Die Chronik der Unsterblichen Band 15: Nekropole
Roman
Als Andrej mit einem Zug Verzweifelter die Ewige Stadt erreicht, steht Rom vor einer Zeitenwende. Eine dunkle Kraft braut sich zusammen, die die ganze Stadt zu verschlingen droht. Andrej und Abu Dun bleibt nichts anderes übrig, als ihr eigenes Leben in...
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Produktinformationen zu „Die Chronik der Unsterblichen Band 15: Nekropole “
Als Andrej mit einem Zug Verzweifelter die Ewige Stadt erreicht, steht Rom vor einer Zeitenwende. Eine dunkle Kraft braut sich zusammen, die die ganze Stadt zu verschlingen droht. Andrej und Abu Dun bleibt nichts anderes übrig, als ihr eigenes Leben in die Waagschale zu werfen, um die zu retten, die ihnen wichtig sind.
Klappentext zu „Die Chronik der Unsterblichen Band 15: Nekropole “
Als Andrej mit einem Zug Verzweifelter die Ewige Stadt erreicht, steht Rom vor einer Zeitenwende. In den Wirren einer hastig anberaumten Papstwahl braut sich unter dem Petersdom eine dunkle Kraft zusammen, die die ganze Stadt zu verschlingen droht. Andrej und Abu Dun bleibt nichts anderes übrig, als ihr eigenes Leben in die Waagschale zu werfen, um die Menschen zu retten, die ihnen wichtig sind ...
Lese-Probe zu „Die Chronik der Unsterblichen Band 15: Nekropole “
Nekropole von Wolfgang HohlbeinKapitel 1
Manche nannten Rom die Ewige Stadt, doch Andrej hatte nie wirklich verstanden, warum. Für die einen war sie ein Moloch, der zum Leben erwacht war und die Menschen nur noch brauchte, um immer weiterzuwachsen und dem Verfall Einhalt zu gebieten, für andere war sie der Ort auf Erden, an dem der Mensch in seiner sterblichen Form Gott am nächsten kommen konnte. Und schließlich gab es da noch die, für die diese Stadt das Zentrum des reinen Bösen auf der Welt darstellte, der Ort, an dem der Mensch seine Raffinesse zur Perfektion getrieben hatte, seinen eigenen Machtanspruch mit dem angeblichen Willen eines Gottes zu untermauern, der von seiner Existenz vermutlich ebenso wenig Notiz nahm wie der Mensch von dem Gras, das er achtlos unter seinen Schritten zertrat. Für Andrej war sie vor allem eines: schmutzig. Der Tiber war eine Kloake, gespeist aus unzähligen Abwasserkanälen, voller Dreck und Unrat, den die Bewohner hier bedenkenlos entsorgten. Andrej hatte vergessen, wie Städte riechen, aber während ihrer kriechend langsamen Fahrt über die Lebensader Roms Richtung Isola Tiberina erinnerte er sich wieder, warum Abu Dun und er es vorzogen, sich in der Wüste oder den endlosen Steppen des Ostens oder in der Einsamkeit des Gebirges aufzuhalten.
Rom stank.
... mehr
Alle westlichen Städte, in denen er jemals gewesen war, stanken buchstäblich zum Himmel, und Rom machte da keine Ausnahme. Vielleicht hatte er von dieser ganz besonderen Stadt ja auch etwas ganz Besonderes erwartet, oder der Grund für ihre Reise hatte ihm eine Wichtigkeit suggeriert, die es nicht gab ... oder die banale Wahrheit war einfach die, dass sie zu lange auf hoher See gewesen waren, um den Geruch zu vieler Menschen, die viel zu lange Zeit auf viel zu wenig Platz zusammengelebt hatten, ignorieren oder auch nur ertragen zu können. Geschweige denn, es zu wollen.
»Was für ein paradiesisches Fleckchen Erde, Sahib«, sagte Abu Dun, als er neben ihn trat und sich so schwer auf das altersschwache Holz der Reling stützte, dass Andrej ein Ächzen zu hören meinte, das durch den gesamten Schiffsrumpf lief. Beinahe glaubte er zu spüren, wie sich das Schiff unter Abu Duns Gewicht auf die Seite legte.
»Endlich verstehe ich, warum du immer von dieser prachtvollsten aller Städte geschwärmt hast, Sahib! All diese wunderschönen Gebäude und Paläste, diese wohlgenährten und gutgekleideten Menschen! Und dieser himmlische Duft! Ich muss dir Abbitte leisten, für alles, was ich insgeheim über deine Schwärmerei für diese Stadt gedacht habe!«
Andrej hütete sich zu widersprechen, schon weil das nur einen weiteren, endlosen Redeschwall zur Folge gehabt hätte. Außerdem hatte Abu Dun recht. Über den Geruch hatte er schon hinlänglich nachgedacht - auch wenn die Worte des nubischen Riesen ihn noch einmal schlimmer gemacht zu haben schienen -, und die Gebäude, die zumindest den Teil der Stadt beherrschten, in den die Pestmond einlief, hätten in den allermeisten anderen Städten wohl eher unter dem Begriff Ruine rangiert. Und was die gut gekleideten und fröhlichen Menschen anging, von denen Abu Dun sprach, so waren dies gerade jetzt nur drei abgerissene Gestalten, die unweit ihres angepeilten Liegeplatzes herumlungerten und das Schiff mit einer Mischung aus Neugier und kaum verhohlener Verschlagenheit musterten.
Andrej überlegte einen Moment, ob es sich eher um Herumtreiber, Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit oder Diebe und Halsabschneider auf der Suche nach Beute handelte, und kam dann zu dem Schluss, dass das möglicherweise gar keinen Unterschied machte. Vielleicht gingen sie ja einfach unterschiedlichen Tätigkeiten nach, bei unterschiedlichen Gelegenheiten.
Andrej warf den Burschen einen möglichst finsteren Blick zu, um sie von dummen Ideen abzubringen - oder besser noch, gar nicht erst darauf kommen zu lassen -, zeitigte damit aber keinen sichtbaren Erfolg. Die Männer sahen weiter dem näher kommenden Schiff entgegen, und nun, da Abu Dun neben ihm aufgetaucht war, konzentrierte sich ihr Blick vor allem auf den schwarz gekleideten nubischen Koloss. Das an sich war nichts Ungewöhnliches. Wo immer sie gemeinsam auftauchten, starrten die Leute den nubischen Riesen an. Auch Andrej war alles andere als klein oder gar schmächtig, doch der stets schwarz gekleidete und dunkelhäutige Riese war einer der größten Männer, denen er jemals begegnet war, und der mit Abstand stärkste. Jetzt kam auch noch seine künstliche Hand hinzu, die auch dann Aufsehen erregt hätte, hätte sie nicht so grotesk ausgesehen, wie sie es nun einmal tat.
Dennoch beunruhigte ihn der Anblick der drei Männer. Sie würden von dem biblischen Koloss erzählen, der mit einem Schiff gekommen war, das direkt aus einem zurückliegenden Jahrtausend herbeigesegelt zu sein schien, und sowohl Hasan als auch ihm war daran gelegen, sich möglichst unauffällig in der Stadt zu bewegen.
Andererseits war es aber auch ein Ding der Unmöglichkeit, nicht aufzufallen, wenn man in Begleitung eines Mannes wie Abu Dun reiste. Abgesehen davon war die Pestmond hier eindeutig fehl am Platz; ein Schiff wie sie hätte normalerweise weit außerhalb von Rom in Civitavecchia anlegen müssen. Das aber hätte bedeutet, dass sie noch rund fünfzig Kilometer zu Fuß oder bestenfalls zu Pferd hätten zurücklegen müssen, bevor sie die Ewige Stadt betreten konnten.
Und diese Zeit hatten sie einfach nicht.
Ein sachtes Zittern durchlief das Schiff, die Pestmond wurde langsamer und begann sich dann fast auf der Stelle zu drehen, um den Einzigen noch freigebliebenen Liegeplatz in einer Anzahl kleinerer und zum Großteil noch heruntergekommenerer Boote anzulaufen. Andrej dachte erst gar nicht darüber nach, wie der Mann am Ruder dieses Kunststück fertigbrachte, kam aber nicht umhin, dem vermeintlichen Schmuggler im Stillen Respekt zu zollen, und das nicht zum ersten Mal. Seit Don Corleanis' Männer das Schiff übernommen hatten, fühlte sich Andrej endlich halbwegs sicher an Bord. Die Pestmond war noch immer ein Wrack, das hauptsächlich von verkrustetem Dreck und den inbrünstigen Gebeten seiner Besatzung zusammengehalten wurde, doch zum ersten Mal, seit sie Sizilien verlassen hatten, hatte er es tatsächlich für möglich gehalten, sie könnten an ihrem Ziel ankommen, ohne den letzten Teil der Reise schwimmen zu müssen.
Andrej schenkte dem Mann am Ruder einen anerkennenden Blick, den dieser aber gar nicht zur Kenntnis nahm, so sehr war er in seine Arbeit vertieft. Als er sich wieder dem Ufer zuwenden wollte, ging die Tür unter dem altmodischen Achterkastell auf, und Ali und zwei seiner überlebenden Assassinen betraten das Deck. Der Hauptmann hatte sich zwar den Bart abgenommen, steckte aber noch immer in den Kleidern eines maurischen Edelmannes, doch den beiden Wüstenkriegern war nicht mehr anzusehen, was sie wirklich waren. Sie trugen jetzt gutbürgerliche, aber eher unauffällige Kleidung und keine Waffen, zumindest nicht sichtbar. Selbst ihre Gesichter sahen aus irgendeinem Grund nicht mehr wirklich wie die von Arabern aus - falls sie es denn überhaupt je gewesen waren. Nicht einmal dessen war sich Andrej noch ganz sicher.
