Der Turm
Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman
Ausgezeichnet mit dem Uwe-Johnson-Preis 2008 und dem Deutschen Buchpreis 2008!
Dresden in den 1980er Jahren. Die Krankenschwester Anne und der Chirurg Richard stehen im Konflikt zwischen Anpassung an das noch bestehende System und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Turm “
Ausgezeichnet mit dem Uwe-Johnson-Preis 2008 und dem Deutschen Buchpreis 2008!
Dresden in den 1980er Jahren. Die Krankenschwester Anne und der Chirurg Richard stehen im Konflikt zwischen Anpassung an das noch bestehende System und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems noch entfliehen? Oder ist der Zeitpunkt der Ausreise gekommen?
Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR.
Klappentext zu „Der Turm “
Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der »süssen Krankheit Gestern« der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze - oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der »roten Aristokratie« im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk »Ostrom«, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen entwirft Uwe Tellkamp ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben, der den Turm mit sich reissen wird.
Lese-Probe zu „Der Turm “
Der Turm von Uwe TellkampLESEPROBE
1. Auffahrt
Die elektrischen Zitronen aus dem VEB »Narva«, mit denen der Baum dekoriert war, hatten einen Defekt, flackerten ackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. Christian zog die feucht gewordenen, an den wollenen Innenseiten mit Eiskügelchen bedeckten Fäustlinge aus und rieb die vor Kälte fast taub gewordenen Finger rasch gegeneinander, hauchte sie an – der Atem verging als Nebelstreif vor dem finster liegenden, in den Fels gehauenen Eingang des Buchensteigs, der hinauf zu Arbogasts Instituten führte. Die Häuser der Schillerstraße verloren sich im Dunkel; vom nächstgelegenen, einem Fachwerkhaus mit verriegelten Fensterläden, lief eine Stromleitung ins Geäst einer der Buchen über dem Felsdurchgang, ein Adventsstern brannte dort, hell und reglos. Christian, der über das Blaue Wunder und den Körnerplatz gekommen war, ging weiter stadtauswärts, in Richtung Grundstraße, und erreichte bald die Standseilbahn. Vor den Schaufenstern der Geschäfte, an denen er vorüberging – ein Bäcker, Molkereiwaren, ein Fischladen –, waren die Rolläden herabgelassen; düster und mit aschigen Konturen, halb schon in Schatten, lagen die Häuser. Es schien ihm, als ob sie sich aneinanderdrängten, Schutz beieinander suchten vor etwas Unbestimmtem, noch nicht Ergründbarem, das vielleicht aufgleiten würde aus der Dunkelheit – wie der Eismond aufgeglitten war über der Elbe vorhin, als Christian auf der menschenleeren Brücke stehengeblieben war und auf den Fluß geblickt hatte, den dicken, von seiner Mutter gestrickten Wollschal über Ohren und Wangen gezogen gegen den frostscharfen Wind. Der Mond war langsam gestiegen und hatte sich von der
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kaltträgen, wie flüssige Erde wirkenden Masse des Stroms gelöst, um allein über den Wiesen mit ihren in Nebelgespinste gehüllten Weiden, dem Bootshaus auf der Altstädter Elbseite zu stehen, den gegen Pillnitz zu sich verlierenden Höhenzügen. Von einem Kirchturm in der Ferne schlug es vier, was Christian wunderte.
