Der Sommer des Kometen / Rosina Bd.2
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Der Sommer des Kometen von Petra Oelker
LESEPROBE
Sie blickte auf ihre Hände undwunderte sich, dass sie aussahen wie immer. So wie vorvier Wochen, wie vor drei Monaten, wie vor einem Jahr. Dann mussteauch ihr Gesicht aussehen wie immer. Wie im letzten September. Das wusste sie nicht, denn in der kleinen Reisekiste, die manihr eilig gepackt hatte, war kein Spiegel. Sie war sicher, dasser nicht einfach vergessen worden war. Niemand sollte sie sehen, nicht einmalsie selbst. Sie hätte sich gerne noch einmal gesehen. Aber vielleicht war auchdas nur eitel. Sie hatte gesündigt, unverzeihlich und unaufhebbar. Sie warverlassen worden, und man hatte sie fortgeschickt. Es machte jetzt keinen Sinnmehr, zurückzuschauen.
Sie hob den kopf und sah über dasMeer in den Himmel, und zum erstenmal, seit sie aufdiesem Schiff erwacht war, hatte sie keine Angst.
Heute würde sie allem entkommen.Allein, was sie sich und den anderen angetan hatte. Sie würde Ruhe finden. Undvielleicht konnte Gott ihr verzeihen. Gott war gut und voll der Gnade, sohatte sie es gelernt. Sie war sich nicht mehr sicher, oh die Menschen ihn darintatsächlich nacheiferten. Aber auch das war wohl nur ein eitler Gedanke.
Die Segel des Dreimasters blähtensich stolz, der Wind trieb das Schiff ruhig, aber eilig über das Meer. Als siezum erstenmal an Deck gekommen war, mitten in derNacht vor drei, nein, vor vier Nächten, war ihr als erstes die Stilleaufgefallen. Zu Hause, wenn der Wind von der Elbe kam und um das alte Haus mitden hohen Giebeln jagte, heulte er doch immer so laut. Er zerrte an den Ästender grossen Buche vor ihrem Fenster, und es klang, als brächte er ganze Scharenvon Geistern und Kobolden mit, vom Meer im Norden, von den weiten Heideflächenim Süden oder aus der Tiefe des breiten Flusses. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt,warum es auf einem Segelschiff, selbst wenn es vom Wind gejagt wird, so stillist. Weil ein Schiff, so hatte er gesagt, niemals schneller ist als der Wind,der es über das \leer treibt. Das Rauscheu höre nur, wer schneller sei, wieein Reiter im Galopp, oder wer sieh gegen den Wind bewege. Der Lärm in denOhren, harte er noch hinzugefügt, sei eine Warnung, denn wer sich gegen den Windstelle, wer ihn gar überholen wolle, laufe immer Gefahr, zu fallen. Der geradeherrschende Wind sei stets stärker, wer auf See lebe, zweifele niemals daran.
Dieses Schiff, sie wusste nicht einmal seinen Namen, flog sicher mit dem Windüber das Meer nach Süden. Da war nichts als ein Rauschen, ein Singen in derLeinwand, nur das Tauwerk und die Taljen, ein anscheinend unentwirrbares,tatsächlich aber wunderbar geordnetes Gefüge, schlugen an die Wanten, an dieReling und an die Masten, die wie dicke spitze Finger in den Himmel wiesen.
Die Reling war niedrig. Es würdeganz einfach sein. Sie war dankbar, dass die See soruhig war, denn auch wenn sie ans Wasser aufgewachsen war, hatte sie es immergefürchtet. Wegen seiner unberechenbaren Kraft und wegen der Geschichten, welchedie Leute erzählten, diese Geschichten von fremdartigen wilden Wesen, die aufdem Meeresgrund lebten. Als Kind hatte sie immer wieder davon gehört, mitwohligem Grausen, denn das feste Land unter den Füssen verlieh Mut. Aber nunmachte sie die Erinnerung an die unheimlichen Mächte der Tiefe schaudern.
