Der Fledermausmann / Harry Hole Bd.1
Harry Holes erster Fall. Kriminalroman. Ausgezeichnet mit dem Riverton-Preis 1997
"Jo Nesbøs Krimis lesen sich grossartig." Brigitte
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Fledermausmann / Harry Hole Bd.1 “
"Jo Nesbøs Krimis lesen sich grossartig." Brigitte
Klappentext zu „Der Fledermausmann / Harry Hole Bd.1 “
Der Polizist Harry Hole wird zur Aufklärung des Mordes an der norwegischen Schauspielerin Inger Holter nach Australien gesandt. Dort steht ihm sein Kollege Andrew Kensington, ein Aborigine, zur Seite. Die beiden unkonventionellen Polizisten freunden sich schnell an. Von Andrew erfährt Hole eine Menge über Australien, seine Geschichte und das Leben in Sydney. Doch der Mord an Inger Holter ist kein Einzelfall. Im ganzen Osten von Australien werden junge, blonde Frauen vergewaltigt, mitunter auch erwürgt. Ist der Täter ein psychopathischer Frauenmörder? Entdecken Sie auch MESSER, den neuen grossen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!
Lese-Probe zu „Der Fledermausmann / Harry Hole Bd.1 “
Der Fledermausmann von Jo Nesbø1
Sydney, Mister Kensington und drei Sterne
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Etwas lief schief.
Die Beamtin an der Paßkontrolle hatte zuerst breit gegrinst: »How are you, mate?«
»I'm fine«, hatte Harry Hole gelogen. Vor mehr als dreißig Stunden hatte er Oslo via London verlassen, und seit Bahrain, wo er ein anderes Flugzeug nehmen mußte, hatte er die ganze Zeit auf diesem verdammten Platz vor dem Notausgang gesessen. Aus Sicherheitsgründen konnte man den Sitz nur minimal nach hinten lehnen, und schon vor Singapur hatte sein Rückgrat damit gedroht, zu kollabieren.
Und jetzt grinste auch die Frau an der Paßkontrolle nicht mehr.
Sie hatte seinen Ausweis mit auffallendem Interesse studiert. Ob es das Bild war oder die Schreibweise des Namens, der sie am Anfang amüsiert hatte, war schwer zu sagen.
»Business?«
Harry Hole glaubte, daß die Zollbeamten in den meisten anderen Ländern der Welt dieser Frage ein »Sir« nachgestellt hätten, doch hatte er gelesen, daß diese Art formeller Höflichkeitsfloskeln in Australien nicht allzusehr verbreitet war. Das war auch ziemlich egal, Harry war weder sonderlich reiseerfahren noch irgendwie eingebildet, er wünschte sich nur, so schnell wie möglich in ein Hotelzimmer mit einem Bett zu gelangen.
»Yes« hatte er geantwortet und dabei mit den Fingern auf den Tisch getrommelt.
Genau in diesem Augenblick hatte sie häßlich ihre Lippen gespitzt und mit scharfer Stimme gesagt:
» Why isn't there a visa in your passport, Sir?«
Sein Herz zuckte unweigerlich zusammen, wie immer, wenn eine Katastrophe im Anmarsch zu sein schien. »Sir« wurde vielleicht nur verwendet, wenn eine Situation zu eskalieren drohte.
»Sorry, I forgot«, murmelte Harry und durchsuchte dabei fieberhaft die Innentaschen seiner Jacke. Warum hatten sie das Spezialvisum nicht wie gewöhnlich in seinen Paß heften können? Hinter sich in der Warteschlange horte er das schwache Summen eines Walkmans und wußte genau, daß es der Nebenmann aus dem Flugzeug war. Er hatte während des ganzen Fluges immer wieder die gleiche Cassette gehört.
Warum, zum Teufel, konnte er sich nie daran erinnern, in welche Tasche er was gesteckt hatte? Zu allem Uberfluß war es auch noch heiß, und das, obwohl es schon fast zehn Uhr abends war. Harry spürte, wie sein Kopf zu jucken begann.
Endlich fand er das Dokument und legte es vor ihr auf den Tisch.
»Police officer, are you?«
Die Beamtin schaute von dem Spezialvisum auf und musterte ihn, aber ihr verkniffener Mund hatte sich wieder entspannt.
»Ich hoffe, es sind keine norwegischen Blondinen ermordet worden?«
Sie lachte erfrischend auf und knallte gutgelaunt den Stempel auf das Visum.