»Andrej. Abu Dun.« Ali nickte ihnen in dieser Reihenfolge zu und sah dann stirnrunzelnd zu den drei Männern hin, die nun gemeinsam und mit offenem Misstrauen ihn und seine beiden Begleiter anglotzten. Vor allem aber ihn. »Wer ist das?«
»Freundliche Eingeborene«, grinste Abu Dun. »Hoffe ich wenigstens. Und sie fragen sich wahrscheinlich gerade genau dasselbe. «
»So freundlich kommen sie mir gar nicht vor.«
»Vielleicht sind Araber in dieser Stadt ja nicht besonders beliebt «, erwiderte Abu Dun.
Ali bedachte den nubischen Riesen, der weder seinen schwarzen Mantel noch den gleichfarbigen Turban gebraucht hätte, um seine Herkunft zu verraten, mit einem strafenden Blick.
»Reiche Araber«, fügte Abu Dun mit einem treuherzigen Nicken hinzu.
Ali war klug genug, sich mit Abu Dun auf keinen Schlagabtausch einzulassen, stattdessen sah er wieder zu den drei Männern hinüber.
»Das Empfangskomitee?«, stichelte Abu Dun. »Wie passend.«
Mit einem Rumpeln prallte das Schiff gegen die Kaimauer. Auf eine kurze Geste Alis hin schwang sich einer seiner Begleiter über die Bordwand und landete mit einer Selbstverständlichkeit auf dem anderthalb Meter tiefer liegenden Kai, mit der andere einen Schritt über eine Türschwelle getan hätten. Als die drei Männer immer noch keine Reaktion zeigten, wie Andrej spätestens jetzt erwartet hätte, oder gar Anstalten machten zu gehen, beschloss er, seine vielleicht doch etwas vorschnell gefasste Meinung noch einmal zu überdenken. Das waren keine Strauchdiebe und auch keine Tagelöhner.
Ali wartete, bis der Assassine die kleine Gruppe erreicht hatte und mit den Männern zu reden begann und antwortete erst dann, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Gleich wissen wir es.«
Abu Dun holte Luft, zweifellos, um noch ein bisschen mehr Öl ins Feuer zu gießen, sodass Andrej schon fast erleichtert war, als das Schiff erneut mit einem lauten Knirschen am groben Stein der Kaimauer entlangschrammte. Niemand verlor das Gleichgewicht, aber eine Woge unruhig-hektischer Bewegung lief über das Deck, und zwei von Corleanis' angeblichen Fischern sprangen ebenfalls auf festen Boden hinab und begannen das Schiff zu vertäuen. Schon nach wenigen Augenblicken gebärdete sich die Pestmond nicht mehr wie ein störrisches Muli, das noch nicht an den Strick gewöhnt ist, und auch das Scharren und Ächzen hörte sich nicht mehr an, als wollte das Schiff in Stücke brechen. Wenigstens nicht gleich.
Zwei weitere Matrosen entfernten mit geschickten Bewegungen ein Segment aus der Schanzwand, und ein Dritter legte eine mit Querstreben verstärkte Planke zum Kai hinab, über die man das Schiff auf eine etwas weniger anstrengende Art und Weise verlassen konnte. Das alles ging so schnell, dass es Andrej eher an die Choreografie eines gut einstudierten Tanzes erinnerte als an die schwere Arbeit, die es war, und sich zudem der erste mit einem Korb beladene Mann schon auf halbem Wege nach unten befand, noch bevor die Planke ganz zur Ruhe gekommen war. Trotzdem erscholl sofort hinter ihnen eine ebenso misstönende wie unzufriedene Stimme:
»Das habe ich alles schon schneller gesehen! Was glaubt ihr, was das hier ist? Eine freundliche Landpartie, auf der sich jeder nach Belieben ausruhen kann?«
Andrej zog die Brauen zusammen, als er sich umdrehte und den Besitzer dieser unangenehmen Stimme sah. Don Corleanis' Aussehen stand ihrem Klang in nichts nach. Der selbst ernannte Schmugglerkönig war kaum größer als ein zehn- oder zwölfjähriger Knabe, so unglaublich fett, dass er an eine aufrecht gehende Qualle erinnerte, und hatte ein feistes Gesicht mit tückischen Schweinsäuglein. Er wirkte stets, als stünde er kurz vor dem Erstickungstod, und seine Stimme hörte sich an, als hätte er versucht mit Glasscherben zu gurgeln.
Tatsächlich hatte einmal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden. Zwar war das Messer nicht tief genug in seine wabbelnden Fettmassen eingedrungen, um seinen Zweck ganz zu erfüllen, und die Narbe unter dem Dreifachkinn vor neugierigen Blicken verborgen, aber seine Stimme war unwiederbringlich dahin.
Sein Gewissen - sollte er jemals eines gehabt haben - offensichtlich auch. Nachdem er Hasan erkannt und den wahren Grund ihrer Reise erfahren hatte, sollte dieser Moment eigentlich der großartigste und berührendste seines gesamten bisherigen Lebens gewesen sein, und Andrej war auch sicher, dass es so war ... aber das hinderte ihn keineswegs daran, auch aus dieser Überfahrt noch möglichst viel Profit zu schlagen.
So grotesk Don Corleanis' äußere Erscheinung auch sein mochte, genoss er bei seinen Männern doch einen gehörigen Respekt, und so tauchten nun immer mehr von ihnen an Deck auf und begannen, mit Kisten, Bündeln, Körben und Säcken beladen, die schmale Planke hinabzueilen. Corleanis beabsichtigte ganz offensichtlich, gehörigen Profit aus dieser Reise zu schlagen.
Abu Dun grinste noch breiter, und Ali verdrehte in stummer Verzweiflung die Augen, doch er war klug genug, jeden Kommentar für sich zu behalten. Mit Don Corleanis über seine Geschäfte oder gar seine kruden Vorstellungen von Moral und Ehre zu diskutieren, wäre ungefähr so sinnvoll gewesen wie der Versuch, den Papst dazu zu überreden, zum Islam zu konvertieren.
Und als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, ging die Tür nun ein zweites Mal auf, und Clemens - Hasan, schalt sich Andrej in Gedanken, denn sie waren übereingekommen, auch untereinander weiter den Namen zu benutzen, unter dem er den angeblichen Alten vom Berge kennengelernt hatte, schon, um sich nicht in einem unpassenden Moment zu verplappern - trat auf das Deck heraus, gefolgt von Ayla und dem Rest seiner Leibwache aus Assassinen: sieben weitere Männer und Kasim, die jetzt ebenfalls allesamt westliche Kleidung trugen. In der Schar der Schmuggler bildete sich eine Gasse, und Don Corleanis klappte den Mund auf und wieder zu und schaffte es gerade noch, nicht auf die Knie zu fallen.
Selbst Andrej empfand unwillkürlich einen sonderbaren Schauer, während er Clemens - Hasan, verdammt! - betrachtete. Hätte ihm jemand diese Situation vorhergesagt, er hätte ihn ausgelacht und jeden Eid geschworen, dass es ihn vollkommen unbeeindruckt ließ, ob er nun dem legendären Alten vom Berge, einem selbst ernannten Schmugglerkönig oder dem Papst höchstpersönlich gegenüberstand. Doch nun war er tatsächlich befangen. Wie auch nicht, stand er doch dem mächtigsten Mann der Welt gegenüber, zumindest, was diesen Teil des Erdballes anbelangte.
Oder er war es einmal gewesen.
Hasan, der jetzt wieder schwer auf einen Stock gestützt ging, den er gar nicht benötigte, schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln und trat dann zwischen Ali und ihm an die Bordwand, um seinen Blick aufmerksam über den Pier tasten zu lassen. Soweit Andrej in seinem Gesicht lesen konnte, schien er mit dem zufrieden zu sein, was er sah.
Ihm selbst erging es vollkommen anders. Er hörte nicht mehr hin, als Ali etwas zu seinem Herren sagte, sondern tat das, was er eigentlich gleich am Anfang hätte tun sollen, und unterzog seine Umgebung einer zweiten und aufmerksameren Musterung, diesmal mit den Augen eines Kriegers.
Nur sehr wenig von dem, was er sah, gefiel ihm. Beiderseits der Pestmond hatten zahlreiche und ausnahmslos kleinere Schiffe angelegt, von denen etliche so tief im Wasser lagen, als würde die stinkende Kloake des Tiber sie gierig auf den Flussgrund ziehen. Eine lange Reihe heruntergekommener Lagerhäuser und Schuppen erhob sich auf der anderen Seite einer Straße, die gut noch aus der Zeit des römischen Imperiums hätte stammen können, wäre sie nicht - wenngleich schlampig - gepflastert gewesen; und überall gewahrte er Karren und Wagen und Stapel mit Waren, die vielleicht auf den Abtransport in die eine oder andere Richtung warteten. Was er nicht sah, waren Menschen.
Die Erkenntnis traf ihn so plötzlich, dass er erschrocken zusammenfuhr. Unwillkürlich näherte sich seine Hand auf halbem Wege dem Saif, den er unter dem Mantel verborgen am Gürtel trug. Wie hatte ihm das entgehen können?
Auch der Rest von Alis überlebenden Assassinen begann nun, das Schiff zu verlassen. Ein Dutzend von Corleanis' Schmugglern war inzwischen schon damit beschäftigt, die Pestmond endgültig zu löschen, Kisten und Säcke am Ufer zu stapeln oder zu tun, was Schmuggler taten, wenn sie nicht schmuggelten. Währenddessen standen die drei Fremden immer noch in einiger Entfernung da und blickten zu ihnen hoch.
Abgesehen von den drei Männern und denen, die mit der Pestmond gekommen waren, war die gesamte Anlegestelle verwaist. Andrej sah buchstäblich keine Menschenseele.
»Andrej?« Ali hatte sein Gespräch mit Hasan unterbrochen. »Was hast du -«
»Nichts«, antwortete Andrej, und Abu Dun fügte hinzu: »Das ist es ja gerade.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ayla und nutzte die Gelegenheit auch gleich, Andrej ein warmes Lächeln über den Rand ihres schwarzen Schleiers hinweg zu schenken.