Er ging den Weg zur Standseilbahn hinauf, stellte seine Reisetasche auf die verwitterte Bank vor dem Gatter, das den Bahnsteig abschloß, und wartete, die Hände samt Handschuhen in die Taschen seiner militärgrünen Parka gesteckt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr über dem Schaffnerhäuschen schienen sehr langsam vorzurücken. Außer ihm wartete niemand auf die Standseilbahn, und um sich die Zeit zu vertreiben, musterte er die Anzeigentafeln. Lange waren sie nicht mehr gesäubert worden. Eine warb für das Café Toscana auf der Altstädter Elbseite, eine für das weiter in Richtung Schillerplatz liegende Geschäft Nähter, eine andere für das Restaurant Sibyllenhof an der Bergstation. In Gedanken begann Christian Fingersatz und Melodiefolge des italienischen Stücks zu wiederholen, das auf der Geburtstagsfeier für den Vater gespielt werden sollte. Dann sah er in die Dunkelheit des Tunnels. Ein schwacher Schein wuchs, füllte allmählich die Tunnelhöhlung wie steigendes Wasser einen Brunnen; zugleich wuchs das Geräusch: ein schieferiges Knarren und Ächzen, das Führungsseil aus Stahldrähten knackte unter der Last, ruckend näherte sich die Bahn, eine mit Meereslicht gefüllte Kapsel; zwei Scheinwerferaugen beleuchteten die Strecke. Im Wagenquader waren die unscharf umrissenen Körper einzelner Fahrgäste zu sehen; in der Mitte der verfließende Schatten des graubärtigen Schaffners, der seit Jahren auf dieser Strecke fuhr: hinauf und hinab, hinab und hinauf immer im Wechsel, vielleicht schloß er die Augen dabei, um dem Anblick des allzu Vertrauten zu entgehen oder um es innerlich zu sehen und es dann zu verdrängen, um Geister zu bannen. Wahrscheinlich aber sah er schon mit dem Gehör, jeder Ruck während der Fahrt mußte ihm bekannt sein.
Christian nahm seine Tasche, suchte einen Groschen hervor und vertrieb sich die bleibenden Augenblicke mit der Betrachtung des Geldstücks: das Eichenlaub neben der plump geschnittenen Zehn, die winzige, abgegriffene Jahreszahl mit dem A darunter, die Rückseite mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, und dachte daran, wie oft sie, die Heinrichstraßen- und Wolfsleitenkinder, die Prägung solcher Geldstücke mit Bleistift auf einem Blatt nachgerieben hatten – Ezzo und Ina waren darin geschickter, auch eifriger gewesen als er, damals, in der Zeit ihrer Träume vom großen Fälscher-, Räuber- und Abenteurerdasein, wie es die Helden der Filme führten, die in den Tannhäuser-Lichtspielen liefen, oder der Bücher von Karl May und Jules Verne. Die Bahn kam, weich bremsend, zum Stehen. Die in der Höhe gestuften und abgeschrägten Türen ließen die Fahrgäste ins Freie. Der Schaffner stieg aus, öffnete das Gatter und, für die Aufwärtsfahrenden, einen schmalen Durchgang daneben. Dort war ein Münzkasten angebracht, Christian warf das Fahrgeld hinein und zog den an der Seite befindlichen Hebel herab; das Zehnpfennigstück rutschte aus der Drehscheibe und fiel zu den anderen auf den Boden. Manchmal warfen die Kinder des Viertels statt des Groschensflache, von der Elbe glatt geschliffene Kiesel, die sie »Butterbemmen« nannten, oder Knöpfe ein – sehr zum Verdruß ihrer Mütter, denen es leid um die Knöpfe tat, denn die kleinen Münzen aus Aluminium bekam man leicht, Knöpfe dagegen schwer. Die Wagentüren waren geschlossen, man mußte sie winters, wollte man ins Abteil, gegen einen Seilzug öffnen; sie schlossen sich sofort, sobald man losließ. Der Schaffner war in das Häuschen gegangen, goß sich einen Kaffee ein und beobachtete die davoneilenden Fahrgäste, die wie Schatten verschwanden, vorn um die Ecken bogen, zum Körnerplatz oder zur Pillnitzer Landstraße.
