Die Bettelprophetin
Ein bewegender und mitreißender Roman über eine starke Frau, die Not und Elend überwindet und Hoffnung und Liebe findet.
Basierend auf der wahren Geschichte der Prophetin von Weißenau.
Oberschwaben im 19....
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Ein bewegender und mitreißender Roman über eine starke Frau, die Not und Elend überwindet und Hoffnung und Liebe findet.
Basierend auf der wahren Geschichte der Prophetin von Weißenau.
Oberschwaben im 19. Jahrhundert:
Geboren als Tochter einer Landstreicherin und im Wasienhaus aufgewachsen, muss sich Theres Ludwig als Magd und später als Bettlerin ihren Lebensunterhalt verdienen. Nur knapp entgeht sie der Hurerei. Als sie in ihrer Verzweiflung eines Tages Gott und die Kirche verflucht, wird ein Pfarrer zu ihr geschickt, der ihr den Teufel austreiben soll. Doch dann wendet sich das Blatt. Denn plötzlich hat Theres wundersame Marienerscheinungen und wird schon bald als Volksheilige und Prophetin verehrt. Und dann findet sie schließlich auch die Liebe.
Vorspann
März 1825, Landstraße in Oberschwaben
Der Mann hinter dem Haselbusch leckte sich die Lippen: Was hatte er da nur für zwei appetitliche junge Weibspersonen vor Augen. Nackt bis auf ein loses Hemd standen die beiden da, nur einen Steinwurf von ihm entfernt am Flussufer, und wuschen sich und zwei kleinen Buben Gesicht und Hände. Deutlich zeichneten sich die runden Brüste unter dem Leinen ab, die Haut ihrer bloßen Arme und Beine schimmerte hell im Licht der Märzsonne. Die Versuchung war groß, allzu groß, wäre da neben ihm nicht der junge Kerl gestanden, dieser Lorenz, der ihm erst vor kurzem aus der Residenzstadt Stuttgart geschickt worden war und dem er noch keinen Deut vertraute.
Ein andermal, dachte er und gab sich einen Ruck. Er musste dem Burschen Vorbild sein, schließlich war er, Anton Sipple, als langjähriger Oberlandjäger in königlichen Diensten erst neulich zum Stationskommandanten des Oberamts Ravensburg befördert worden und wusste, was er seinem Rang schuldig war. Und eben jetzt bestand seine Pfl icht darin zu prüfen, ob es sich hier nicht ganz augenscheinlich um eine Vagantensippe handelte, um liederliche Weiber, die arbeitsscheu und ohne Moral durch die Lande stromerten und keinesfalls der sittlichen und geistigen Erziehung ihrer Blagen fähig waren. Erst vorgestern hatte er hier, an der alten Staatsstraße von Stuttgart an den Bodensee, eine Horde Bettler festgenommen. Deren verlauste Kinder hatten bei der Hanfreibe drüben in Staig Hühner stibitzt, um sie auf dem Ravensburger Markt zu verscherbeln.
Sipples Rechte griff nach dem Knauf seines Säbels. Dann reckte er Kreuz und Schultern, wobei sich seine Uniformjacke über dem mächtigen Bauch bedenklich spannte, und trat aus dem Gebüsch heraus.
«Halt! Keinen Schritt weiter!»
Die Frauen fuhren erschrocken herum.
«Mir habn nix verbrochen», stotterte die Ältere und legte schützend die Arme um die Knaben. Ganz off ensichtlich war sie die Mutter der beiden, ihr hageres Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Dafür war die andere ausnehmend hübsch mit ihren langen, dunklen Locken, und Anton Sipple bedauerte erneut, nicht allein auf Patrouille zu sein.
«Eure Papiere!», donnerte er.
Die Frauen beeilten sich, ihre Kleider überzustreifen, dann kramten sie in ihren wenigen Habseligkeiten herum, die an einem Baumstamm abgelegt waren.
«Festnehmen?», flüsterte Sipples Begleiter.
«Nein, wart noch. Wir müssen die Instruktionen einhalten. Also, was ist?», wandte sich der Kommandant an die Frauen. «Sucht ihr die Stecknadel im Heuhaufen?»
«Irgendwer muss die Papiere geklaut haben», murmelte die Ältere mit hochrotem Kopf. «Mir sin Mägde, auf der Such nach Arbeit, keine Landstreicher. Das müsset Sie uns glauben.»
