Der Traum von Rapa Nui
Roman
Chile im 19. Jahrhundert: Katharina ist 26 Jahre alt - und hat Angst, keinen Mann mehr zu finden. Da kommt ihr eine Anzeige in der Zeitung gerade recht, in der ein verwitweter Schafzüchter von den Osterinseln eine Frau und Mutter für seine Kinder sucht....
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Produktinformationen zu „Der Traum von Rapa Nui “
Klappentext zu „Der Traum von Rapa Nui “
Chile im 19. Jahrhundert: Katharina ist 26 Jahre alt - und hat Angst, keinen Mann mehr zu finden. Da kommt ihr eine Anzeige in der Zeitung gerade recht, in der ein verwitweter Schafzüchter von den Osterinseln eine Frau und Mutter für seine Kinder sucht. Voller Hoffnung bricht Katharina auf. Doch ihre Sehnsüchte scheinen sich zunächst nicht zu erfüllen, denn das Leben auf den Osterinseln ist hart, und ihr Mann ist wortkarg und hält nicht viel von zur Schau getragenen Gefühlen. Doch Katharina ist entschlossen, durchzuhalten und sich nicht den Unbilden des Klimas und der Rauheit der Menschen geschlagen zu geben. Da begegnet sie dem Missionar Aaron, der sie vom ersten Augenblick an fasziniert.
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Der Traum von Rapa Nui “
Der Traum von Rapa Nui von Carla FedericoProlog
Hanga Roa 1893
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Als Katharina das Boot bestieg, das sie zum wartenden Schiff brachte, drehte sie sich ein letztes Mal um. Ihr Blick schweifte über die Insel, als würde sie sie zum ersten Mal sehen, obwohl sie so viele Jahre ihres Lebens hier verbracht, gelitten und gelacht, geliebt und gehasst hatte, vor Furcht vergangen war und voller Hoffnung an das Morgen geglaubt hatte. Ja, sie hatte viele Gesichter des Lebens kennengelernt, und in all der Zeit, da ihr manche zur Herausforderung gereichten, andere zur Freude, war die Insel für sie mehr gewesen als der einsame, karge Ort, an dem zu leben so vielen Weißen wie eine Verbannung erschien. Ich war hier zu Hause, dachte sie. Rapa Nui ist für mich nicht das entlegenste Eiland der Welt, sondern meine Heimat ... Jahrhunderte waren vergangen, ehe die Terra incognita entdeckt worden war, viel weniger Zeit hatte es gedauert, sie und ihre Bewohner auszubeuten. Die Insel protzte weder mit Reichtum noch mit Schönheit, zumindest nicht auf den ersten Blick, denn der fiel nicht auf prächtige Blumen oder sattgrüne Bäume, sondern auf karge Büsche, die in der gleißenden Sonne fast gräulich wirkten. Die meisten waren niedrig, kaum einer größer als ein Mensch, und das Gras wuchs auf den vielen Hügeln trocken und hart. Oft klaffte die Erde hervor, mal rötlich, mal schwarz, ähnlich wie die Farbe der steilen Klippen sich wandelte, je nachdem, von welcher Seite das Licht darauf fiel. Dutzende von Kratern durchzogen die Landschaft wie Narben. Und dennoch: So eintönig das Land anmutete und so vermeintlich farblos - die stete Meeresbrise, die geheimnisvollen Statuen und die Stille, die nur dann und wann vom Blöken eines Schafs unterbrochen wurde, waren zugleich verheißungsvoll. Wo, wenn nicht an einem Ort, der derart mit Reizen geizte und den Menschen auf sich selbst zurückwarf, fand man die Kraft, jeden Tag neu zu beginnen, das Leben anzupacken und die Hoffnung zu bewahren, dass man an Prüfungen wächst, anstatt daran zugrunde zu gehen? Zumindest war Katharina mit dieser Hoffnung einst hierhergekommen. Und als sie jetzt die Insel vielleicht zum letzten Mal betrachtete, fragte sie sich, ob diese Hoffnung wirklich enttäuscht worden war, wie sie oft geglaubt hatte, oder ob sie lediglich zu früh resigniert hatte, ob nicht immer noch dieses leise Versprechen in der Luft lag: Bleib hier, dann kannst du glücklich werden, trotz allem, was hinter dir liegt ... Katharina zögerte, als sie das Boot bestieg, und erst recht, als dieses nach einer schaukelnden Fahrt das Schiff erreichte. »Kommst du?«, rief einer der Matrosen. Er deutete auf die Strickleiter, auf der sie hochklettern sollte, doch sie blieb starr sitzen. Jack begann zu quengeln und sich in ihren Armen zu winden, Tim und Romy sahen sie abwartend an. Katharina wusste, sie sollte sich endlich einen Ruck geben, sich abwenden, jenen letzten Blick auf die Insel im Herzen bewahren, aber endgültig Abschied nehmen - nicht nur von der Heimat, auch von dem Traum, der sie hierhergeführt hatte. Doch sie brachte es einfach nicht fertig. Jener Traum hatte sich manchmal als Alb erwiesen, von dem sie unbedingt erwachen wollte, doch jetzt konnte sie nur denken: Ich will weiterträumen ... von einem schönen, neuen, starken Rapa Nui.
Erstes Buch
Te pito o te henua - Der Nabel der Welt
1886-1887
1. Kapitel
Katharina liebte es, in Valdivia zu sein, und zugleich hasste sie es. Das Leben hier war viel abwechslungsreicher als in ihrer kleinen Siedlung am Llanquihue- See: Aus den Bäckereien duftete es köstlich nach frischem Brot und Kuchen, aus den großen, stabilen Häusern tönte Klaviermusik; die Frauen waren elegant gekleidet, trugen Sonnenschirme, manchmal sogar Handschuhe. Doch das, was Katharina so inständig bewunderte, war zugleich stete Quelle des Haders: Die Frauen waren so viel hübscher als sie! Und das nicht etwa, weil sie feinere Züge und wohlgeformtere Körper hatten, sondern weil sie sich weiße Blusen, spitzenbesetzte Jäckchen und seidene, raschelnde Röcke leisten konnten. Kein Wunder! Die meisten von ihnen waren mit Fabrikbesitzern verheiratet, und die verdienten viel Geld - zumindest mehr als die Bauern vom Llanquihue-See. Auf diese blickten jene eleganten Damen ebenso verächtlich herab wie auf Katharina, und diese konnte es ihnen nicht einmal verdenken: Sie schämte sich ja selbst dafür, dass ihr Kleid voller Flicken war, der Strohhut hässlich und ihre Haare von der Sonne ausgebleicht, ganz zu schweigen von den rissigen Händen, denen man die harte Arbeit auf dem Feld oder im Kuhstall nur zu deutlich ansah und die sie, so verzweifelt sie sie auch wusch, nie ganz vom Dreck befreien konnte. Unter den Fingernägeln waren immer dunkle Ränder zu sehen, auch wenn sie sie noch so oft bürstete.
