Der Menschenräuber
Roman
Jonathan ist am Ende: Tochter tot, Ehe kaputt, Job weg. Doch dann trifft er in einem toskanischen Bergdorf die junge Sophia, die seiner toten Tochter so verblüffend ähnelt, und beginnt mit ihr ein neues Leben. Aber die Vergangenheit holt ihn ein - und er wird zum Mörder.
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Produktinformationen zu „Der Menschenräuber “
Jonathan ist am Ende: Tochter tot, Ehe kaputt, Job weg. Doch dann trifft er in einem toskanischen Bergdorf die junge Sophia, die seiner toten Tochter so verblüffend ähnelt, und beginnt mit ihr ein neues Leben. Aber die Vergangenheit holt ihn ein - und er wird zum Mörder.
Klappentext zu „Der Menschenräuber “
Wehe, wenn wir uns wiedersehenZuerst verliert er durch einen schrecklichen Unfall seine Tochter. Dann seinen Job und schliesslich seine Frau. Als der erfolgreiche Medienmanager Jonathan in einem einsamen Bergdorf in der Toskana ankommt, scheint er am Ende zu sein. Doch dann trifft er die junge Sophia und beginnt mit ihr ein neues Leben, bis ihn die Vergangenheit einholt. Aus Rache wird er zum Mörder, aber das ist erst der Anfang ...
Lese-Probe zu „Der Menschenräuber “
Der Menschenräuber von Sabine ThieslerPROLOG
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Schwere Wolken hingen über der Heide, der Wetterbericht hatte Schneeregen und Graupelschauer angesagt.
Er stand am Fenster, blickte auf den trostlosen, grau gepflasterten Hotelparkplatz mit fünf armseligen Parkbuchten, von denen nur zwei besetzt waren, und wusste, dass er nur diese eine Chance hatte.
Heute war der Tag, auf den er Monate gewartet hatte, heute musste es passieren.
Nachdem er vor zehn Minuten das Telefonat beendet hatte, triumphierte er innerlich. Sie war einfach zu gutgläubig und hatte ihm die Adresse verraten. Die erste Hürde war genommen, und es war unproblematischer gewesen, als er gedacht hatte.
Er ging ins Bad, betrachtete ein paar Sekunden sein Gesicht im Spiegel eines altmodischen Allibert und begann sich sorgfältig zurechtzumachen.
Es war jetzt zwanzig vor elf. Zeit der Visite und daher viel zu gefährlich. Er wollte noch zwei Stunden warten, denn es erschien ihm günstiger, wenn auf den Stationen das Mittagessen gerade vorbei war und das Geschirr abgeräumt wurde.
In den letzten zwei Wochen hatte er sich einen Bart wachsen lassen, den er jetzt sorgfältig schnitt, so dass er gepflegt wirkte. Der schlohweiße Bart störte ihn maßlos, er kam sich verwahrlost und unsauber vor, geradezu verwildert. Aber es handelte sich ja nur noch um wenige Stunden. Wenn alles erledigt war, würde er ihn abrasieren.
Die Perücke hatte er schon vor Wochen in Florenz gekauft. Sie war aus Echthaar, handgeknüpft, und hatte über fünfhundert Euro gekostet. Das war es ihm wert. Graue, drei bis vier Zentimeter lange Haare, die sehr natürlich wirkten und gut zu seinem schmalen Gesicht passten. Er streifte sie über seine eigenen millimeterkurzen Haare, und damit die Perücke nicht verrutschte, fixierte er sie an den Schläfen und oberhalb der Stirn am Haaransatz mit Mastix. Ein Spezialklebstoff, der im Theater in der Maske verwendet wurde. Hinterher würde er die Perücke so bald wie möglich verbrennen.
Zum Schluss setzte er eine Brille mit Fensterglas und zartgoldenem Rand auf, die ihm einen intellektuellen, distinguierten Touch gab. Kein Problem, sie danach auf der Autobahn aus dem Fenster zu werfen.
Er wirkte wie ein Professor Anfang sechzig, dem man ohne weiteres Respekt zollte und Vertrauen schenkte. Perfekt. Er war zufrieden.
Das Zimmer hatte er bereits am Abend zuvor bezahlt. Er packte seine Sachen und verließ zwanzig Minuten später das Hotel vollkommen unbemerkt. Die Rezeption war in diesem kleinen Hotel nur selten besetzt.
Ideal für ihn, der ungesehen verschwinden wollte.
Es war jetzt kurz nach elf. Zu früh. In Gedanken ging er noch einmal die Liste durch, ob irgendetwas fehlte. Aber ihm fiel nichts ein. Er hatte an alles gedacht.
Also blieb ihm nur noch ein Waldspaziergang, um zwei weitere Stunden totzuschlagen. Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt er vor der Klinik und parkte am Nebeneingang auf einem für Ärzte reservierten Parkplatz. Weiße Hosen, weißes Hemd und weißen Kittel hatte er bereits im Auto angezogen, Stethoskop und obligatorischer Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.
So betrat er das Krankenhaus. Dem Pförtner nickte er kurz zu, und dieser grüßte automatisch zurück.
Als er nur fünfzehn Minuten später die Klinik durch einen Notausgang verließ, trug er ein Neugeborenes hinaus in die Kälte und die wenigen Meter bis zu seinem Auto, legte es in die Tragetasche auf dem Beifahrersitz und fuhr davon.
