Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4
Roman. Ein Fall für Inspektor Barbarotti
Drei befreundete Pärchen reisen mit dem eigenen Bus von Uppsala ans Schwarze Meer. Was als Gute-Laune-Trip beginnt, endet in einem schrecklichen Desaster. Ein Menschenalter später kreuzen sich die Wege der Sechs wieder, als ein Dozent in den Wäldern vor...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4 “
Drei befreundete Pärchen reisen mit dem eigenen Bus von Uppsala ans Schwarze Meer. Was als Gute-Laune-Trip beginnt, endet in einem schrecklichen Desaster. Ein Menschenalter später kreuzen sich die Wege der Sechs wieder, als ein Dozent in den Wäldern vor Kymlinge tot aufgefunden wird... Ein schwieriger Fall für Inspektor Barbarotti, der sein moralisches Empfinden auf eine harte Probe stellt.
Klappentext zu „Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4 “
Der vierte Fall für Inspektor Barbarotti - jetzt im Taschenbuch!Eine unbeschwerte Sommerreise in den siebziger Jahren. So fängt alles an. Drei Paare aus Uppsala, miteinander befreundet und jung, planen eine Busreise von Schweden durch die Ostblockländer bis ans Schwarze Meer. Aber was so lustig beginnt, endet im Desaster. Die Wege der Sechs trennen sich nach diesem Urlaub - und kreuzen sich ein Menschenalter später erneut, als ein Dozent aus Lunda in den Wäldern vor Kymlinge am Fusse eines Steilhangs tot aufgefunden wird. Genau an derselben Stelle, an der eine junge Studentin aus Uppsala vor fünfunddreissig Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben kam ...
Lese-Probe zu „Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4 “
Die Einsamen von Håkan NesserProlog, September 1958
... mehr
Er wachte von streitenden Stimmen auf. Sie stammten weder von Vater noch von Mutter. Die stritten sich nie. Man kann doch in der heiligen Familie nicht streiten, pflegte Vater zu sagen und dann auf diese ernste Art und Weise zu lachen, so dass man nicht wusste, ob er nun Spaß machte oder es ernst meinte.
Es war auch nicht Vivianne, die da zeterte, oder ein anderer Mensch. Nein, die Stimmen waren in ihm selbst.
Tu es, sagte die eine. Es geschieht ihnen nur recht. Sie sind ungerecht.
Tu es nicht, sagte die andere. Es wird Prügel setzen. Er wird es merken.
Komisch, dass man von Stimmen aufwachen kann, die es eigentlich gar nicht gibt, dachte er. Er schaute auf die Uhr. Es war erst halb sieben. Noch zwanzig Minuten, bis er normalerweise aufstand. Das war ebenfalls komisch. Er wachte so gut wie nie von allein auf. Seine Mutter musste ihn meistens wecken, und das nicht nur einmal.
Aber das lag natürlich daran, dass es ein besonderer Morgen war.
Natürlich. Und weil er gestern Abend daran gedacht hatte. Bevor er eingeschlafen war, und darüber stritten sich die Stimmen jetzt. Er hatte sicher auch davon geträumt, das musste so sein, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Er blieb noch eine Weile liegen und versuchte wieder in den Schlaf zu finden, aber es klappte nicht.
Dann setzte er sich auf die Bettkante. Ich tu es, dachte er. Vielleicht passiert ja gar nichts, aber ich bin so wütend. Es ist einfach nicht gerecht, und wenn etwas ungerecht ist, dann muss man etwas tun, das sagt Vater ja auch immer.
Lass es, sagte die andere Stimme. Er wird es merken, und wie um alles in derWelt willst du ihm das dann erklären?
Er wird gar nichts merken, erwiderte die erste Stimme. Sei nicht so verdammt feige. Du wirst es sonst bereuen und dich dafür schämen, dass du so feige warst, wenn du es nicht tust. Außerdem ist es ja nur ein Pups.
Ganz im Gegenteil, widersprach die andere Stimme. Du wirst es bereuen, wenn du es tust. Und es ist nicht nur ein Pups.