»Er will damit sagen, dass es zu still ist«, sagte Andrej, während er den Blick aufmerksam über die Straße schweifen ließ. »Das hier ist Rom, kein verstecktes Schmugglernest. Wo sind die Menschen? Schiffe ziehen Neugierige an. Aber hier ist niemand.«
»Das hast du scharf beobachtet«, sagte Ali. »Wie gut, dass wir einen Mann wie dich bei uns haben. Ich fühle mich schon viel sicherer.«
Andrej sah aus den Augenwinkeln, wie Abu Dun zu einer patzigen Entgegnung ansetzte, doch Hasan war schneller. »Nimm es Ali nicht übel, Andrej. Er ist wohl nur ein wenig enttäuscht, dass es dir aufgefallen ist. Er hätte es wohl lieber als Erster gemerkt.«
»Wir sind hier, damit uns so etwas auffällt«, sagte Abu Dun. Auch seine Hand lag auf dem Schwert, das er anders als Andrej ganz offen trug. Eine solch monströse Klinge verbergen zu wollen, wäre auch ziemlich schwierig gewesen.
»Nein, mein Freund.« Hasan lächelte auf eine Weise, als wisse er etwas, das Abu Dun noch unbekannt, aber von großer Wichtigkeit war. »Deshalb seid ihr nicht hier.«
Abu Dun setzte dazu an, etwas zu sagen, hob dann aber nur die Schultern und riss dem nächstbesten Mann seine Last so grob aus den Händen, dass der arme Bursche um ein Haar von der Planke gestürzt wäre. In Aylas Augen, wie üblich nahezu das Einzige, was über dem bestickten Schleier von ihrem Gesicht zu sehen war, blitzte es amüsiert auf, während Clemens - Hasan! - fast schon ein bisschen verletzt aussah.
»Man könnte meinen, dein Freund geht mir aus dem Weg«, sagte er.
»Oder mir«, fügte Ayla hinzu. Anders als Hasan klang sie fast erleichtert.
Genau genommen hatten beide recht, auch wenn Andrej sich hütete, etwas darauf zu sagen. In den zurückliegenden beiden Tagen war Abu Dun sowohl ihm als auch dem Mädchen aus dem Weg gegangen, soweit das in der Enge eines so kleinen Schiffes möglich war. Gesprochen hatte er während der gesamten restlichen Überfahrt kein einziges Wort mehr mit ihnen. Mit Andrej übrigens auch nicht viel mehr.
»Was macht dir Sorgen, Andrej?«, fragte Hasan geradeheraus.
»Sorgen?« Andrej schüttelte den Kopf. »Sieht man mir das so deutlich an?«
»Vielleicht«, antwortete Hasan mit einem Lächeln, das seine Augen wie so oft nicht erreichte. »Vielleicht bin ich ja auch nur ein guter Beobachter.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, behauptete Andrej. »Hätte ich denn Grund dazu?«
»Nein«, erwiderte Hasan. »Und habe ich dir schon gesagt, dass du ein schlechter Lügner bist?«
»Mehrmals«, sagte Andrej. Das Poltern, als Abu Dun seine Last mit einem Poltern im Schiffsinneren ablud, brachte für einen Moment alle Gespräche zum Verstummen. Im Stillen war Andrej ihm fast dankbar. Als er zurückkam, um nach einem weiteren Opfer für seine unerwünschte Hilfe zu suchen, hatte auch der Assassine sein Gespräch mit dem Fremden beendet und kam wieder an Deck, um Ali im Flüsterton Bericht zu erstatten. Andrej sah aus den Augenwinkeln, dass nun nur noch zwei Männer am Ende des Piers standen und das Treiben rings um die Pestmond beobachteten, während sich der Dritte schnellen Schrittes entfernte.
»Es ist alles vorbereitet«, sagte Ali, nachdem der Mann fertig war. »Ein Wagen ist unterwegs, um uns abzuholen.«
Abu Dun runzelte die Stirn und schwieg. Andrej horchte auf. Irgendetwas war hier faul.
»Das gefällt mir nicht«, sagte er.
Ali wandte sich demonstrativ ganz zu ihm um und maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick. »Es hat alles seine Richtigkeit. Ich fürchte, unser kleines Geheimnis ist nicht mehr ganz so geheim. Es ist besser, wenn nicht noch mehr von unserer Ankunft erfahren, als unbedingt notwendig ist.«
»Ich verstehe«, stichelte Abu Dun in seiner Muttersprache. »Und deshalb lässt er auch den halben Fluss absperren, weil das ja so gar nicht auffällt und sich niemand irgendetwas dabei denken könnte, nicht wahr?«
»Die Menschen hier haben zurzeit ganz andere Sorgen«, antwortete Hasan, nicht nur im gleichen nubischen Dialekt, sondern um etliches flüssiger und akzentfreier, als Abu Dun es getan hatte. »Und wenn sie reden, dann werden sie allenfalls annehmen, dass hier irgendwelche zwielichtigen Geschäfte getätigt werden, von denen niemand wissen soll.«
Was in gewisser Weise ja sogar der Fall war, dachte Andrej. Wenn auch von einer ganz anderen Art, als jeder ahnen mochte, der sich vielleicht darüber wunderte, dass man ihm den Zugang zu diesem Pier verwehrte. Vielleicht hatte Hasan gar nicht einmal so unrecht, und es war manchmal das Unauffälligste, sich möglichst auffällig zu verhalten.
»Und wir lassen ja auch noch dieses wunderschöne Schmugglerschiff zurück, über das jeder so lange nachdenken kann, wie er möchte«, fügte Abu Dun jetzt wieder auf Italienisch hinzu.
Hasan nickte und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Don Corleanis, der in wenigen Schritten Abstand stehengeblieben war und all seine Willenskraft zu brauchen schien, um nicht doch noch auf die Knie zu fallen. »Falls du es dir nicht doch noch anders überlegst und das Schiff behältst. Ich habe es ernst gemeint. Die Pestmond gehört dir, wenn du es möchtest. Sie ist ein gutes Schiff, aber ich habe keine Verwendung mehr dafür. Und das ist das Mindeste, was ich dir und deinen Männern als Dank schuldig bin.«
»Das ist ein ... zu großzügiges Geschenk, Emi ... Ich meine, Hasan«, stammelte Corleanis. Immerhin gelang es ihm nun, nach zwei Tagen in seiner Gesellschaft, Hasans direktem Blick standzuhalten, ohne vor Ehrfurcht zu erstarren. Doch dabei war er so nervös, dass seine Stimme noch misstönender und schriller wurde und Andrej sich große Mühe geben musste, um nicht zu grinsen. »Ich kann ... also, es ... es unmöglich annehmen.«
»Du weigerst dich, ein Geschenk von mir anzunehmen?«, fragte Hasan. Er tat es mit einem leichten Lächeln und in gutmütig spöttischem Tonfall, aber Corleanis' Nervosität nahm nur noch einmal zu.
»Das ist es nicht«, versicherte er hastig. »Aber ein solches Schiff ... ist nichts ... nichts für einen Schmuggler. Ich meine, wir ... also, wir bevorzugen eher die kleineren Boote, die ein wenig ... schlichter sind, wie Ihr wisst. Verzeiht, ich meine natürlich, also, ich ... ich wollte gewiss nicht andeuten, dass ...«
»Was du sagen wolltest, ist, dass jemand wie ich ganz gewiss nichts vom Handwerk eines Schmugglers versteht«, half ihm Hasan amüsiert aus.
Corleanis fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und brachte nun gar keinen Ton mehr heraus. Noch vor Tagesfrist hätte Andrej wohl Schadenfreude empfunden, aber allmählich begann ihm das kindische Benehmen des Schmugglers schlichtweg auf die Nerven zu gehen.
»Dann ist jetzt wohl der Moment des Abschieds gekommen«, fuhr Hasan fort, »und mir bleibt nichts mehr übrig, als dir und deinen Männern noch einmal für eure Hilfe zu danken. Ich würde gerne mehr tun, aber ich fürchte, das ist mir nicht möglich.«
»Was immer Ihr befehlt, Emi ...«
»Das bin ich nicht mehr«, fiel ihm Hasan ins Wort, »und ich kann dir auch nichts mehr befehlen. Und genau deshalb muss ich dich noch einmal um einen weiteren Gefallen bitten. Vielleicht den größten von allen.«
»Niemand darf es erfahren«, vermutete Corleanis. Er sah ein wenig traurig aus. Hasan nickte, und nun sank der fette Schmuggler doch vor ihm auf ein Knie und neigte so demütig das Haupt, dass Andrej um sein Gleichgewicht fürchtete.
»Meine Lippen sind versiegelt, Heiliger Vater«, sagte er. »So wie die meiner Männer. Bitte segnet mich, Vater!«
Andrej sah Hasan an, dass er sich gerade noch zurückhalten konnte, um nicht die Augen zu verdrehen. Er sparte es sich auch, Don Corleanis daran zu erinnern, dass er nicht mehr in der Position war, irgendjemandem den Segen zu erteilen, sondern tat ihm den Gefallen. Corleanis seinerseits hätte wohl am liebsten nach seiner Hand gegriffen und sie geküsst. Andrej war sicher nicht der Einzige, dem auffiel, wie schwer es ihm fiel, es nicht zu tun.
Schließlich war es Ali, der mit einem lauten Räuspern dafür sorgte, dass der absurde Moment ein Ende fand. »Wir sollten jetzt aufbrechen. In diesem einen Punkt pflichte ich Andrej bei. Hier gefällt es mir nicht.«
»Zu viele Heiden?«, fragte Abu Dun.
»Zu viel von allem«, antwortete Ali. »Vor allem Platz. Und Türen, hinter die ich nicht sehen kann.« Er machte eine Kopfbewegung auf die beiden Männer am Ende des Piers. »Wir sollten sie nicht mehr zu lange warten lassen. Andrej hat recht. Wir erregen schon jetzt zu viel Aufmerksamkeit. Das gefällt mir nicht.«
»Was ja schon beinahe ein Grund wäre, noch ein wenig zu bleiben «, fand Abu Dun.