» Well, just one«, antwortete Harry Hole.
Die Ankunftshalle des Flughafens war voller Vertreter von Reiseunternehmen und Abholern, die Schilder mit den jeweiligen Namen hochhielten, nur keins mit »Hole«. Er war kurz davor, sich ein Taxi zu nehmen, als er einen Schwarzen in Jeans und Hawaiihemd, einer ungewöhnlich breiten Nase und kurzen dunklen Locken bemerkte, der sich einen Weg durch die Schilder bahnte und langsam auf ihn zukam.
»Mr. Håo - li, I presume! « triumphierte er.
Harry Hole stutzte einen Moment. Er hatte sich darauf eingerichtet, die erste Zeit in Australien damit zu verbringen, die Aussprache seines Nachnamens zu korrigieren, um nicht mit einem Loch verwechselt zu werden. Mr. Heilig war ihm da schon um einiges lieber.
»Andrew Kensington, how are ya?« stellte sich der Mann vor, grinste und streckte ihm eine gewaltige Pranke entgegen. Seine Hand war die reinste Saftpresse.
»Welcome to Sydney - hope you enjoyed the flight«, sagte der Fremde herzlich, wie ein Echo der Stewardeß vor etwa zwanzig Minuten. Er nahm Holes abgenutzten Koffer und begann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Ausgang zuzugehen. Harry hielt sich dicht hinter ihm.
»Arbeiten Sie für die Polizei in Sydney?« begann er. »Sure do, mate. Watch out! «
Die Schwingtür klatschte Harry voll auf die Nase, so daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Der Anfang einer miesen Slapstick-Komödie hatte nicht schlimmer sein können. Er rieb sich seinen Zinken und fluchte laut auf norwegisch. Kensington schaute ihn mitleidsvoll an.
»Bloody doors, ay?« sagte er.
Harry antwortete nicht. Er wußte nicht, was man hier unten auf so etwas antwortete.
Auf dem Parkplatz schloß Kensington den Kofferraum eines alten, kleinen Toyotas auf und hob den Koffer hinein.
»Do you wanna drive, mate?« fragte er überrascht.
Harry begriff, daß er auf der Fahrerseite stand. Scheiße, hier fährt man ja links. Auf dem Beifahrersitz lagen aber so viele Zeitungen, Cassetten und Mull, daß Harry sich ohne Umstände auf die Rückbank schob.
»You must be an aborigine«, fragte er, als sie auf die Autobahn fuhren.
»Guess there's no foolin' you, officer«, antwortete Kensington und blickte in den Rückspiegel.
»In Norway we call you >australneger< - Australian negro.«
Kensington betrachtete ihn im Rückspiegel.
»Really?«
Harry begann sich unwohl zu fühlen.
»Ah, ich meine nur, daß Ihre Vorfahren ganz offensichtlich nicht zu den Strafgefangenen gehört haben, die vor zweihundert Jahren von England hierhergeschickt wurden«, entschuldigte er sich, um zu zeigen, daß er wenigstens gewisse Grundkenntnisse über die Geschichte dieses Landes besaß.
»That's right Hao-li, meine Vorfahren waren schon ein bißchen früher hier. Vierzigtausend Jahre, um genau zu sein.«
Kensington grinste in den Spiegel, und Harry beschloß, jetzt erst einmal für eine Weile den Mund zu halten.
»I see. Nennen Sie mich Harry! «
»Okay, Harry, ich bin Andrew.«
Den Rest der Strecke redete Andrew. Er fuhr Harry nach King's Cross und erklärte ihm alles: Dieses Viertel war die Heimat von Sydneys Prostituierten und das Zentrum für Drogenhandel und andere lichtscheue Aktivitäten der Stadt. Jeder zweite öffentliche Skandal schien Verbindungen zu dem einen oder anderen Hotel oder einer Stripbar dieses Quadratkilometers zu haben.
»Da wären wir«, sagte Andrew plötzlich. Er hielt am Straßenrand an, stieg aus dem Auto und holte Harrys Gepäck aus dem Kofferraum.