«Ich muss gar nix. Ihr wisst genau, dass es verboten ist, ohne Passierschein oder Heimatschein durch die Gegend zu vagabundieren. Reisegeld könnt ihr wahrscheinlich auch keins vorweisen.»
Die beiden Frauen blickten stumm zu Boden, während die Buben zu schluchzen begannen.
«Name und Herkunft! Und weh euch, ihr lügt!»
«Creszenz Schwende, aus Ulm», begann die Ältere. «Und du?» Sipple stieß der anderen in die Rippen. «Margarete - Margarete Weinhard aus der Schweiz.» Dem Stationskommandanten entging nicht der erstaunte
Blick der Älteren.
«Du lügst!»
Er schlug der Jungen mit der flachen Hand ins Gesicht. «Maria, Maria Bronner», stammelte die nun unter Tränen. «Aus Eglingen auf der Rauhen Alb.»
«Maria Bronner also.» Sipple grinste. «Dann wollen wir mal in Erfahrung bringen, ob das der Wahrheit entspricht. Auf geht's, Lorenz, legen wir den Weibern Handfesseln an. Damit uns die Täubchen nicht wegfl attern.»
Grob packte Sipple die Dunkle bei den Handgelenken und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Während er ihr mit geübtem Griff die Fesseln anlegte, presste er sie enger als nötig gegen seinen massigen Leib. Deutlich spürte er ihren Busen an seiner Brust, roch den Duft nach Erde und Wind in ihrem Haar. Sipple unterdrückte ein Stöhnen. Wie lange schon hatte er kein Weib mehr unter sich gehabt!
«Fertig, Herr Kommandant!», rief neben ihm Lorenz mit heller Stimme, und Alfons Sipple trat einen Schritt zurück.
«Sie könnet uns doch net einfach festnehmen», rief die, die sich Creszenz nannte. «Daheim warten Mann und Kinder auf uns.»
«Und ob wir das können. Nichts weiter als diebisches Gesindel seid ihr, das auf dem Bettel durchs Land zieht.»
In diesem Augenblick begann es wenige Schritte neben dem Baumstamm lautstark zu krächzen. Aus einem Lumpenbündel streckten sich zwei winzige Ärmchen und begannen zu zappeln.
«Ja, sabberlodd! Was ist das denn?»
Sipple stieß mit der Stiefelspitze gegen das Bündel. Das Kind, das ihn aus aufgerissenen Augen anstarrte, war höchstens vier, fünf Monate alt.
«Das ist mein Töchterle, die T eres.» Maria Bronner fi el auf die Knie. «Ich fleh Sie an: Lasset Sie uns gehn! Das Kind hat Hunger, und daheim im Dorf wartet mein Hannes auf mich, mein kleiner Bub.»
«Halt's Maul und steh auf! Lorenz, du nimmst den Wurm und die beiden Rotzlöff el da. Ich kümmer mich um die Weibsbilder. Und jetzt ab marsch nach Ravensburg!»
«Warum nach Ravensburg? Was sollen wir da?», fragte die Ältere mit ängstlicher Stimme.
«Ins Arbeitshaus kommt ihr zwei beiden. Da macht man aus einer Bagasch wie euch anständige Leut.»
«Aber die Kinder - die kleine T eres?»
«Die seht ihr so schnell nicht wieder. Weiber wie ihr sollten erst gar keine Bälger in die Welt setzen.»
1
Mai 1832, Eglingen auf der Rauhen Alb
Ist das also dein letztes Wort, Nepomuk Stickl?»
Der alte Bauer nickte. «Gucket Sie sich die Theres doch an, Herr Stadtrat. Das Mädle verschaff t's ja net mal, die Wassereimer zu schleppen. Zu nix ist die zu gebrauchen, net mal zum Wollekrempeln. Der Bruder ist da von ganz andrem Schlag.»
«Vielleicht hast du sie ja auch zu knappgehalten?» Der Stadtrat runzelte die Stirn. «Sie schien mir schon beim letzten Besuch arg mager. Viel zu schmächtig für ihre acht Jahre.»
«Was - was wollet Sie damit sagen?»
«Nun, du weißt ja wohl noch, was du und deine Frau - Gott hab sie selig - damals beurkundet habt? Ihr hattet euch verpflichtet, gewissenhaft auf Moral und Physis eurer Pfleglinge zu achten, auf ausreichende Nahrung und Kleidung sowie regelmäßigen Schulbesuch. Stickl, Stickl ...» Er seufzte. «Du glaubst gar nicht, was mir in meiner Eigenschaft als Pfleger schon alles untergekommen ist! Grad für euch Bauern ist das Geld von der Stiftung doch ein rechter Batzen, der euch ins Haus rollt. Da gibt's Spitzbuben, die stecken das Geld ein, prügeln ihre Pfleglinge wie Sklaven zur Arbeit oder sogar auf den Bettel und lassen sie dabei halb verhungern.»
