Der Geschmack von Apfelkernen
Roman
Katharina Hagena erzählt von den unterschiedlichen Frauen einer Familie und mischt auf diese Weise die Schicksale dreier Generationen.
"Diese Geschichte nimmt einen auf und trägt einen fort. Ein Roman, der nicht nur ans Herz,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Geschmack von Apfelkernen “
Katharina Hagena erzählt von den unterschiedlichen Frauen einer Familie und mischt auf diese Weise die Schicksale dreier Generationen.
"Diese Geschichte nimmt einen auf und trägt einen fort. Ein Roman, der nicht nur ans Herz, sondern auch unter die Haut geht."
Christine Westermann
Klappentext zu „Der Geschmack von Apfelkernen “
Ein Buch über die Liebe, den Tod und das Vergessen!Schillernd und magisch sind die Erinnerungen an die Sommerferien bei der Grossmutter, geheimnisvoll die Geschichten der Tanten. Katharina Hagena erzählt von den Frauen einer Familie, mischt die Schicksale dreier Generationen. Ein Roman über das Erinnern und das Vergessen - bewegend, herrlich komisch und klug.
Als Bertha stirbt, erbt Iris das Haus. Nach vielen Jahren steht Iris wieder im alten Haus der Grossmutter, wo sie als Kind in den Sommerferien mit ihrer Kusine Verkleiden spielte. Sie streift durch die Zimmer und den Garten, eine aus der Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiss und als konservierte Tränen eingekocht werden, in der ein Baum gleich zweimal blüht, Dörfer verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln.
Doch der Garten ist inzwischen verwildert. Nachdem Bertha vom Apfelbaum gefallen war, wurde sie erst zerstreut, dann vergesslich, und schliesslich erkannte sie nichts mehr wieder, nicht einmal ihre drei Töchter.
Iris bleibt eine Woche allein im Haus. Sie weiss nicht, ob sie es überhaupt behalten will. Sie schwimmt in einem schwarzen See, bekommt Besuch, küsst den Bruder einer früheren Freundin und streicht eine Wand an.
Während sie von Zimmer zu Zimmer läuft, tastet sie sich durch ihre eigenen Erinnerungen und ihr eigenes Vergessen: Was tat ihr Grossvater wirklich, bevor er in den Krieg ging? Welche Männer liebten Berthas Töchter? Wer ass seinen Apfel mitsamt den Kernen? Schliesslich gelangt Iris zu jener Nacht, in der ihre Kusine Rosmarie den schrecklichen Unfall hatte: Was machte Rosmarie auf dem Dach des Wintergartens? Und was wollte sie Iris noch sagen?
Iris ahnt, dass es verschiedene Spielarten des Vergessens gibt. Und das Erinnern ist nur eine davon.
Lese-Probe zu „Der Geschmack von Apfelkernen “
Der Geschmack von Apfelkernen von Katharina Hagena LESEPROBE I. Kapitel... mehr
Tante Anna starb mit sechzehn an einer Lungenentzündung, die aufgrund ihres gebrochenen Herzens und des noch nicht entdeckten Penizillins nicht heilen konnte. Ihr Tod trat an einem Spätnachmittag im Juli ein. Und als Annas jüngere Schwester Bertha daraufhin weinend in den Garten rannte, sah sie, dass mit Annas letztem rasselndem Atemzug alle roten Johannisbeeren weiß geworden waren. Es war ein großer Garten, die vielen alten Johannisbeerbüsche krümmten sich unter den schweren Früchten. Längst hätten sie gepflückt werden müssen, aber als Anna krank wurde, dachte keiner mehr an die Beeren. Meine Großmutter hat mir oft davon erzählt, denn sie war es damals gewesen, die die trauernden Johannisbeeren entdeckt hatte. Seitdem gab es nur noch schwarze und weiße Johannisbeeren im Garten meiner Großmutter, und jeder weitere Versuch, einen roten Busch zu pflanzen, schlug fehl, es wuchsen nur weiße Beeren an seinen Zweigen. Doch niemand störte sich daran, die weißen schmeckten beinahe ebenso süß wie die roten, beim Entsaften ruinierten sie einem nicht die ganze Schürze, und das fertige Gelee schimmerte in geheimnisvoll-fahler Durchsichtigkeit. »Konservierte Tränen« nannte ihn meine Großmutter. Und noch immer standen auf den Kellerregalen Gläser aller Größen mit Johannisbeergelee von 1981, einem besonders tränenreichen Sommer, Rosmaries letztem. Einmal fand meine Mutter auf der Suche nach eingelegten Gurken ein Glas von 1945 mit den ersten Nachkriegstränen. Das schenkte sie dem Mühlenverein, und als ich sie fragte, warum in aller Welt sie Omas wunderbaren Gelee an ein Heimatmuseum gebe, sagte sie, dass diese Tränen zu bitter seien.