»See ya tomorrow«, sagte Andrew, und damit waren er und das Auto auch schon verschwunden. Mit steifem Rücken und einem Jetlag, der sich immer mehr bemerkbar machte, standen Harry und sein Koffer plötzlich alleine auf dem Burgersteig einer Stadt, deren Einwohnerzahl in etwa der Bevölkerung von ganz Norwegen entsprach. Hinter ihm erhob sich die Fassade des Crescent Hotel. Neben dem Namen prangten drei Sterne. Oslos Polizeipräsidentin war nicht gerade bekannt dafür, besonders großzügig bei der Einquartierung ihrer Untergebenen zu sein. Aber vielleicht war es diesmal ja doch nicht so schlecht. Wahrscheinlich gab es Rabatt für den öffentlichen Dienst und besonders kleine Zimmer, dachte Harry.
Und so war es dann auch.
2
Ein tasmanischer Teufel, ein Clown und eine Schwedin
Harry klopfte vorsichtig an die Tür des Polizeichefs des Distriktes Sydney South.
»Komm' rein!« dröhnte eine tiefe Stimme von drinnen.
Ein großer, breiter Mann mit einem beeindruckenden Bauch stand hinter einem Schreibtisch aus Eiche am Fenster. Unter seinem schütteren Haar stachen graue, buschige Augenbrauen hervor, doch in den Augenfalten lag ein Lächeln.
»Harry Hole aus Oslo, Norge, Sir.«
»Setzen Sie sich, Holy. Sie sehen verdammt wach aus, so früh am Morgen. Ich hoffe, Sie haben nicht bereits Kontakt zu unseren Junkies aufgenommen?« Neil McCormack lachte herzlich.
»Jetlag. Seit vier Uhr heute Nacht bin ich hellwach, Sir«, erklärte Harry
»Natürlich. Nur ein kleiner Witz von mit. Wir hatten hier vor ein paar Jahren einen recht schwerwiegenden Korruptionsfall, verstehen Sie. Zehn Polizisten wurden verurteilt, unter anderem, weil sie Drogen verkauft hatten, untereinander. Der Verdacht kam damals auf, weil einige von ihnen so unbeschreiblich wach waren - den ganzen Tag über. Eigentlich sollte man darüber keine Witze machen«, brummte er gutmütig, setzte seine Brille auf und blätterte in den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
»Sie sind also hierher beordert worden, um uns bei den Untersuchungen im Mordfall Inger Holter, norwegische Staatsbürgerin mit Arbeitsvisum für Australien, zu unterstützen. Ein blondes, hübsches Mädchen, jedenfalls den Bildern nach. Dreiundzwanzig Jahre, nicht wahr?«
Harry nickte. McCormack war jetzt vollkommen ernst. »Sie wurde von Fischern am Strand der Watson Bay gefunden, genauer gesagt, unterhalb des Gap Parks. Fast nackt, allen Anzeichen nach ist sie zuerst vergewaltigt und dann erwürgt worden, es gibt aber keine Spermaspuren. Dann hat man sie im Dunkel der Nacht in den Park gebracht und die Steilküste hinuntergeworfen.«
Er schnitt eine Grimasse.
»Bei etwas schlechterem Wetter wäre sie sicher von den Wellen erfaßt worden, so aber blieb sie zwischen den Steinen liegen, bis sie am nächsten Morgen gefunden wurde. Wir haben, wie gesagt, keine Spuren von Sperma. Der Täter hat ihre Scheide wie ein Fischfilet aufgeschnitten, und das Meerwasser hat dieses Mädchen gründlich ausgewaschen. Deshalb gibt es auch keine Fingerabdrücke, aber wir haben den ungefähren Todeszeitpunkt« - McCormack nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht - »und uns fehlt ein Mörder. Und was zum Teufel wollen Sie jetzt machen, Mr. Holy?«
Harry wollte etwas antworten, doch McCormack fuhr ihm ins Wort: »Doch, doch, ich weiß schon, was Sie sich vorgenommen haben: dabei zu sein, wenn wir diesen Bastard einlochen und der norwegischen Presse Bericht erstatten, wie ausgezeichnet die Zusammenarbeit funktioniert. Natürlich passen Sie auch darauf auf, daß niemandem in der Botschaft oder deren Umfeld zu nahe getreten wird, aber ansonsten gilt für Sie, ein wenig Urlaub zu machen und ein oder zwei Karten an Ihre reizende Polizeipräsidentin zu schicken. Wie geht es ihr übrigens?«
»Gut, gut, soweit ich weiß!«
»Eine tolle Frau. Sie hat Ihnen doch sicher auch erklärt, was hier von Ihnen erwartet wird.«
»In Grundzügen. Ich soll an den Untersuchungen mitwir . . .«
»Wunderbar! Vergessen Sie das. Wir haben hier andere Regeln. Erstens: Von jetzt ab hören Sie auf mich, und nur auf mich. Zweitens: Sie beteiligen sich an nichts, um das ich Sie nicht vorher ausdrücklich gebeten habe. Und drittens: Ein Fehler und ich setze Sie ins erstbeste Flugzeug zurück nach Hause.«
All das sagte McCormack mit einem Lächeln, doch die Botschaft war klar: Finger weg! Er war hier nur Zuschauer. Ebensogut hätte er Badehose und Fotoapparat einpacken können.