»Und jetzt?«, fragte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Kriegen wir Kuchen?« Sofort fielen die anderen Kinder in das Geschrei ein. »Au ja! Kuchen! Wir wollen Kuchen haben!« Seufzend blickte Katharina auf die Schar. Insgesamt fünf Kinder standen wie Orgelpfeifen vor ihr: Der Jüngste, Taddäus, war erst drei, die Älteste, Elisabeth, schon sieben; alle waren sie Neffen und Nichten von ihr - und alle standen sie unter ihrer Aufsicht. »Ich habe so viel zu erledigen!«, hatte Frida, ihre ältere Schwester, vorhin erklärt. »Da brauche ich deine Hilfe. Achte auf die Kinder!« Pah! Von wegen viel zu erledigen! In Wahrheit ließ Frida sich bloß das neue Kleid anpassen, das Katharina sich selbst doch so sehr gewünscht hatte. Eigentlich konnte sich Frida so ein Kleid gar nicht leisten, zumal ihr Mann Jacobo als der faulste Bauer der ganzen Siedlung galt, aber irgendwie hatte sie ihm so lange in den Ohren gelegen, bis er schließlich bereitwillig genickt hatte - sehr zum Missfallen seiner Mutter Christl. Eigentlich ist es kein Wunder, dass Frida ein neues Kleid braucht, dachte Katharina boshaft. Mit den Jahren war sie immer dicker geworden, und seitdem sie letzten Frühling Zwillinge geboren hatte, platzten alle ihre Kleider aus den Nähten. Wenigstens musste Katharina nicht auf die beiden Jüngsten aufpassen, weil diese in der Siedlung geblieben waren. »Also, kriegen wir Kuchen?« Katharina wollte schon wütend entgegnen, dass sie kein Geld für Kuchen habe, aber dann dachte sie trotzig, dass Frida diesen ruhig bezahlen konnte, wenn sie sich schon ein neues Kleid leistete. So oft, wie sie die Kinderschar hütete, hatte sie sich eine Belohnung verdient! Wenig später betraten sie eine Bäckerei, die von deutschen Einwanderern gegründet worden war. Obwohl diese ihre einstige Heimat schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten, wurde hier - wie überall im mittelchilenischen Seengebiet - immer noch Deutsch statt Spanisch gesprochen, das Haar zu Zöpfen geflochten, wie es im Schwarzwald üblich war, und das Brot saftig und dunkel gebacken wie dort. Zu den Deutschen, die sich in Chile niedergelassen hatten, hatten auch Katharinas Großeltern gehört, doch dass diese immer wieder darauf herumritten, um wie viel einfacher das Leben mittlerweile sei und um wie viel reicher die Ernten verglichen mit denen der Anfangszeit ausfielen, war Katharina kein Trost. Reiche Ernten, pah! Ich werde mit jedem Tag älter, finde keinen Mann und muss immer nur arbeiten, dachte sie missmutig. Alle jungen Männer der Siedlung - und das waren so wenige, dass man sie an einer Hand abzählen konnte - hatten bereits geheiratet, nur leider nicht sie. »Isst du deinen Kuchen denn gar nicht?«, fragte die kleine Elisabeth. Katharina blickte auf ihren Teller. Er war aus Porzellan, mit kleinen Rosen verziert und stammte gewiss aus Deutschland. Das Stück Marmorkuchen darauf war sehr trocken, und obwohl sie eben noch so große Lust auf Kuchen gehabt hatte, wusste sie plötzlich, dass sie keinen Bissen davon herunterbringen würde. »Du kannst ihn gerne haben, wenn du dafür auf die Kleinen aufpasst!«, sagte Katharina.
Elisabeth lächelte begeistert, während die anderen damit beschäftigt waren, überall Krümel zu verstreuen oder sich mit den Gabeln gegenseitig zu erstechen. Katharina wusste, dass sie eingreifen sollte, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, sondern floh in den hinteren Teil der Backstube, wo etwas mehr Ruhe herrschte. Bei ihrem letzten Besuch in Valdivia hatte sie hier ein paar Zeitungen gefunden, die in ihrer Siedlung am See Mangelware waren. Einer ihrer Onkel lebte zwar in Valparaíso, einer Hafenstadt im Norden des Landes, arbeitete dort als Journalist und schickte hin und wieder Zeitungen, aber dort wurde nur von den Ereignissen in Valparaíso oder Santiago informiert. Hier hingegen fand sie eine Wochenzeitung von Valdivia. Neugierig schlug Katharina sie auf und überflog einen Artikel über zwei konkurrierende Bierbrauereien. Außerdem wurde über die steigende Anzahl von Diebstählen geklagt, die wie so oft den Ureinwohnern Chiles, den Mapuche, angelastet wurden, und über eine geplante Bahnstrecke berichtet, die von Santiago in den Süden des Landes führen sollte. »Können Sie darauf achten, dass die Kinder etwas leiser sind?«, mahnte der Bäcker ungeduldig. Katharina hob kaum den Blick. »Kinder! Seid still! Ich bin gleich wieder bei euch. Warum könnt ihr in der Zwischenzeit denn nicht draußen spielen?« Sie achtete nicht darauf, ob sie ihrem Befehl folgten, aber dass keine neuerliche Beschwerde folgte, wertete sie als gutes Zeichen. Und im nächsten Augenblick wurde sie ohnehin völlig blind und taub für ihre Umgebung. Ihr Blick war bei den Anzeigen hängen geblieben: Da wurden Saatgut, Baumaterial und Tiere angeboten, des Weiteren Grammophonnadeln, Nähkissen und ein Segel für Boote, und dann plötzlich stand da in fehlerhaftem Spanisch: Suche eine Ehefrau! Katharina musste trotz ihrer schlechten Laune grinsen. Das konnte nur ein Irrtum sein! Wahrscheinlich stammte die Anzeige von einem Deutschen, der kein Spanisch beherrschte und versehentlich das falsche Wort verwendet hatte. Aber dann las sie weiter und erfuhr, dass der Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte, seit Kurzem verwitwet war, zwei kleine Kinder hatte und dringend Hilfe im Haushalt benötigte. Ob er kalt berechnend war und, ganz Geschäftsmann, nach einer brauchbaren Frau suchte wie andere nach einem Zuchtbullen, oder ihn schlichtweg die Verzweiflung dazu trieb, konnte sie aus den wenigen Worten nicht herauslesen. »Kann ich auf deinem Schoß sitzen?