«Aber, Herr Stadtrat», stotterte der Alte. «Ich doch net. Ihr kanntet doch mein Weib, so eine herzensgute Frau. Aber jetzt, wo sie tot ist und meine leiblichen Kinder aus dem Gröbsten raus, muss ich doch auch schauen, wo ich bleib. Und vielleicht find ich ja wieder ein neues Eh'weib ...» Er senkte die Stimme. «Das Mädle ist seltsam, mit dem ist nix Rechtes anzufangen. Man weiß nie, was der Theres im Kopf rumgeht. Vielleicht ist sie ja einfach ein bissle blöd.»
Theres kauerte hinter der zugigen Bretterwand, die ihre Schlafstelle von der Wohnküche trennte, und lauschte. Durch das Astloch in der Wand hatte sie ihren Pfl egevater und den vornehmen Gast mit dem knielangen Gehrock und der fliederfarbenen Seidenhalsbinde genau im Blick. Vergangene Woche hatte ihnen dieser Herr vom Münsinger Kirchenkonvent schon mal einen Besuch abgestattet, und die ganze Zeit hatte Theres sich gefragt, was der Mann bei ihnen wollte. Nun aber wurde ihr schlagartig klar, dass es um sie ging. Und dass es nichts Gutes verhieß.
Sie ballte die Fäuste. Wie gemein der Alte war, sie vor einem Fremden dermaßen schlechtzumachen! Nur zu gut erinnerte sie sich noch an jenen Tag im letzten Herbst, als der junge Visitator des Armenkollegiums aufgetaucht war, unangekündigt wie immer, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte geschimpft damals, dass ihm die Theres von Mal zu Mal verwahrloster erscheine, und buchstabieren könne sie auch immer noch nicht. Ob sie denn nicht zur Schule gehe? Sehr wohl schicke er sie dorthin, hatte der alte Bauer geantwortet, aber sie sei halt wohl nicht gescheit genug für solcherlei Dinge. Theres war fassungslos gewesen: Sie durfte gar nicht zur Schule, weil sonst die Hausarbeit liegen blieb und das Garn für den Wollweber nicht fertig wurde.
«Stimmt das?», hatte der Beamte sie daraufhin gefragt. «Ja», hatte sie gestottert, mit einem Seitenblick auf den Pflegevater. - «Ist dir die Schule also zu schwierig?» - «Ja, Herr.» Und die Tränen waren ihr vor Scham übers Gesicht gelaufen.
«Jetzt hol das Mädchen her», hörte sie in diesem Augenblick den Stadtrat sagen. «Ich hab heute noch andres zu tun.»
Hastig sprang Theres auf, noch immer verwirrt von dem, was sie eben vernommen hatte. Da hörte sie schon die schlurfenden Schritte ihres Pflegevaters, und das Türchen zu ihrem Verschlag öffnete sich.
«Komm raus!», befahl der alte Bauer. «Der Herr Stadtrat will dich sehn. - Und sag ja nix Falsches», setzte er leise hinzu.
Theres ging mit gesenktem Kopf hinüber in den Wohnraum, gab dem Gast die Hand und machte einen artigen Knicks.
«Du weißt, warum ich hier bin?» Die Stimme des Mannes klang freundlich.
«Nein, Herr.»
Der Stadtrat warf Nepomuk Stickl einen missbilligenden Blick zu und fuhr fort: «Dein Pflegevater kann sich nicht mehr angemessen um dich kümmern, jetzt, wo die Bäuerin tot ist. Du sollst ins Staatswaisenhaus zu Weingarten gebracht werden, in die Vagantenkinderanstalt. Da lernst du alles, was du fürs spätere Leben brauchst. Mach also unserem Staat und unserem König keine Schande, hörst du?»
Sie nickte, während sie am ganzen Leib zu zittern begann. Sie hatte es geahnt, der Bauer wollte sie weggeben! Dann packte sie der nächste Schrecken: Von ihrem Bruder war mit keinem Wort die Rede gewesen.
«Was ... Was ist mit Hannes?» Die Tränen schossen ihr in die Augen.
«Der Hannes bleibt hier», schnauzte Nepomuk Stickl. Beruhigend strich der Stadtrat ihr übers Haar.