»Soweit ich das verstanden habe, war Inger Holter irgendeine bekannte Persönlichkeit des norwegischen Fernsehens?«
»Mehr oder weniger, Sir. Sie hat vor ein paar Jahren eine Jugendsendung moderiert. Bevor der Mord geschah, war man gerade dabei, sie zu vergessen.«
»Jo, ich habe gehört, daß Ihre Zeitungen eine große Sache aus diesem Mordfall machen. Einige haben sogar ihre Reporter hergeschickt. Wir haben ihnen gegeben, was wir haben, aber das ist ja nicht allzuviel, und ich denke, daß sie es bald leid sein werden und die Heimreise antreten. Sie wissen nichts davon, daß Sie hier sind. Wir haben unsere eigenen Kindermädchen, die sich um so etwas kümmern, darüber brauchen Sie sich also keine Gedanken zu machen.«
»Danke, Sir«, sagte Harry aus tiefster Seele. Der Gedanke, übereifrige norwegische Journalisten im Schlepptau zu haben, war alles andere als verlockend.
»Okay, Holy, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Mein Vorgesetzter hat mir ganz klar zu verstehen gegeben, daß die Repräsentanten der Stadt Sydney sehr großes Interesse daran haben, daß diese Sache so schnell wie möglich aufgeklart wird. Wie gewöhnlich dreht es sich dabei um Politik und Wirtschaft.«
»Wirtschaft ?«
»Nun, wir rechnen damit, daß die Arbeitslosigkeit in Sydney in diesem Jahr auf über zehn Prozent ansteigen wird, die Stadt braucht jeden Dollar aus dem Fremdenverkehr. Im Jahr 2000 steht die Olympiade vor der Tür, und es kommen immer mehr Reisende aus Skandinavien. Da sind Morde, speziell unaufgeklärte Morde, eine schlechte Reklame.
© List TB
Übersetzung: Frauenlob, Günther
Etwas lief schief.
Die Beamtin an der Paßkontrolle hatte zuerst breit gegrinst: »How are you, mate?«
»I'm fine«, hatte Harry Hole gelogen. Vor mehr als dreißig Stunden hatte er Oslo via London verlassen, und seit Bahrain, wo er ein anderes Flugzeug nehmen mußte, hatte er die ganze Zeit auf diesem verdammten Platz vor dem Notausgang gesessen. Aus Sicherheitsgründen konnte man den Sitz nur minimal nach hinten lehnen, und schon vor Singapur hatte sein Rückgrat damit gedroht, zu kollabieren.
Und jetzt grinste auch die Frau an der Paßkontrolle nicht mehr.
Sie hatte seinen Ausweis mit auffallendem Interesse studiert. Ob es das Bild war oder die Schreibweise des Namens, der sie am Anfang amüsiert hatte, war schwer zu sagen.
»Business?«
Harry Hole glaubte, daß die Zollbeamten in den meisten anderen Ländern der Welt dieser Frage ein »Sir« nachgestellt hätten, doch hatte er gelesen, daß diese Art formeller Höflichkeitsfloskeln in Australien nicht allzusehr verbreitet war. Das war auch ziemlich egal, Harry war weder sonderlich reiseerfahren noch irgendwie eingebildet, er wünschte sich nur, so schnell wie möglich in ein Hotelzimmer mit einem Bett zu gelangen.
»Yes« hatte er geantwortet und dabei mit den Fingern auf den Tisch getrommelt.
Genau in diesem Augenblick hatte sie häßlich ihre Lippen gespitzt und mit scharfer Stimme gesagt:
» Why isn't there a visa in your passport, Sir?«
Sein Herz zuckte unweigerlich zusammen, wie immer, wenn eine Katastrophe im Anmarsch zu sein schien. »Sir« wurde vielleicht nur verwendet, wenn eine Situation zu eskalieren drohte.