Hasan warf ihm einen leise strafenden Blick zu. Er riss seine Hand los und wich einen halben Schritt vor dem knienden Schmuggler zurück. »Ich danke dir«, sagte er wie zum Abschied. »Ich werde dich und deine Männer in meine Gebete einschließen. Und so viel kann ich dir immerhin verraten: Auch wenn du niemals erfahren wirst, wie, so hast du doch mitgeholfen, großes Unglück von dieser Stadt abzuwenden.«
Abu Duns linke Augenbraue rutschte bis zum Rand seines Turbans hoch, und auch Andrej wurde hellhörig, doch Hasan machte keine Anstalten, dieser Andeutung eine Erklärung folgen zu lassen, sondern wandte sich endgültig ab.
Corleanis war jedoch nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er versuchte, aufzustehen und erreichte damit nicht mehr, als in seiner Hast nun endgültig die Balance zu verlieren und auch noch auf das andere Knie zu fallen, zugleich griff er noch einmal nach Hasans Hand. Alis Rechte landete mit einem hörbaren Klatschen auf dem Schwertgriff, und Abu Duns andere Augenbraue gesellte sich seiner linken hinzu.
»Ich bitte Euch, überlegt Euch meinen Vorschlag noch einmal, Vater! Ich könnte Euch sicher noch von Nutzen sein, und ich kenne mich in Rom gut aus!«
»Und du meinst, das täten wir nicht, du Dummkopf ?«, fauchte Ali. »Nimm die Hand da weg, wenn du sie behalten willst.«
Tatsächlich zog er das Schwert eine halbe Handbreit aus der Scheide, und Andrej wäre nicht mehr überrascht gewesen, hätte er seine Drohung unverzüglich in die Tat umgesetzt. Doch er kam nicht dazu, denn in diesem Moment flog die Tür unter dem Achterkastell mit einem Knall auf, und einer von Corleanis' Männern stolperte heraus.
»Die Toten!«, schrie er mit schriller, überschnappender Stimme. »Sie kommen zurück!«
Kapitel 2
Der Mann war zwar erst seit einigen Tagen tot, doch er sah aus, als wären es Jahre, was vermutlich daran lag, dass er einen Gutteil dieser Zeit im Faulwasser der Bilge zu gebracht hatte. Seine Kleider waren so mürbe, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zerfielen, als Abu Dun ihn aus dem Wasser zog, und sein Fleisch kaum minder. Weißer Knochen blitzte an vielen Stellen durch sein verrottetes Gesicht, und er war sowohl seiner Haare als auch der meisten Zähne verlustig gegangen. Eines der Augen war zu grauer Blindheit geliert, wo das andere sein sollte, gähnte ein zerfranster Krater voller wimmelnder Maden und Würmer. Der komplette linke Arm fehlte und war ganz eindeutig ausgerissen worden und nicht abgeschnitten, und die rechte Hand war ein aufgedunsener, schwammiger Klumpen mit nur noch drei Fingern ... was sie nicht daran hinderte, damit blind nach Andrejs Stiefel zu tasten und eine schlammige Spur aus grünblauer Fäulnis auf dem zerschrammten Leder zu hinterlassen.
Angeekelt wich Andrej zurück, wobei er sich an der niedrigen Decke den Kopf stieß. Abu Dun bereitete dem grässlichen Schauspiel ein Ende, indem er wuchtig mit dem Fuß auf die Hand des Toten stampfte. Angesichts seiner gewaltigen Größe und seines noch viel gewaltigeren Gewichts hätte man das Geräusch von zerbrechenden Knochen erwartet, doch Andrej hörte stattdessen einen widerwärtigen Laut, der an das Zerplatzen einer faulen Frucht erinnerte, und registrierte einen Schwall von so intensivem Verwesungsgeruch, dass sein Magen rebellierte. Offensichtlich nicht nur seiner, denn zwei von Corleanis' Männern hatten es plötzlich sehr eilig, den Laderaum zu verlassen, und direkt hinter ihm erklang ein Keuchen und dann ein Würgen, doch zu seiner Erleichterung aber nicht mehr. Jetzt, wo der größte Teil der Fracht gelöscht war, erwies sich der Laderaum der Pestmond als überraschend geräumig, aber nun drängten sich außer Ali und seinen Assassinen auch nahezu die gesamte Schmugglermannschaft darin, die in Sizilien an Bord gekommen war. Sich in einem so überfüllten Raum zu übergeben war nicht nur unangenehm, sondern konnte leicht zu einer noch deutlich unangenehmeren Kettenreaktion führen.
»Ich habe dir gesagt ,dass es kein schöner Anblick ist«, sagte Abu Dun, der sich keine Mühe gab, sich seine Schadenfreude nicht anmerken zu lassen. »Also tu uns allen einen Gefallen und behalte dein Frühstück wenigstens noch so lange bei dir, bis du wieder an Deck bist.«
Die Worte galten Corleanis, der es irgendwie geschafft hatte, noch vor Andrej und ihm hier herunterzukommen, nun aber in zwei Schritten Abstand stehengeblieben war und hörbar nach Luft rang.
»Was tust du da, du ... du widerwärtiger Barbar?«, stammelte Corleanis. »Das ist ...«
»Genug jetzt«, mischte sich Ali ein. »Alle raus hier, die hier nichts verloren haben. Du bleibst.« Zugleich legte er Corleanis die Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf den Mann direkt neben dem Schmuggler. »Und du auch.«
Den meisten Männern musste man nicht zweimal befehlen, den Laderaum zu verlassen, denn auch wenn nur wenige nahe genug gekommen waren, um tatsächlich einen Blick auf den Toten zu werfen, war doch allein der Gestank und das Wissen um seine Anwesenheit schon fast mehr, als selbst die Schlimmes gewöhnten Seeleute ertrugen. Für einen Moment entstand an der steilen Treppe Unruhe und Gerangel, und Abu Dun nutzte die Gelegenheit, um den Fuß von der Hand des Toten zu nehmen, was einen neuerlichen Schwall von Fäulnisgeruchs zur Folge hatte. Don Corleanis japste qualvoll. Abu Dun ließ sich neben der immer noch halb im Wasser liegenden Leiche in die Hocke sinken und drehte den Toten um. Sie mit seinen breiten Schultern vor neugierigen Blicken abschirmend, nutzte er den Moment, ihr unbemerkt von Corleanis und den anderen das Genick zu brechen. Andrej sah, wie die Füße im schlammigen Wasser der Bilge noch ein letztes Mal zuckten. Am Grunde der leeren Augenhöhlen wimmelten die Würmer. Er war sicher, sich gut genug in der Gewalt zu haben, um keinerlei Reaktion auf seinem Gesicht zuzulassen, beglückwünschte sich zugleich aber auch selbst dazu, an diesem Morgen nichts gegessen zu haben. Sein Magen hob sich, und er spürte ein eisiges Entsetzen.
Es war nicht einmal so sehr der grauenhafte Zustand des Toten. In den ungezählten Jahren, in denen sie nun über die Schlachtfelder und Mordgruben der Welt zogen, hatte er schon weit Schlimmeres gesehen und sich schon vor Jahrhunderten von der Illusion verabschiedet, sich alles vorstellen zu können, was Menschen einander antun. Dennoch wünschte er sich, er müsste nicht sehen, was diesem bedauernswerten Mann angetan worden war.
Der Körper war schon seit Tagen tot, nur noch faulendes Fleisch, das mit unnatürlicher Schnelligkeit immer weiter verfiel, und dennoch - tief in diesem grässlichen Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, regte sich immer noch ein gepeinigter Schatten des früheren Lebens. Jetzt, wo Abu Dun ihm das Genick gebrochen hatte, war der Körper endgültig zur Reglosigkeit verdammt, doch Andrej würde nie vergessen, wie ihm der abgeschlagene Schädel eines anderen untoten Kriegers verzweifelte Blicke zugeworfen hatte, und das kalte Grauen, als er begriff, dass da noch immer etwas in diesem wandelnden Leichnam war - etwas, das litt und lautlos gellend nach einer Erlösung schrie, die vielleicht niemals kommen würde.
Abu Dun sagte etwas, das er nicht verstand, doch Andrej klammerte sich beinahe verzweifelt an den reinen Klang der Worte, nur, um diesen letzten, entsetzlichen Gedanken nicht zu Ende denken und sich vielleicht etwas eingestehen zu müssen, das er tief in sich schon längst wusste und nur nicht wahrhaben wollte.
»Andrej?«, fragte Abu Dun noch einmal, und jetzt bemerkte Andrej auch die Furcht, die sich hinter Abu Duns vermeintlicher Gelassenheit verbarg. »Ist alles in Ordnung?«
Nichts war in Ordnung, seit sie dieses verfluchte Schiff betreten und erfahren hatten, wer sein Kapitän wirklich war, das wusste Abu Dun genauso gut wie er. Trotzdem nickte Andrej, doch er kam nicht dazu, zu antworten, denn Don Corleanis, der seine Fassung offenbar zurückerlangt hatte, polterte: »Was soll daran in Ordnung sein,wenn du anständige Menschen zwingst,sich so etwas anzusehen, du Barbar?«
»Kennst du diesen Mann?«, fragte Abu Dun ungerührt, indem er sich in der Hocke umdrehte und den vermeintlichen Toten noch ein Stück weiter aus seinem nassen Grab zog. Die morschen Bretter knirschten bedrohlich unter dem Gewicht des Nubiers, und der Kopf des Toten rollte haltlos hin und her, als wollte er sich über die grobe Behandlung beschweren. Andrej hörte, wie der fette Schmuggler in seinem Rücken erneut darum kämpfen musste, seine letzte Mahlzeit bei sich zu behalten.
»Kennen?«, würgte Corleanis, kam aber trotzdem noch ein Stück näher und beugte sich widerstrebend vor. Trotz des schlechten Lichtes sah Andrej, wie blass er geworden war. »Bist du von Sinnen, du gefühlloser Heidenhund? Diesen armen Kerl würde nicht einmal mehr seine eigene Mutter wiedererkennen!«
Was vermutlich auch für Corleanis' Mutter galt, dachte Andrej, und auch ohne, dass man ihn vorher ein paar Tage unter Wasser drückte. Laut sagte er: »Sieh genau hin. Es ist wichtig.«
Don Corleanis schenkte ihm zwar noch einen giftigen Blick, sparte sich aber jeden Protest und raffte all seinen Mut zusammen, um den Toten genauer anzusehen. »Das ist ...« Er schluckte, rang hörbar nach Luft, und seine Augen weiteten sich. »Heilige Jungfrau Maria, das ist Stefano!«
»Du kennst ihn«, vergewisserte sich Abu Dun.