Meine Großmutter Bertha Lünschen, geborene Deelwater, starb etliche Jahrzehnte nach Tante Anna, doch da wusste sie längst nicht mehr, wer ihre Schwester gewesen war, wie sie selbst hieß oder ob es Winter oder Sommer war. Sie hatte vergessen, was man mit einem Schuh, einem Wollfaden oder einem Löffel anfangen konnte. Im Laufe von zehn Jahren streifte sie ihre Erinnerungen mit derselben fahrigen Leichtigkeit ab, mit der sie sich die kurzen weißen Locken aus dem Nacken strich oder unsichtbare Krümel auf dem Tisch zusammenfegte. An das Geräusch der harten, trockenen Haut ihrer Hand auf dem hölzernen Küchentisch konnte ich mich deutlicher erinnern als an ihre Gesichtszüge. Auch daran, dass sich die beringten Finger immer fest um die unsichtbaren Krümel schlossen, als versuchten sie, die vorbeiziehenden Schattenbilder ihres Geistes zu fassen, aber vielleicht wollte Bertha auch nur nicht den Boden vollbröseln oder die Spatzen damit füttern, die im Frühsommer so gern im Garten Sandbäder nahmen und dabei immer die Radieschen ausgruben. Der Tisch im Pflegeheim war dann aus Kunststoff, und ihre Hand verstummte. Bevor ihr das Gedächtnis ganz verlorenging, bedachte uns Bertha in ihrem Testament. Meine Mutter Christa erbte das Land, Tante Inga die Wertpapiere, Tante Harriet das Geld. Ich, die letzte Nachkommin, erbte das Haus. Schmuck und Möbel, das Leinen und das Silber sollten zwischen meiner Mutter und meinen Tanten aufgeteilt werden. Klar wie Regenwasser war Berthas Testament – und ebenso ernüchternd. Die Wertpapiere waren nicht sehr wertvoll, auf dem Weideland der norddeutschen Tiefebene wollte außer Kühen niemand leben, Geld war nicht viel da, und das Haus war alt.
Bertha musste sich daran erinnert haben, wie sehr ich das Haus früher liebte. Von ihrem Letzten Willen erfuhren wir aber erst nach der Beerdigung. Ich reiste allein, es war eine weite, umständliche Fahrt in verschiedenen Zügen: Ich kam von Freiburg und musste längs durch das ganze Land, bis ich schließlich oben in dem Dorf Bootshaven an der Haltestelle gegenüber dem Haus meiner Großmutter aus einem fast leeren Linienbus ausstieg, der mich von einem geisterhaften Kleinstadtbahnhof aus durch die Ortschaften geschaukelt hatte. Ich war zermürbt von der Reise, der Trauer und den Schuldgefühlen, die man immer hatte, wenn jemand gestorben war, den man liebte, aber nicht gut kannte.
