gesamtes Vermögen in die Reise und hinterließ seinen Kindern nicht einen Groschen. Er muss ein ziemlich egoistischer Zeitgenosse gewesen sein, einer von denen, die sich in einer Warteschlange immer nach vorne drängen, weshalb es ihn auch danach verlangte, unter den Ersten zu sein, die beim Kommen des Messias von den Toten auferstünden. Er hoffte wohl einfach, seine Erlösung würde die Auferstehung aller anderen Familienmitglieder befördern, und so wurde ihm die Gnade zuteil, als Erster aus der Familie in der Erde Zions ewige Ruhe zu finden.
Mein Vater schlug vor, ich sollte nach dem Grab meines Urgroßvaters suchen. Doch ungeachtet meiner spontanen Neugier ließen mich die sengende Sommerhitze und die deprimierende Müdigkeit nach den Kämpfen Abstand von der Idee nehmen. Zudem machte das Gerücht die Runde, die alten Grabplatten seien für den Bau des jordanischen Hotels oder zumindest für die Pflasterung der Zufahrt verwendet worden. Ich erinnere mich, dass ich in jener Nacht nach dem Telefongespräch mit meinem Vater auf dem Bett saß, mich an die Zimmerwand lehnte und mir vorstellte, sie sei aus dem Grabstein meines Urgroßvaters gemauert. Von den hervorragenden Weinen aus der Hotelbar ordentlich beschwipst, konnte ich nicht anders, als über die absurden Kapriolen der Geschichte nachzusinnen. Doch meine traurige Lage
- als bewaffneter Wächter stand ich israelisch-jüdischen Plünderern gegenüber, die den Inhalt des Hotels wie selbstverständlich für die »Befreier« Jerusalems beanspruchten - überzeugte mich, dass die Auferstehung der Toten noch in weiter Ferne läge. Zwei Monate nach meiner Begegnung mit der Klagemauer und dem Ölberg drang ich tiefer nach »Erez Israel« vor und machte dabei eine Erfahrung, die für mein weiteres Leben außerordentlich prägend war. Bei meinem ersten Reservedienst nach dem Krieg wurde ich in einer alten Polizeistation am Ortseingang von Jericho stationiert, der ersten Stadt in der Geschichte der Menschheit, die einer alten Sage zufolge kraft eines Trompetenstoßes eingenommen worden war. Leider sollte mir dort ein traumatisches Erlebnis widerfahren, das sich vollkommen von dem der beiden Kundschafter unterschied, die damals im Haus von Rahab, der örtlichen Hure, Unterschlupf fanden, so man der biblischen Erzählung denn Glauben schenkt. Bei meinem Eintreffen erzählten mir andere Soldaten, in den Tagen zuvor seien palästinensische Flüchtlinge des »Sechstagekrieges«, die versucht hatten, in ihre Häuser zurückzukehren, systematisch erschossen worden. Jene, die den Jordan bei Tage überquert hatten, seien festgenommen worden und würden nach ein, zwei Tagen zurück auf die andere Seite des Flusses geschickt. Meine Aufgabe bestünde darin, die Insassen unseres improvisierten Gefängnisses zu bewachen.
In einer Freitagnacht im September 1967 - ich erinnere mich genau, weil es der Vorabend meines Geburtstags war - blieben wir einfachen Reservisten uns selbst überlassen, da die Offiziere auf eine Spritztour nach Jerusalem gefahren waren. Ein alter Palästinenser, der mit einer großen Menge von Dollarscheinen auf der Straße festgenommen worden war, wurde in den Verhörraum gebracht. Ich stand vor der Polizeistation Wache, als ich plötzlich furchtbare Schreie hörte. Ich hastete ins Gebäude, stieg auf eine Kiste und verfolgte durch ein kleines Oberlicht das entsetzliche Schauspiel. Der alte Mann saß gefesselt auf einem Stuhl, während meine lieben Kameraden ihn am ganzen Körper schlugen und brennende Zigaretten auf seinen Armen ausdrückten. Ich stolperte von der Kiste, übergab mich und kehrte verstört und am ganzen Leib zitternd auf meinen Posten zurück. Kurz darauf fuhr ein Pritschenwagen mit der Leiche des »reichen« Greises auf der Ladefläche davon. Meine Kameraden riefen mir zu, sie führen zum Jordan, um sie loszuwerden.
