Der Tod des Fotografen
Ein Fotograf in Ystad wird erschlagen. Kommissar Wallander findet ein Album in den Unterlagen des Toten, worin Fotos verzerrter Gesichter von Politikern, Schauspielern und auch von Wallander selbst zu sehen sind. Der Fotograf hatte sich scheinbar die...
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Ein Fotograf in Ystad wird erschlagen. Kommissar Wallander findet ein Album in den Unterlagen des Toten, worin Fotos verzerrter Gesichter von Politikern, Schauspielern und auch von Wallander selbst zu sehen sind. Der Fotograf hatte sich scheinbar die Verunstaltung von Gesichtern bestimmter Persönlichkeiten zur Aufgabe gemacht. Was steckt dahinter?
Kurz nach acht Uhr abends betritt er sein Fotoatelier am Marktplatz, wenige Stunden später ist Simon Lamberg tot. Erschlagen, wie Kommissar Kurt Wallander bald feststellen muss. Dunkel erinnert er sich an den alteingesessenen Fotografen, hat er doch selbst - wie jeder hier in Ystad - schon einmal dessen Dienste in Anspruch genommen. Aber was für ein Mensch war Lamberg? Wer hatte ein Interesse an seinem Tod? Ein merkwürdiger Mord: Es finden sich keine Spuren von Gewaltanwendung an den Türen, und es scheint auch nichts gestohlen worden zu sein. Die Ermittlungen laufen im Kreis. Da stösst Wallander auf ein Fotoalbum mit makabrem Inhalt ...
Der Tod des Fotografen von Henning Mankell
LESEPROBE
Immer wenn es Frühjahr wurde, hatteer den gleichen Traum: dass er fliegen konnte. Der Traumlief stets auf dieselbe Weise ab. Er ging eine Treppe hinauf, die schwachbeleuchtet war. Plötzlich öffnete sich die Decke, und er merkte, dass die Treppe ihn in eine Baumkrone geführt hatte. Zuseinen Füssen breitete sich die Landschaft aus. Er hob die Arme - undliess sich fallen. Er herrschte über die Welt.
In diesem Augenblick erwachte er.Der Traum verliess ihn jedesmal an genau diesem Punkt.Er hatte den gleichen Traum seit vielen Jahren, hatte aber noch nie geträumt, dass er wirklich von der Spitze des Baumes fortgeschwebtwäre.
Der Traum kehrte zurück und narrteihn immer wieder.
Er dachte daran, als er durch dieStrassen von Ystad ging. In der Woche zuvor war eines Nachtsder Traum zu ihm gekommen. Wie immer war er gerade in dem Augenblick abgebrochen,als er davonfliegen wollte. Jetzt würde er lange Zeit nicht wiederkehren.
Es war ein Abend Mitte April 1988.Die Frühjahrswärme liess noch auf sich warten. Er bereute, keinen dickerenPullover angezogen zu haben. Noch immer laborierte er an einer hartnäckigenErkältung.
Es war kurz nach acht. Die Strassenwaren menschenleer. In einiger Entfernung hörte er einen Wagen mitquietschenden Reifen anfahren. Dann verebbte das Motorgeräusch. Er ging immerdenselben Weg. Vom Lavendelväg, wo er wohnte, folgteer der Tennisgata. Beim Magaretaparkhielt er sich links und ging durch die Skottegata bisins Zentrum. Dort bog er erneut links ab, kreuzte den Kristianstadsvägund war kurz darauf am Sankta Gertruds Torg, wo er sein Fotoatelier hatte. Wäre er ein junger Fotografund gerade im Begriff, sich in Ystad zu etablieren,wäre die Lage nicht die beste. Aber er hatte sein Atelier seit mehr als fünfundzwanzigJahren. Sein Kundenkreis war stabil. Sie wussten, wosie ihn finden konnten. Sie kamen zu ihm, wenn sie Hochzeitsfotos machenlassen wollten. Dann kamen sie mit dem ersten Kind wieder. Oder anlässlich verschiedener Festlichkeiten, an die sie sichspäter erinnern wollten. Inzwischen hatte er auch schon Hochzeitsfotos vonjungen Leuten gemacht, deren Eltern er bereits von ihrer Hochzeit her kannte.Als es zum ersten Mal geschah, war ihm klargeworden, dass er langsam alt wurde. Früher hatte er nicht sovieldarüber nachgedacht, aber plötzlich war er fünfzig gewesen. Und das war jetztauch schon sechs Jahre her.