Sie sah zu den Sternen auf undbedauerte, dass sie so wenig über sie wusste. Seit Urzeiten halfen sie, den Weg über die Meere zufinden. Und ganz ohne Zweifel waren sie auch schön. Aber ihr kaltes Flimmernwar von grausamer Schönheit. Waren sie nicht noch beängstigender als das Meer?Das schien nur unendlich, aber es gab doch immer irgendwo eine Küste, dieHoffnung auf Heimkehr. Die Welt der Sterne hingegen war unendlich - wie leichtregten sich angesichts dieser Unendlichkeit Zweifel daran, dasses einen Gott gab. Und das Vertrauen in Gottes Existenz brauchte sie heute mehrdenn je.
Sie erhob sich von der Kiste, aufder sie gesessen und in den Himmel gestarrt hatte, und trat an die Reling. DasWasser glitzerte schwarz.
«Ich bin sehr froh, dass es Euch bessergeht.» So sanftdie Worte waren, so fest war der Griff der Hand, die sieh um ihren Ellbogen schloss. «Verzeiht, wenn ich in Eure Gedanken einbreche.Aber ich bin so kurz vor Morgengrauen oft schlaflos, und ... Nun, ich dachte,vielleicht geht es Euch ebenso ... ?»
Sie musstesich nicht umsehen, sie hatte die Stimme des Kapitäns sofort erkannt. Sieklang rauher als sonst, aber das lag gewiss an der frühen Stunde, und er liess ihr keine Zeitdarüber nachzudenken.
«Ihr betrachtet die Sterne», fuhr ertont, ohne ihren Arm loszulassen, und sie dachte, dassseine Handwärmer sein müsste. Aber sie war kalt, wieauch ihre eigenen Hände, und plötzlich spürte sie, dasssie fror. Obwohl es doch immer unangenehm war zu frieren, machte diesesFrösteln, das seine Berührung hervorrief, ihr Herz seltsam leicht.
«Ja», sagte sie, «die Sterne. Ichweiss fast nichts über sie.»
Er liess ihren Arne immer noch nichtlos, aber der Griff seiner Hand wurde sanfter.
«Kommt mit mir zum Bug, ich werdeEuch den Sirius zeigen. Er ist der hellste von allen, und der Tröster auf See. Wusstet Ihr, dass auf See jedereinen Tröster braucht? Selbst wenn die Nächte so warm sind wie diese?»
Ohne ihre Antwort abzuwarten, führteer sie über das Deck. Sein Schritt war sicher, das Wiegen des Schiffes, das sieimmer wieder schwanken liess, schien er nicht wahrzunehmen. Wie lange mochte erschon auf Schiffsplanken zu Hause sein? Zehn Jahre? Zwanzig? Sie sah ihn an,prüfend, als sähe sie ihn zum erstenmal. Er war nurein wenig grösser als sie, und sein Gesicht mit den schmalen Lippen, den tiefliegenden Augen unter kräftigen dunklen Brauen, dervom Leben auf denn Meer gegerbten Haut, war dem ihren nah. Ein Gesicht, dasnichts verriet.
Einen Moment lang dachte sie an dieWesen in den kalten Untiefen, von denen die Leute erzählten, dass einige zuweilen für einen Sommer auftauchten und inMenschengestalt über die Meere jagten. Aber sie liess sich willig führen.
Obwohl er ihren Blick gespürt haben musste, hatte der Kapitän ihn nicht erwidert. Er sah nachSüden, dorthin, wo sich das Vorsegel vordemNachthimmel buhte.
Entschlossen straffte sie denRücken, knüpfte die losen Bänder ihrer weissen Haube und folgte seinem Blick.Sie atmete tief, fühlte die feuchte Salzluft auf ihrem Gesicht und fandplötzlich gleichgültig, was gestern gewesen war und was morgen sein würde. Jetztstand sie auf diesen wiegenden Planken, gehalten von einer kalten Hand, untereinen Himmel, der aussah wie ein unendliches, von Juwelensplittern besetztesSamttuch, erdrückend und verheissungsvoll zugleich.
Morgen blieb genug Zeit. Oderübermorgen. Es waren noch vier Nächte bis Lissabon.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Petra Oelker
- 1998, 16. Aufl., 384 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499222566
- ISBN-13: 9783499222566
- Erscheinungsdatum: 02.02.2021
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