Ich weiß nicht, ob der misshandelte Leichnam am Ende genau dort ins Wasser geworfen wurde, wo einst die »Kinder Israels« den Jordan überquert hatten, auf ihrem Weg in das ihnen direkt von Gott verliehene Land. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass es sich um den Ort handelte, an dem der heilige Johannes seinerzeit die ersten »wahren Kinder Israels« taufte, eine Stätte, die der christlichen Tradition zufolge südlich von Jericho liegt. Wie auch immer, ich habe nie verstanden, warum der alte Palästinenser gefoltert und umgebracht wurde, schließlich gab es damals noch keinen Terror, wagte es noch niemand, Widerstand zu leisten. War es des Geldes wegen? Oder sollten es die Langweile und Tristesse eines Freitagabends ohne anderweitige Vergnügen gewesen sein, die zu den Misshandlungen und dem gewöhnlichen Mord führten?
Erst später ist mir aufgegangen, welche Bedeutung meine »Jerichoer Taufe« als Wasserscheide in meinem Leben haben sollte. Ich hatte die Misshandlungen und die blinde Gewalt nicht verhindern können, weil ich Angst gehabt und vollkommen den Kopf verloren hatte. Ich weiß nicht, ob ich die Tat überhaupt hätte unterbinden können, aber die Tatsache, dass ich es nicht einmal versucht habe, hat mich zutiefst deprimiert und mich jahrelang verfolgt. Allem Anschein nach wohnt mir dieser Mord bis zum heutigen Tage inne, da ich über ihn schreibe. Er hat mich auch gelehrt, dass eine Situation von absoluter Machtfülle nicht nur zerstörerische Niedertracht hervorbringen kann, wie schon Lord Acton wusste, sondern auch ein Gefühl unerträglichen Herrentums, einer Herrschaft über andere Menschen und letztlich auch über einen Ort. Ich bin sicher, dass meine machtlosen Vorfahren, die im Ansiedlungsrayon der Juden im zaristischen Russland lebten, sich nicht hätten ausmalen können, was ihre Nachfahren dereinst im Heiligen Land vollführen würden.
Bei meinem nächsten Reservedienst wurde ich genau zu der Zeit abermals ins Jordantal geschickt, als man dort mit Begeisterung daranging, die ersten Siedlungen des Nachal3 zu errichten. Am zweiten Tag meines Aufenthalts im Jordantal nahm ich im Morgengrauen an einem nebulösen Appell teil, der von General Rechavam Se'evi, bekannt auch unter dem Namen Gandhi, abgehalten wurde. Se'evi war kurz zuvor zum Befehlshaber des Zentralabschnitts ernannt worden. Bald würde er von seinem Freund Moshe Dayan eine lebendige Löwin als Geschenk erhalten, jene Raubkatze, die bald zum Symbol für die Allgegenwart der israelischen Armee im Westjordanland werden sollte. Der General, ein echter Sabre,4 baute sich in einer Art und Weise vor uns auf, die eines General Patton nicht unwürdig gewesen wäre,5 und hielt eine kurze Rede. Deren genauen Wortlaut habe ich nicht mehr in Erinnerung, da ich wohl noch ein bisschen verschlafen war, aber niemals werde ich den Augenblick vergessen, als Se'evi mit großer Geste auf die hinter uns aufragenden Berge Transjordaniens wies und uns mit viel Pathos befahl, dies immer im Gedächtnis zu behalten: Auch diese Berge befänden sich in Erez Israel, auch dort in Gilad und Baschan hätten unsere Vorväter gelebt.