Die Mutter und die Mitarbeiter der Säuglingsstation würden frühestens in einer halben Stunde merken, dass das kleine Mädchen nicht mehr da war.
Er war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Hatte keinerlei Schuldbewusstsein. Denn er hatte das Kind nicht entführt, sondern zu sich geholt. Und das war - verdammt nochmal - sein gutes Recht.
GISELLE
EINS
Toskana, 3. November 2001
Er hatte kein Ziel, keinen Plan, kein Dach überm Kopf und noch zweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent in der Tasche. In seinem Koffer befanden sich zehn Unterhosen, ebenso viele Sockenpaare, vier T-Shirts, drei Pullover und zwei Jeans. Außerdem zwei Handtücher, sein Filofax und ein Kulturbeutel mit einer Haarbürste, einer Zahnbürste, einer fast leeren Tube Zahnpasta, einer Niveadose, einem Nageletui und einem Briefchen Aspirin. Auch ein Deostift und Creme gegen Herpes-Lippenbläschen. Gut eingebettet zwischen den Handtüchern und Pullovern, lagen sein Laptop, seine Kamera und eine Bilderrolle aus stabiler Pappe. In seiner Jackeninnentasche trug er seine Brieftasche mit der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis, Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig. Auch wenn sie triumphierte - er hätte es in ihrer Nähe keine fünf Minuten länger ausgehalten.
Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen Tegel gestanden hatte, wusste er noch. Paris, Brüssel, Kopenhagen, Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde hatte er auf die rauf- und runterklappernden Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm nichts. Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war er in seinem Leben genug.
Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück in die Stadt.
Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit einem Menschen gesprochen zu haben.
Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte er den Fuß des Beckens wie ein Schiffbrüchiger den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes, und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber, dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf dem Fliesenboden stand.
Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß. Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer flüchtete.
So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht mehr aufgesprungen.
»Hey«, schrie er, »bleib steh 'n, du Arsch, oder ich schlag dir alle Zähne aus!«
Der andere hatte nicht viel Kraft, und der Koffer war schwer. Jonathan holte den Mann schnell ein und riss ihn zu Boden. Im Fallen schleuderte der Alte den Koffer so weit er konnte von sich, und Jonathan sah, dass er die Böschung hinunterrutschte.
Der Alte interessierte ihn nicht mehr. Er hechtete seinem Koffer hinterher und erreichte ihn gerade noch im allerletzten Moment, als er bereits im Wasser schwamm, aber von der Strömung noch nicht abgetrieben war. Er zog ihn heraus, drückte ihn fest an sich und hörte sich schluchzen vor Erleichterung. Sein Leben ging weiter, wenn man das, was ihm geblieben war, noch als Leben bezeichnen konnte.
Jonathan wollte gar nicht wissen, wie er in die Charité gekommen war. Ob er einfach nur eine Toilette gesucht hatte und eingeschlafen war oder ob man ihn mit der Ambulanz gebracht hatte und er den Schwestern und Ärzten entkommen war. Es war müßig und unerfreulich, darüber nachzudenken, wie er die vergangenen zweiundsiebzig Stunden verbracht hatte, wichtig war, dass seine Sachen noch da waren, er keine Kopfschmerzen hatte und einigermaßen aufrecht gehen und stehen konnte.
Er wusch sein Gesicht und seine Haare mit kaltem Wasser, spülte sich den Mund aus, trank gierig, trocknete sich mit mehreren Papierhandtüchern ab und verließ die Toilette. Pfeile zeigten in Richtung Ausgang, demnach befand er sich im Parterre. Ein großes rot-weißes Schild wies nach rechts zur Notaufnahme. Also war er wahrscheinlich doch eingeliefert worden und dann auf eigenen Wunsch gegangen. Aber selbst das wusste er nicht mehr.
Mit dem Koffer in der Hand trat er auf die Straße. Es war dunkel, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte. Ihm war übel vor Hunger, und als er auf die Uhr sehen wollte, war sein Handgelenk leer. Aha. Die Uhr hatten sie ihm also geklaut. Irgendwo beim Schlafen unter einer Brücke oder in einer finsteren Kneipe. Vielleicht hatte er sie auch beim Pokern verloren. Alles war möglich.
Langsam ging er durch die nächtliche Stadt, wusste inzwischen wieder genau, wo er war, und brauchte zwanzig Minuten bis zu seinem Stammitaliener.
Giovanni stand hinterm Tresen, als Jonathan das Restaurant betrat, und winkte ihm kurz zu.
»Was ist los, Dottore?«, fragte er. »Du siehst verdammt schlecht aus!«
»Kriege ich noch was zu essen?«
»O dio, es ist kurz nach Mitternacht! Die Küche ist schon geschlossen, tut mir leid. Pietro räumt gerade auf.«
»Vielleicht hast du doch noch eine winzige Kleinigkeit für mich? Bitte, Giovanni! Mach mir einfach ein paar Nudeln warm, das reicht schon. Und ein Glas Wein.«
Giovanni kannte Jonathan seit einigen Jahren, er kam bestimmt zweimal in der Woche zum Essen, aber in diesem Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. Jonathans Gesichtsfarbe war grau, er wirkte hohlwangig, die Augen waren rot und entzündet, wie bei einem Menschen, dem man unter Folter den Schlaf entzieht. Wahrscheinlich hatte er wirklich schon lange nichts mehr gegessen und getrunken, denn seine Lippen war trocken und eingerissen.