« Katharina zuckte zusammen, als sich eine kleine Gestalt an sie schmiegte und klebrige Finger ihr Kleid beschmutzten. Es war der kleine Taddäus, der ihre Nähe suchte und der Katharina von allen am liebsten war, weil er ein sanftes, liebevolles Kind war, und für gewöhnlich mochte sie es, wenn er auf ihren Schoß geklettert kam und ihre Wangen küsste. Jetzt hatte sie jedoch keinen Kopf dafür. »Geh zu den anderen raus!«, befahl sie. »Du musst aber mitkommen!« »Nicht jetzt!« Sie bedauerte sofort die Schärfe, die in ihrer Stimme lag, war jedoch zugleich erleichtert, dass sie ihre Wirkung tat. Taddäus trollte sich tatsächlich nach draußen, und sie konnte sich wieder in die Annonce vertiefen. Der Witwer, so erfuhr sie nun, lebte nicht etwa hier in Valdivia oder am Llanquihue See, sondern auf der Isla de Pascua, wo er seit geraumer Zeit als Schafzüchter arbeitete. »Isla de Pascua ...«, murmelte Katharina. Vage erinnerte sie sich daran, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, man ihn mit »Osterinsel« übersetzte und dass die Insel weit entfernt vom Festland mitten im Ozean lag. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wie es dort aussah. Ob es große Berge, gar Vulkane wie hier gab? Oder ob das Land flach war wie die patagonische Steppe im Süden des Landes? Große Seen waren wohl auf einer kleinen Insel nicht zu erwarten. Wieder starrte sie auf die Annonce und stellte fest, dass sie vom Februar 1886 stammte, also schon über neun Monate alt war. Die Zeitung hingegen trug das heutige Datum, was bedeutete, dass seine Anzeige entweder irgendwo liegen geblieben war oder fast ein Jahr gebraucht hatte, um von der Insel aufs Festland zu gelangen. Ob er in der Zwischenzeit schon eine Frau gefunden hatte? Und wie hieß er überhaupt? Erst jetzt entdeckte sie den Namen, der ganz klein darunter stand: Barnabas Wilkinson. Das klang nicht spanisch - was angesichts des fehlerhaften Gebrauchs der Sprache nicht verwunderlich war -, aber auch nicht unbedingt deutsch. »Tante Katharina!« »Was ist denn jetzt schon wieder?« Sie blickte stirnrunzelnd hoch, aber der Ärger über die erneute Störung wich rasch dem Schrecken, als plötzlich Elisabeth zu ihr trat und besorgt fragte: »Ist Taddäus nicht hier?« »Ich dachte, er ist zu euch nach draußen gegangen!« »Nein, er wollte unbedingt zu dir!«
»Mein Gott, ich habe dir doch gesagt, du sollst ein Auge auf die Kinder haben.« Elisabeth war sichtlich den Tränen nahe, und Katharina packte prompt das schlechte Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einem kleinen Mädchen so viel Verantwortung aufzulasten! »Wir finden ihn bestimmt!«, rief sie, legte die Zeitung zur Seite und erhob sich hastig. Elisabeth brach endgültig in Tränen aus. »Und wenn nicht? Taddäus hat vorhin gesagt, er wolle zum See gehen. Was, wenn er hineingefallen ist? Er ist doch noch so klein und kann nicht schwimmen!«
Die Oberfläche des Sees war aufgewühlt, aber das hatte nichts zu bedeuten, da die großteils schlechten Straßen weitgehend gemieden wurden und die meisten Menschen mit Booten und Schiffen nach Valdivia fuhren. Katharina stürzte auf eine Gruppe Männer zu: »Habt ihr einen kleinen Jungen gesehen?« Sie sahen sie an und lachten. »Jungs sind immer schlimmer als Mädchen, der kann überall sein.« »Hört zu lachen auf! Das ist nicht lustig!«, fuhr Katharina sie an. »Na, wenn du uns ein freundliches Lächeln geschenkt hättest, dann hätten wir dir bei der Suche geholfen.« »Ihr Idioten!«, entfuhr es Katharina. »Jetzt aber nicht frech werden, Fräulein! Schließlich ist es nicht unsere Schuld, dass du dein Kind verloren hast.« Sie konnte nicht umhin, ihnen recht zu geben. Lieber Himmel, warum war sie so unachtsam gewesen? Warum verhielt sie sich immer so mürrisch und versuchte nie, die Menschen für sich einzunehmen? Und schließlich: Warum war der kleine Taddäus nicht ihr Sohn, sondern sie dazu verdammt, als alte Jungfrau zu sterben? Das eigene Leben fühlte sich plötzlich wie eines enges, nasses Kleid an, das sie so schnell wie möglich loswerden wollte, ungeachtet, dass sie dann nackt sein und erst recht frieren würde. Hoffentlich fror Taddäus nicht! Und hoffentlich war er nicht in den See gefallen! Immer wieder rief sie seinen Namen, aber sie bekam keine Antwort. Und selbst wenn - in dem Trubel hätte sie seine schwache Stimme ja doch nicht vernommen. Die Straßen, die vom Hafen wegführten, waren voller Menschen und Fuhrwerke; dort hinten wurden gerade Fässer entladen, ein Haus gebaut und mit einem Handkran Getreidesäcke auf ein Boot verfrachtet. Und wenn Taddäus sich dort verkrochen hatte, womöglich gar unter Fässer oder Säcke geraten war? Nein! Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Eigentlich war er doch ein vernünftiger Junge! »Taddäus! Taddäus, wo bist du?