© List Verlag
Sehr schnell musste ich erkennen, dass meine erste »Auslandsreise « kein abenteuerlicher Vergnügungstrip werden würde, denn meine Kameraden und ich wurden sogleich in die Kämpfe um Jerusalem geschickt. Meine Enttäuschung wuchs noch, als mir klarwurde, dass unser Grenzübertritt von den anderen nicht als Schritt ins Ausland angesehen wurde. Nicht wenige der Soldaten um mich herum betrachteten sich selbst schlicht als Heimkehrer, die die Grenzen des israelischen Staates überquerten, um nach »Erez Israel« zu gelangen, ins Land Israel. Schließlich war unser Stammvater Abraham zwischen Hebron und Betlehem umhergezogen und nicht zwischen Tel Aviv und Netanja. Und König David hatte jenes Jerusalem erobert und besungen, das östlich der Waffenstillstandslinie lag, nicht aber die moderne, pulsierende israelische Metropole im Westen. »Wieso Ausland? Das ist doch das wahre Land deiner Väter«, bekam ich schon damals von den Soldaten zu hören, die an meiner Seite in den schweren Kämpfen um das arabische Viertel Abu Tor in Jerusalem vorrückten.
Meine Kameraden glaubten, sie beträten einen Ort, der immer schon der ihre gewesen war. Ich hingegen hatte das Gefühl, einen Ort verlassen zu haben, der der meine war, weil ich dort fast mein ganzes Leben verbracht hatte, und ich fürchtete, nie wieder dorthin zurückzukehren, da ich die Kämpfe vielleicht nicht überleben würde. Doch das Glück war mir wohlgesinnt, und mit einiger Mühe blieb ich am Leben. Doch meine Sorge, nie mehr an den Ort zurückzukehren, den ich verlassen hatte, sollte sich letztendlich auf eine Art und Weise bewahrheiten, die ich mir damals noch nicht vorstellen konnte.
Am Tag nach den Kämpfen um Abu Tor führte man uns, die wir nicht verwundet worden waren, in die Altstadt, um die Klagemauer zu sehen. Mit entsicherter Waffe marschierten wir angespannt durch die schweigenden Straßen. Ab und an sahen wir verängstigte Gesichter aus den Fenstern lugen. Wenig später erreichten wir eine relativ schmale Gasse, an der sich eine hohe Mauer aus behauenen Steinquadern erhob. Damals waren die Häuser des alten Mughrabi-Viertels noch nicht abgerissen worden, um Raum für den riesigen Vorplatz zu schaffen, der alle Besucher der »Disco-Mauer« oder der »Diskothek von Gottes Gegenwart «, wie Jeshajahu Leibowitz diesen sonderbaren Ort zu bezeichnen pflegte, aufnehmen kann. Wir waren vollkommen erschöpft, unsere verdreckten Uniformen starrten vom Blut der Verwundeten und Toten. Mehr als alles andere beschäftigte uns, einen Ort zum Urinieren zu finden, da wir weder in einem geöffneten Café noch in den Häusern der unter Schock stehenden Anwohner Rast machen konnten. Aus Achtung vor den Religiösen unter uns pinkelten wir an die Wände der Häuser auf der anderen Seite der Gasse und vermieden so die »Entweihung« der äußeren Stützmauer des Plateaus, auf dem der »Bösewicht« Herodes und seine mit Rom treu verbündeten Nachfahren den Tempel errichtet hatten, um ihre despotische Herrschaft mittels gewaltiger Steinquader zu verherrlichen.
Tatsächlich flößte mir die schiere Größe der behauenen Felsblöcke Ehrfurcht ein. Ich erinnere mich, dass ich mich sehr klein und schwach bei ihrem Anblick gefühlt habe, offenbar auch wegen der Enge der Gasse, die ihre Größe noch unterstrich, und auch aus Angst vor den arabischen Anwohnern, die noch nicht ahnten, dass sie schon sehr bald aus ihrem Viertel vertrieben werden würden. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich nicht viel über König Herodes und die Klagemauer. Ich hatte sie bislang bloß auf alten Postkarten gesehen, die in unseren Schulbüchern reproduziert waren, und kannte niemanden, der das Bestreben gehabt hätte, zu ihr zu gelangen. Auch wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, dass diese Mauer niemals Teil des Tempels gewesen war und die meiste Zeit nach dessen Zerstörung - im Gegensatz zum Tempelberg etwa, dessen Betreten strenggläubigen Juden wegen der Unreinheit der Toten untersagt ist - nicht als heilige Stätte gegolten hatte.1 Aber all jene säkularen Kulturschaffenden und Erinnerungspolitiker, die sich schon bald daranmachten, mit Hilfe triumphaler Erinnerungsalben eine neue Tradition zu erschaffen und zu überhöhen, kannten kein Zaudern bei ihrem nationalen Sturmangriff auf die Geschichte. Bewusst wählten sie die inszenierte Aufnahme dreier Soldaten - der »Aschkenase« in der Mitte hat seinen Helm abgenommen und steht barhäuptig, als betete er in einer Kirche -, deren Augen von der zweitausendjährigen Sehnsucht nach der geheiligten Mauer erfüllt sind und deren Herzen angesichts der »Befreiung« des Lands der Väter übergehen.