Er blieb vor einem Schaufensterstehen und betrachtete sein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. DasLeben war, wie es war. Eigentlich konnte er nicht klagen. Wenn er noch zehn oderfünfzehn Jahre gesund bliebe, dann ...
Er schüttelte die Gedanken über denLauf des Lebens ab und ging weiter. Ein böiger Wind wehte, und er zog die Jackefester um sich. Er ging weder schnell noch langsam. Er hatte es nicht eilig. Anzwei Abenden in der Woche kam er hierher in sein Atelier. Das waren dieheiligen Stunden in seinem Leben. Zwei Abende, die er vollkommen ungestört mitseinen eigenen Bildern im Raum hinter dem Atelier verbringen konnte.
Er war am Ziel. Bevor er dieLadentür aufschloss, betrachtete er sein Schaufenstermit einer Mischung aus Missmut und Irritation. Er hätteschon längst neu dekorieren sollen. Selbst wenn er kaum neue Kunden anlockenwürde, müsste er an der Regel festhalten, die er sich vormehr als zwanzig Jahren selbst gegeben hatte. Einmal im Monat sollte er dieausgestellten Fotografien auswechseln. Jetzt waren fast zwei Monate vergangen.Früher, als er noch einen Verkäufer beschäftigt hatte, war mehr Zeit gewesen,sich dem Fenster zur Strasse zu widmen. Dem letzten Verkäufer hatte er vor fastvier Jahren gekündigt. Es war zu teuer geworden. Ausserdem konnte er dieanfallende Arbeit auch alleine bewältigen.
Er schlossauf und betrat den Laden. Das Atelier lag im Dunkeln. Er hatte eine Putzfrau,die dreimal in der Woche kam. Sie hatte einen eigenen Schlüssel und pflegteschon um fünf Uhr morgens sauberzumachen. Weil es während des Vormittagsgeregnet hatte, war der Fussboden schmutzig. Er mochte keinen Schmutz. Also machteer das Licht nicht an, sondern ging direkt in sein Atelier und weiter in denhintersten Raum, in dem er seine Bilder entwickelte. Er schlossdie Tür und machte das Licht an. Hängte seine Jacke auf. Stellte das Radio an, dasauf einem kleinen Wandregal stand. Er hatte immer einen Sender eingestellt, aufdem er klassische Musik hören konnte. Dann stellte er die Kaffeemaschine an undwusch eine Tasse ab. Ein Wohlgefühl begann sich in ihm auszubreiten. DasZimmer hinter dem Atelier war seine Kathedrale, sein heiliger Raum. Niemand durfteihn betreten ausser seiner Putzhilfe. Hier befand er sich im Mittelpunkt derWelt. Hier war er allein. Alleinherrscher.
Während er darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, dachte er an das, was ihnerwartete. Er bestimmte immer im voraus, mit welcher Arbeiter den Abend verbringen wollte. Er war ein methodischer Mensch, der nichts demZufall überliess.
An diesem Abend war der schwedischeMinisterpräsident an der Reihe. Es war seltsam, dasser ihm bisher noch keinen Abend gewidmet hatte. Aber heute hatte er sich aufihn vorbereitet. Seit mehr als einer Woche hatte er die Tageszeitungensorgfältig nach einem Bild durchsucht, das er benutzen konnte. In einer derAbendzeitungen hatte er es entdeckt und sofort gewusst,dass es das richtige war. Es erfüllte alle seineWünsche. Er hatte es vor ein paar Tagen abfotografiert. Jetzt lag es in einer Schreibtischschublade.Er goss sich Kaffee ein und summte die Musik mit.Gerade wurde eine Klaviersonate von Beethoven gespielt. Er hörte lieber Bachals Beethoven. Am liebsten Mozart. Doch er konnte nicht leugnen, dass die Klaviersonate schön war.