Aber sie war nicht mehr so kräftig, diese Stimme, die ihn zurückhalten wollte. Eigentlich nur noch ein flüstern. Er stand auf und ging zu dem Stuhl, über dem seine Kleider hingen. Schob die Hand in die Tasche der hellblauen Strickjacke und vergewisserte sich.
Ja, die Schachtel mit den Pastillen lag noch dort. Babyleicht, dachte er. Es wäre wirklich babyleicht, und das Risiko, dass er erwischt wurde, war kleiner als ein Pups im Sturm. So pflegte sein Vater immer zu sagen. Andere Menschen sagten, wie ein Tropfen Wasser im Meer, aber sein Vater sagte immer, wie ein Pups im Sturm.
Die andere Stimme versuchte noch etwas anzubringen, aber sie war so schwach, dass er sie nicht mehr hörte. Höchstens noch als...ja, genau das, er konnte nicht anders, er musste darüber kichern... als ein Pups im Sturm.
Er ging auf die Toilette und spürte, wie sein Körper prickelte. Der Entschluss fühlte sich an wie ein warmes Knäuel in seinem Kopf.
I
1
Rickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.
Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger - noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte - war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck-Heft durch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.
Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes - fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes -Magazin links vom Teller auf der rotweißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.
Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließlich starb.
Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson - dem Quälgeist der Stavaschule - gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.
Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.
Vielleichtwaren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament - auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher...während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.
Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag - wobei das Weiß des freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.
Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte - oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte -, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.
Die Dienstagsphobie war auf jeden fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.
Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein. Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der 9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.
Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen - diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.
Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebenso gut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.
Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er betrachtete die schwulstige, knallbunte Skulptur in dem Steinrondell und dachte, dass sie sicher berühmt war. In einer Stadt wie Uppsala gab es eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten. Bauten, Gedenksteine, historische Plätze, und mit der Zeit würde er sich all das zu Gemüte führen - ruhig und zielstrebig, es gab in dieser Beziehung keinen Grund zur Eile.
Er ging weiter geradeaus, überquerte eine große, viel befahrene Straße und ein paar kleinere, und nach ein paar Minuten war er unten am Fluss. Fyris. Überquerte ihn auf einer Holzbrücke und sah den Dom und den alten Stadtkern sich rechts von ihm erheben, nickte zufrieden und lenkte seine Schritte dorthin.
Jeder Mensch sollte einen großen und einen kleinen Plan haben. Der große betrifft die Frage, wie man das Leben bewältigen will, der kleine, wie den Tag.
Das war keine seiner eigenen kursiven Formulierungen, leider nicht, sie stammte von dem Studienrat Grundenius. Von allen mehr oder weniger eigenartigen Lehrern, auf die er während seiner drei Jahre am Vadsbo-Gymnasium gestoßen war, hatte Grundenius den größten Eindruck auf Rickard Berglund gemacht. Dominant und unberechenbar, zeitweise geradezu launisch, aber es war immer interessant, ihm zuzuhören. Oftmals sowohl überraschend als auch scharfsinnig in seinen Beobachtungen und Fragestellungen. Religion und Philosophie. Es gab das Gerücht, dass er gern schlechte Noten gab, aber Rickard hatte in beiden fächern ein Gut bekommen; schwer zu sagen, ob er es wirklich verdient hatte. Schwer, seine eigenen Verdienste einzuschätzen.
Auf jeden fall hatte er einen kleinen und einen großen Plan. Während er weiter am Fluss entlang auf die Kathedrale zuschritt, deren spitze Türme sich leicht in dem mit Wolken betupften Himmel zu bewegen schienen, tauchte der große in seinem Kopf auf. Das Leben. Rickard Emmanuel Berglunds Zeit auf Erden, soweit sie sich erstreckte und gedacht war.
Theologie.