« Irgendwo spielte eine Blaskapelle. In Valdivia wurde viel Musik gemacht, und wer kein Instrument beherrschte, der sang vorzugsweise deutsche Lieder. Für gewöhnlich liebte Katharina Musik, doch jetzt stand ihr nicht der Sinn danach, sondern sie eilte weiter zum Marktplatz, wo eben Hühner verkauft wurden. Das Gackern klang in ihren Ohren wie Hohngelächter. »Taddäus!«, schrie sie. Die Brust schmerzte vom schnellen Laufen, über ihre Wangen liefen Tränen, doch weiterhin war nichts von dem Knaben zu sehen. Sie fragte überall nach ihm, aber niemand konnte ihr weiter helfen, auch nicht der Gerber, zu dessen Werkstatt sie jetzt kam und wo es grässlich stank. So viele Bottiche standen hier ... Bottiche, in die kleine Kinder fallen könnten. »Taddäus!« »Was schreist du denn so?« Katharina fuhr herum und sah ihre Schwester auf sie zukommen. Frida bot einen grotesken Anblick, wurden die Nähte des neuen Kleides doch nur mit Stecknadeln zusammengehalten. Offenbar war Katharina an der Schneiderei vorbeigekommen, und Frida hatte sie rufen gehört. Katharina starrte sie hilflos an. Als Kind hatte sie niemandem so nahegestanden wie ihren beiden Schwestern: Ihre Mutter war von ihnen überfordert gewesen, der Vater hatte sie meist vernachlässigt, doch sie hatten sich immer aufeinander verlassen können. Mit dem Zusammenhalt war es allerdings vorbei gewesen, als sie älter wurden und immer häufiger stritten. Katharina konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass all ihre schlechten Eigenschaften in der Gesellschaft von Frida und Theresa noch deutlicher zutage traten - so wie sie selbst nicht gerade das Beste aus ihren Schwestern hervorholte. Dass Frida verheiratet war und Kinder hatte, nährte überdies ihre Bitterkeit und den Neid, auch wenn sie sich dieser Gefühle oft schämte - gerade jetzt. »Es tut mir so leid!«, stieß sie aus. »Taddäus ist verschwunden! Ich habe ihn nur kurz aus den Augen gelassen und ...« »Was?« Fridas Kinn, das in den letzten Wochen ziemlich schwammig geworden war, bebte. »Wie konntest du nur? Ich habe dir mein Kind anvertraut, und du bringst es nicht fertig, auf ihn zu achten?« Obwohl sich Katharina selbst die schlimmsten Vorwürfe machte, ärgerte sie Fridas selbstgerechte Empörung. Schließlich war sie Taddäus' Mutter und sollte sich selbst um ihn kümmern, anstatt sich ein neues Kleid machen zu lassen! Doch sie schluckte ihren Ärger hinunter, atmete tief durch und erklärte entschlossen: »Es ist doch sinnlos, zu streiten. Lass uns lieber gemeinsam nach ihm suchen!« Und das taten sie. Eine Viertelstunde verging, eine halbe. Nach einer Stunde fehlte immer noch jede Spur von dem kleinen Jungen. Während Frida entweder die Schwester wegen ihrer Unachtsamkeit beschimpfte oder lauthals weinte, waren Katharinas Tränen versiegt. Lieber Gott!, schwor sie sich. Wenn es Taddäus gut geht, werde ich nie wieder mit meinem Leben hadern. Ich werde nicht länger einfach nur warten, dass sich alles zum Guten wendet, sondern werde alles, was in meiner Macht steht, dafür tun. Doch Gott schien kein Erbarmen zu haben. Mittlerweile hatten sie sogar sämtliche Kirchen durchsucht, aber sie waren nirgendwo fündig geworden. Schließlich kamen sie wieder bei der Bäckerei vorbei, wo Katharina mit den Kindern Kuchen gegessen hatte. Vorhin war sie Elisabeth so schnell nach draußen gefolgt, dass sie den Kuchen nicht bezahlt hatte, und als der Bäcker ihr jetzt mit zornigem Gesicht entgegenkam, machte sich Katharina auf eine Schimpftirade gefasst. »Es tut mir leid, dass ich vorhin ...« »Da sind Sie ja endlich wieder!« »Ich musste doch ...« »Wie stellen Sie sich denn das vor?«, unterbrach er sie unwirsch. »Ich muss hier arbeiten, und beim Ofen ist's gefährlich! «
»Ich gebe Ihnen natürlich das Geld, aber ...« »Welches Geld?« Sie sah ihn verdutzt an. Er schnaubte. »Es kann doch nicht sein, dass ich an Ihrer Stelle Ihr Kind beaufsichtige! Ich habe Besseres zu tun.« »Welches Kind?«, entfuhr es ihr verwirrt. »Na, Ihren kleinen Neffen! Er kam plötzlich zu mir in die Backstube und hat mittlerweile solche Unmengen an Kuchen in sich hineingestopft, dass er sich bald übergeben wird. Na, das fehlte mir noch, dass er hier alles schmutzig macht! Nehmen Sie ihn endlich mit!« Katharinas Herz pochte schneller. Natürlich! Die Bäckerei! Als sie nach draußen gestürmt war, war sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich Taddäus hier versteckt haben könnte! Aufschluchzend stürzte sie hinein und sah ihren Neffen ganz vergnügt vor dem Backofen sitzen. »Ich habe Kuchen bekommen!«, erzählte er stolz. Sie zog ihn an sich, versenkte ihr Gesicht in seine weichen Locken und atmete tief seinen süßen Geruch ein. »Wie konntest du nur einfach verschwinden!«, schimpfte sie. »Das machst du nie wieder, hörst du?« »Du machst das auch nie wieder!«, traf sie Fridas ungehaltene Stimme. »Meine armen Kinder! Was der Kleine deinetwegen durchmachen musste! Wie konntest du nur!« Anstatt erleichtert den Sohn in die Arme zu schließen, hörte sie nicht auf, ihrer Schwester Vorwürfe zu machen. Eine Weile ließ Katharina sie über sich ergehen, weil ihre Erleichterung zu groß war, aber plötzlich glaubte sie, dass etwas in ihr zerplatzte, und was immer es war: Zurück blieb nicht der gewohnte Hader, sondern nur Entschlossenheit.