»Sehr gut sogar«, antwortete Corleanis. »Aber was ... wie ist denn das möglich? Ich habe noch vor drei Tagen mit ihm gesprochen, und da war er ... das ... das ist Hexerei! Der Teufel selbst hat seine Hand im Spiel!«
Bei den letzten Worten drehte er sich halb zu Hasan um und warf ihm einen Beistand heischenden Blick zu, den dieser aber geflissentlich ignorierte.
»Ich wünschte, es wäre so einfach«, seufzte Andrej, vorsichtshalber wieder in einer Sprache, von der er ziemlich sicher war, dass Corleanis sie nicht verstand. Wieder ins Italienische zurückfallend, fügte er hinzu. »Und du bist ganz sicher?«
© 2013 by LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Alle westlichen Städte, in denen er jemals gewesen war, stanken buchstäblich zum Himmel, und Rom machte da keine Ausnahme. Vielleicht hatte er von dieser ganz besonderen Stadt ja auch etwas ganz Besonderes erwartet, oder der Grund für ihre Reise hatte ihm eine Wichtigkeit suggeriert, die es nicht gab ... oder die banale Wahrheit war einfach die, dass sie zu lange auf hoher See gewesen waren, um den Geruch zu vieler Menschen, die viel zu lange Zeit auf viel zu wenig Platz zusammengelebt hatten, ignorieren oder auch nur ertragen zu können. Geschweige denn, es zu wollen.
»Was für ein paradiesisches Fleckchen Erde, Sahib«, sagte Abu Dun, als er neben ihn trat und sich so schwer auf das altersschwache Holz der Reling stützte, dass Andrej ein Ächzen zu hören meinte, das durch den gesamten Schiffsrumpf lief. Beinahe glaubte er zu spüren, wie sich das Schiff unter Abu Duns Gewicht auf die Seite legte.
»Endlich verstehe ich, warum du immer von dieser prachtvollsten aller Städte geschwärmt hast, Sahib! All diese wunderschönen Gebäude und Paläste, diese wohlgenährten und gutgekleideten Menschen! Und dieser himmlische Duft! Ich muss dir Abbitte leisten, für alles, was ich insgeheim über deine Schwärmerei für diese Stadt gedacht habe!«
Andrej hütete sich zu widersprechen, schon weil das nur einen weiteren, endlosen Redeschwall zur Folge gehabt hätte. Außerdem hatte Abu Dun recht. Über den Geruch hatte er schon hinlänglich nachgedacht - auch wenn die Worte des nubischen Riesen ihn noch einmal schlimmer gemacht zu haben schienen -, und die Gebäude, die zumindest den Teil der Stadt beherrschten, in den die Pestmond einlief, hätten in den allermeisten anderen Städten wohl eher unter dem Begriff Ruine rangiert. Und was die gut gekleideten und fröhlichen Menschen anging, von denen Abu Dun sprach, so waren dies gerade jetzt nur drei abgerissene Gestalten, die unweit ihres angepeilten Liegeplatzes herumlungerten und das Schiff mit einer Mischung aus Neugier und kaum verhohlener Verschlagenheit musterten.
Andrej überlegte einen Moment, ob es sich eher um Herumtreiber, Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit oder Diebe und Halsabschneider auf der Suche nach Beute handelte, und kam dann zu dem Schluss, dass das möglicherweise gar keinen Unterschied machte. Vielleicht gingen sie ja einfach unterschiedlichen Tätigkeiten nach, bei unterschiedlichen Gelegenheiten.
Andrej warf den Burschen einen möglichst finsteren Blick zu, um sie von dummen Ideen abzubringen - oder besser noch, gar nicht erst darauf kommen zu lassen -, zeitigte damit aber keinen sichtbaren Erfolg. Die Männer sahen weiter dem näher kommenden Schiff entgegen, und nun, da Abu Dun neben ihm aufgetaucht war, konzentrierte sich ihr Blick vor allem auf den schwarz gekleideten nubischen Koloss. Das an sich war nichts Ungewöhnliches. Wo immer sie gemeinsam auftauchten, starrten die Leute den nubischen Riesen an. Auch Andrej war alles andere als klein oder gar schmächtig, doch der stets schwarz gekleidete und dunkelhäutige Riese war einer der größten Männer, denen er jemals begegnet war, und der mit Abstand stärkste. Jetzt kam auch noch seine künstliche Hand hinzu, die auch dann Aufsehen erregt hätte, hätte sie nicht so grotesk ausgesehen, wie sie es nun einmal tat.
Dennoch beunruhigte ihn der Anblick der drei Männer. Sie würden von dem biblischen Koloss erzählen, der mit einem Schiff gekommen war, das direkt aus einem zurückliegenden Jahrtausend herbeigesegelt zu sein schien, und sowohl Hasan als auch ihm war daran gelegen, sich möglichst unauffällig in der Stadt zu bewegen.
Andererseits war es aber auch ein Ding der Unmöglichkeit, nicht aufzufallen, wenn man in Begleitung eines Mannes wie Abu Dun reiste. Abgesehen davon war die Pestmond hier eindeutig fehl am Platz; ein Schiff wie sie hätte normalerweise weit außerhalb von Rom in Civitavecchia anlegen müssen. Das aber hätte bedeutet, dass sie noch rund fünfzig Kilometer zu Fuß oder bestenfalls zu Pferd hätten zurücklegen müssen, bevor sie die Ewige Stadt betreten konnten.
Und diese Zeit hatten sie einfach nicht.
Ein sachtes Zittern durchlief das Schiff, die Pestmond wurde langsamer und begann sich dann fast auf der Stelle zu drehen, um den Einzigen noch freigebliebenen Liegeplatz in einer Anzahl kleinerer und zum Großteil noch heruntergekommenerer Boote anzulaufen. Andrej dachte erst gar nicht darüber nach, wie der Mann am Ruder dieses Kunststück fertigbrachte, kam aber nicht umhin, dem vermeintlichen Schmuggler im Stillen Respekt zu zollen, und das nicht zum ersten Mal. Seit Don Corleanis' Männer das Schiff übernommen hatten, fühlte sich Andrej endlich halbwegs sicher an Bord. Die Pestmond war noch immer ein Wrack, das hauptsächlich von verkrustetem Dreck und den inbrünstigen Gebeten seiner Besatzung zusammengehalten wurde, doch zum ersten Mal, seit sie Sizilien verlassen hatten, hatte er es tatsächlich für möglich gehalten, sie könnten an ihrem Ziel ankommen, ohne den letzten Teil der Reise schwimmen zu müssen.
Andrej schenkte dem Mann am Ruder einen anerkennenden Blick, den dieser aber gar nicht zur Kenntnis nahm, so sehr war er in seine Arbeit vertieft. Als er sich wieder dem Ufer zuwenden wollte, ging die Tür unter dem altmodischen Achterkastell auf, und Ali und zwei seiner überlebenden Assassinen betraten das Deck. Der Hauptmann hatte sich zwar den Bart abgenommen, steckte aber noch immer in den Kleidern eines maurischen Edelmannes, doch den beiden Wüstenkriegern war nicht mehr anzusehen, was sie wirklich waren. Sie trugen jetzt gutbürgerliche, aber eher unauffällige Kleidung und keine Waffen, zumindest nicht sichtbar. Selbst ihre Gesichter sahen aus irgendeinem Grund nicht mehr wirklich wie die von Arabern aus - falls sie es denn überhaupt je gewesen waren. Nicht einmal dessen war sich Andrej noch ganz sicher.
»Andrej. Abu Dun.« Ali nickte ihnen in dieser Reihenfolge zu und sah dann stirnrunzelnd zu den drei Männern hin, die nun gemeinsam und mit offenem Misstrauen ihn und seine beiden Begleiter anglotzten. Vor allem aber ihn. »Wer ist das?«
»Freundliche Eingeborene«, grinste Abu Dun. »Hoffe ich wenigstens. Und sie fragen sich wahrscheinlich gerade genau dasselbe. «
»So freundlich kommen sie mir gar nicht vor.«
»Vielleicht sind Araber in dieser Stadt ja nicht besonders beliebt «, erwiderte Abu Dun.
Ali bedachte den nubischen Riesen, der weder seinen schwarzen Mantel noch den gleichfarbigen Turban gebraucht hätte, um seine Herkunft zu verraten, mit einem strafenden Blick.
»Reiche Araber«, fügte Abu Dun mit einem treuherzigen Nicken hinzu.
Ali war klug genug, sich mit Abu Dun auf keinen Schlagabtausch einzulassen, stattdessen sah er wieder zu den drei Männern hinüber.
»Das Empfangskomitee?«, stichelte Abu Dun. »Wie passend.«
Mit einem Rumpeln prallte das Schiff gegen die Kaimauer. Auf eine kurze Geste Alis hin schwang sich einer seiner Begleiter über die Bordwand und landete mit einer Selbstverständlichkeit auf dem anderthalb Meter tiefer liegenden Kai, mit der andere einen Schritt über eine Türschwelle getan hätten. Als die drei Männer immer noch keine Reaktion zeigten, wie Andrej spätestens jetzt erwartet hätte, oder gar Anstalten machten zu gehen, beschloss er, seine vielleicht doch etwas vorschnell gefasste Meinung noch einmal zu überdenken. Das waren keine Strauchdiebe und auch keine Tagelöhner.
