Der Teufel von Mailand
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Der Teufel von Mailand von Martin Suter
LESEPROBE
1
Es rochnicht mehr schieferblau, und auch die Stimmen konnte sie nicht mehr sehen.
Das Zimmerlag im Halbdunkel. Durch die Jalousien drang gerade soviel Tag, wie Soniabrauchte, um ihren Weg durch die Möbel und Kleidungsstücke zur Tür zu finden.
Sie öffnetesie und stand in einer Diele. Durch die verzierten Milchglasscheiben derWohnungstür drang das Licht vom Treppenhaus - und ging aus.
Sie tastetesich an der Wand entlang zu der ersten der drei Türen, die sie imTreppenhauslicht hatte erkennen können. Eine davon musstedie Toilette sein.
DieTürklinke fühlte sich kühl an. Nichts weiter. Nicht zartbitter oder süsssauer,einfach kühl.
Sie betratein verdunkeltes Zimmer und hörte tiefe, regelmässige Atemzüge. Hörte. Nichthörte und sah. Immerhin.
Leise schloss sie die Tür, tastete sich zur nächsten und stand ineiner hell erleuchteten Küche.
AmKüchentisch sassen zwei Männer. Sie tranken schweigend Kaffee und rauchten.Überall standen halbleere Gläser und Teller mit Essensresten herum. ImSpülbecken türmte sich das Geschirr.
Die Männerschauten zur Tür, und an der Art, wie sie sie anstarrten, merkte sie, dass sie nackt war.
»DieToilette?« fragte sie. Wo sie nun schon einmal hier war.
»NächsteTür«, sagte der eine. Der andere starrte nur.
Soniagönnte ihnen auch einen Blick auf ihre Rückseite und verliess den Raum.
In derToilette stank es nach Erbrochenem, das jemand von der Brille zu wischenversucht hatte. Papier war keines mehr da.
Sie schautein den Spiegel, um herauszufinden, ob sie so schrecklich aussah, wie sie sichfühlte.
Nein,ganz so schlimm war es nicht. Aber etwas beunruhigte sie: Das Gesicht, das ihrentgegenblickte, weckte keinerlei Gefühle in ihr. Weder Sympathie nochVertrautheit, noch Nachsicht, noch Mitleid. Sie hatte nichts zu tun mit der Frauin diesem Spiegel.
Sie prüfteden Zustand des Handtuchs und sah davon ab, es sich um die Hüften zu schlingen.Sie verliess die Toilette so, wie sie sie betreten hatte.
Das Lichtim Treppenhaus war wieder angegangen und leuchtete ihr den Weg zum Zimmer.
Dort fandsie einen Schalter und betätigte ihn. In den vier Ecken zuckten vertikaleLeuchtstoffröhren auf. Die rote, die gelbe und die blaue brannten nach ein paarSekunden. Die grüne fuhr fort zu flackern.
Ausser denvier Röhren besass das Zimmer keinen Wandschmuck. Auf dem Parkettboden herrschteeine Unordnung, die älter sein musste als eine Nacht.()
Dass Soniasich nicht erinnern konnte, war gelogen. Ihr fiel es schwerer, etwas zuvergessen, als etwas zu behalten. Ihr Gedächtnis war ein gewaltiges Archiv vonBildern, die sie nach Bedarf abrufen konnte. Auch Wörter hatte sie als Bilder archiviert,Konjugationstabellen, Gedichte, Namen.
Und auchZahlen. Die Einer-, Zweier-, Dreier-, Vierer-, Fünfer- und Sechserreihen warenin roter, blauer, gelber, grüner, violetter und orangefarbener Kreide aufschwarzem Schiefer gespeichert, in der verschnörkelten Schulschrift vonFräulein Fehr, ihrer Lehrerin. Alles die falschenFarben, ausser dem Gelb für die Drei. Als sie Fräulein Fehrdarauf aufmerksam machte, wies diese sie zurecht. Es gebe keine richtigen undfalschen Farben für Zahlen, hatte sie behauptet. Damals hatte Sonia begonnen,diese Dinge für sich zu behalten.