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Als Katharina das Boot bestieg, das sie zum wartenden Schiff brachte, drehte sie sich ein letztes Mal um. Ihr Blick schweifte über die Insel, als würde sie sie zum ersten Mal sehen, obwohl sie so viele Jahre ihres Lebens hier verbracht, gelitten und gelacht, geliebt und gehasst hatte, vor Furcht vergangen war und voller Hoffnung an das Morgen geglaubt hatte. Ja, sie hatte viele Gesichter des Lebens kennengelernt, und in all der Zeit, da ihr manche zur Herausforderung gereichten, andere zur Freude, war die Insel für sie mehr gewesen als der einsame, karge Ort, an dem zu leben so vielen Weißen wie eine Verbannung erschien. Ich war hier zu Hause, dachte sie. Rapa Nui ist für mich nicht das entlegenste Eiland der Welt, sondern meine Heimat ... Jahrhunderte waren vergangen, ehe die Terra incognita entdeckt worden war, viel weniger Zeit hatte es gedauert, sie und ihre Bewohner auszubeuten. Die Insel protzte weder mit Reichtum noch mit Schönheit, zumindest nicht auf den ersten Blick, denn der fiel nicht auf prächtige Blumen oder sattgrüne Bäume, sondern auf karge Büsche, die in der gleißenden Sonne fast gräulich wirkten. Die meisten waren niedrig, kaum einer größer als ein Mensch, und das Gras wuchs auf den vielen Hügeln trocken und hart. Oft klaffte die Erde hervor, mal rötlich, mal schwarz, ähnlich wie die Farbe der steilen Klippen sich wandelte, je nachdem, von welcher Seite das Licht darauf fiel. Dutzende von Kratern durchzogen die Landschaft wie Narben. Und dennoch: So eintönig das Land anmutete und so vermeintlich farblos - die stete Meeresbrise, die geheimnisvollen Statuen und die Stille, die nur dann und wann vom Blöken eines Schafs unterbrochen wurde, waren zugleich verheißungsvoll. Wo, wenn nicht an einem Ort, der derart mit Reizen geizte und den Menschen auf sich selbst zurückwarf, fand man die Kraft, jeden Tag neu zu beginnen, das Leben anzupacken und die Hoffnung zu bewahren, dass man an Prüfungen wächst, anstatt daran zugrunde zu gehen? Zumindest war Katharina mit dieser Hoffnung einst hierhergekommen. Und als sie jetzt die Insel vielleicht zum letzten Mal betrachtete, fragte sie sich, ob diese Hoffnung wirklich enttäuscht worden war, wie sie oft geglaubt hatte, oder ob sie lediglich zu früh resigniert hatte, ob nicht immer noch dieses leise Versprechen in der Luft lag: Bleib hier, dann kannst du glücklich werden, trotz allem, was hinter dir liegt ... Katharina zögerte, als sie das Boot bestieg, und erst recht, als dieses nach einer schaukelnden Fahrt das Schiff erreichte. »Kommst du?«, rief einer der Matrosen. Er deutete auf die Strickleiter, auf der sie hochklettern sollte, doch sie blieb starr sitzen. Jack begann zu quengeln und sich in ihren Armen zu winden, Tim und Romy sahen sie abwartend an. Katharina wusste, sie sollte sich endlich einen Ruck geben, sich abwenden, jenen letzten Blick auf die Insel im Herzen bewahren, aber endgültig Abschied nehmen - nicht nur von der Heimat, auch von dem Traum, der sie hierhergeführt hatte. Doch sie brachte es einfach nicht fertig. Jener Traum hatte sich manchmal als Alb erwiesen, von dem sie unbedingt erwachen wollte, doch jetzt konnte sie nur denken: Ich will weiterträumen ... von einem schönen, neuen, starken Rapa Nui.
Erstes Buch
Te pito o te henua - Der Nabel der Welt
1886-1887
1. Kapitel
Katharina liebte es, in Valdivia zu sein, und zugleich hasste sie es. Das Leben hier war viel abwechslungsreicher als in ihrer kleinen Siedlung am Llanquihue- See: Aus den Bäckereien duftete es köstlich nach frischem Brot und Kuchen, aus den großen, stabilen Häusern tönte Klaviermusik; die Frauen waren elegant gekleidet, trugen Sonnenschirme, manchmal sogar Handschuhe. Doch das, was Katharina so inständig bewunderte, war zugleich stete Quelle des Haders: Die Frauen waren so viel hübscher als sie! Und das nicht etwa, weil sie feinere Züge und wohlgeformtere Körper hatten, sondern weil sie sich weiße Blusen, spitzenbesetzte Jäckchen und seidene, raschelnde Röcke leisten konnten. Kein Wunder! Die meisten von ihnen waren mit Fabrikbesitzern verheiratet, und die verdienten viel Geld - zumindest mehr als die Bauern vom Llanquihue-See. Auf diese blickten jene eleganten Damen ebenso verächtlich herab wie auf Katharina, und diese konnte es ihnen nicht einmal verdenken: Sie schämte sich ja selbst dafür, dass ihr Kleid voller Flicken war, der Strohhut hässlich und ihre Haare von der Sonne ausgebleicht, ganz zu schweigen von den rissigen Händen, denen man die harte Arbeit auf dem Feld oder im Kuhstall nur zu deutlich ansah und die sie, so verzweifelt sie sie auch wusch, nie ganz vom Dreck befreien konnte. Unter den Fingernägeln waren immer dunkle Ränder zu sehen, auch wenn sie sie noch so oft bürstete.