Ali wartete, bis der Assassine die kleine Gruppe erreicht hatte und mit den Männern zu reden begann und antwortete erst dann, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Gleich wissen wir es.«
Abu Dun holte Luft, zweifellos, um noch ein bisschen mehr Öl ins Feuer zu gießen, sodass Andrej schon fast erleichtert war, als das Schiff erneut mit einem lauten Knirschen am groben Stein der Kaimauer entlangschrammte. Niemand verlor das Gleichgewicht, aber eine Woge unruhig-hektischer Bewegung lief über das Deck, und zwei von Corleanis' angeblichen Fischern sprangen ebenfalls auf festen Boden hinab und begannen das Schiff zu vertäuen. Schon nach wenigen Augenblicken gebärdete sich die Pestmond nicht mehr wie ein störrisches Muli, das noch nicht an den Strick gewöhnt ist, und auch das Scharren und Ächzen hörte sich nicht mehr an, als wollte das Schiff in Stücke brechen. Wenigstens nicht gleich.
Zwei weitere Matrosen entfernten mit geschickten Bewegungen ein Segment aus der Schanzwand, und ein Dritter legte eine mit Querstreben verstärkte Planke zum Kai hinab, über die man das Schiff auf eine etwas weniger anstrengende Art und Weise verlassen konnte. Das alles ging so schnell, dass es Andrej eher an die Choreografie eines gut einstudierten Tanzes erinnerte als an die schwere Arbeit, die es war, und sich zudem der erste mit einem Korb beladene Mann schon auf halbem Wege nach unten befand, noch bevor die Planke ganz zur Ruhe gekommen war. Trotzdem erscholl sofort hinter ihnen eine ebenso misstönende wie unzufriedene Stimme:
»Das habe ich alles schon schneller gesehen! Was glaubt ihr, was das hier ist? Eine freundliche Landpartie, auf der sich jeder nach Belieben ausruhen kann?«
Andrej zog die Brauen zusammen, als er sich umdrehte und den Besitzer dieser unangenehmen Stimme sah. Don Corleanis' Aussehen stand ihrem Klang in nichts nach. Der selbst ernannte Schmugglerkönig war kaum größer als ein zehn- oder zwölfjähriger Knabe, so unglaublich fett, dass er an eine aufrecht gehende Qualle erinnerte, und hatte ein feistes Gesicht mit tückischen Schweinsäuglein. Er wirkte stets, als stünde er kurz vor dem Erstickungstod, und seine Stimme hörte sich an, als hätte er versucht mit Glasscherben zu gurgeln.
Tatsächlich hatte einmal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden. Zwar war das Messer nicht tief genug in seine wabbelnden Fettmassen eingedrungen, um seinen Zweck ganz zu erfüllen, und die Narbe unter dem Dreifachkinn vor neugierigen Blicken verborgen, aber seine Stimme war unwiederbringlich dahin.
Sein Gewissen - sollte er jemals eines gehabt haben - offensichtlich auch. Nachdem er Hasan erkannt und den wahren Grund ihrer Reise erfahren hatte, sollte dieser Moment eigentlich der großartigste und berührendste seines gesamten bisherigen Lebens gewesen sein, und Andrej war auch sicher, dass es so war ... aber das hinderte ihn keineswegs daran, auch aus dieser Überfahrt noch möglichst viel Profit zu schlagen.
So grotesk Don Corleanis' äußere Erscheinung auch sein mochte, genoss er bei seinen Männern doch einen gehörigen Respekt, und so tauchten nun immer mehr von ihnen an Deck auf und begannen, mit Kisten, Bündeln, Körben und Säcken beladen, die schmale Planke hinabzueilen. Corleanis beabsichtigte ganz offensichtlich, gehörigen Profit aus dieser Reise zu schlagen.
Abu Dun grinste noch breiter, und Ali verdrehte in stummer Verzweiflung die Augen, doch er war klug genug, jeden Kommentar für sich zu behalten. Mit Don Corleanis über seine Geschäfte oder gar seine kruden Vorstellungen von Moral und Ehre zu diskutieren, wäre ungefähr so sinnvoll gewesen wie der Versuch, den Papst dazu zu überreden, zum Islam zu konvertieren.
Und als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, ging die Tür nun ein zweites Mal auf, und Clemens - Hasan, schalt sich Andrej in Gedanken, denn sie waren übereingekommen, auch untereinander weiter den Namen zu benutzen, unter dem er den angeblichen Alten vom Berge kennengelernt hatte, schon, um sich nicht in einem unpassenden Moment zu verplappern - trat auf das Deck heraus, gefolgt von Ayla und dem Rest seiner Leibwache aus Assassinen: sieben weitere Männer und Kasim, die jetzt ebenfalls allesamt westliche Kleidung trugen. In der Schar der Schmuggler bildete sich eine Gasse, und Don Corleanis klappte den Mund auf und wieder zu und schaffte es gerade noch, nicht auf die Knie zu fallen.
Selbst Andrej empfand unwillkürlich einen sonderbaren Schauer, während er Clemens - Hasan, verdammt! - betrachtete. Hätte ihm jemand diese Situation vorhergesagt, er hätte ihn ausgelacht und jeden Eid geschworen, dass es ihn vollkommen unbeeindruckt ließ, ob er nun dem legendären Alten vom Berge, einem selbst ernannten Schmugglerkönig oder dem Papst höchstpersönlich gegenüberstand. Doch nun war er tatsächlich befangen. Wie auch nicht, stand er doch dem mächtigsten Mann der Welt gegenüber, zumindest, was diesen Teil des Erdballes anbelangte.
Oder er war es einmal gewesen.
Hasan, der jetzt wieder schwer auf einen Stock gestützt ging, den er gar nicht benötigte, schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln und trat dann zwischen Ali und ihm an die Bordwand, um seinen Blick aufmerksam über den Pier tasten zu lassen. Soweit Andrej in seinem Gesicht lesen konnte, schien er mit dem zufrieden zu sein, was er sah.
Ihm selbst erging es vollkommen anders. Er hörte nicht mehr hin, als Ali etwas zu seinem Herren sagte, sondern tat das, was er eigentlich gleich am Anfang hätte tun sollen, und unterzog seine Umgebung einer zweiten und aufmerksameren Musterung, diesmal mit den Augen eines Kriegers.
Nur sehr wenig von dem, was er sah, gefiel ihm. Beiderseits der Pestmond hatten zahlreiche und ausnahmslos kleinere Schiffe angelegt, von denen etliche so tief im Wasser lagen, als würde die stinkende Kloake des Tiber sie gierig auf den Flussgrund ziehen. Eine lange Reihe heruntergekommener Lagerhäuser und Schuppen erhob sich auf der anderen Seite einer Straße, die gut noch aus der Zeit des römischen Imperiums hätte stammen können, wäre sie nicht - wenngleich schlampig - gepflastert gewesen; und überall gewahrte er Karren und Wagen und Stapel mit Waren, die vielleicht auf den Abtransport in die eine oder andere Richtung warteten. Was er nicht sah, waren Menschen.
Die Erkenntnis traf ihn so plötzlich, dass er erschrocken zusammenfuhr. Unwillkürlich näherte sich seine Hand auf halbem Wege dem Saif, den er unter dem Mantel verborgen am Gürtel trug. Wie hatte ihm das entgehen können?
Auch der Rest von Alis überlebenden Assassinen begann nun, das Schiff zu verlassen. Ein Dutzend von Corleanis' Schmugglern war inzwischen schon damit beschäftigt, die Pestmond endgültig zu löschen, Kisten und Säcke am Ufer zu stapeln oder zu tun, was Schmuggler taten, wenn sie nicht schmuggelten. Währenddessen standen die drei Fremden immer noch in einiger Entfernung da und blickten zu ihnen hoch.
Abgesehen von den drei Männern und denen, die mit der Pestmond gekommen waren, war die gesamte Anlegestelle verwaist. Andrej sah buchstäblich keine Menschenseele.
»Andrej?« Ali hatte sein Gespräch mit Hasan unterbrochen. »Was hast du -«
»Nichts«, antwortete Andrej, und Abu Dun fügte hinzu: »Das ist es ja gerade.«
»Was meinst du damit?«, fragte Ayla und nutzte die Gelegenheit auch gleich, Andrej ein warmes Lächeln über den Rand ihres schwarzen Schleiers hinweg zu schenken.
»Er will damit sagen, dass es zu still ist«, sagte Andrej, während er den Blick aufmerksam über die Straße schweifen ließ. »Das hier ist Rom, kein verstecktes Schmugglernest. Wo sind die Menschen? Schiffe ziehen Neugierige an. Aber hier ist niemand.«
»Das hast du scharf beobachtet«, sagte Ali. »Wie gut, dass wir einen Mann wie dich bei uns haben. Ich fühle mich schon viel sicherer.«
Andrej sah aus den Augenwinkeln, wie Abu Dun zu einer patzigen Entgegnung ansetzte, doch Hasan war schneller. »Nimm es Ali nicht übel, Andrej. Er ist wohl nur ein wenig enttäuscht, dass es dir aufgefallen ist. Er hätte es wohl lieber als Erster gemerkt.«
»Wir sind hier, damit uns so etwas auffällt«, sagte Abu Dun. Auch seine Hand lag auf dem Schwert, das er anders als Andrej ganz offen trug. Eine solch monströse Klinge verbergen zu wollen, wäre auch ziemlich schwierig gewesen.
»Nein, mein Freund.« Hasan lächelte auf eine Weise, als wisse er etwas, das Abu Dun noch unbekannt, aber von großer Wichtigkeit war. »Deshalb seid ihr nicht hier.«
Abu Dun setzte dazu an, etwas zu sagen, hob dann aber nur die Schultern und riss dem nächstbesten Mann seine Last so grob aus den Händen, dass der arme Bursche um ein Haar von der Planke gestürzt wäre. In Aylas Augen, wie üblich nahezu das Einzige, was über dem bestickten Schleier von ihrem Gesicht zu sehen war, blitzte es amüsiert auf, während Clemens - Hasan! - fast schon ein bisschen verletzt aussah.
»Man könnte meinen, dein Freund geht mir aus dem Weg«, sagte er.
»Oder mir«, fügte Ayla hinzu. Anders als Hasan klang sie fast erleichtert.