Er setzte sich an den Schreibtisch,richtete die Lampe aus und schloss die linke obere Schubladeauf. Dort lag das Foto des Ministerpräsidenten. Er hatte das Bild vergrössert,wie immer. Ein bisschen grösser als ein A4-Bogen. Erlegte es vor sich auf den Tisch, trank einen Schluck Kaffee und betrachtete dasGesicht. Wo sollte er anfangen? Wo sollte er mit dem Schrumpfen beginnen? DerMann auf dem Bild lächelte und schaute nach links. In seinem Blick lag eineSpur von Beunruhigung oder Unsicherheit. Er beschloss,sich als erstes die Augen vorzunehmen. Sie würden schielen und kleiner werden.Wenn er den Vergrösserungsapparat schräg stellte, würde das Gesicht ausserdem in dieLänge gezogen. Er konnte auch versuchen, das Papier mit einer Wölbung in denVergrösserungsapparat zu bringen, und sehen, welcher Effekt sich dabei ergab.Dann würde er schneiden und kleben und auf diese Weise den Mund verschwindenlassen. Oder ihn vielleicht zunähen. Politiker redeten immer zuviel.
Er trank seinen Kaffee aus. Die Uhran der Wand zeigte Viertel vor neun. Ein paar lärmende Jugendliche gingendraussen auf der Strasse vorbei und störten für einen Augenblick die Musik.
Er stellte die Kaffeetasse ab. Dannbegann er mit der mühsamen, aber befriedigenden Arbeit des Retuschierens.Langsam veränderte sich das Gesicht.
Er brauchte mehr als zwei Stunden.
Dass es das Gesicht desMinisterpräsidenten war, konnte man noch erkennen. Doch was war mit ihmgeschehen? Er stand auf und hängte das Bild an die Wand. Richtete eine Lampe darauf.Im Radio lief Strawinskys >Sacre du printemps<. Die dramatische Musik passtegut,
fand er, als er sein Werk inAugenschein nahm. Das Gesicht war nicht mehr dasselbe.
Jetzt blieb noch das Wichtigste. Derbefriedigendste Teil seiner Arbeit. Nun würde er dasBild schrumpfen lassen. Es klein und unbedeutend machen.
Er legte es auf die Glasplatte undrichtete das Licht aus. Machte das Bild kleiner und kleiner. Die Details wurdenzusammengezogen, blieben aber scharf. Erst als das Gesicht undeutlich zuwerden begann, hörte er auf.
Er war endlich am Ziel.
Es war fast zwölf Uhr, als dasfertige Bild vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Das verzerrte Gesicht desMinisterpräsidenten war jetzt nicht grösser als ein Passfoto.Wieder einmal hatte er einen dieser machtbesessenen Menschen auf Proportionenzurechtgestutzt, die angemessener waren. Aus grossen Männern machte er kleine.In seiner Welt war niemand grösser als er selbst. Er veränderte ihre Gesichter.Machte sie klein und lächerlich. Durch ihn wurden sie zu bedeutungslosenInsekten.
Er nahm das Album hervor, das er im Schreibtischaufbewahrte. Blätterte darin bis zur ersten leeren Seite. Dort klebte er dasvon ihm manipulierte Bild ein. Mit einem Füller schrieb er das Datum darunter.
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© Deutscher Taschenbuch Verlag
Übersetzung: Wolfgang Butt
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der grossen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.
- Autor: Henning Mankell
- 2006, 4. Aufl., 144 Seiten, Masse: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423252545
- ISBN-13: 9783423252546
- Erscheinungsdatum: 19.06.2006
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