Fortan wurden wir nicht müde, mit großer Inbrunst »Jerusalem aus Gold« anzustimmen. Naomi Schemers ebenso sehnsüchtige wie annexionistische Hymne, die erst kurz vor Beginn der Kämpfe entstanden war, trug höchst effektiv dazu bei, die Eroberung Ostjerusalems als selbstverständliche Verwirklichung eines historischen Anrechts erscheinen zu lassen. Jeder, der in jenen schweißtreibenden Junitagen des Jahres 1967 in das arabische Jerusalem einmarschierte, hätte wissen müssen, dass der Text des Liedes, der so viel zur psychologischen Vorbereitung auf den Krieg beigesteuert hatte - »Die Brunnen sind leer von Wasser, der Marktplatz wie ausgestorben, der Tempelberg dunkel und verlassen, dort in der Altstadt ...« - nichts mit der Realität zu tun hatte.2 Doch nur wenige, wenn überhaupt, haben schon damals verstanden, wie gefährlich und sogar antijüdisch diese Zeilen waren. Zugegeben - sind die Besiegten derart schwach, halten sich die singenden Sieger nicht mit Kleinigkeiten auf. Die sprachlosen Verlierer hatten sich uns nicht einfach nur gebeugt, sie verschwanden geradezu vor der Kulisse der heiligen, ewigen jüdischen Stadt, als hätte es sie nie gegeben.
Nach dem Ende der Kämpfe wurde ich zusammen mit zehn meiner Kameraden zur Bewachung des jordanischen Hotels Intercontinental abkommandiert, das später in jüdischen Besitz übergehen sollte und heute Seven Arches heißt. Der luxuriöse Hotelkomplex thront auf dem Gipfel des Ölbergs, in unmittelbarer Nachbarschaft zum alten jüdischen Friedhof. Als ich mit meinem Vater, der damals in Tel Aviv wohnte, telefonierte und ihm erzählte, ich befände mich auf dem Ölberg, rief er mir die alte Geschichte in Erinnerung, die in unserer Familie kursierte, die ich aber aus Mangel an Interesse vollkommen vergessen hatte.
Kurz vor seinem Tod hatte mein Urgroßvater beschlossen, seine Heimatstadt Lodz zu verlassen und nach Jerusalem zu reisen. Zionist war er nicht im Entferntesten, dafür aber ein gottesfürchtiger, die Gebote wahrender Chasside, weshalb er neben seinem Schiffsfahrschein auch seinen Grabstein mit auf die Reise nahm. Denn das Bestreben eines jeden guten Juden war nicht, in Zion zu leben, sondern auf dem Ölberg begraben zu werden. Einem Midrasch aus dem 11. Jahrhundert zufolge wird die Auferstehung der Toten auf dieser Erhebung Jerusalems beginnen, vis-à-vis zum Berg Moriah, auf dem einstmals der Tempel stand. Der alte Gutenberg, so hieß mein Ururgroßvater, verkaufte all seinen Besitz, investierte sein gesamtes Vermögen in die Reise und hinterließ seinen Kindern nicht einen Groschen. Er muss ein ziemlich egoistischer Zeitgenosse gewesen sein, einer von denen, die sich in einer Warteschlange immer nach vorne drängen, weshalb es ihn auch danach verlangte, unter den Ersten zu sein, die beim Kommen des Messias von den Toten auferstünden. Er hoffte wohl einfach, seine Erlösung würde die Auferstehung aller anderen Familienmitglieder befördern, und so wurde ihm die Gnade zuteil, als Erster aus der Familie in der Erde Zions ewige Ruhe zu finden.