Auch Tante Harriet war gekommen. Nur hieß sie inzwischen nicht mehr Harriet, sondern Mohani. Sie trug jedoch weder orange Gewänder noch eine Glatze. Einzig die Holzperlenkette mit dem Bild des Gurus wies auf ihren neuen, erleuchteten Zustand hin. Mit ihren kurzen hennaroten Haaren und Reebok-Turnschuhen sah sie dennoch anders aus als der Rest der schwarzen Gestalten, die sich in kleinen Gruppen vor der Kapelle sammelten. Ich freute mich, Tante Harriet zu sehen, obgleich ich mit Beklommenheit und Unruhe daran dachte, dass ich sie das letzte Mal vor dreizehn Jahren gesehen hatte. Das war, als wir Rosmarie beerdigen mussten, Harriets Tochter. Die Unruhe war mir eine enge Vertraute, schließlich dachte ich jedes Mal, wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, an Rosmarie. Ihre Beerdigung war unerträglich gewesen, wahrscheinlich ist es immer unerträglich, wenn fünfzehn Jahre alte Mädchen vergraben werden sollen. So fiel ich damals, wie man mir später berichtete, in eine tiefe Ohnmacht. Ich erinnerte mich nur noch dar-an, dass die weißen Lilien auf dem Sarg einen warmen feuchtsüßen Dunst ausströmten, der mir die Nase verklebte und in meiner Luftröhre Blasen schlug. Die Luft blieb mir weg. Dann kreiselte ich in ein weißes Loch.
Später wachte ich im Krankenhaus auf. Im Fallen hatte ich mir die Stirn am Kantstein aufgeschlagen, und das Loch musste genäht werden. Oberhalb der Nasenwurzel blieb eine Narbe zurück, ein blasses Mal. Es war meine erste Ohnmacht, ich bin danach noch oft in Ohnmacht gefallen. Das Fallen liegt bei uns in der Familie.
So war Tante Harriet nach dem Tod ihrer Tochter vom Glauben abgefallen. Zum Bhagwan sei sie gegangen, die Ärmste, hieß es im Kreis der Bekannten. In die Sekte. Wobei man das Wort Sekte mit gesenkter Stimme aussprach, so als fürchte man, die Sekte lauere einem auf und schnappe einen, rasiere einem den Schädel und ließe einen daraufhin wie die stillgelegten Irren aus »Einer flog übers Kuckucksnest« durch die Fußgängerzonen dieser Welt taumeln und mit kindlicher Freude Zimbeln spielen. Aber Tante Harriet sah nicht so aus, als wolle sie bei Berthas Beerdigung ihre Zimbeln auspacken. Als sie mich sah, drückte sie mich an sich und küsste meine Stirn. Sie küsste vielmehr die Narbe auf meiner Stirn, sagte aber nichts und schob mich weiter zu meiner Mutter, die neben ihr stand. Meine Mutter sah aus, als habe sie die letzten drei Tage geweint. Mein Herz zog sich bei ihrem Anblick zu einem faltigen Klumpen zusammen. Wie furchtbar, seine Mutter beerdigen zu müssen, dachte ich, als ich sie losließ. Mein Vater stand neben ihr und stützte sie, er war viel kleiner als beim letzten Mal und hatte Linien im Gesicht, die ich noch nicht kannte. Etwas abseits stand Tante Inga, sie war trotz der roten Augen atemberaubend. Ihr schöner Mund bog sich nach unten, was bei ihr nicht weinerlich aussah, sondern stolz. Und obwohl ihr Kleid schlicht und hochgeschlossen war, sah es nicht aus wie Trauer, sondern wie ein kleines Schwarzes. Sie war allein gekommen und ergriff meine beiden Hände. Ich zuckte kurz zusammen, ein kleiner Stromschlag traf mich aus ihrer linken Hand. Am rechten Arm trug sie ihren Bernsteinreif. Tante Ingas Hände fühlten sich hart an, warm und trocken. Es war ein sonniger Juninachmittag. Ich schaute mir die anderen Leute an, viele weißlockige Frauen mit dicken Brillen und schwarzen Handtaschen. Das waren Berthas Kränzchenschwestern. Der Altbürgermeister, dann natürlich Carsten Lexow, der alte Lehrer meiner Mutter, ein paar Schulfreundinnen und entfernte Kusinen meiner Tanten und meiner Mutter und drei große Männer, die ernst und unbeholfen nebeneinanderstanden und sofort als frühere Verehrer von Tante Inga zu erkennen waren, da sie kaum wagten, meine Tante offen anzusehen, sie aber doch nie aus den Augen ließen. Koops, die Nachbarn, waren gekommen, dann ein paar Leute, die ich nicht einordnen konnte, vielleicht vom Pflegeheim, vielleicht vom Beerdigungsinstitut, vielleicht von Großvaters alter Kanzlei.