Genau genommen hatten beide recht, auch wenn Andrej sich hütete, etwas darauf zu sagen. In den zurückliegenden beiden Tagen war Abu Dun sowohl ihm als auch dem Mädchen aus dem Weg gegangen, soweit das in der Enge eines so kleinen Schiffes möglich war. Gesprochen hatte er während der gesamten restlichen Überfahrt kein einziges Wort mehr mit ihnen. Mit Andrej übrigens auch nicht viel mehr.
»Was macht dir Sorgen, Andrej?«, fragte Hasan geradeheraus.
»Sorgen?« Andrej schüttelte den Kopf. »Sieht man mir das so deutlich an?«
»Vielleicht«, antwortete Hasan mit einem Lächeln, das seine Augen wie so oft nicht erreichte. »Vielleicht bin ich ja auch nur ein guter Beobachter.«
»Ich mache mir keine Sorgen«, behauptete Andrej. »Hätte ich denn Grund dazu?«
»Nein«, erwiderte Hasan. »Und habe ich dir schon gesagt, dass du ein schlechter Lügner bist?«
»Mehrmals«, sagte Andrej. Das Poltern, als Abu Dun seine Last mit einem Poltern im Schiffsinneren ablud, brachte für einen Moment alle Gespräche zum Verstummen. Im Stillen war Andrej ihm fast dankbar. Als er zurückkam, um nach einem weiteren Opfer für seine unerwünschte Hilfe zu suchen, hatte auch der Assassine sein Gespräch mit dem Fremden beendet und kam wieder an Deck, um Ali im Flüsterton Bericht zu erstatten. Andrej sah aus den Augenwinkeln, dass nun nur noch zwei Männer am Ende des Piers standen und das Treiben rings um die Pestmond beobachteten, während sich der Dritte schnellen Schrittes entfernte.
»Es ist alles vorbereitet«, sagte Ali, nachdem der Mann fertig war. »Ein Wagen ist unterwegs, um uns abzuholen.«
Abu Dun runzelte die Stirn und schwieg. Andrej horchte auf. Irgendetwas war hier faul.
»Das gefällt mir nicht«, sagte er.
Ali wandte sich demonstrativ ganz zu ihm um und maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick. »Es hat alles seine Richtigkeit. Ich fürchte, unser kleines Geheimnis ist nicht mehr ganz so geheim. Es ist besser, wenn nicht noch mehr von unserer Ankunft erfahren, als unbedingt notwendig ist.«
»Ich verstehe«, stichelte Abu Dun in seiner Muttersprache. »Und deshalb lässt er auch den halben Fluss absperren, weil das ja so gar nicht auffällt und sich niemand irgendetwas dabei denken könnte, nicht wahr?«
»Die Menschen hier haben zurzeit ganz andere Sorgen«, antwortete Hasan, nicht nur im gleichen nubischen Dialekt, sondern um etliches flüssiger und akzentfreier, als Abu Dun es getan hatte. »Und wenn sie reden, dann werden sie allenfalls annehmen, dass hier irgendwelche zwielichtigen Geschäfte getätigt werden, von denen niemand wissen soll.«
Was in gewisser Weise ja sogar der Fall war, dachte Andrej. Wenn auch von einer ganz anderen Art, als jeder ahnen mochte, der sich vielleicht darüber wunderte, dass man ihm den Zugang zu diesem Pier verwehrte. Vielleicht hatte Hasan gar nicht einmal so unrecht, und es war manchmal das Unauffälligste, sich möglichst auffällig zu verhalten.
»Und wir lassen ja auch noch dieses wunderschöne Schmugglerschiff zurück, über das jeder so lange nachdenken kann, wie er möchte«, fügte Abu Dun jetzt wieder auf Italienisch hinzu.
Hasan nickte und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Don Corleanis, der in wenigen Schritten Abstand stehengeblieben war und all seine Willenskraft zu brauchen schien, um nicht doch noch auf die Knie zu fallen. »Falls du es dir nicht doch noch anders überlegst und das Schiff behältst. Ich habe es ernst gemeint. Die Pestmond gehört dir, wenn du es möchtest. Sie ist ein gutes Schiff, aber ich habe keine Verwendung mehr dafür. Und das ist das Mindeste, was ich dir und deinen Männern als Dank schuldig bin.«
»Das ist ein ... zu großzügiges Geschenk, Emi ... Ich meine, Hasan«, stammelte Corleanis. Immerhin gelang es ihm nun, nach zwei Tagen in seiner Gesellschaft, Hasans direktem Blick standzuhalten, ohne vor Ehrfurcht zu erstarren. Doch dabei war er so nervös, dass seine Stimme noch misstönender und schriller wurde und Andrej sich große Mühe geben musste, um nicht zu grinsen. »Ich kann ... also, es ... es unmöglich annehmen.«
»Du weigerst dich, ein Geschenk von mir anzunehmen?«, fragte Hasan. Er tat es mit einem leichten Lächeln und in gutmütig spöttischem Tonfall, aber Corleanis' Nervosität nahm nur noch einmal zu.
»Das ist es nicht«, versicherte er hastig. »Aber ein solches Schiff ... ist nichts ... nichts für einen Schmuggler. Ich meine, wir ... also, wir bevorzugen eher die kleineren Boote, die ein wenig ... schlichter sind, wie Ihr wisst. Verzeiht, ich meine natürlich, also, ich ... ich wollte gewiss nicht andeuten, dass ...«
»Was du sagen wolltest, ist, dass jemand wie ich ganz gewiss nichts vom Handwerk eines Schmugglers versteht«, half ihm Hasan amüsiert aus.
Corleanis fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und brachte nun gar keinen Ton mehr heraus. Noch vor Tagesfrist hätte Andrej wohl Schadenfreude empfunden, aber allmählich begann ihm das kindische Benehmen des Schmugglers schlichtweg auf die Nerven zu gehen.
»Dann ist jetzt wohl der Moment des Abschieds gekommen«, fuhr Hasan fort, »und mir bleibt nichts mehr übrig, als dir und deinen Männern noch einmal für eure Hilfe zu danken. Ich würde gerne mehr tun, aber ich fürchte, das ist mir nicht möglich.«
»Was immer Ihr befehlt, Emi ...«
»Das bin ich nicht mehr«, fiel ihm Hasan ins Wort, »und ich kann dir auch nichts mehr befehlen. Und genau deshalb muss ich dich noch einmal um einen weiteren Gefallen bitten. Vielleicht den größten von allen.«
»Niemand darf es erfahren«, vermutete Corleanis. Er sah ein wenig traurig aus. Hasan nickte, und nun sank der fette Schmuggler doch vor ihm auf ein Knie und neigte so demütig das Haupt, dass Andrej um sein Gleichgewicht fürchtete.
»Meine Lippen sind versiegelt, Heiliger Vater«, sagte er. »So wie die meiner Männer. Bitte segnet mich, Vater!«
Andrej sah Hasan an, dass er sich gerade noch zurückhalten konnte, um nicht die Augen zu verdrehen. Er sparte es sich auch, Don Corleanis daran zu erinnern, dass er nicht mehr in der Position war, irgendjemandem den Segen zu erteilen, sondern tat ihm den Gefallen. Corleanis seinerseits hätte wohl am liebsten nach seiner Hand gegriffen und sie geküsst. Andrej war sicher nicht der Einzige, dem auffiel, wie schwer es ihm fiel, es nicht zu tun.
Schließlich war es Ali, der mit einem lauten Räuspern dafür sorgte, dass der absurde Moment ein Ende fand. »Wir sollten jetzt aufbrechen. In diesem einen Punkt pflichte ich Andrej bei. Hier gefällt es mir nicht.«
»Zu viele Heiden?«, fragte Abu Dun.
»Zu viel von allem«, antwortete Ali. »Vor allem Platz. Und Türen, hinter die ich nicht sehen kann.« Er machte eine Kopfbewegung auf die beiden Männer am Ende des Piers. »Wir sollten sie nicht mehr zu lange warten lassen. Andrej hat recht. Wir erregen schon jetzt zu viel Aufmerksamkeit. Das gefällt mir nicht.«
»Was ja schon beinahe ein Grund wäre, noch ein wenig zu bleiben «, fand Abu Dun.
Hasan warf ihm einen leise strafenden Blick zu. Er riss seine Hand los und wich einen halben Schritt vor dem knienden Schmuggler zurück. »Ich danke dir«, sagte er wie zum Abschied. »Ich werde dich und deine Männer in meine Gebete einschließen. Und so viel kann ich dir immerhin verraten: Auch wenn du niemals erfahren wirst, wie, so hast du doch mitgeholfen, großes Unglück von dieser Stadt abzuwenden.«
Abu Duns linke Augenbraue rutschte bis zum Rand seines Turbans hoch, und auch Andrej wurde hellhörig, doch Hasan machte keine Anstalten, dieser Andeutung eine Erklärung folgen zu lassen, sondern wandte sich endgültig ab.
Corleanis war jedoch nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er versuchte, aufzustehen und erreichte damit nicht mehr, als in seiner Hast nun endgültig die Balance zu verlieren und auch noch auf das andere Knie zu fallen, zugleich griff er noch einmal nach Hasans Hand. Alis Rechte landete mit einem hörbaren Klatschen auf dem Schwertgriff, und Abu Duns andere Augenbraue gesellte sich seiner linken hinzu.
»Ich bitte Euch, überlegt Euch meinen Vorschlag noch einmal, Vater! Ich könnte Euch sicher noch von Nutzen sein, und ich kenne mich in Rom gut aus!«
»Und du meinst, das täten wir nicht, du Dummkopf ?«, fauchte Ali. »Nimm die Hand da weg, wenn du sie behalten willst.«
Tatsächlich zog er das Schwert eine halbe Handbreit aus der Scheide, und Andrej wäre nicht mehr überrascht gewesen, hätte er seine Drohung unverzüglich in die Tat umgesetzt. Doch er kam nicht dazu, denn in diesem Moment flog die Tür unter dem Achterkastell mit einem Knall auf, und einer von Corleanis' Männern stolperte heraus.