Das war der Grundstein. Den Acker wollte er bearbeiten, oder wie immer man es auch ausdrücken mochte. Er hatte zu keinem bestimmten Zeitpunkt den entsprechenden Entschluss gefasst, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, es war eher eine Entscheidung gewesen, die in ihm gewachsen war, unwiderruflich und schicksalhaft im Laufe einer ganzen Anzahl von Jahren. Vielleicht bereits mit der Muttermilch aufgesogen, denn es gab einen Gott, dessen war er sich während seines ganzen bewussten Lebens sicher gewesen, aber durch den Tod seines Vaters hatte er außerdem begriffen, dass es sich nicht um den sicheren und freundlichen Abendgebetsgott seiner Kindheit handelte, sondern dass die diesbezügliche frage viel komplizierter war. Deutlich komplizierter.
Wert, untersucht zu werden.
Josef Berglund war Pastor der freikirchlichen Gemeinde der Aronsbrüder gewesen, ein früher Ableger der Missionskirche, doch die gebündelten Gebete der Gemeindemitglieder hatten in der letzten schweren Zeit das Leiden ihres Hirten nicht um einen Deut lindern können. Auch die seiner Ehefrau und seines Sohnes halfen nicht, und das war der Hauptgrund für Rickard Berglunds nuanciertes Gottesbild.
Warum erhört er unsere Gebete nicht?
Oder wenn er sie hört, warum kommt er dann nicht unseren Bescheidenen Wünschen entgegen? Warum lässt er seine Treugläubigen leiden?
Als er diese Fragen ein einziges Mal mit seiner Mutter Ethel diskutieren wollte, hatte sie ohne Umschweife erklärt, dass es dem Menschen nicht zustünde, sich Vorstellungen von Seinen tieferen Zielen und Beweggründen zu machen. Absolut nicht. Denn die vereinfachenden Interpretationen des Menschen bezüglich Gut und Böse waren aus einer größeren, jenseitigen Sicht immer zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal so ein Ereignis wie das Leiden und der Tod eines einfachen, gottesfürchtigen freikirchlichen Pastors können wir letztlich abschließend beurteilen.
Ungefähr so war ihre Argumentation gewesen. Aber Rickard Berglund wollte sich eine Vorstellung machen. Er forderte eine Erklärung, auch wenn seine Mutter behauptete, dass derartige Ambitionen geistigem Hochmut ähnelten, und an diesem Punkt endete meist ihr Gespräch. In dieser Sache ließ sie nicht mit sich reden; wenn es ein Kampf war, ein Ringen um Gott, um das es hier ging, dann war das eine Aktion, die er bitte schön allein auszutragen hatte. Rickard und der Herrgott? Der Sinn seines Lebens?
Er erreichte das dunkle Portal. Die Umgebung des Doms badete geradezu in strahlendem Sonnenschein, aber die schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen - oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein...oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher... und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute, den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Er wachte von streitenden Stimmen auf. Sie stammten weder von Vater noch von Mutter. Die stritten sich nie. Man kann doch in der heiligen Familie nicht streiten, pflegte Vater zu sagen und dann auf diese ernste Art und Weise zu lachen, so dass man nicht wusste, ob er nun Spaß machte oder es ernst meinte.
Es war auch nicht Vivianne, die da zeterte, oder ein anderer Mensch. Nein, die Stimmen waren in ihm selbst.
Tu es, sagte die eine. Es geschieht ihnen nur recht. Sie sind ungerecht.
Tu es nicht, sagte die andere. Es wird Prügel setzen. Er wird es merken.
Komisch, dass man von Stimmen aufwachen kann, die es eigentlich gar nicht gibt, dachte er. Er schaute auf die Uhr. Es war erst halb sieben. Noch zwanzig Minuten, bis er normalerweise aufstand. Das war ebenfalls komisch. Er wachte so gut wie nie von allein auf. Seine Mutter musste ihn meistens wecken, und das nicht nur einmal.
Aber das lag natürlich daran, dass es ein besonderer Morgen war.