»Ich werde Pietro mal fragen«, sagte Giovanni daher milde und verschwand in der Küche.
Jonathan setzte sich. Er hatte den Eindruck, seine Hände festhalten zu müssen, damit sie nicht vom Tisch rutschten, so schlapp fühlte er sich. Er spürte eine Traurigkeit, die ihm jede Kraft nahm, und er hatte keine Idee, was er in dieser Nacht, was er überhaupt in seinem Leben noch machen sollte.
»Pasta kommt gleich«, sagte Giovanni, als er aus der Küche kam, und stellte einen halben Liter Rotwein vor Jonathan auf den Tisch.
»Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre.«
»Nein, aber ich fühl mich nicht gut. Ich glaube, ich muss mal raus. Verreisen. Irgendwohin. Aber ich habe noch keine Idee.«
»Fahr nach Italien. Italien ist immer gut für die Seele. Auch im Winter.«
Ja, dachte er. Italien. Warum auch nicht. Vor sechs Jahren war er das letzte Mal dort gewesen. Mit Jana hatte er einen fünftägigen Kurztrip nach Venedig gemacht, und die Eindrücke waren bis heute nicht verblasst. Großbürgerliche Häuser mit heruntergekommenen Fassaden, Türen und Fensterläden geschlossen. Aber wenn sich ein Fenster öffnete, offenbarte sich dahinter die Pracht eines Palazzo mit edlen Deckenintarsien, kostbaren Wandteppichen, prunkvoll vergoldeten Spiegeln und Lüstern aus Muranoglas. Venedig bestand aus unzähligen Palästen, die sich hinter schäbigen Fassaden versteckten. Das hatte Jonathan beeindruckt.
Italien. Er spürte, wie in ihm eine Sehnsucht aufkeimte, in dieses Land zu fahren. Vielleicht war es die Lösung.
»Wann willst du denn fahren?«, fragte Giovanni.
»Am liebsten sofort. Ich weiß es nicht, ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Und ohne dich wäre ich auch nicht auf diese Idee gekommen.«
»Mein Sohn fährt noch heute Nacht nach Bologna. Er will ein paar Tage seine Mutter besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm gefällt, ein bisschen Gesellschaft zu haben.«
Jonathan wusste, dass Giovanni vor zehn Jahren geschieden worden war. Während er in Berlin geblieben war und das Restaurant weiterführte, war seine Frau zurück nach Bologna gegangen.
Jonathan trank den Wein in großen Schlucken. »Okay«, sagte er, »ich fahre mit.«
Sechzehn Stunden später hatte ihn Giovannis Sohn Angelo in Bologna am Hauptbahnhof abgesetzt, und Jonathan war um vierzehn Uhr vierundzwanzig in irgendeinen Zug gestiegen, der mit zwölf Minuten Verspätung um fünfzehn Uhr vierunddreißig im Hauptbahnhof von Florenz, Santa Maria Novella, ankam.
Er kaufte sich bei einem Straßenhändler eine billige Digitaluhr für fünf Euro, einen dünnen, lauwarmen Milchkaffee in einem Styroporbecher und ein Brötchen mit Tomate und bereits angetrocknetem Mozzarella. Dazu eine deutsche Zeitung.
Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Auf dem Bahnhof war es voll, Jonathan stand in der Mitte der Halle, aß heißhungrig sein Brötchen, während die Menschen um ihn herumrannten, Gepäck und kleine Kinder hinter sich herzogen, durcheinanderschrien oder das Rauchverbot ignorierend in Gruppen rauchten und sich unterhielten.
Was mache ich hier?, dachte Jonathan und sah auf die Uhr. Es war jetzt fünfzehn Uhr fünfzig. Direkt vor ihm auf Gleis sieben fuhr um fünfzehn Uhr einundfünfzig ein Zug nach Rom. Jonathan stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund, stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter und warf den Becher im Rennen in den Papierkorb. Als er auf den Bahnsteig kam, hob der Bahnbeamte bereits die rote Kelle. Jonathan schaffte es gerade noch, seinen Koffer in den Zug zu werfen und hinterherzuklettern. Unmittelbar hinter ihm schlossen sich die automatischen Türen.
Der Zug rollte durch das Bahnhofsviertel von Florenz, und Jonathan ging auf der Suche nach einem Platz langsam weiter nach vorn. Im dritten Wagen fand er eine freie Bank, setzte sich ans Fenster und stellte seinen Koffer neben sich.
Es roch nach Diesel und alter Pisse. Ihm gegenüber saß ein junger Italiener mit ungewöhnlich dicken Oberschenkeln, breitbeinig und mit geschlossenen Augen. In seinen Ohren steckten Kopfhörer, und Jonathan hörte gedämpft die plärrende Musik.
In den letzten Tagen hatte er sein Handy nicht angeschaltet, er wollte für Jana nicht erreichbar sein, jetzt zog er es aus der Jackentasche und schaltete es ein.
Nur damit du Bescheid weisst, schrieb er an Jana, ich bin in Italien. Auf unbestimmte Zeit. J.
Keine Anrede, kein Gruß, kein nettes Wort.
Dann schickte er die SMS ab.