Nach ein paar Minuten ertönte aus dem Lautsprecher über den Anzeigentafeln eine müde klingende Stimme, sächselte etwas, was Christian nicht verstand; aber der Schaffner erhob sich und schloß bedächtig die Tür des Häuschens. Langsam, die runde, lederne Münzwechseltasche schlenkerte auf der abgewetzten Uniform, ging er vor zur Fahrerkabine mit dem Bedienpult, dessen viele Knöpfe Christian sinnlos erschienen, denn gelenkt wurde die Standseilbahn von Seil und Rollen, gebremst im Fall, daß das Seil einmal reißen sollte, automatisch über einen ausgeklügelten Zangenmechanismus. Vielleicht hatte es mit den Knöpfen eine andere Bewandtnis, vielleicht dienten sie der Verständigung oder der Psychologie: Knöpfe, die vorhanden waren, mußten auch etwas zu bedeuten haben, eine Funktion erfüllen, erforderten Kenntnis, beugten der Eintönigkeit und Dienstmüdigkeit vor; außerdem gab es das Ausweichmanöver auf halber Strecke. Krachend fiel die Kabinentür, die mit einem Vierkantschlüssel zu öffnen war und nicht über den Seilzug der übrigen Türen lief, hinter dem Schaffner ins Schloß.
© Suhrkamp Verlag
Er ging den Weg zur Standseilbahn hinauf, stellte seine Reisetasche auf die verwitterte Bank vor dem Gatter, das den Bahnsteig abschloß, und wartete, die Hände samt Handschuhen in die Taschen seiner militärgrünen Parka gesteckt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr über dem Schaffnerhäuschen schienen sehr langsam vorzurücken. Außer ihm wartete niemand auf die Standseilbahn, und um sich die Zeit zu vertreiben, musterte er die Anzeigentafeln. Lange waren sie nicht mehr gesäubert worden. Eine warb für das Café Toscana auf der Altstädter Elbseite, eine für das weiter in Richtung Schillerplatz liegende Geschäft Nähter, eine andere für das Restaurant Sibyllenhof an der Bergstation. In Gedanken begann Christian Fingersatz und Melodiefolge des italienischen Stücks zu wiederholen, das auf der Geburtstagsfeier für den Vater gespielt werden sollte. Dann sah er in die Dunkelheit des Tunnels. Ein schwacher Schein wuchs, füllte allmählich die Tunnelhöhlung wie steigendes Wasser einen Brunnen; zugleich wuchs das Geräusch: ein schieferiges Knarren und Ächzen, das Führungsseil aus Stahldrähten knackte unter der Last, ruckend näherte sich die Bahn, eine mit Meereslicht gefüllte Kapsel; zwei Scheinwerferaugen beleuchteten die Strecke. Im Wagenquader waren die unscharf umrissenen Körper einzelner Fahrgäste zu sehen; in der Mitte der verfließende Schatten des graubärtigen Schaffners, der seit Jahren auf dieser Strecke fuhr: hinauf und hinab, hinab und hinauf immer im Wechsel, vielleicht schloß er die Augen dabei, um dem Anblick des allzu Vertrauten zu entgehen oder um es innerlich zu sehen und es dann zu verdrängen, um Geister zu bannen. Wahrscheinlich aber sah er schon mit dem Gehör, jeder Ruck während der Fahrt mußte ihm bekannt sein.