Natürlich. Und weil er gestern Abend daran gedacht hatte. Bevor er eingeschlafen war, und darüber stritten sich die Stimmen jetzt. Er hatte sicher auch davon geträumt, das musste so sein, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Er blieb noch eine Weile liegen und versuchte wieder in den Schlaf zu finden, aber es klappte nicht.
Dann setzte er sich auf die Bettkante. Ich tu es, dachte er. Vielleicht passiert ja gar nichts, aber ich bin so wütend. Es ist einfach nicht gerecht, und wenn etwas ungerecht ist, dann muss man etwas tun, das sagt Vater ja auch immer.
Lass es, sagte die andere Stimme. Er wird es merken, und wie um alles in derWelt willst du ihm das dann erklären?
Er wird gar nichts merken, erwiderte die erste Stimme. Sei nicht so verdammt feige. Du wirst es sonst bereuen und dich dafür schämen, dass du so feige warst, wenn du es nicht tust. Außerdem ist es ja nur ein Pups.
Ganz im Gegenteil, widersprach die andere Stimme. Du wirst es bereuen, wenn du es tust. Und es ist nicht nur ein Pups.
Aber sie war nicht mehr so kräftig, diese Stimme, die ihn zurückhalten wollte. Eigentlich nur noch ein flüstern. Er stand auf und ging zu dem Stuhl, über dem seine Kleider hingen. Schob die Hand in die Tasche der hellblauen Strickjacke und vergewisserte sich.
Ja, die Schachtel mit den Pastillen lag noch dort. Babyleicht, dachte er. Es wäre wirklich babyleicht, und das Risiko, dass er erwischt wurde, war kleiner als ein Pups im Sturm. So pflegte sein Vater immer zu sagen. Andere Menschen sagten, wie ein Tropfen Wasser im Meer, aber sein Vater sagte immer, wie ein Pups im Sturm.
Die andere Stimme versuchte noch etwas anzubringen, aber sie war so schwach, dass er sie nicht mehr hörte. Höchstens noch als...ja, genau das, er konnte nicht anders, er musste darüber kichern... als ein Pups im Sturm.
Er ging auf die Toilette und spürte, wie sein Körper prickelte. Der Entschluss fühlte sich an wie ein warmes Knäuel in seinem Kopf.
I
1
Rickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.
Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger - noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte - war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck-Heft durch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.
Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes - fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes -Magazin links vom Teller auf der rotweißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.
Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließlich starb.
Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson - dem Quälgeist der Stavaschule - gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.
Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.
Vielleichtwaren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament - auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher...während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.
Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag - wobei das Weiß des freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.
Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte - oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte -, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.
Die Dienstagsphobie war auf jeden fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.
Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein. Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der 9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.
Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen - diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.
Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebenso gut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.
Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er betrachtete die schwulstige, knallbunte Skulptur in dem Steinrondell und dachte, dass sie sicher berühmt war. In einer Stadt wie Uppsala gab es eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten. Bauten, Gedenksteine, historische Plätze, und mit der Zeit würde er sich all das zu Gemüte führen - ruhig und zielstrebig, es gab in dieser Beziehung keinen Grund zur Eile.
Er ging weiter geradeaus, überquerte eine große, viel befahrene Straße und ein paar kleinere, und nach ein paar Minuten war er unten am Fluss. Fyris. Überquerte ihn auf einer Holzbrücke und sah den Dom und den alten Stadtkern sich rechts von ihm erheben, nickte zufrieden und lenkte seine Schritte dorthin.
Jeder Mensch sollte einen großen und einen kleinen Plan haben. Der große betrifft die Frage, wie man das Leben bewältigen will, der kleine, wie den Tag.
Das war keine seiner eigenen kursiven Formulierungen, leider nicht, sie stammte von dem Studienrat Grundenius. Von allen mehr oder weniger eigenartigen Lehrern, auf die er während seiner drei Jahre am Vadsbo-Gymnasium gestoßen war, hatte Grundenius den größten Eindruck auf Rickard Berglund gemacht. Dominant und unberechenbar, zeitweise geradezu launisch, aber es war immer interessant, ihm zuzuhören. Oftmals sowohl überraschend als auch scharfsinnig in seinen Beobachtungen und Fragestellungen. Religion und Philosophie. Es gab das Gerücht, dass er gern schlechte Noten gab, aber Rickard hatte in beiden fächern ein Gut bekommen; schwer zu sagen, ob er es wirklich verdient hatte. Schwer, seine eigenen Verdienste einzuschätzen.