Die kleinen Orte, die vorüberzogen, registrierte er nicht. Er sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, und dachte an den letzten Streit. Es hatte bereits viele gegeben, aber dieser hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Jonathan hatte am Küchentisch gesessen und Zeitung gelesen.
»Was ist los?«, fragte Jana.
»Nichts ist los.«
»Du machst ein Gesicht - das ist nicht zum Aushalten.«
»Ich mache gar kein Gesicht.«
»Doch. Du müsstest dich mal sehen, da kann einem schlecht werden!«
»Hör auf, auf mir rumzuhacken, und lass mich in Ruhe.«
Jana schnaufte. »Ich halte das nicht aus, Jon. Nie redest du mit mir. Immer soll ich dich in Ruhe lassen, du hängst hier mit finsterem Gesicht in der Gegend rum und hast nur noch schlechte Laune. Nur noch!«
»Du hast schlechte Laune! Seit Tagen, Wochen, ach was, seit Monaten. Keine Ahnung, was mit dir los ist, aber jetzt komm mir nicht so! Ich hab keine schlechte Laune, aber wenn du so weitermachst, kriege ich gleich welche!«
»Jonathan, du hast dich völlig verändert! Du bist nur noch verbiestert und verbittert, ich habe dich schon ewig nicht mehr lächeln sehen, und wenn du irgendetwas zu mir sagst, dann meckerst du rum, kritisierst mich wegen jedem Scheiß und weißt alles besser. Ich hab das monatelang ertragen und runtergeschluckt, aber irgendwann kann ich auch nicht mehr. Ich bin nicht deine Feindin, Jon, ich sitze im selben Boot, uns beiden ist dasselbe passiert, aber du greifst mich ständig an! Was soll das?«
Jonathan knallte die Zeitung auf den Tisch. »Wer greift denn hier wen an? Ha?«, schrie er. »Ich weiß nicht, was das soll, Jana? Ich hatte keine schlechte Laune und wollte nur in Ruhe meine Zeitung lesen, aber jetzt bin ich sauer. Durch dein ewiges Gehetze und Rumgemäkle, durch dein ständiges Stänkern ...«
»Ach so, jetzt bin ich es also? Natürlich. Wie wunderbar du wieder den Spieß umdrehst!«
»Wenn du schlechte Laune hast, dann projizierst du es immer auf andere und machst mir Vorwürfe, dass ich schlechte Laune hätte. Fass dir mal an die eigene Nase!«
Jede Weichheit war aus Janas Gesicht verschwunden. Ihre Züge waren hart und kalt. »Du kotzt mich an, Jon, weißt du das?«
»Du kotzt mich genauso an, meine Liebe.«
»Na, das ist ja toll.«
»Das ist richtig toll.«
Jana schnappte nach Luft. Jonathan dachte, dass sie jetzt genug hätte, und wollte gerade die Zeitung in die Hand nehmen, als sie wieder anfing. Allerdings wesentlich leiser.
»Es ist ja nicht erst seit ein paar Tagen, es geht seit Wochen so, ach was, seit Monaten, eigentlich seit ..., du weißt seit wann. Die ganze Welt ist dir egal, ich bin dir egal. Du siehst mich nicht mehr, du hast mich seit Ewigkeiten nicht mehr berührt.«
»Ich kann nicht, Himmelherrgott!«, schrie Jonathan. »Du lebst nicht mehr mit mir!«
»Nein! Weil ich nicht nur nicht mehr mit dir, sondern weil ich überhaupt nicht mehr leben will! Kapierst du das nicht?«
Jonathan schwieg, aber seine zitternden Hände trommelten ein Tremolo auf die Tischplatte, und er stierte zu Boden.
»Irgendwann muss doch mal Schluss sein!« Jana wischte energisch über die Arbeitsplatte. »Irgendwann müssen wir beide doch mal wieder von vorn anfangen, Jon, einen Schlussstrich ziehen, in die Zukunft schauen!«
»Nein!« Jonathan schrie wie einer, der von der Klippe stürzt und begreift, dass er diesen Sturz niemals überleben wird. »Nein, nein, nein!«
»Du hast sie immer nur vergöttert. Mit deiner Affenliebe hast du alles kaputtgemacht«, murmelte Jana bitter. »Zwanzig Jahre hat sie unser Leben bestimmt, und selbst jetzt dreht sich immer noch alles nur um sie! Um sie, um sie, um sie, um sie!« Dann schwieg sie und flüsterte: »Immer nur um sie.«
Jonathan zitterte. Seine Gesichtshaut war knallrot, er stand kurz vor der Explosion.
Jana sah ihn an und hatte Lust, ihn zu verletzen.
»Du hast sie immer mehr geliebt als mich. Und du hast es mich verdammt spüren lassen. Und jetzt sitzt du hier rum und schikanierst mich mit deiner Trauer, deiner Einsamkeit, deinem Frust, was weiß ich. Und wirst mich noch Jahre dafür strafen, dass ich alles geopfert habe: für dich, für sie, für euch, für uns. Aber davon willst du nichts wissen, du willst nur, dass alle dein Leid sehen, der Herr und Meister geht kaputt, schaut her und bemitleidet ihn, Völker der Welt, schaut auf diesen Mann!«
Ihre Stimme war schrill, hoch und spöttisch zugleich.
Jonathan sprang auf und schlug ihr ins Gesicht.
Sie schleuderte zurück, sank zusammen und hockte auf dem Küchenfußboden.