Mein Vater schlug vor, ich sollte nach dem Grab meines Urgroßvaters suchen. Doch ungeachtet meiner spontanen Neugier ließen mich die sengende Sommerhitze und die deprimierende Müdigkeit nach den Kämpfen Abstand von der Idee nehmen. Zudem machte das Gerücht die Runde, die alten Grabplatten seien für den Bau des jordanischen Hotels oder zumindest für die Pflasterung der Zufahrt verwendet worden. Ich erinnere mich, dass ich in jener Nacht nach dem Telefongespräch mit meinem Vater auf dem Bett saß, mich an die Zimmerwand lehnte und mir vorstellte, sie sei aus dem Grabstein meines Urgroßvaters gemauert. Von den hervorragenden Weinen aus der Hotelbar ordentlich beschwipst, konnte ich nicht anders, als über die absurden Kapriolen der Geschichte nachzusinnen. Doch meine traurige Lage
- als bewaffneter Wächter stand ich israelisch-jüdischen Plünderern gegenüber, die den Inhalt des Hotels wie selbstverständlich für die »Befreier« Jerusalems beanspruchten - überzeugte mich, dass die Auferstehung der Toten noch in weiter Ferne läge. Zwei Monate nach meiner Begegnung mit der Klagemauer und dem Ölberg drang ich tiefer nach »Erez Israel« vor und machte dabei eine Erfahrung, die für mein weiteres Leben außerordentlich prägend war. Bei meinem ersten Reservedienst nach dem Krieg wurde ich in einer alten Polizeistation am Ortseingang von Jericho stationiert, der ersten Stadt in der Geschichte der Menschheit, die einer alten Sage zufolge kraft eines Trompetenstoßes eingenommen worden war. Leider sollte mir dort ein traumatisches Erlebnis widerfahren, das sich vollkommen von dem der beiden Kundschafter unterschied, die damals im Haus von Rahab, der örtlichen Hure, Unterschlupf fanden, so man der biblischen Erzählung denn Glauben schenkt. Bei meinem Eintreffen erzählten mir andere Soldaten, in den Tagen zuvor seien palästinensische Flüchtlinge des »Sechstagekrieges«, die versucht hatten, in ihre Häuser zurückzukehren, systematisch erschossen worden. Jene, die den Jordan bei Tage überquert hatten, seien festgenommen worden und würden nach ein, zwei Tagen zurück auf die andere Seite des Flusses geschickt. Meine Aufgabe bestünde darin, die Insassen unseres improvisierten Gefängnisses zu bewachen.
In einer Freitagnacht im September 1967 - ich erinnere mich genau, weil es der Vorabend meines Geburtstags war - blieben wir einfachen Reservisten uns selbst überlassen, da die Offiziere auf eine Spritztour nach Jerusalem gefahren waren. Ein alter Palästinenser, der mit einer großen Menge von Dollarscheinen auf der Straße festgenommen worden war, wurde in den Verhörraum gebracht. Ich stand vor der Polizeistation Wache, als ich plötzlich furchtbare Schreie hörte. Ich hastete ins Gebäude, stieg auf eine Kiste und verfolgte durch ein kleines Oberlicht das entsetzliche Schauspiel. Der alte Mann saß gefesselt auf einem Stuhl, während meine lieben Kameraden ihn am ganzen Körper schlugen und brennende Zigaretten auf seinen Armen ausdrückten. Ich stolperte von der Kiste, übergab mich und kehrte verstört und am ganzen Leib zitternd auf meinen Posten zurück. Kurz darauf fuhr ein Pritschenwagen mit der Leiche des »reichen« Greises auf der Ladefläche davon. Meine Kameraden riefen mir zu, sie führen zum Jordan, um sie loszuwerden.
Ich weiß nicht, ob der misshandelte Leichnam am Ende genau dort ins Wasser geworfen wurde, wo einst die »Kinder Israels« den Jordan überquert hatten, auf ihrem Weg in das ihnen direkt von Gott verliehene Land. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass es sich um den Ort handelte, an dem der heilige Johannes seinerzeit die ersten »wahren Kinder Israels« taufte, eine Stätte, die der christlichen Tradition zufolge südlich von Jericho liegt. Wie auch immer, ich habe nie verstanden, warum der alte Palästinenser gefoltert und umgebracht wurde, schließlich gab es damals noch keinen Terror, wagte es noch niemand, Widerstand zu leisten. War es des Geldes wegen? Oder sollten es die Langweile und Tristesse eines Freitagabends ohne anderweitige Vergnügen gewesen sein, die zu den Misshandlungen und dem gewöhnlichen Mord führten?