»Und jetzt?«, fragte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Kriegen wir Kuchen?« Sofort fielen die anderen Kinder in das Geschrei ein. »Au ja! Kuchen! Wir wollen Kuchen haben!« Seufzend blickte Katharina auf die Schar. Insgesamt fünf Kinder standen wie Orgelpfeifen vor ihr: Der Jüngste, Taddäus, war erst drei, die Älteste, Elisabeth, schon sieben; alle waren sie Neffen und Nichten von ihr - und alle standen sie unter ihrer Aufsicht. »Ich habe so viel zu erledigen!«, hatte Frida, ihre ältere Schwester, vorhin erklärt. »Da brauche ich deine Hilfe. Achte auf die Kinder!« Pah! Von wegen viel zu erledigen! In Wahrheit ließ Frida sich bloß das neue Kleid anpassen, das Katharina sich selbst doch so sehr gewünscht hatte. Eigentlich konnte sich Frida so ein Kleid gar nicht leisten, zumal ihr Mann Jacobo als der faulste Bauer der ganzen Siedlung galt, aber irgendwie hatte sie ihm so lange in den Ohren gelegen, bis er schließlich bereitwillig genickt hatte - sehr zum Missfallen seiner Mutter Christl. Eigentlich ist es kein Wunder, dass Frida ein neues Kleid braucht, dachte Katharina boshaft. Mit den Jahren war sie immer dicker geworden, und seitdem sie letzten Frühling Zwillinge geboren hatte, platzten alle ihre Kleider aus den Nähten. Wenigstens musste Katharina nicht auf die beiden Jüngsten aufpassen, weil diese in der Siedlung geblieben waren. »Also, kriegen wir Kuchen?« Katharina wollte schon wütend entgegnen, dass sie kein Geld für Kuchen habe, aber dann dachte sie trotzig, dass Frida diesen ruhig bezahlen konnte, wenn sie sich schon ein neues Kleid leistete. So oft, wie sie die Kinderschar hütete, hatte sie sich eine Belohnung verdient! Wenig später betraten sie eine Bäckerei, die von deutschen Einwanderern gegründet worden war. Obwohl diese ihre einstige Heimat schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten, wurde hier - wie überall im mittelchilenischen Seengebiet - immer noch Deutsch statt Spanisch gesprochen, das Haar zu Zöpfen geflochten, wie es im Schwarzwald üblich war, und das Brot saftig und dunkel gebacken wie dort. Zu den Deutschen, die sich in Chile niedergelassen hatten, hatten auch Katharinas Großeltern gehört, doch dass diese immer wieder darauf herumritten, um wie viel einfacher das Leben mittlerweile sei und um wie viel reicher die Ernten verglichen mit denen der Anfangszeit ausfielen, war Katharina kein Trost. Reiche Ernten, pah! Ich werde mit jedem Tag älter, finde keinen Mann und muss immer nur arbeiten, dachte sie missmutig. Alle jungen Männer der Siedlung - und das waren so wenige, dass man sie an einer Hand abzählen konnte - hatten bereits geheiratet, nur leider nicht sie. »Isst du deinen Kuchen denn gar nicht?«, fragte die kleine Elisabeth. Katharina blickte auf ihren Teller. Er war aus Porzellan, mit kleinen Rosen verziert und stammte gewiss aus Deutschland. Das Stück Marmorkuchen darauf war sehr trocken, und obwohl sie eben noch so große Lust auf Kuchen gehabt hatte, wusste sie plötzlich, dass sie keinen Bissen davon herunterbringen würde. »Du kannst ihn gerne haben, wenn du dafür auf die Kleinen aufpasst!«, sagte Katharina.
Elisabeth lächelte begeistert, während die anderen damit beschäftigt waren, überall Krümel zu verstreuen oder sich mit den Gabeln gegenseitig zu erstechen. Katharina wusste, dass sie eingreifen sollte, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, sondern floh in den hinteren Teil der Backstube, wo etwas mehr Ruhe herrschte. Bei ihrem letzten Besuch in Valdivia hatte sie hier ein paar Zeitungen gefunden, die in ihrer Siedlung am See Mangelware waren. Einer ihrer Onkel lebte zwar in Valparaíso, einer Hafenstadt im Norden des Landes, arbeitete dort als Journalist und schickte hin und wieder Zeitungen, aber dort wurde nur von den Ereignissen in Valparaíso oder Santiago informiert. Hier hingegen fand sie eine Wochenzeitung von Valdivia. Neugierig schlug Katharina sie auf und überflog einen Artikel über zwei konkurrierende Bierbrauereien. Außerdem wurde über die steigende Anzahl von Diebstählen geklagt, die wie so oft den Ureinwohnern Chiles, den Mapuche, angelastet wurden, und über eine geplante Bahnstrecke berichtet, die von Santiago in den Süden des Landes führen sollte. »Können Sie darauf achten, dass die Kinder etwas leiser sind?«, mahnte der Bäcker ungeduldig. Katharina hob kaum den Blick. »Kinder! Seid still! Ich bin gleich wieder bei euch. Warum könnt ihr in der Zwischenzeit denn nicht draußen spielen?« Sie achtete nicht darauf, ob sie ihrem Befehl folgten, aber dass keine neuerliche Beschwerde folgte, wertete sie als gutes Zeichen. Und im nächsten Augenblick wurde sie ohnehin völlig blind und taub für ihre Umgebung. Ihr Blick war bei den Anzeigen hängen geblieben: Da wurden Saatgut, Baumaterial und Tiere angeboten, des Weiteren Grammophonnadeln, Nähkissen und ein Segel für Boote, und dann plötzlich stand da in fehlerhaftem Spanisch: Suche eine Ehefrau! Katharina musste trotz ihrer schlechten Laune grinsen. Das konnte nur ein Irrtum sein! Wahrscheinlich stammte die Anzeige von einem Deutschen, der kein Spanisch beherrschte und versehentlich das falsche Wort verwendet hatte. Aber dann las sie weiter und erfuhr, dass der Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte, seit Kurzem verwitwet war, zwei kleine Kinder hatte und dringend Hilfe im Haushalt benötigte. Ob er kalt berechnend war und, ganz Geschäftsmann, nach einer brauchbaren Frau suchte wie andere nach einem Zuchtbullen, oder ihn schlichtweg die Verzweiflung dazu trieb, konnte sie aus den wenigen Worten nicht herauslesen. »Kann ich auf deinem Schoß sitzen?