»Sorry, I forgot«, murmelte Harry und durchsuchte dabei fieberhaft die Innentaschen seiner Jacke. Warum hatten sie das Spezialvisum nicht wie gewöhnlich in seinen Paß heften können? Hinter sich in der Warteschlange horte er das schwache Summen eines Walkmans und wußte genau, daß es der Nebenmann aus dem Flugzeug war. Er hatte während des ganzen Fluges immer wieder die gleiche Cassette gehört.
Warum, zum Teufel, konnte er sich nie daran erinnern, in welche Tasche er was gesteckt hatte? Zu allem Uberfluß war es auch noch heiß, und das, obwohl es schon fast zehn Uhr abends war. Harry spürte, wie sein Kopf zu jucken begann.
Endlich fand er das Dokument und legte es vor ihr auf den Tisch.
»Police officer, are you?«
Die Beamtin schaute von dem Spezialvisum auf und musterte ihn, aber ihr verkniffener Mund hatte sich wieder entspannt.
»Ich hoffe, es sind keine norwegischen Blondinen ermordet worden?«
Sie lachte erfrischend auf und knallte gutgelaunt den Stempel auf das Visum.
» Well, just one«, antwortete Harry Hole.
Die Ankunftshalle des Flughafens war voller Vertreter von Reiseunternehmen und Abholern, die Schilder mit den jeweiligen Namen hochhielten, nur keins mit »Hole«. Er war kurz davor, sich ein Taxi zu nehmen, als er einen Schwarzen in Jeans und Hawaiihemd, einer ungewöhnlich breiten Nase und kurzen dunklen Locken bemerkte, der sich einen Weg durch die Schilder bahnte und langsam auf ihn zukam.
»Mr. Håo - li, I presume! « triumphierte er.
Harry Hole stutzte einen Moment. Er hatte sich darauf eingerichtet, die erste Zeit in Australien damit zu verbringen, die Aussprache seines Nachnamens zu korrigieren, um nicht mit einem Loch verwechselt zu werden. Mr. Heilig war ihm da schon um einiges lieber.
»Andrew Kensington, how are ya?« stellte sich der Mann vor, grinste und streckte ihm eine gewaltige Pranke entgegen. Seine Hand war die reinste Saftpresse.
»Welcome to Sydney - hope you enjoyed the flight«, sagte der Fremde herzlich, wie ein Echo der Stewardeß vor etwa zwanzig Minuten. Er nahm Holes abgenutzten Koffer und begann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Ausgang zuzugehen. Harry hielt sich dicht hinter ihm.
»Arbeiten Sie für die Polizei in Sydney?« begann er. »Sure do, mate. Watch out! «
Die Schwingtür klatschte Harry voll auf die Nase, so daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Der Anfang einer miesen Slapstick-Komödie hatte nicht schlimmer sein können. Er rieb sich seinen Zinken und fluchte laut auf norwegisch. Kensington schaute ihn mitleidsvoll an.
»Bloody doors, ay?« sagte er.
Harry antwortete nicht. Er wußte nicht, was man hier unten auf so etwas antwortete.
Auf dem Parkplatz schloß Kensington den Kofferraum eines alten, kleinen Toyotas auf und hob den Koffer hinein.
»Do you wanna drive, mate?« fragte er überrascht.
Harry begriff, daß er auf der Fahrerseite stand. Scheiße, hier fährt man ja links. Auf dem Beifahrersitz lagen aber so viele Zeitungen, Cassetten und Mull, daß Harry sich ohne Umstände auf die Rückbank schob.
»You must be an aborigine«, fragte er, als sie auf die Autobahn fuhren.
»Guess there's no foolin' you, officer«, antwortete Kensington und blickte in den Rückspiegel.
»In Norway we call you >australneger< - Australian negro.«
Kensington betrachtete ihn im Rückspiegel.
»Really?«
Harry begann sich unwohl zu fühlen.
»Ah, ich meine nur, daß Ihre Vorfahren ganz offensichtlich nicht zu den Strafgefangenen gehört haben, die vor zweihundert Jahren von England hierhergeschickt wurden«, entschuldigte er sich, um zu zeigen, daß er wenigstens gewisse Grundkenntnisse über die Geschichte dieses Landes besaß.