Ohne jedes Mitleid sah er auf sie hinab und hätte ihr am liebsten noch ins Gesicht gespuckt.
»Alle Reichtümer der Welt würde ich dafür geben, dich nicht mehr sehen und ertragen zu müssen«, sagte er leise, »meine Wut ist zu schade für dich.«
Damit drehte er sich um, verließ die Küche und ging nach oben, um zu packen.
...
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Schwere Wolken hingen über der Heide, der Wetterbericht hatte Schneeregen und Graupelschauer angesagt.
Er stand am Fenster, blickte auf den trostlosen, grau gepflasterten Hotelparkplatz mit fünf armseligen Parkbuchten, von denen nur zwei besetzt waren, und wusste, dass er nur diese eine Chance hatte.
Heute war der Tag, auf den er Monate gewartet hatte, heute musste es passieren.
Nachdem er vor zehn Minuten das Telefonat beendet hatte, triumphierte er innerlich. Sie war einfach zu gutgläubig und hatte ihm die Adresse verraten. Die erste Hürde war genommen, und es war unproblematischer gewesen, als er gedacht hatte.
Er ging ins Bad, betrachtete ein paar Sekunden sein Gesicht im Spiegel eines altmodischen Allibert und begann sich sorgfältig zurechtzumachen.
Es war jetzt zwanzig vor elf. Zeit der Visite und daher viel zu gefährlich. Er wollte noch zwei Stunden warten, denn es erschien ihm günstiger, wenn auf den Stationen das Mittagessen gerade vorbei war und das Geschirr abgeräumt wurde.
In den letzten zwei Wochen hatte er sich einen Bart wachsen lassen, den er jetzt sorgfältig schnitt, so dass er gepflegt wirkte. Der schlohweiße Bart störte ihn maßlos, er kam sich verwahrlost und unsauber vor, geradezu verwildert. Aber es handelte sich ja nur noch um wenige Stunden. Wenn alles erledigt war, würde er ihn abrasieren.
Die Perücke hatte er schon vor Wochen in Florenz gekauft. Sie war aus Echthaar, handgeknüpft, und hatte über fünfhundert Euro gekostet. Das war es ihm wert. Graue, drei bis vier Zentimeter lange Haare, die sehr natürlich wirkten und gut zu seinem schmalen Gesicht passten. Er streifte sie über seine eigenen millimeterkurzen Haare, und damit die Perücke nicht verrutschte, fixierte er sie an den Schläfen und oberhalb der Stirn am Haaransatz mit Mastix. Ein Spezialklebstoff, der im Theater in der Maske verwendet wurde. Hinterher würde er die Perücke so bald wie möglich verbrennen.
Zum Schluss setzte er eine Brille mit Fensterglas und zartgoldenem Rand auf, die ihm einen intellektuellen, distinguierten Touch gab. Kein Problem, sie danach auf der Autobahn aus dem Fenster zu werfen.
Er wirkte wie ein Professor Anfang sechzig, dem man ohne weiteres Respekt zollte und Vertrauen schenkte. Perfekt. Er war zufrieden.
Das Zimmer hatte er bereits am Abend zuvor bezahlt. Er packte seine Sachen und verließ zwanzig Minuten später das Hotel vollkommen unbemerkt. Die Rezeption war in diesem kleinen Hotel nur selten besetzt.
Ideal für ihn, der ungesehen verschwinden wollte.
Es war jetzt kurz nach elf. Zu früh. In Gedanken ging er noch einmal die Liste durch, ob irgendetwas fehlte. Aber ihm fiel nichts ein. Er hatte an alles gedacht.
Also blieb ihm nur noch ein Waldspaziergang, um zwei weitere Stunden totzuschlagen. Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt er vor der Klinik und parkte am Nebeneingang auf einem für Ärzte reservierten Parkplatz. Weiße Hosen, weißes Hemd und weißen Kittel hatte er bereits im Auto angezogen, Stethoskop und obligatorischer Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.
So betrat er das Krankenhaus. Dem Pförtner nickte er kurz zu, und dieser grüßte automatisch zurück.
Als er nur fünfzehn Minuten später die Klinik durch einen Notausgang verließ, trug er ein Neugeborenes hinaus in die Kälte und die wenigen Meter bis zu seinem Auto, legte es in die Tragetasche auf dem Beifahrersitz und fuhr davon.
Die Mutter und die Mitarbeiter der Säuglingsstation würden frühestens in einer halben Stunde merken, dass das kleine Mädchen nicht mehr da war.
Er war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Hatte keinerlei Schuldbewusstsein. Denn er hatte das Kind nicht entführt, sondern zu sich geholt. Und das war - verdammt nochmal - sein gutes Recht.
GISELLE
EINS
Toskana, 3. November 2001
Er hatte kein Ziel, keinen Plan, kein Dach überm Kopf und noch zweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent in der Tasche. In seinem Koffer befanden sich zehn Unterhosen, ebenso viele Sockenpaare, vier T-Shirts, drei Pullover und zwei Jeans. Außerdem zwei Handtücher, sein Filofax und ein Kulturbeutel mit einer Haarbürste, einer Zahnbürste, einer fast leeren Tube Zahnpasta, einer Niveadose, einem Nageletui und einem Briefchen Aspirin. Auch ein Deostift und Creme gegen Herpes-Lippenbläschen. Gut eingebettet zwischen den Handtüchern und Pullovern, lagen sein Laptop, seine Kamera und eine Bilderrolle aus stabiler Pappe. In seiner Jackeninnentasche trug er seine Brieftasche mit der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis, Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig. Auch wenn sie triumphierte - er hätte es in ihrer Nähe keine fünf Minuten länger ausgehalten.
Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen Tegel gestanden hatte, wusste er noch. Paris, Brüssel, Kopenhagen, Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde hatte er auf die rauf- und runterklappernden Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm nichts. Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war er in seinem Leben genug.
Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück in die Stadt.
Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit einem Menschen gesprochen zu haben.
Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte er den Fuß des Beckens wie ein Schiffbrüchiger den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes, und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber, dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf dem Fliesenboden stand.
Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß. Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer flüchtete.
So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht mehr aufgesprungen.
»Hey«, schrie er, »bleib steh 'n, du Arsch, oder ich schlag dir alle Zähne aus!«
Der andere hatte nicht viel Kraft, und der Koffer war schwer. Jonathan holte den Mann schnell ein und riss ihn zu Boden. Im Fallen schleuderte der Alte den Koffer so weit er konnte von sich, und Jonathan sah, dass er die Böschung hinunterrutschte.
Der Alte interessierte ihn nicht mehr. Er hechtete seinem Koffer hinterher und erreichte ihn gerade noch im allerletzten Moment, als er bereits im Wasser schwamm, aber von der Strömung noch nicht abgetrieben war. Er zog ihn heraus, drückte ihn fest an sich und hörte sich schluchzen vor Erleichterung. Sein Leben ging weiter, wenn man das, was ihm geblieben war, noch als Leben bezeichnen konnte.
Jonathan wollte gar nicht wissen, wie er in die Charité gekommen war. Ob er einfach nur eine Toilette gesucht hatte und eingeschlafen war oder ob man ihn mit der Ambulanz gebracht hatte und er den Schwestern und Ärzten entkommen war. Es war müßig und unerfreulich, darüber nachzudenken, wie er die vergangenen zweiundsiebzig Stunden verbracht hatte, wichtig war, dass seine Sachen noch da waren, er keine Kopfschmerzen hatte und einigermaßen aufrecht gehen und stehen konnte.
Er wusch sein Gesicht und seine Haare mit kaltem Wasser, spülte sich den Mund aus, trank gierig, trocknete sich mit mehreren Papierhandtüchern ab und verließ die Toilette. Pfeile zeigten in Richtung Ausgang, demnach befand er sich im Parterre. Ein großes rot-weißes Schild wies nach rechts zur Notaufnahme. Also war er wahrscheinlich doch eingeliefert worden und dann auf eigenen Wunsch gegangen. Aber selbst das wusste er nicht mehr.
Mit dem Koffer in der Hand trat er auf die Straße. Es war dunkel, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte. Ihm war übel vor Hunger, und als er auf die Uhr sehen wollte, war sein Handgelenk leer. Aha. Die Uhr hatten sie ihm also geklaut. Irgendwo beim Schlafen unter einer Brücke oder in einer finsteren Kneipe. Vielleicht hatte er sie auch beim Pokern verloren. Alles war möglich.
Langsam ging er durch die nächtliche Stadt, wusste inzwischen wieder genau, wo er war, und brauchte zwanzig Minuten bis zu seinem Stammitaliener.
Giovanni stand hinterm Tresen, als Jonathan das Restaurant betrat, und winkte ihm kurz zu.
»Was ist los, Dottore?«, fragte er. »Du siehst verdammt schlecht aus!«
»Kriege ich noch was zu essen?«
»O dio, es ist kurz nach Mitternacht! Die Küche ist schon geschlossen, tut mir leid. Pietro räumt gerade auf.«
»Vielleicht hast du doch noch eine winzige Kleinigkeit für mich? Bitte, Giovanni! Mach mir einfach ein paar Nudeln warm, das reicht schon. Und ein Glas Wein.«
Giovanni kannte Jonathan seit einigen Jahren, er kam bestimmt zweimal in der Woche zum Essen, aber in diesem Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. Jonathans Gesichtsfarbe war grau, er wirkte hohlwangig, die Augen waren rot und entzündet, wie bei einem Menschen, dem man unter Folter den Schlaf entzieht. Wahrscheinlich hatte er wirklich schon lange nichts mehr gegessen und getrunken, denn seine Lippen war trocken und eingerissen.
»Ich werde Pietro mal fragen«, sagte Giovanni daher milde und verschwand in der Küche.
Jonathan setzte sich. Er hatte den Eindruck, seine Hände festhalten zu müssen, damit sie nicht vom Tisch rutschten, so schlapp fühlte er sich. Er spürte eine Traurigkeit, die ihm jede Kraft nahm, und er hatte keine Idee, was er in dieser Nacht, was er überhaupt in seinem Leben noch machen sollte.
»Pasta kommt gleich«, sagte Giovanni, als er aus der Küche kam, und stellte einen halben Liter Rotwein vor Jonathan auf den Tisch.
»Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre.«
»Nein, aber ich fühl mich nicht gut. Ich glaube, ich muss mal raus. Verreisen. Irgendwohin. Aber ich habe noch keine Idee.«
»Fahr nach Italien. Italien ist immer gut für die Seele. Auch im Winter.«
Ja, dachte er. Italien. Warum auch nicht. Vor sechs Jahren war er das letzte Mal dort gewesen. Mit Jana hatte er einen fünftägigen Kurztrip nach Venedig gemacht, und die Eindrücke waren bis heute nicht verblasst. Großbürgerliche Häuser mit heruntergekommenen Fassaden, Türen und Fensterläden geschlossen. Aber wenn sich ein Fenster öffnete, offenbarte sich dahinter die Pracht eines Palazzo mit edlen Deckenintarsien, kostbaren Wandteppichen, prunkvoll vergoldeten Spiegeln und Lüstern aus Muranoglas. Venedig bestand aus unzähligen Palästen, die sich hinter schäbigen Fassaden versteckten. Das hatte Jonathan beeindruckt.
Italien. Er spürte, wie in ihm eine Sehnsucht aufkeimte, in dieses Land zu fahren. Vielleicht war es die Lösung.
»Wann willst du denn fahren?«, fragte Giovanni.
»Am liebsten sofort. Ich weiß es nicht, ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Und ohne dich wäre ich auch nicht auf diese Idee gekommen.«
»Mein Sohn fährt noch heute Nacht nach Bologna. Er will ein paar Tage seine Mutter besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm gefällt, ein bisschen Gesellschaft zu haben.«
Jonathan wusste, dass Giovanni vor zehn Jahren geschieden worden war. Während er in Berlin geblieben war und das Restaurant weiterführte, war seine Frau zurück nach Bologna gegangen.
Jonathan trank den Wein in großen Schlucken. »Okay«, sagte er, »ich fahre mit.«
Sechzehn Stunden später hatte ihn Giovannis Sohn Angelo in Bologna am Hauptbahnhof abgesetzt, und Jonathan war um vierzehn Uhr vierundzwanzig in irgendeinen Zug gestiegen, der mit zwölf Minuten Verspätung um fünfzehn Uhr vierunddreißig im Hauptbahnhof von Florenz, Santa Maria Novella, ankam.
Er kaufte sich bei einem Straßenhändler eine billige Digitaluhr für fünf Euro, einen dünnen, lauwarmen Milchkaffee in einem Styroporbecher und ein Brötchen mit Tomate und bereits angetrocknetem Mozzarella. Dazu eine deutsche Zeitung.
Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Auf dem Bahnhof war es voll, Jonathan stand in der Mitte der Halle, aß heißhungrig sein Brötchen, während die Menschen um ihn herumrannten, Gepäck und kleine Kinder hinter sich herzogen, durcheinanderschrien oder das Rauchverbot ignorierend in Gruppen rauchten und sich unterhielten.
Was mache ich hier?, dachte Jonathan und sah auf die Uhr. Es war jetzt fünfzehn Uhr fünfzig. Direkt vor ihm auf Gleis sieben fuhr um fünfzehn Uhr einundfünfzig ein Zug nach Rom. Jonathan stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund, stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter und warf den Becher im Rennen in den Papierkorb. Als er auf den Bahnsteig kam, hob der Bahnbeamte bereits die rote Kelle. Jonathan schaffte es gerade noch, seinen Koffer in den Zug zu werfen und hinterherzuklettern. Unmittelbar hinter ihm schlossen sich die automatischen Türen.
Der Zug rollte durch das Bahnhofsviertel von Florenz, und Jonathan ging auf der Suche nach einem Platz langsam weiter nach vorn. Im dritten Wagen fand er eine freie Bank, setzte sich ans Fenster und stellte seinen Koffer neben sich.
Es roch nach Diesel und alter Pisse. Ihm gegenüber saß ein junger Italiener mit ungewöhnlich dicken Oberschenkeln, breitbeinig und mit geschlossenen Augen. In seinen Ohren steckten Kopfhörer, und Jonathan hörte gedämpft die plärrende Musik.
In den letzten Tagen hatte er sein Handy nicht angeschaltet, er wollte für Jana nicht erreichbar sein, jetzt zog er es aus der Jackentasche und schaltete es ein.
Nur damit du Bescheid weisst, schrieb er an Jana, ich bin in Italien. Auf unbestimmte Zeit. J.
Keine Anrede, kein Gruß, kein nettes Wort.
Dann schickte er die SMS ab.
Die kleinen Orte, die vorüberzogen, registrierte er nicht. Er sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, und dachte an den letzten Streit. Es hatte bereits viele gegeben, aber dieser hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Jonathan hatte am Küchentisch gesessen und Zeitung gelesen.
»Was ist los?«, fragte Jana.