Auf jeden fall hatte er einen kleinen und einen großen Plan. Während er weiter am Fluss entlang auf die Kathedrale zuschritt, deren spitze Türme sich leicht in dem mit Wolken betupften Himmel zu bewegen schienen, tauchte der große in seinem Kopf auf. Das Leben. Rickard Emmanuel Berglunds Zeit auf Erden, soweit sie sich erstreckte und gedacht war.
Theologie.
Das war der Grundstein. Den Acker wollte er bearbeiten, oder wie immer man es auch ausdrücken mochte. Er hatte zu keinem bestimmten Zeitpunkt den entsprechenden Entschluss gefasst, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, es war eher eine Entscheidung gewesen, die in ihm gewachsen war, unwiderruflich und schicksalhaft im Laufe einer ganzen Anzahl von Jahren. Vielleicht bereits mit der Muttermilch aufgesogen, denn es gab einen Gott, dessen war er sich während seines ganzen bewussten Lebens sicher gewesen, aber durch den Tod seines Vaters hatte er außerdem begriffen, dass es sich nicht um den sicheren und freundlichen Abendgebetsgott seiner Kindheit handelte, sondern dass die diesbezügliche frage viel komplizierter war. Deutlich komplizierter.
Wert, untersucht zu werden.
Josef Berglund war Pastor der freikirchlichen Gemeinde der Aronsbrüder gewesen, ein früher Ableger der Missionskirche, doch die gebündelten Gebete der Gemeindemitglieder hatten in der letzten schweren Zeit das Leiden ihres Hirten nicht um einen Deut lindern können. Auch die seiner Ehefrau und seines Sohnes halfen nicht, und das war der Hauptgrund für Rickard Berglunds nuanciertes Gottesbild.
Warum erhört er unsere Gebete nicht?
Oder wenn er sie hört, warum kommt er dann nicht unseren Bescheidenen Wünschen entgegen? Warum lässt er seine Treugläubigen leiden?
Als er diese Fragen ein einziges Mal mit seiner Mutter Ethel diskutieren wollte, hatte sie ohne Umschweife erklärt, dass es dem Menschen nicht zustünde, sich Vorstellungen von Seinen tieferen Zielen und Beweggründen zu machen. Absolut nicht. Denn die vereinfachenden Interpretationen des Menschen bezüglich Gut und Böse waren aus einer größeren, jenseitigen Sicht immer zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal so ein Ereignis wie das Leiden und der Tod eines einfachen, gottesfürchtigen freikirchlichen Pastors können wir letztlich abschließend beurteilen.
Ungefähr so war ihre Argumentation gewesen. Aber Rickard Berglund wollte sich eine Vorstellung machen. Er forderte eine Erklärung, auch wenn seine Mutter behauptete, dass derartige Ambitionen geistigem Hochmut ähnelten, und an diesem Punkt endete meist ihr Gespräch. In dieser Sache ließ sie nicht mit sich reden; wenn es ein Kampf war, ein Ringen um Gott, um das es hier ging, dann war das eine Aktion, die er bitte schön allein auszutragen hatte. Rickard und der Herrgott? Der Sinn seines Lebens?
Er erreichte das dunkle Portal. Die Umgebung des Doms badete geradezu in strahlendem Sonnenschein, aber die schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen - oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein...oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher... und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute, den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Håkan Nesser
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt in Stockholm und auf Gotland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Håkan Nesser
- 2013, 608 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442743796
- ISBN-13: 9783442743797
- Erscheinungsdatum: 04.04.2013
Kommentare zu "Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Einsamen / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.4".
Kommentar verfassen