«Es ist zu deinem Besten, mein Kind.» Er wandte sich wieder an ihren Pflegevater. «Machen wir also Nägel mit Köpfen, Stickl. Unterschreib jetzt, dass du die Fürsorge für den Pflegling Theres Ludwig, Tochter der Landfahrerin Maria Bronner aus Eglingen und des Taglöhners Jakob Ludwig aus Ravensburg, zum heutigen Tage aufkündigst. Hier, an dieser Stelle.»
Mit einem verlegenen Räuspern setzte der Bauer drei Kreuze an die bezeichnete Stelle. Dann fragte er: «Und wie kommt die Theres hernach ins Waisenhaus?»
«Ich schick auf morgen früh einen Stadtbüttel. Gib dem Kind ausreichend Essen und Trinken mit, es ist ein weiter Weg.»
Damit schien für den Mann alles besprochen. Er wandte sich zur Tür, nahm Zylinder und Stöckchen vom Haken und trat hinaus. Theres sah ihm nach, wie er unbeholfen zwischen den Pfützen hindurch in Richtung Straße stakte, wo sein Einspänner auf ihn wartete.
«Was glotzt du so?», fragte ihr Pfl egevater. «Hast net gehört, dass es zu deinem Besten ist? Auf jetzt, versorg die Hühner und dann ab in die Küche.»
Doch Theres achtete nicht auf seine Worte. Kaum war die Kutsche um die nächste Wegbiegung verschwunden, rannte sie los.
«Bleibst wohl hier, du Saubangerd!», hörte sie den Bauern noch brüllen, da war sie schon die Böschung hinaufgeklettert, mitten hinein in das dunkle Tannenwäldchen, das an ihren Hof grenzte. Keine Viertelstunde später erreichte sie die sonnenbeschienene Wacholderheide, wo ihr Bruder dieser Tage die Schafe des Dorfes hütete.
«Hannes!», keuchte sie. «Ich soll fort!»
Schwer atmend lehnte sie sich neben ihn an das warme Felsgestein. Ihr Bruder starrte zu Boden und schwieg.
Theres wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Warum sagst du nichts?»
Hannes schüttelte den Kopf.
«Sag bloß ... Sag bloß, du hast es gewusst!»
«Seit gestern», murmelte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. «Hab mich nicht getraut, es dir zu sagen.»
«Aber warum soll ich fort und du nicht? Warum dürfen wir nicht zusammenbleiben?»
«Ich weiß es nicht.»
Jetzt erst merkte Theres, dass auch ihr Bruder weinte. Hinter einem Schleier von Tränen schweifte ihr Blick über die sanften Hügel mit ihren hellen und dunklen Waldstücken, den Schafweiden und Wacholderheiden. Wie vertraut ihr dieses Bild war, wie schön das alles aussah, so im warmen Licht der Maisonne! Sie kannte nichts andres, ihr Lebtag war sie nie weiter als bis in die nächsten Dörfer gekommen, nicht mal bis in die nahe Oberamtsstadt Münsingen.
Sie schloss die Augen und erblickte plötzlich einen riesigen, düsteren Saal mit vergitterten Fenstern rundum, sich selbst inmitten einer Horde verwahrloster Kinder von Landstreichern. Ein Aufseher durchmaß mit energischem Schritt die Reihen und verteilte Karbatschenhiebe nach rechts und links.
Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.
«Ich hab Angst», stammelte sie.
«Das musst du nicht, Theres. Ich komm dich besuchen.» Hannes nahm ihre Hand und drückte sie fest.
«Weißt du denn, wo dieses - dieses Weingarten liegt?» «Nein. Trotzdem.»
Am nächsten Tag erschien gleich nach dem Morgenessen der Büttel, ein maulfauler, dickbäuchiger Mensch namens Hufnagl. Theres hockte auf der Schwelle der off enen Haustür, ihr kleines Bündel zu Füßen, und wartete, bis der Mann sein Krüglein warmes Bier ausgeschlürft hatte. In ihrem Innern schwelte noch immer die unaussprechliche Angst vor dem, was auf sie zukam, und davor, Hannes vielleicht nie wiederzusehen.