»Nichts ist los.«
»Du machst ein Gesicht - das ist nicht zum Aushalten.«
»Ich mache gar kein Gesicht.«
»Doch. Du müsstest dich mal sehen, da kann einem schlecht werden!«
»Hör auf, auf mir rumzuhacken, und lass mich in Ruhe.«
Jana schnaufte. »Ich halte das nicht aus, Jon. Nie redest du mit mir. Immer soll ich dich in Ruhe lassen, du hängst hier mit finsterem Gesicht in der Gegend rum und hast nur noch schlechte Laune. Nur noch!«
»Du hast schlechte Laune! Seit Tagen, Wochen, ach was, seit Monaten. Keine Ahnung, was mit dir los ist, aber jetzt komm mir nicht so! Ich hab keine schlechte Laune, aber wenn du so weitermachst, kriege ich gleich welche!«
»Jonathan, du hast dich völlig verändert! Du bist nur noch verbiestert und verbittert, ich habe dich schon ewig nicht mehr lächeln sehen, und wenn du irgendetwas zu mir sagst, dann meckerst du rum, kritisierst mich wegen jedem Scheiß und weißt alles besser. Ich hab das monatelang ertragen und runtergeschluckt, aber irgendwann kann ich auch nicht mehr. Ich bin nicht deine Feindin, Jon, ich sitze im selben Boot, uns beiden ist dasselbe passiert, aber du greifst mich ständig an! Was soll das?«
Jonathan knallte die Zeitung auf den Tisch. »Wer greift denn hier wen an? Ha?«, schrie er. »Ich weiß nicht, was das soll, Jana? Ich hatte keine schlechte Laune und wollte nur in Ruhe meine Zeitung lesen, aber jetzt bin ich sauer. Durch dein ewiges Gehetze und Rumgemäkle, durch dein ständiges Stänkern ...«
»Ach so, jetzt bin ich es also? Natürlich. Wie wunderbar du wieder den Spieß umdrehst!«
»Wenn du schlechte Laune hast, dann projizierst du es immer auf andere und machst mir Vorwürfe, dass ich schlechte Laune hätte. Fass dir mal an die eigene Nase!«
Jede Weichheit war aus Janas Gesicht verschwunden. Ihre Züge waren hart und kalt. »Du kotzt mich an, Jon, weißt du das?«
»Du kotzt mich genauso an, meine Liebe.«
»Na, das ist ja toll.«
»Das ist richtig toll.«
Jana schnappte nach Luft. Jonathan dachte, dass sie jetzt genug hätte, und wollte gerade die Zeitung in die Hand nehmen, als sie wieder anfing. Allerdings wesentlich leiser.
»Es ist ja nicht erst seit ein paar Tagen, es geht seit Wochen so, ach was, seit Monaten, eigentlich seit ..., du weißt seit wann. Die ganze Welt ist dir egal, ich bin dir egal. Du siehst mich nicht mehr, du hast mich seit Ewigkeiten nicht mehr berührt.«
»Ich kann nicht, Himmelherrgott!«, schrie Jonathan. »Du lebst nicht mehr mit mir!«
»Nein! Weil ich nicht nur nicht mehr mit dir, sondern weil ich überhaupt nicht mehr leben will! Kapierst du das nicht?«
Jonathan schwieg, aber seine zitternden Hände trommelten ein Tremolo auf die Tischplatte, und er stierte zu Boden.
»Irgendwann muss doch mal Schluss sein!« Jana wischte energisch über die Arbeitsplatte. »Irgendwann müssen wir beide doch mal wieder von vorn anfangen, Jon, einen Schlussstrich ziehen, in die Zukunft schauen!«
»Nein!« Jonathan schrie wie einer, der von der Klippe stürzt und begreift, dass er diesen Sturz niemals überleben wird. »Nein, nein, nein!«
»Du hast sie immer nur vergöttert. Mit deiner Affenliebe hast du alles kaputtgemacht«, murmelte Jana bitter. »Zwanzig Jahre hat sie unser Leben bestimmt, und selbst jetzt dreht sich immer noch alles nur um sie! Um sie, um sie, um sie, um sie!« Dann schwieg sie und flüsterte: »Immer nur um sie.«
Jonathan zitterte. Seine Gesichtshaut war knallrot, er stand kurz vor der Explosion.
Jana sah ihn an und hatte Lust, ihn zu verletzen.
»Du hast sie immer mehr geliebt als mich. Und du hast es mich verdammt spüren lassen. Und jetzt sitzt du hier rum und schikanierst mich mit deiner Trauer, deiner Einsamkeit, deinem Frust, was weiß ich. Und wirst mich noch Jahre dafür strafen, dass ich alles geopfert habe: für dich, für sie, für euch, für uns. Aber davon willst du nichts wissen, du willst nur, dass alle dein Leid sehen, der Herr und Meister geht kaputt, schaut her und bemitleidet ihn, Völker der Welt, schaut auf diesen Mann!«
Ihre Stimme war schrill, hoch und spöttisch zugleich.
Jonathan sprang auf und schlug ihr ins Gesicht.
Sie schleuderte zurück, sank zusammen und hockte auf dem Küchenfußboden.
Ohne jedes Mitleid sah er auf sie hinab und hätte ihr am liebsten noch ins Gesicht gespuckt.
»Alle Reichtümer der Welt würde ich dafür geben, dich nicht mehr sehen und ertragen zu müssen«, sagte er leise, »meine Wut ist zu schade für dich.«
Damit drehte er sich um, verließ die Küche und ging nach oben, um zu packen.
...
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Sabine Thiesler
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. "Das Haus am Watt", "Der Mörder und sein Kind", "Stich ins Herz") und mehrere Folgen für die Reihen "Tatort" und "Polizeiruf 110". Bereits mit ihrem ersten Roman "Der Kindersammler" stand sie monatelang auf der Bestsellerliste. Ebenso mit den beiden folgenden Büchern "Hexenkind" und "Die Totengräberin".
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Thiesler
- 2011, Erstmals im TB, 463 Seiten, Masse: 11,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435257
- ISBN-13: 9783453435254
- Erscheinungsdatum: 12.10.2011
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