Später gingen alle in das Lokal neben dem Friedhof, um Butterkuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Wie das so ist nach Beerdigungen, fingen alle Trauernden sofort an zu sprechen, erst leise murmelnd, dann immer lauter. Selbst meine Mutter und Tante Harriet unterhielten sich fiebrig. Die drei Verehrer standen nun um Tante Inga, stellten die Beine weit auseinander und drückten ihre Rücken durch. Tante Inga schien ihre Huldigungen zu erwarten, nahm sie aber gleichzeitig mit sanfter Ironie entgegen.
Die Kränzchenschwestern saßen zusammen und hielten ein Kränzchen ab. Auf ihren Lippen klebten Zuckerkrümel und Mandelblättchen. Sie aßen, wie sie sprachen: langsam und laut und beständig. Zusammen mit den beiden Serviererinnen trugen mein Vater und Herr Lexow die Silberbleche mit Bergen quadratischer Butterkuchenstücke aus der Küche und stellten eine Kaffeekanne nach der anderen auf die Tische. Die Kränzchenschwestern scherzten ein bisschen mit diesen beiden aufmerksamen jungen Männern und versuchten, sie für ihre Kränzchen zu gewinnen. Und während mein Vater respektvoll schäkerte, lächelte Herr Lexow ängstlich und floh zu den Nachbartischen. Er musste ja schließlich hier wohnen bleiben.
Als wir das Lokal verließen, war es immer noch warm. Herr Lexow klemmte sich metallene Ringe um die Hosenbeine und stieg auf sein schwarzes Fahrrad, das unabgeschlossen an der Hauswand lehnte. Er hob kurz die Hand und fuhr in Richtung Friedhof davon. Meine Eltern und Tanten blieben vor der Tür des Lokals und blinzelten in die Abendsonne. Mein Vater räusperte sich:
- Die Männer von der Kanzlei, ihr habt sie ja gesehen, Bertha hat ein Testament gemacht.
Also waren es doch die Anwälte gewesen. Mein Vater war noch nicht fertig, er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, die drei Frauen blickten weiter in die rote Sonne und sagten nichts.
- Sie warten am Haus.
Als Rosmarie starb, war es auch Sommer gewesen, aber nachts kroch aus den Wiesen schon ein Geruch von Herbst. Menschen kühlten da schnell aus, wenn sie auf dem Boden lagen. Ich dachte an meine Oma, die unter der Erde lag, an das feuchte schwarze Loch, in dem sie sich nun befand. Moorboden, schwarz und fett, doch darunter der Sand. Der aufgeschaufelte Erdhaufen neben ihrem Grab trocknete in der Sonne, und immer wieder war Sand abgegangen, in kleinen Moränen war er herabgerieselt wie bei einer Eieruhr.
- Das bin ich, hatte Bertha einmal gestöhnt, das ist mein Kopf.
Sie nickte der Eieruhr zu, die auf dem Küchentisch stand, und erhob sich rasch von ihrem Stuhl. Dabei wischte sie mit der Hüfte die Uhr vom Tisch. Das dünne Holzgestell brach, das Glas splitterte, spritzte. Ich war ein Kind, und ihre Krankheit war noch nicht so, dass man viel merkte. Ich kniete mich hin und breitete mit dem Zeigefinger den weißen Sand auf dem schwarz-weißen Steinfußboden aus. Der Sand war ganz fein und glitzerte im Licht der Küchenlampe. Meine Großmutter stand daneben, seufzte und fragte mich, wie mir denn die schöne Sanduhr zerbrechen konnte. Als ich sagte, sie habe das selbst gemacht, schüttelte sie den Kopf, schüttelte ihn wieder und wieder und wieder. Dann fegte sie die Scherben zusammen und warf sie in den Ascheimer.