DieSiebenerreihe trug die rundere Handschrift der viel jüngeren, viel netterenFräulein Keller, deren Namen sie ebenfalls als Bild abgelegt hatte: »Ich binUrsula Keller« in rosa Kreide auf schwarzer Wandtafel. So hatte sie sich der Klassevorgestellt, als sie Fräulein Fehr vertreten musste. Erst für ein paar Wochen, dann für ein paar Monateund, nachdem die ganze Klasse und die ganze Schule eine Blume mitbringen musste für das arme Fräulein Fehr,für immer. Alle Zahlenreihen ab sieben trugen die Handschri∫von Fräulein Keller. Bis zum heutigen Tag konnte Sonia sie bei Bedarf einfachablesen.
Damals,als sie das in der Schule tat, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Abschreibenwar verboten, und was sie tat, war ja nichts anderes. Ihre Rechenaufgaben, ihreWörter, ihre Verse schrieb oder las sie einfach ab von den Bildern, die sie imKopf hatte. Sie konnte sich nicht richtig freuen über ihre guten Noten undlegte Fräulein Keller eines Tages ein Geständnis ab. Erst als diese ihrversicherte, aus dem Kopf abschreiben sei nicht verboten, verflogen dieGewissensbisse.
Diese Gabehatte ihr während der ganzen Schul- und Ausbildungszeit mehr geschadet alsgeholfen. Sie konnte zwar die kompliziertestenAlgebraformeln aufstellen, wenn sie sie vorher schon einmal gesehen hatte, abernachvoll- ziehen konnte sie sie nie. Das gleiche galt für chemische undphysikalische Formeln, Flüsse, Städte, Jahreszahlen, Vokabeln und Gedichte.Deswegen galt sie immer als eine phänomenale Begabung ohne jeglichen Ehrgeiz.Sie bestand ihre Matur mit der Minimalnote, die ihrdie Lehrer als Denkzettel für soviel Talentverschwendung gaben.
Die Bilderder letzten Nacht hatte sie natürlich auch gespeichert.
Dieregennasse Strasse, in deren Pfützen sich, neonblau und halogenweiss, Fragmentedes Schriftzugs des Meccomaxx spiegelten.
DieGestalten auf der Tanzfläche, die sich anstatt im gemächlichen Rhythmus desTrance Sounds im Zeitraffer des Stroboskops bewegten.
Die Bar mitden in blutrotes Licht getauchten Gesichtern, unter denen sich auch die derbeiden Männer aus der Küche befanden.
Die zwei imblauen Fixerlicht der Damentoilette fast unsichtbaren Tabletten auf ihrerHandfläche.
Und dannplötzlich die Musik als Zeitlupenaufnahme einer Lawine aus silbernen undschlachtschiffgrauen Würfeln, die auf sie zurollten und -hüpften und-taumelten. Und die Stimme des einen Mannes aus der Küche - er hatte einen sandgelbenNamen -, die als Muster aus gewellten schwarzen und weissen Bändern perspektivischin der oberen rechten Ecke der Projektionsfläche verschwand. Muster, die jedesmal, wenn er etwas sagte, vor ihren Augen entstanden.
Und später -wieviel später? - die weisse Tapete, die sich in ihre Pixels auflöste, welche sich zu dunklen Fleckenverdichteten oder als Wogen über die Wand zogen wie die Ähren, wenn derSommerwind über ein Kornfeld weht.
Wie langehatte sie dem Treiben der Pixels zugeschaut? Minuten?Stunden? Nach wieviel Zeit war der Mann mit demsandgelben Namen - Pablo? Ja, Pablo -, nach wieviel Zeitwar Pablo aufgetaucht und hatte die Pixels vertrieben?
Auch vonihm gab es Bilder. Das Yin-Yang-Tattoo auf derrechten Hinterbacke. Das krause Fell über dem Kreuzbein, das sich dunstblauanfühlte. Und wieder die Stimme, jetzt farbig, aber immer noch graphisch, einspäter Vasarely.
© Diogenes Verlag
- Autor: Martin Suter
- 2007, 18. Aufl., 304 Seiten, Masse: 11,2 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257236530
- ISBN-13: 9783257236538
- Erscheinungsdatum: 23.10.2007
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