Erst später ist mir aufgegangen, welche Bedeutung meine »Jerichoer Taufe« als Wasserscheide in meinem Leben haben sollte. Ich hatte die Misshandlungen und die blinde Gewalt nicht verhindern können, weil ich Angst gehabt und vollkommen den Kopf verloren hatte. Ich weiß nicht, ob ich die Tat überhaupt hätte unterbinden können, aber die Tatsache, dass ich es nicht einmal versucht habe, hat mich zutiefst deprimiert und mich jahrelang verfolgt. Allem Anschein nach wohnt mir dieser Mord bis zum heutigen Tage inne, da ich über ihn schreibe. Er hat mich auch gelehrt, dass eine Situation von absoluter Machtfülle nicht nur zerstörerische Niedertracht hervorbringen kann, wie schon Lord Acton wusste, sondern auch ein Gefühl unerträglichen Herrentums, einer Herrschaft über andere Menschen und letztlich auch über einen Ort. Ich bin sicher, dass meine machtlosen Vorfahren, die im Ansiedlungsrayon der Juden im zaristischen Russland lebten, sich nicht hätten ausmalen können, was ihre Nachfahren dereinst im Heiligen Land vollführen würden.
Bei meinem nächsten Reservedienst wurde ich genau zu der Zeit abermals ins Jordantal geschickt, als man dort mit Begeisterung daranging, die ersten Siedlungen des Nachal3 zu errichten. Am zweiten Tag meines Aufenthalts im Jordantal nahm ich im Morgengrauen an einem nebulösen Appell teil, der von General Rechavam Se'evi, bekannt auch unter dem Namen Gandhi, abgehalten wurde. Se'evi war kurz zuvor zum Befehlshaber des Zentralabschnitts ernannt worden. Bald würde er von seinem Freund Moshe Dayan eine lebendige Löwin als Geschenk erhalten, jene Raubkatze, die bald zum Symbol für die Allgegenwart der israelischen Armee im Westjordanland werden sollte. Der General, ein echter Sabre,4 baute sich in einer Art und Weise vor uns auf, die eines General Patton nicht unwürdig gewesen wäre,5 und hielt eine kurze Rede. Deren genauen Wortlaut habe ich nicht mehr in Erinnerung, da ich wohl noch ein bisschen verschlafen war, aber niemals werde ich den Augenblick vergessen, als Se'evi mit großer Geste auf die hinter uns aufragenden Berge Transjordaniens wies und uns mit viel Pathos befahl, dies immer im Gedächtnis zu behalten: Auch diese Berge befänden sich in Erez Israel, auch dort in Gilad und Baschan hätten unsere Vorväter gelebt.
© List Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Shlomo Sand
Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer Juden in Linz. 1949 Übersiedlung der Familie nach Israel. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Paris lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er zählt zu den führenden Intellektuellen Israels und zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Bei Propyläen erschienen »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (2010), »Die Erfindung des Landes Israel« (2012) und »Warum ich aufhöre, Jude zu sein« (2013). Bibliographische Angaben
- Autor: Shlomo Sand
- 2014, Nachdruck, 400 Seiten, Masse: 12,1 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Markus Lemke
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548612040
- ISBN-13: 9783548612041
- Erscheinungsdatum: 04.03.2014
Rezension zu „Die Erfindung des Landes Israel “
"Ein sachlicher Beitrag zum Verständnis des Nahostkonflikts." Helge Buttkereit DLF Andruck 20121112
Pressezitat
"Ein sachlicher Beitrag zum Verständnis des Nahostkonflikts." Helge Buttkereit DLF Andruck 20121112
Kommentar zu "Die Erfindung des Landes Israel"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Erfindung des Landes Israel“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Erfindung des Landes Israel".
Kommentar verfassen