© Kiepenheuer & Witsch
Meine Großmutter Bertha Lünschen, geborene Deelwater, starb etliche Jahrzehnte nach Tante Anna, doch da wusste sie längst nicht mehr, wer ihre Schwester gewesen war, wie sie selbst hieß oder ob es Winter oder Sommer war. Sie hatte vergessen, was man mit einem Schuh, einem Wollfaden oder einem Löffel anfangen konnte. Im Laufe von zehn Jahren streifte sie ihre Erinnerungen mit derselben fahrigen Leichtigkeit ab, mit der sie sich die kurzen weißen Locken aus dem Nacken strich oder unsichtbare Krümel auf dem Tisch zusammenfegte. An das Geräusch der harten, trockenen Haut ihrer Hand auf dem hölzernen Küchentisch konnte ich mich deutlicher erinnern als an ihre Gesichtszüge. Auch daran, dass sich die beringten Finger immer fest um die unsichtbaren Krümel schlossen, als versuchten sie, die vorbeiziehenden Schattenbilder ihres Geistes zu fassen, aber vielleicht wollte Bertha auch nur nicht den Boden vollbröseln oder die Spatzen damit füttern, die im Frühsommer so gern im Garten Sandbäder nahmen und dabei immer die Radieschen ausgruben. Der Tisch im Pflegeheim war dann aus Kunststoff, und ihre Hand verstummte. Bevor ihr das Gedächtnis ganz verlorenging, bedachte uns Bertha in ihrem Testament. Meine Mutter Christa erbte das Land, Tante Inga die Wertpapiere, Tante Harriet das Geld. Ich, die letzte Nachkommin, erbte das Haus. Schmuck und Möbel, das Leinen und das Silber sollten zwischen meiner Mutter und meinen Tanten aufgeteilt werden. Klar wie Regenwasser war Berthas Testament – und ebenso ernüchternd. Die Wertpapiere waren nicht sehr wertvoll, auf dem Weideland der norddeutschen Tiefebene wollte außer Kühen niemand leben, Geld war nicht viel da, und das Haus war alt.
Bertha musste sich daran erinnert haben, wie sehr ich das Haus früher liebte. Von ihrem Letzten Willen erfuhren wir aber erst nach der Beerdigung. Ich reiste allein, es war eine weite, umständliche Fahrt in verschiedenen Zügen: Ich kam von Freiburg und musste längs durch das ganze Land, bis ich schließlich oben in dem Dorf Bootshaven an der Haltestelle gegenüber dem Haus meiner Großmutter aus einem fast leeren Linienbus ausstieg, der mich von einem geisterhaften Kleinstadtbahnhof aus durch die Ortschaften geschaukelt hatte. Ich war zermürbt von der Reise, der Trauer und den Schuldgefühlen, die man immer hatte, wenn jemand gestorben war, den man liebte, aber nicht gut kannte.
Auch Tante Harriet war gekommen. Nur hieß sie inzwischen nicht mehr Harriet, sondern Mohani. Sie trug jedoch weder orange Gewänder noch eine Glatze. Einzig die Holzperlenkette mit dem Bild des Gurus wies auf ihren neuen, erleuchteten Zustand hin. Mit ihren kurzen hennaroten Haaren und Reebok-Turnschuhen sah sie dennoch anders aus als der Rest der schwarzen Gestalten, die sich in kleinen Gruppen vor der Kapelle sammelten. Ich freute mich, Tante Harriet zu sehen, obgleich ich mit Beklommenheit und Unruhe daran dachte, dass ich sie das letzte Mal vor dreizehn Jahren gesehen hatte. Das war, als wir Rosmarie beerdigen mussten, Harriets Tochter. Die Unruhe war mir eine enge Vertraute, schließlich dachte ich jedes Mal, wenn ich mein Gesicht im Spiegel betrachtete, an Rosmarie. Ihre Beerdigung war unerträglich gewesen, wahrscheinlich ist es immer unerträglich, wenn fünfzehn Jahre alte Mädchen vergraben werden sollen. So fiel ich damals, wie man mir später berichtete, in eine tiefe Ohnmacht. Ich erinnerte mich nur noch dar-an, dass die weißen Lilien auf dem Sarg einen warmen feuchtsüßen Dunst ausströmten, der mir die Nase verklebte und in meiner Luftröhre Blasen schlug. Die Luft blieb mir weg. Dann kreiselte ich in ein weißes Loch.