»That's right Hao-li, meine Vorfahren waren schon ein bißchen früher hier. Vierzigtausend Jahre, um genau zu sein.«
Kensington grinste in den Spiegel, und Harry beschloß, jetzt erst einmal für eine Weile den Mund zu halten.
»I see. Nennen Sie mich Harry! «
»Okay, Harry, ich bin Andrew.«
Den Rest der Strecke redete Andrew. Er fuhr Harry nach King's Cross und erklärte ihm alles: Dieses Viertel war die Heimat von Sydneys Prostituierten und das Zentrum für Drogenhandel und andere lichtscheue Aktivitäten der Stadt. Jeder zweite öffentliche Skandal schien Verbindungen zu dem einen oder anderen Hotel oder einer Stripbar dieses Quadratkilometers zu haben.
»Da wären wir«, sagte Andrew plötzlich. Er hielt am Straßenrand an, stieg aus dem Auto und holte Harrys Gepäck aus dem Kofferraum.
»See ya tomorrow«, sagte Andrew, und damit waren er und das Auto auch schon verschwunden. Mit steifem Rücken und einem Jetlag, der sich immer mehr bemerkbar machte, standen Harry und sein Koffer plötzlich alleine auf dem Burgersteig einer Stadt, deren Einwohnerzahl in etwa der Bevölkerung von ganz Norwegen entsprach. Hinter ihm erhob sich die Fassade des Crescent Hotel. Neben dem Namen prangten drei Sterne. Oslos Polizeipräsidentin war nicht gerade bekannt dafür, besonders großzügig bei der Einquartierung ihrer Untergebenen zu sein. Aber vielleicht war es diesmal ja doch nicht so schlecht. Wahrscheinlich gab es Rabatt für den öffentlichen Dienst und besonders kleine Zimmer, dachte Harry.
Und so war es dann auch.
2
Ein tasmanischer Teufel, ein Clown und eine Schwedin
Harry klopfte vorsichtig an die Tür des Polizeichefs des Distriktes Sydney South.
»Komm' rein!« dröhnte eine tiefe Stimme von drinnen.
Ein großer, breiter Mann mit einem beeindruckenden Bauch stand hinter einem Schreibtisch aus Eiche am Fenster. Unter seinem schütteren Haar stachen graue, buschige Augenbrauen hervor, doch in den Augenfalten lag ein Lächeln.
»Harry Hole aus Oslo, Norge, Sir.«
»Setzen Sie sich, Holy. Sie sehen verdammt wach aus, so früh am Morgen. Ich hoffe, Sie haben nicht bereits Kontakt zu unseren Junkies aufgenommen?« Neil McCormack lachte herzlich.
»Jetlag. Seit vier Uhr heute Nacht bin ich hellwach, Sir«, erklärte Harry
»Natürlich. Nur ein kleiner Witz von mit. Wir hatten hier vor ein paar Jahren einen recht schwerwiegenden Korruptionsfall, verstehen Sie. Zehn Polizisten wurden verurteilt, unter anderem, weil sie Drogen verkauft hatten, untereinander. Der Verdacht kam damals auf, weil einige von ihnen so unbeschreiblich wach waren - den ganzen Tag über. Eigentlich sollte man darüber keine Witze machen«, brummte er gutmütig, setzte seine Brille auf und blätterte in den Papieren, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
»Sie sind also hierher beordert worden, um uns bei den Untersuchungen im Mordfall Inger Holter, norwegische Staatsbürgerin mit Arbeitsvisum für Australien, zu unterstützen. Ein blondes, hübsches Mädchen, jedenfalls den Bildern nach. Dreiundzwanzig Jahre, nicht wahr?«
Harry nickte. McCormack war jetzt vollkommen ernst. »Sie wurde von Fischern am Strand der Watson Bay gefunden, genauer gesagt, unterhalb des Gap Parks. Fast nackt, allen Anzeichen nach ist sie zuerst vergewaltigt und dann erwürgt worden, es gibt aber keine Spermaspuren. Dann hat man sie im Dunkel der Nacht in den Park gebracht und die Steilküste hinuntergeworfen.«
Er schnitt eine Grimasse.