« Katharina zuckte zusammen, als sich eine kleine Gestalt an sie schmiegte und klebrige Finger ihr Kleid beschmutzten. Es war der kleine Taddäus, der ihre Nähe suchte und der Katharina von allen am liebsten war, weil er ein sanftes, liebevolles Kind war, und für gewöhnlich mochte sie es, wenn er auf ihren Schoß geklettert kam und ihre Wangen küsste. Jetzt hatte sie jedoch keinen Kopf dafür. »Geh zu den anderen raus!«, befahl sie. »Du musst aber mitkommen!« »Nicht jetzt!« Sie bedauerte sofort die Schärfe, die in ihrer Stimme lag, war jedoch zugleich erleichtert, dass sie ihre Wirkung tat. Taddäus trollte sich tatsächlich nach draußen, und sie konnte sich wieder in die Annonce vertiefen. Der Witwer, so erfuhr sie nun, lebte nicht etwa hier in Valdivia oder am Llanquihue See, sondern auf der Isla de Pascua, wo er seit geraumer Zeit als Schafzüchter arbeitete. »Isla de Pascua ...«, murmelte Katharina. Vage erinnerte sie sich daran, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, man ihn mit »Osterinsel« übersetzte und dass die Insel weit entfernt vom Festland mitten im Ozean lag. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wie es dort aussah. Ob es große Berge, gar Vulkane wie hier gab? Oder ob das Land flach war wie die patagonische Steppe im Süden des Landes? Große Seen waren wohl auf einer kleinen Insel nicht zu erwarten. Wieder starrte sie auf die Annonce und stellte fest, dass sie vom Februar 1886 stammte, also schon über neun Monate alt war. Die Zeitung hingegen trug das heutige Datum, was bedeutete, dass seine Anzeige entweder irgendwo liegen geblieben war oder fast ein Jahr gebraucht hatte, um von der Insel aufs Festland zu gelangen. Ob er in der Zwischenzeit schon eine Frau gefunden hatte? Und wie hieß er überhaupt? Erst jetzt entdeckte sie den Namen, der ganz klein darunter stand: Barnabas Wilkinson. Das klang nicht spanisch - was angesichts des fehlerhaften Gebrauchs der Sprache nicht verwunderlich war -, aber auch nicht unbedingt deutsch. »Tante Katharina!« »Was ist denn jetzt schon wieder?« Sie blickte stirnrunzelnd hoch, aber der Ärger über die erneute Störung wich rasch dem Schrecken, als plötzlich Elisabeth zu ihr trat und besorgt fragte: »Ist Taddäus nicht hier?« »Ich dachte, er ist zu euch nach draußen gegangen!« »Nein, er wollte unbedingt zu dir!«
»Mein Gott, ich habe dir doch gesagt, du sollst ein Auge auf die Kinder haben.« Elisabeth war sichtlich den Tränen nahe, und Katharina packte prompt das schlechte Gewissen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, einem kleinen Mädchen so viel Verantwortung aufzulasten! »Wir finden ihn bestimmt!«, rief sie, legte die Zeitung zur Seite und erhob sich hastig. Elisabeth brach endgültig in Tränen aus. »Und wenn nicht? Taddäus hat vorhin gesagt, er wolle zum See gehen. Was, wenn er hineingefallen ist? Er ist doch noch so klein und kann nicht schwimmen!«
Die Oberfläche des Sees war aufgewühlt, aber das hatte nichts zu bedeuten, da die großteils schlechten Straßen weitgehend gemieden wurden und die meisten Menschen mit Booten und Schiffen nach Valdivia fuhren. Katharina stürzte auf eine Gruppe Männer zu: »Habt ihr einen kleinen Jungen gesehen?« Sie sahen sie an und lachten. »Jungs sind immer schlimmer als Mädchen, der kann überall sein.« »Hört zu lachen auf! Das ist nicht lustig!«, fuhr Katharina sie an. »Na, wenn du uns ein freundliches Lächeln geschenkt hättest, dann hätten wir dir bei der Suche geholfen.« »Ihr Idioten!«, entfuhr es Katharina. »Jetzt aber nicht frech werden, Fräulein! Schließlich ist es nicht unsere Schuld, dass du dein Kind verloren hast.« Sie konnte nicht umhin, ihnen recht zu geben. Lieber Himmel, warum war sie so unachtsam gewesen? Warum verhielt sie sich immer so mürrisch und versuchte nie, die Menschen für sich einzunehmen? Und schließlich: Warum war der kleine Taddäus nicht ihr Sohn, sondern sie dazu verdammt, als alte Jungfrau zu sterben? Das eigene Leben fühlte sich plötzlich wie eines enges, nasses Kleid an, das sie so schnell wie möglich loswerden wollte, ungeachtet, dass sie dann nackt sein und erst recht frieren würde. Hoffentlich fror Taddäus nicht! Und hoffentlich war er nicht in den See gefallen! Immer wieder rief sie seinen Namen, aber sie bekam keine Antwort. Und selbst wenn - in dem Trubel hätte sie seine schwache Stimme ja doch nicht vernommen. Die Straßen, die vom Hafen wegführten, waren voller Menschen und Fuhrwerke; dort hinten wurden gerade Fässer entladen, ein Haus gebaut und mit einem Handkran Getreidesäcke auf ein Boot verfrachtet. Und wenn Taddäus sich dort verkrochen hatte, womöglich gar unter Fässer oder Säcke geraten war? Nein! Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Eigentlich war er doch ein vernünftiger Junge! »Taddäus! Taddäus, wo bist du?« Irgendwo spielte eine Blaskapelle. In Valdivia wurde viel Musik gemacht, und wer kein Instrument beherrschte, der sang vorzugsweise deutsche Lieder. Für gewöhnlich liebte Katharina Musik, doch jetzt stand ihr nicht der Sinn danach, sondern sie eilte weiter zum Marktplatz, wo eben Hühner verkauft wurden. Das Gackern klang in ihren Ohren wie Hohngelächter. »Taddäus!«, schrie sie. Die Brust schmerzte vom schnellen Laufen, über ihre Wangen liefen Tränen, doch weiterhin war nichts von dem Knaben zu sehen. Sie fragte überall nach ihm, aber niemand konnte ihr weiter helfen, auch nicht der Gerber, zu dessen Werkstatt sie jetzt kam und wo es grässlich stank. So viele Bottiche standen hier ... Bottiche, in die kleine Kinder fallen könnten. »Taddäus!