Später wachte ich im Krankenhaus auf. Im Fallen hatte ich mir die Stirn am Kantstein aufgeschlagen, und das Loch musste genäht werden. Oberhalb der Nasenwurzel blieb eine Narbe zurück, ein blasses Mal. Es war meine erste Ohnmacht, ich bin danach noch oft in Ohnmacht gefallen. Das Fallen liegt bei uns in der Familie.
So war Tante Harriet nach dem Tod ihrer Tochter vom Glauben abgefallen. Zum Bhagwan sei sie gegangen, die Ärmste, hieß es im Kreis der Bekannten. In die Sekte. Wobei man das Wort Sekte mit gesenkter Stimme aussprach, so als fürchte man, die Sekte lauere einem auf und schnappe einen, rasiere einem den Schädel und ließe einen daraufhin wie die stillgelegten Irren aus »Einer flog übers Kuckucksnest« durch die Fußgängerzonen dieser Welt taumeln und mit kindlicher Freude Zimbeln spielen. Aber Tante Harriet sah nicht so aus, als wolle sie bei Berthas Beerdigung ihre Zimbeln auspacken. Als sie mich sah, drückte sie mich an sich und küsste meine Stirn. Sie küsste vielmehr die Narbe auf meiner Stirn, sagte aber nichts und schob mich weiter zu meiner Mutter, die neben ihr stand. Meine Mutter sah aus, als habe sie die letzten drei Tage geweint. Mein Herz zog sich bei ihrem Anblick zu einem faltigen Klumpen zusammen. Wie furchtbar, seine Mutter beerdigen zu müssen, dachte ich, als ich sie losließ. Mein Vater stand neben ihr und stützte sie, er war viel kleiner als beim letzten Mal und hatte Linien im Gesicht, die ich noch nicht kannte. Etwas abseits stand Tante Inga, sie war trotz der roten Augen atemberaubend. Ihr schöner Mund bog sich nach unten, was bei ihr nicht weinerlich aussah, sondern stolz. Und obwohl ihr Kleid schlicht und hochgeschlossen war, sah es nicht aus wie Trauer, sondern wie ein kleines Schwarzes. Sie war allein gekommen und ergriff meine beiden Hände. Ich zuckte kurz zusammen, ein kleiner Stromschlag traf mich aus ihrer linken Hand. Am rechten Arm trug sie ihren Bernsteinreif. Tante Ingas Hände fühlten sich hart an, warm und trocken. Es war ein sonniger Juninachmittag. Ich schaute mir die anderen Leute an, viele weißlockige Frauen mit dicken Brillen und schwarzen Handtaschen. Das waren Berthas Kränzchenschwestern. Der Altbürgermeister, dann natürlich Carsten Lexow, der alte Lehrer meiner Mutter, ein paar Schulfreundinnen und entfernte Kusinen meiner Tanten und meiner Mutter und drei große Männer, die ernst und unbeholfen nebeneinanderstanden und sofort als frühere Verehrer von Tante Inga zu erkennen waren, da sie kaum wagten, meine Tante offen anzusehen, sie aber doch nie aus den Augen ließen. Koops, die Nachbarn, waren gekommen, dann ein paar Leute, die ich nicht einordnen konnte, vielleicht vom Pflegeheim, vielleicht vom Beerdigungsinstitut, vielleicht von Großvaters alter Kanzlei.
Später gingen alle in das Lokal neben dem Friedhof, um Butterkuchen zu essen und Kaffee zu trinken. Wie das so ist nach Beerdigungen, fingen alle Trauernden sofort an zu sprechen, erst leise murmelnd, dann immer lauter. Selbst meine Mutter und Tante Harriet unterhielten sich fiebrig. Die drei Verehrer standen nun um Tante Inga, stellten die Beine weit auseinander und drückten ihre Rücken durch. Tante Inga schien ihre Huldigungen zu erwarten, nahm sie aber gleichzeitig mit sanfter Ironie entgegen.
