Die englische Episode / Rosina Bd.6
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April anno 1770. Im Hamburg wird ein honoriger Drucker ermordet, ein Mädchen und eine kostbare Münzsammlung verschwinden. Wenige Wochen später wird in London die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wer hasste den Drucker so sehr? Warum musste das Mädchen sterben?
Diesmal macht sich die Hamburger Komödiantin Rosina mit Weddemeister Wagner und Madame Augusta in der brodelnden, weltoffenen Stadt an der Themse auf die Suche nach einem Mörder und seinem Motiv. Eine aufregende Suche, bis sie zwischen Theater, Kaffeehaus und Druckerei, verruchtem Gin-Keller und noblem Salon begreifen, was die beiden Toten an Elbe und Themse miteinander verband.
Die englische Episode von Petra Oelker
LESEPROBE
An der Küste von Sussex
Als der Tag zu Ende ging, roch dieLuft über den Klippen nach Frühling, doch in der Nacht duckte sich das Landwieder unter der Kälte des Februars. Der Himmel über dem Meer war klar, bis dievon Sternen glitzernde schwarze Unendlichkeit mit den ersten Stunden des neuenTages im Dunst verschwand und die Welt klein, eng und tonlos wurde. Der Nebeldämpfte jedes Geräusch: das Schmatzen der Wellen, die sich sanft an den Klippenbrachen, den stumpfen Klang der Hufe auf dem Strand, selbst die Stimmen derReiter.
Die beiden Dragoner, die am StrandPatrouille ritten, froren in dieser kalten Dunkelheit. Die klebrig nasse Luftlegte sich eisig auf ihre Gesichter und durchdrang den festen Wollstoff ihrerWinteruniformen. Vor allem aber gab der Nebel ihnen das Gefühl, allein inFeindesland zu sein, obwohl das nächste 1 laus derZoll- und Küstenwache, Unterkunft für fünfzehn Männer und anderthalb DutzendPferde, kaum mehr als zwei Meilen entfernt in den Hügeln stand.
«Es ist unsinnig, in einer solchenNacht Patrouille zu reiten», sagte der Jüngere der Neiden,«wirklich unsinnig.» Seine Stimme klang lauter, als er für gewöhnlich sprach, under fuhr gedämpfter fort: «Heute Nacht ist hier niemand. In so einer Nebelsuppesieht kein Mensch etwas. Wir nicht und die nicht. Oder glaubst du, die können hexen?»
«Nicht wirklich hexen», antworteteder zweite Reiter bedächtig und wischte sieh mit dem Handrücken die Nässe ausden Augenbrauen, «obwohl es manchmal so scheint. Die kennen hier jeden Steinund jeden Ginsterbusch, die machen ihre Geschäfte auch in Nächten, in denen selbstder Teufel zu Hause bleibt.» Er verhielt sein Pferd und neigte lauschend denKopf zur Seite. «Nichts», sagte er. «Trotzdem wäre ich kaum überrascht, wenn dadraussen auf dem Wasser, keine viertel Meile vor unserer Nase, was vor sichgeht.»
Beide starrten in den Nebel hinaus,in dem sich das Meer versteckte, bis sie die Kälte wieder vorwärts trieb. AmEnde der Bucht sassen sie ab, führten ihre Pferde behutsam tastend zumKüstenpfad hinauf und ritten weiter nach Westen.
Sie waren kaum hinter dem nächstenHügel verschwunden, als emsiges, doch nahezu geräuschloses Leben in der Buchterwachte. Aus den Höhlen der Steilwand, hinter Buschwerk und Felsbrockenhuschten hundert, wenn nicht gar hundertfünfzig dunkle Schatten hervor.Stämmige kleine Packtiere standen plötzlich am Strand, die Hufe dick mitSackleinen umwickelt, die Mäuler gebunden. Zwei flache Boote lösten sieh ausdem Uferschilf des Flüsschens, das hier ins Meer mündete, glitten hinaus in dieBucht und waren schon im Nebel verschwunden.
Zwei Stunden später, es war nichtmehr lange bis Sonnenaufgang und mit der aufkommenden sanften Brise begannsieh der Nebel in dicke Schwaden zu teilen, kehrten die beiden Reiter zurück.Die auflaufende Flut hatte den Strand schon schmal gemacht.
«Ich hab's dir gesagt», murmelte derJüngere mit von der Kälte steifen Wangen, «inso einer Nacht liegen alle in ihren warmen Betten.Ausser uns. Wahrscheinlich haben wir sie überhaupt endgültig vergrault. Seitsie wissen, dass sie gehenkt oder zumindest deportiert werden, wenn wir sieschnappen ...»
Der Ältere lachte leise undfreudlos. Der junge Dragoner aus London musste noch viel lernen. Er blickteauf den Sand hinab, doch über dem Boden war der Nebel noch so dicht, dass erkaum die Hufe seines Pferdes erkennen konnte. Auch nach Sonnenaufgang würdedie Suche vergeblich bleiben. Dann hatte die Flut alle Spuren verwischt, auchihre eigenen.
Zwei Meilen weiter im Landerreichten schwer bepackte Männer, Frauen und Kinder ihr Ziel. Auf dem verstecktenPfad durch die Downs war die kleine Karawane immerkleiner geworden. Bei diesem Busch, bei jenem Stein - immer wieder waren einigeder menschlichen Lastträger still verschwunden, als habe sie die dunstige Dunkelheitverschluckt. Die mit den Maultieren hatten eine gute Meile zurück bei dermächtigen, vor Jahren von einem Blitz gespaltenen Esche den Weg zum Dorf eingeschlagen.
Die Männer mit den Booten würden inden nächsten dunklen Nächten zurückkehren, zwei-, vielleicht auch dreimal, undwieder in die Bucht hinausrudern, bis auch die letzte der geteerten Tonnen, diemit dicken Steinen verbunden kurz unter der Oberfläche des Wassers dümpelten,geborgen und in Sicherheit gebracht waren.
Doch jetzt waren auch die Bootelängst verschwunden, eines langsamer als gewöhnlich, denn in dieser Nacht war seineLadung besonders schwer, weit schwerer als die Kisten mit den in Holland ohneLizenz gedruckten Büchern für die Händler der Provinz. Spätestens bei Sonnenaufgangwürde es entladen und fest vertäut am Steg der Pfarrei des Dorfes liegen, alshabe es seit Tagen nichts anderes getan.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Petra Oelker
- 2003, 10. Auflage, 446 Seiten, 3 Abbildungen, Masse: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499232898
- ISBN-13: 9783499232893
- Erscheinungsdatum: 01.03.2003
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