»Die Toten!«, schrie er mit schriller, überschnappender Stimme. »Sie kommen zurück!«
Kapitel 2
Der Mann war zwar erst seit einigen Tagen tot, doch er sah aus, als wären es Jahre, was vermutlich daran lag, dass er einen Gutteil dieser Zeit im Faulwasser der Bilge zu gebracht hatte. Seine Kleider waren so mürbe, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zerfielen, als Abu Dun ihn aus dem Wasser zog, und sein Fleisch kaum minder. Weißer Knochen blitzte an vielen Stellen durch sein verrottetes Gesicht, und er war sowohl seiner Haare als auch der meisten Zähne verlustig gegangen. Eines der Augen war zu grauer Blindheit geliert, wo das andere sein sollte, gähnte ein zerfranster Krater voller wimmelnder Maden und Würmer. Der komplette linke Arm fehlte und war ganz eindeutig ausgerissen worden und nicht abgeschnitten, und die rechte Hand war ein aufgedunsener, schwammiger Klumpen mit nur noch drei Fingern ... was sie nicht daran hinderte, damit blind nach Andrejs Stiefel zu tasten und eine schlammige Spur aus grünblauer Fäulnis auf dem zerschrammten Leder zu hinterlassen.
Angeekelt wich Andrej zurück, wobei er sich an der niedrigen Decke den Kopf stieß. Abu Dun bereitete dem grässlichen Schauspiel ein Ende, indem er wuchtig mit dem Fuß auf die Hand des Toten stampfte. Angesichts seiner gewaltigen Größe und seines noch viel gewaltigeren Gewichts hätte man das Geräusch von zerbrechenden Knochen erwartet, doch Andrej hörte stattdessen einen widerwärtigen Laut, der an das Zerplatzen einer faulen Frucht erinnerte, und registrierte einen Schwall von so intensivem Verwesungsgeruch, dass sein Magen rebellierte. Offensichtlich nicht nur seiner, denn zwei von Corleanis' Männern hatten es plötzlich sehr eilig, den Laderaum zu verlassen, und direkt hinter ihm erklang ein Keuchen und dann ein Würgen, doch zu seiner Erleichterung aber nicht mehr. Jetzt, wo der größte Teil der Fracht gelöscht war, erwies sich der Laderaum der Pestmond als überraschend geräumig, aber nun drängten sich außer Ali und seinen Assassinen auch nahezu die gesamte Schmugglermannschaft darin, die in Sizilien an Bord gekommen war. Sich in einem so überfüllten Raum zu übergeben war nicht nur unangenehm, sondern konnte leicht zu einer noch deutlich unangenehmeren Kettenreaktion führen.
»Ich habe dir gesagt ,dass es kein schöner Anblick ist«, sagte Abu Dun, der sich keine Mühe gab, sich seine Schadenfreude nicht anmerken zu lassen. »Also tu uns allen einen Gefallen und behalte dein Frühstück wenigstens noch so lange bei dir, bis du wieder an Deck bist.«
Die Worte galten Corleanis, der es irgendwie geschafft hatte, noch vor Andrej und ihm hier herunterzukommen, nun aber in zwei Schritten Abstand stehengeblieben war und hörbar nach Luft rang.
»Was tust du da, du ... du widerwärtiger Barbar?«, stammelte Corleanis. »Das ist ...«
»Genug jetzt«, mischte sich Ali ein. »Alle raus hier, die hier nichts verloren haben. Du bleibst.« Zugleich legte er Corleanis die Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf den Mann direkt neben dem Schmuggler. »Und du auch.«
Den meisten Männern musste man nicht zweimal befehlen, den Laderaum zu verlassen, denn auch wenn nur wenige nahe genug gekommen waren, um tatsächlich einen Blick auf den Toten zu werfen, war doch allein der Gestank und das Wissen um seine Anwesenheit schon fast mehr, als selbst die Schlimmes gewöhnten Seeleute ertrugen. Für einen Moment entstand an der steilen Treppe Unruhe und Gerangel, und Abu Dun nutzte die Gelegenheit, um den Fuß von der Hand des Toten zu nehmen, was einen neuerlichen Schwall von Fäulnisgeruchs zur Folge hatte. Don Corleanis japste qualvoll. Abu Dun ließ sich neben der immer noch halb im Wasser liegenden Leiche in die Hocke sinken und drehte den Toten um. Sie mit seinen breiten Schultern vor neugierigen Blicken abschirmend, nutzte er den Moment, ihr unbemerkt von Corleanis und den anderen das Genick zu brechen. Andrej sah, wie die Füße im schlammigen Wasser der Bilge noch ein letztes Mal zuckten. Am Grunde der leeren Augenhöhlen wimmelten die Würmer. Er war sicher, sich gut genug in der Gewalt zu haben, um keinerlei Reaktion auf seinem Gesicht zuzulassen, beglückwünschte sich zugleich aber auch selbst dazu, an diesem Morgen nichts gegessen zu haben. Sein Magen hob sich, und er spürte ein eisiges Entsetzen.
Es war nicht einmal so sehr der grauenhafte Zustand des Toten. In den ungezählten Jahren, in denen sie nun über die Schlachtfelder und Mordgruben der Welt zogen, hatte er schon weit Schlimmeres gesehen und sich schon vor Jahrhunderten von der Illusion verabschiedet, sich alles vorstellen zu können, was Menschen einander antun. Dennoch wünschte er sich, er müsste nicht sehen, was diesem bedauernswerten Mann angetan worden war.
Der Körper war schon seit Tagen tot, nur noch faulendes Fleisch, das mit unnatürlicher Schnelligkeit immer weiter verfiel, und dennoch - tief in diesem grässlichen Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, regte sich immer noch ein gepeinigter Schatten des früheren Lebens. Jetzt, wo Abu Dun ihm das Genick gebrochen hatte, war der Körper endgültig zur Reglosigkeit verdammt, doch Andrej würde nie vergessen, wie ihm der abgeschlagene Schädel eines anderen untoten Kriegers verzweifelte Blicke zugeworfen hatte, und das kalte Grauen, als er begriff, dass da noch immer etwas in diesem wandelnden Leichnam war - etwas, das litt und lautlos gellend nach einer Erlösung schrie, die vielleicht niemals kommen würde.
Abu Dun sagte etwas, das er nicht verstand, doch Andrej klammerte sich beinahe verzweifelt an den reinen Klang der Worte, nur, um diesen letzten, entsetzlichen Gedanken nicht zu Ende denken und sich vielleicht etwas eingestehen zu müssen, das er tief in sich schon längst wusste und nur nicht wahrhaben wollte.
»Andrej?«, fragte Abu Dun noch einmal, und jetzt bemerkte Andrej auch die Furcht, die sich hinter Abu Duns vermeintlicher Gelassenheit verbarg. »Ist alles in Ordnung?«
Nichts war in Ordnung, seit sie dieses verfluchte Schiff betreten und erfahren hatten, wer sein Kapitän wirklich war, das wusste Abu Dun genauso gut wie er. Trotzdem nickte Andrej, doch er kam nicht dazu, zu antworten, denn Don Corleanis, der seine Fassung offenbar zurückerlangt hatte, polterte: »Was soll daran in Ordnung sein,wenn du anständige Menschen zwingst,sich so etwas anzusehen, du Barbar?«
»Kennst du diesen Mann?«, fragte Abu Dun ungerührt, indem er sich in der Hocke umdrehte und den vermeintlichen Toten noch ein Stück weiter aus seinem nassen Grab zog. Die morschen Bretter knirschten bedrohlich unter dem Gewicht des Nubiers, und der Kopf des Toten rollte haltlos hin und her, als wollte er sich über die grobe Behandlung beschweren. Andrej hörte, wie der fette Schmuggler in seinem Rücken erneut darum kämpfen musste, seine letzte Mahlzeit bei sich zu behalten.
»Kennen?«, würgte Corleanis, kam aber trotzdem noch ein Stück näher und beugte sich widerstrebend vor. Trotz des schlechten Lichtes sah Andrej, wie blass er geworden war. »Bist du von Sinnen, du gefühlloser Heidenhund? Diesen armen Kerl würde nicht einmal mehr seine eigene Mutter wiedererkennen!«
Was vermutlich auch für Corleanis' Mutter galt, dachte Andrej, und auch ohne, dass man ihn vorher ein paar Tage unter Wasser drückte. Laut sagte er: »Sieh genau hin. Es ist wichtig.«
Don Corleanis schenkte ihm zwar noch einen giftigen Blick, sparte sich aber jeden Protest und raffte all seinen Mut zusammen, um den Toten genauer anzusehen. »Das ist ...« Er schluckte, rang hörbar nach Luft, und seine Augen weiteten sich. »Heilige Jungfrau Maria, das ist Stefano!«
»Du kennst ihn«, vergewisserte sich Abu Dun.
»Sehr gut sogar«, antwortete Corleanis. »Aber was ... wie ist denn das möglich? Ich habe noch vor drei Tagen mit ihm gesprochen, und da war er ... das ... das ist Hexerei! Der Teufel selbst hat seine Hand im Spiel!«
Bei den letzten Worten drehte er sich halb zu Hasan um und warf ihm einen Beistand heischenden Blick zu, den dieser aber geflissentlich ignorierte.
»Ich wünschte, es wäre so einfach«, seufzte Andrej, vorsichtshalber wieder in einer Sprache, von der er ziemlich sicher war, dass Corleanis sie nicht verstand. Wieder ins Italienische zurückfallend, fügte er hinzu. »Und du bist ganz sicher?«
© 2013 by LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein
Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau Heike den Roman Märchenmond veröffentlichte, arbeitet er hauptberuflich als Schriftsteller. Mit seinen Romanen aus den verschiedensten Genres - Thriller, Horror, Science-Fiction und historischer Roman - hat er mittlerweile eine große Fangemeinde erobert und ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren überhaupt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf.Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- Altersempfehlung: 16 - 17 Jahre
- 2013, 576 Seiten, Masse: 15,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 380258841X
- ISBN-13: 9783802588419
- Erscheinungsdatum: 17.10.2013
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