»Bei etwas schlechterem Wetter wäre sie sicher von den Wellen erfaßt worden, so aber blieb sie zwischen den Steinen liegen, bis sie am nächsten Morgen gefunden wurde. Wir haben, wie gesagt, keine Spuren von Sperma. Der Täter hat ihre Scheide wie ein Fischfilet aufgeschnitten, und das Meerwasser hat dieses Mädchen gründlich ausgewaschen. Deshalb gibt es auch keine Fingerabdrücke, aber wir haben den ungefähren Todeszeitpunkt« - McCormack nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht - »und uns fehlt ein Mörder. Und was zum Teufel wollen Sie jetzt machen, Mr. Holy?«
Harry wollte etwas antworten, doch McCormack fuhr ihm ins Wort: »Doch, doch, ich weiß schon, was Sie sich vorgenommen haben: dabei zu sein, wenn wir diesen Bastard einlochen und der norwegischen Presse Bericht erstatten, wie ausgezeichnet die Zusammenarbeit funktioniert. Natürlich passen Sie auch darauf auf, daß niemandem in der Botschaft oder deren Umfeld zu nahe getreten wird, aber ansonsten gilt für Sie, ein wenig Urlaub zu machen und ein oder zwei Karten an Ihre reizende Polizeipräsidentin zu schicken. Wie geht es ihr übrigens?«
»Gut, gut, soweit ich weiß!«
»Eine tolle Frau. Sie hat Ihnen doch sicher auch erklärt, was hier von Ihnen erwartet wird.«
»In Grundzügen. Ich soll an den Untersuchungen mitwir . . .«
»Wunderbar! Vergessen Sie das. Wir haben hier andere Regeln. Erstens: Von jetzt ab hören Sie auf mich, und nur auf mich. Zweitens: Sie beteiligen sich an nichts, um das ich Sie nicht vorher ausdrücklich gebeten habe. Und drittens: Ein Fehler und ich setze Sie ins erstbeste Flugzeug zurück nach Hause.«
All das sagte McCormack mit einem Lächeln, doch die Botschaft war klar: Finger weg! Er war hier nur Zuschauer. Ebensogut hätte er Badehose und Fotoapparat einpacken können.
»Soweit ich das verstanden habe, war Inger Holter irgendeine bekannte Persönlichkeit des norwegischen Fernsehens?«
»Mehr oder weniger, Sir. Sie hat vor ein paar Jahren eine Jugendsendung moderiert. Bevor der Mord geschah, war man gerade dabei, sie zu vergessen.«
»Jo, ich habe gehört, daß Ihre Zeitungen eine große Sache aus diesem Mordfall machen. Einige haben sogar ihre Reporter hergeschickt. Wir haben ihnen gegeben, was wir haben, aber das ist ja nicht allzuviel, und ich denke, daß sie es bald leid sein werden und die Heimreise antreten. Sie wissen nichts davon, daß Sie hier sind. Wir haben unsere eigenen Kindermädchen, die sich um so etwas kümmern, darüber brauchen Sie sich also keine Gedanken zu machen.«
»Danke, Sir«, sagte Harry aus tiefster Seele. Der Gedanke, übereifrige norwegische Journalisten im Schlepptau zu haben, war alles andere als verlockend.
»Okay, Holy, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Mein Vorgesetzter hat mir ganz klar zu verstehen gegeben, daß die Repräsentanten der Stadt Sydney sehr großes Interesse daran haben, daß diese Sache so schnell wie möglich aufgeklart wird. Wie gewöhnlich dreht es sich dabei um Politik und Wirtschaft.«
»Wirtschaft ?«
»Nun, wir rechnen damit, daß die Arbeitslosigkeit in Sydney in diesem Jahr auf über zehn Prozent ansteigen wird, die Stadt braucht jeden Dollar aus dem Fremdenverkehr. Im Jahr 2000 steht die Olympiade vor der Tür, und es kommen immer mehr Reisende aus Skandinavien. Da sind Morde, speziell unaufgeklärte Morde, eine schlechte Reklame.
© List TB
Übersetzung: Frauenlob, Günther
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Autoren-Porträt von Jo Nesbø
Nesbø, JoJo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Frauenlob, Günther
Günther Frauenlob studierte Geografie und ist seit 1993 als freier Übersetzer tätig. Er übersetzt erzählende Literatur und Sachbücher aus dem Norwegischen und Dänischen, zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren gehören Jo Nesbø, Lars Mytting, Thomas Enger und Arnhild Lauveng. Er ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke, VdÜ, und lebt in Waldkirch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Nesbø
- 2013, 432 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611729
- ISBN-13: 9783548611723
- Erscheinungsdatum: 12.07.2013
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