Die Kränzchenschwestern saßen zusammen und hielten ein Kränzchen ab. Auf ihren Lippen klebten Zuckerkrümel und Mandelblättchen. Sie aßen, wie sie sprachen: langsam und laut und beständig. Zusammen mit den beiden Serviererinnen trugen mein Vater und Herr Lexow die Silberbleche mit Bergen quadratischer Butterkuchenstücke aus der Küche und stellten eine Kaffeekanne nach der anderen auf die Tische. Die Kränzchenschwestern scherzten ein bisschen mit diesen beiden aufmerksamen jungen Männern und versuchten, sie für ihre Kränzchen zu gewinnen. Und während mein Vater respektvoll schäkerte, lächelte Herr Lexow ängstlich und floh zu den Nachbartischen. Er musste ja schließlich hier wohnen bleiben.
Als wir das Lokal verließen, war es immer noch warm. Herr Lexow klemmte sich metallene Ringe um die Hosenbeine und stieg auf sein schwarzes Fahrrad, das unabgeschlossen an der Hauswand lehnte. Er hob kurz die Hand und fuhr in Richtung Friedhof davon. Meine Eltern und Tanten blieben vor der Tür des Lokals und blinzelten in die Abendsonne. Mein Vater räusperte sich:
- Die Männer von der Kanzlei, ihr habt sie ja gesehen, Bertha hat ein Testament gemacht.
Also waren es doch die Anwälte gewesen. Mein Vater war noch nicht fertig, er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, die drei Frauen blickten weiter in die rote Sonne und sagten nichts.
- Sie warten am Haus.
Als Rosmarie starb, war es auch Sommer gewesen, aber nachts kroch aus den Wiesen schon ein Geruch von Herbst. Menschen kühlten da schnell aus, wenn sie auf dem Boden lagen. Ich dachte an meine Oma, die unter der Erde lag, an das feuchte schwarze Loch, in dem sie sich nun befand. Moorboden, schwarz und fett, doch darunter der Sand. Der aufgeschaufelte Erdhaufen neben ihrem Grab trocknete in der Sonne, und immer wieder war Sand abgegangen, in kleinen Moränen war er herabgerieselt wie bei einer Eieruhr.
- Das bin ich, hatte Bertha einmal gestöhnt, das ist mein Kopf.
Sie nickte der Eieruhr zu, die auf dem Küchentisch stand, und erhob sich rasch von ihrem Stuhl. Dabei wischte sie mit der Hüfte die Uhr vom Tisch. Das dünne Holzgestell brach, das Glas splitterte, spritzte. Ich war ein Kind, und ihre Krankheit war noch nicht so, dass man viel merkte. Ich kniete mich hin und breitete mit dem Zeigefinger den weißen Sand auf dem schwarz-weißen Steinfußboden aus. Der Sand war ganz fein und glitzerte im Licht der Küchenlampe. Meine Großmutter stand daneben, seufzte und fragte mich, wie mir denn die schöne Sanduhr zerbrechen konnte. Als ich sagte, sie habe das selbst gemacht, schüttelte sie den Kopf, schüttelte ihn wieder und wieder und wieder. Dann fegte sie die Scherben zusammen und warf sie in den Ascheimer.
© Kiepenheuer & Witsch
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Autoren-Porträt von Katharina Hagena
Katharina Hagena, geboren in Karlsruhe, lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg. Sie schrieb zwei Bücher über James Joyce, bevor sie 2008 ihren ersten Roman »Der Geschmack von Apfelkernen« veröffentlichte. Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katharina Hagena
- 2008, 21. Aufl., 256 Seiten, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462039709
- ISBN-13: 9783462039702
- Erscheinungsdatum: 22.02.2008
Rezension zu „Der Geschmack von Apfelkernen “
»Ich habe selten ein Buch erlebt, bei dem ich so gefühlt und gespürt, gerochen und geschmeckt habe [...] Intensiv, amüsant, traurig, schön und [...] federleicht.« Christine Westermann WDR Frau TV 20110512
Pressezitat
»Ich habe selten ein Buch erlebt, bei dem ich so gefühlt und gespürt, gerochen und geschmeckt habe [...] Intensiv, amüsant, traurig, schön und [...] federleicht.« Christine Westermann WDR Frau TV 20110512
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