« »Was schreist du denn so?« Katharina fuhr herum und sah ihre Schwester auf sie zukommen. Frida bot einen grotesken Anblick, wurden die Nähte des neuen Kleides doch nur mit Stecknadeln zusammengehalten. Offenbar war Katharina an der Schneiderei vorbeigekommen, und Frida hatte sie rufen gehört. Katharina starrte sie hilflos an. Als Kind hatte sie niemandem so nahegestanden wie ihren beiden Schwestern: Ihre Mutter war von ihnen überfordert gewesen, der Vater hatte sie meist vernachlässigt, doch sie hatten sich immer aufeinander verlassen können. Mit dem Zusammenhalt war es allerdings vorbei gewesen, als sie älter wurden und immer häufiger stritten. Katharina konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass all ihre schlechten Eigenschaften in der Gesellschaft von Frida und Theresa noch deutlicher zutage traten - so wie sie selbst nicht gerade das Beste aus ihren Schwestern hervorholte. Dass Frida verheiratet war und Kinder hatte, nährte überdies ihre Bitterkeit und den Neid, auch wenn sie sich dieser Gefühle oft schämte - gerade jetzt. »Es tut mir so leid!«, stieß sie aus. »Taddäus ist verschwunden! Ich habe ihn nur kurz aus den Augen gelassen und ...« »Was?« Fridas Kinn, das in den letzten Wochen ziemlich schwammig geworden war, bebte. »Wie konntest du nur? Ich habe dir mein Kind anvertraut, und du bringst es nicht fertig, auf ihn zu achten?« Obwohl sich Katharina selbst die schlimmsten Vorwürfe machte, ärgerte sie Fridas selbstgerechte Empörung. Schließlich war sie Taddäus' Mutter und sollte sich selbst um ihn kümmern, anstatt sich ein neues Kleid machen zu lassen! Doch sie schluckte ihren Ärger hinunter, atmete tief durch und erklärte entschlossen: »Es ist doch sinnlos, zu streiten. Lass uns lieber gemeinsam nach ihm suchen!« Und das taten sie. Eine Viertelstunde verging, eine halbe. Nach einer Stunde fehlte immer noch jede Spur von dem kleinen Jungen. Während Frida entweder die Schwester wegen ihrer Unachtsamkeit beschimpfte oder lauthals weinte, waren Katharinas Tränen versiegt. Lieber Gott!, schwor sie sich. Wenn es Taddäus gut geht, werde ich nie wieder mit meinem Leben hadern. Ich werde nicht länger einfach nur warten, dass sich alles zum Guten wendet, sondern werde alles, was in meiner Macht steht, dafür tun. Doch Gott schien kein Erbarmen zu haben. Mittlerweile hatten sie sogar sämtliche Kirchen durchsucht, aber sie waren nirgendwo fündig geworden. Schließlich kamen sie wieder bei der Bäckerei vorbei, wo Katharina mit den Kindern Kuchen gegessen hatte. Vorhin war sie Elisabeth so schnell nach draußen gefolgt, dass sie den Kuchen nicht bezahlt hatte, und als der Bäcker ihr jetzt mit zornigem Gesicht entgegenkam, machte sich Katharina auf eine Schimpftirade gefasst. »Es tut mir leid, dass ich vorhin ...« »Da sind Sie ja endlich wieder!« »Ich musste doch ...« »Wie stellen Sie sich denn das vor?«, unterbrach er sie unwirsch. »Ich muss hier arbeiten, und beim Ofen ist's gefährlich! «
»Ich gebe Ihnen natürlich das Geld, aber ...« »Welches Geld?« Sie sah ihn verdutzt an. Er schnaubte. »Es kann doch nicht sein, dass ich an Ihrer Stelle Ihr Kind beaufsichtige! Ich habe Besseres zu tun.« »Welches Kind?«, entfuhr es ihr verwirrt. »Na, Ihren kleinen Neffen! Er kam plötzlich zu mir in die Backstube und hat mittlerweile solche Unmengen an Kuchen in sich hineingestopft, dass er sich bald übergeben wird. Na, das fehlte mir noch, dass er hier alles schmutzig macht! Nehmen Sie ihn endlich mit!« Katharinas Herz pochte schneller. Natürlich! Die Bäckerei! Als sie nach draußen gestürmt war, war sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich Taddäus hier versteckt haben könnte! Aufschluchzend stürzte sie hinein und sah ihren Neffen ganz vergnügt vor dem Backofen sitzen. »Ich habe Kuchen bekommen!«, erzählte er stolz. Sie zog ihn an sich, versenkte ihr Gesicht in seine weichen Locken und atmete tief seinen süßen Geruch ein. »Wie konntest du nur einfach verschwinden!«, schimpfte sie. »Das machst du nie wieder, hörst du?« »Du machst das auch nie wieder!«, traf sie Fridas ungehaltene Stimme. »Meine armen Kinder! Was der Kleine deinetwegen durchmachen musste! Wie konntest du nur!« Anstatt erleichtert den Sohn in die Arme zu schließen, hörte sie nicht auf, ihrer Schwester Vorwürfe zu machen. Eine Weile ließ Katharina sie über sich ergehen, weil ihre Erleichterung zu groß war, aber plötzlich glaubte sie, dass etwas in ihr zerplatzte, und was immer es war: Zurück blieb nicht der gewohnte Hader, sondern nur Entschlossenheit.
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Autoren-Porträt von Carla Federico
Carla Federico ist eine österreichische Autorin, die unter anderem Geschichte studiert hat und heute als freie Autorin in Frankfurt am Main lebt. Ihre grosse Leidenschaft fürs Reisen hat sie in zahlreiche Länder geführt - und auch auf diverse Kreuzfahrtschiffe. Für ihren Roman hat sie intensive Recherchen betrieben und viele Originalquellen und Reiseberichte von der ersten Kreuzfahrt studiert, um detailgenau das Bordleben und die Landausflüge zu beschreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carla Federico
- 2014, 1. Auflage, 656 Seiten, Masse: 12,5 x 17,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426508532
- ISBN-13: 9783426508534
- Erscheinungsdatum: 28.01.2014
Rezension zu „Der Traum von Rapa Nui “
"Packend!" Alles für die Frau 20140613
Pressezitat
"Packend!" Alles für die Frau 20140613
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