Christian nahm seine Tasche, suchte einen Groschen hervor und vertrieb sich die bleibenden Augenblicke mit der Betrachtung des Geldstücks: das Eichenlaub neben der plump geschnittenen Zehn, die winzige, abgegriffene Jahreszahl mit dem A darunter, die Rückseite mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, und dachte daran, wie oft sie, die Heinrichstraßen- und Wolfsleitenkinder, die Prägung solcher Geldstücke mit Bleistift auf einem Blatt nachgerieben hatten – Ezzo und Ina waren darin geschickter, auch eifriger gewesen als er, damals, in der Zeit ihrer Träume vom großen Fälscher-, Räuber- und Abenteurerdasein, wie es die Helden der Filme führten, die in den Tannhäuser-Lichtspielen liefen, oder der Bücher von Karl May und Jules Verne. Die Bahn kam, weich bremsend, zum Stehen. Die in der Höhe gestuften und abgeschrägten Türen ließen die Fahrgäste ins Freie. Der Schaffner stieg aus, öffnete das Gatter und, für die Aufwärtsfahrenden, einen schmalen Durchgang daneben. Dort war ein Münzkasten angebracht, Christian warf das Fahrgeld hinein und zog den an der Seite befindlichen Hebel herab; das Zehnpfennigstück rutschte aus der Drehscheibe und fiel zu den anderen auf den Boden. Manchmal warfen die Kinder des Viertels statt des Groschensflache, von der Elbe glatt geschliffene Kiesel, die sie »Butterbemmen« nannten, oder Knöpfe ein – sehr zum Verdruß ihrer Mütter, denen es leid um die Knöpfe tat, denn die kleinen Münzen aus Aluminium bekam man leicht, Knöpfe dagegen schwer. Die Wagentüren waren geschlossen, man mußte sie winters, wollte man ins Abteil, gegen einen Seilzug öffnen; sie schlossen sich sofort, sobald man losließ. Der Schaffner war in das Häuschen gegangen, goß sich einen Kaffee ein und beobachtete die davoneilenden Fahrgäste, die wie Schatten verschwanden, vorn um die Ecken bogen, zum Körnerplatz oder zur Pillnitzer Landstraße.
Nach ein paar Minuten ertönte aus dem Lautsprecher über den Anzeigentafeln eine müde klingende Stimme, sächselte etwas, was Christian nicht verstand; aber der Schaffner erhob sich und schloß bedächtig die Tür des Häuschens. Langsam, die runde, lederne Münzwechseltasche schlenkerte auf der abgewetzten Uniform, ging er vor zur Fahrerkabine mit dem Bedienpult, dessen viele Knöpfe Christian sinnlos erschienen, denn gelenkt wurde die Standseilbahn von Seil und Rollen, gebremst im Fall, daß das Seil einmal reißen sollte, automatisch über einen ausgeklügelten Zangenmechanismus. Vielleicht hatte es mit den Knöpfen eine andere Bewandtnis, vielleicht dienten sie der Verständigung oder der Psychologie: Knöpfe, die vorhanden waren, mußten auch etwas zu bedeuten haben, eine Funktion erfüllen, erforderten Kenntnis, beugten der Eintönigkeit und Dienstmüdigkeit vor; außerdem gab es das Ausweichmanöver auf halber Strecke. Krachend fiel die Kabinentür, die mit einem Vierkantschlüssel zu öffnen war und nicht über den Seilzug der übrigen Türen lief, hinter dem Schaffner ins Schloß.
© Suhrkamp Verlag
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Autoren-Porträt von Uwe Tellkamp
Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, Romancier, Erzähler und Essayist, legte 2008 nach Erscheinen seines zweiten Romans, Der Eisvogel (2005), mit dem Roman Der Turm sein bislang umfangreichstes Prosawerk vor, in dem er die Vorwende- und Wende-Zeit der DDR zum Thema macht. Mit einem Ausschnitt aus dem Roman Der Schlaf in den Uhren gewann er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Neben anderen Auszeichnungen wurde ihm 2008 der Uwe-Johnson-Preis, im selben Jahr der Deutsche Buchpreis und 2009 der Deutsche Nationalpreis zuerkannt. Eine Verfilmung des Turms erfolgte 2012.
Bibliographische Angaben
- Autor: Uwe Tellkamp
- 2008, 11. Aufl., 976 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518420208
- ISBN-13: 9783518420201
Rezension zu „Der Turm “
»Uwe Tellkamp hat einen Bildungsroman geschrieben, der uns endlich vom kollektivistischen Pop-Dagegensein bundesdeutscher Kleinbürgerkinder und kalauernder Prenzlberg-Aktivisten erlöst. Man mag diese Urgewalt von Erzählströmen und Bilderfluten einen Wenderoman nennen oder nicht, traditionell oder nicht, man mag ihr einen Buchpreis für braves Erzählen zuerkennen oder nicht: Sie ist eingepflockt in die deutsche Literatur, setzt Massstäbe, wird so bald nicht vergehen.«
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