Theres wandte sich um. Stumm saßen sich Hufnagl und ihr Pfl egevater am Tisch gegenüber. Sie waren allein. Ihre Stiefschwester Berthe und ihr Stiefbruder Marx, beide um viele Jahre älter als sie, arbeiteten bereits draußen auf dem Acker, und auch ihr Bruder hatte kaum seinen Napf mit Schwarzem Brei ausessen dürfen, da hatte ihn der Bauer schon zum Schafs-pferch befohlen. Nur ganz kurz hatten sie und Hannes sich zum Abschied umarmen dürfen, und als Theres ihren Bruder nicht loslassen wollte, hatte der Alte ihr einen schmerzhaften Streich mit der Weidenrute versetzt.
Lautes Stühlerücken ließ sie auff ahren. Sie hörte den Büttel nach den Papieren fragen, die er im Waisenhaus abgeben müsse, und unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte nicht weg, das hier war ihre Heimat! In diesem kleinen Häuschen mit seiner vom Herdfeuer dunkel gebeizten Wohnküche und den beiden Bretterverschlägen, die als Schlafkammern dienten, in diesem Dorf auf der Rauhen Alb hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht, und wenn sie jetzt alles so bedachte, war dieses Leben nicht das schlechteste gewesen.
Nicht dass sie ihrem Pfl egevater eine einzige Träne nachweinen würde. Dazu hatte sie viel zu oft seine Weidenrute zu spüren bekommen - vor allem, nachdem die Bäuerin gestorben war. Wie oft hatte sie hungrig zu Bett gehen müssen, wenn sie angeblich wieder den Musbrei hatte anbrennen oder das Feuer ausgehen lassen. Aber Hannes oder auch Marx hatten ihr dann heimlich einen Brocken Brot zugesteckt. Nur die Berthe, diese blöde Kuh, hatte sie immer wie Luft behandelt. Hatte sie bei der Hausarbeit herumgescheucht und als «Bettelbastard» beschimpft, wenn sie ihren Befehlen nicht schnell genug gefolgt war. Genauso jähzornig wir ihr Vater war Berthe. Und dabei hässlich und dumm.
Und dennoch - Theres hätte sich niemals beklagt. Schließlich kannte sie es nicht anders, diesen Wechsel aus Arbeit, Schlägen und Mahlzeiten, die einen nicht satt machten. Ihrem Bruder und den meisten andern Bauernkindern rundum erging es nicht besser und nicht schlechter als ihr. Alle mussten sie sich krummschaffen bei der Heimarbeit für irgendwelche raff gierigen Verleger oder auf den steinigen Äckern, die hier auf der Alb nicht viel mehr hergaben als Flachs oder Viehfutter. Trotz alledem war das hier ihre Familie. Und Eglingen ihr Dorf. Jedes Kind, jedes Stück Vieh kannte sie hier, jeder Winkel war ihr vertraut.
Hinzu kam: Hier war ihre Mutter aufgewachsen, in einer kleinen Kate am andern Ende des Dorfes, bevor sie den Ravensburger Taglöhner Jakob Ludwig geheiratet hatte. Ein ganz junges Ding musste sie damals gewesen sein. Die meisten hier ließen allerdings kaum ein gutes Haar an ihrer Mutter. Stolz und hoffärtig sei sie gewesen und habe den Jakob hintergangen. Manche behaupteten gar, sie, die Theres, sei gar nicht dessen leibliche Tochter, in fremden Betten habe sich damals das Luder herumgetrieben, bis der Jakob vor Gram gestorben sei! Und so habe man sich nicht verwundern müssen, dass die Bronnerin irgendwann als Landstreicherin und Bettlerin im Zuchthaus gelandet sei. Als Theres einmal gewagt hatte, ihren Pflegevater zu fragen, wo ihre Mutter jetzt sei und warum sie nie nach Eglingen zurückgekehrt sei, hatte der nur hämisch gelacht. «Vergiss dieses Weibsstück. Die ist längst außer Landes gejagt, falls sie nicht gar am Galgen gelandet ist. Kannst Gott danken, dass wir dich und deinen Bruder aufgenommen haben.»
Nächtelang hatte sie daraufhin geweint und fortan selbst geglaubt, dass ihre Mutter tot sein müsse. Denn warum sonst hatte sie ihre Kinder nie wiedersehen wollen? Jetzt war ihr nur noch der Bruder geblieben, der fast vier Jahre älter war und sie immer beschützt hatte, wenn die Kinder im Dorf frech geworden waren. Wie konnte der Herrgott es zulassen, dass sie für immer von ihm getrennt werden sollte?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Inzwischen ist sie freiberufliche Texterin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Waiblingen bei Stuttgart.
- Autor: Astrid Fritz
- 457 Seiten, Masse: 13,3 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005366
- ISBN-13: 9783868005363
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