Der Erlöser / Harry Hole Bd.6
Kriminalroman
Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Mörder und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Erlöser / Harry Hole Bd.6 “
Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Mörder und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht.
Klappentext zu „Der Erlöser / Harry Hole Bd.6 “
Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Killer und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht. Harry Hole steht in seinem sechsten Fall vor einer ganz besonderen Herausforderung.In Oslo wird ein junger Mann auf offener Strasse ermordet. Robert Karlsen, Offizier der Heilsarmee, wurde das Opfer des berüchtigten kroatischen Auftragskillers Stankic. Hauptkommissar Harry Hole, der gerade andere Probleme hat, hofft auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Seine Freundin Rakel hat ihn verlassen und der eigenwillige Kommissar will endlich versuchen, die Beziehung zu kitten. Doch Stankic erweist sich als ebenbürtiger Gegner. Als Hole merkt, dass der Mörder es auch auf Roberts Bruder Jon Karlsen abgesehen hat, beginnt eine atemberaubende Verfolgungsjagd. In wessen Auftrag ist Stankic unterwegs? Was ist das Motiv für die Mordanschläge? Und was spielt sich hinter der makellosen Fassade der norwegischen Heilsarmee wirklich ab? Ein eindringlicher Kriminalroman undein düsteres Porträt unserer Zeit. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen grossen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!
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Der Erlöser von Jo Nesbø LESEPROBE
Harry trat auf den Bahnsteig, blieb stehen und atmete die warme U-Bahnluft ein, während er einen Blick auf den Zettel mit der Adresse warf. Er hörte, wie sich die Türen schlossen, und spürte einen Luftzug im Rücken, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Er steuerte auf den Ausgang zu. Das Werbeplakat über der Rolltreppe verkündete ihm, dass es Wege gab, Erkältungen zu vermeiden. Wie zur Antwort hustete er, dachte »ihr könnt mich mal«, fuhr mit der Hand in die tiefe Tasche seines Wollmantels und stieß unter dem Flachmann und dem Döschen mit den Halstabletten auf die Schachtel Camel.
Die Zigarette wippte zwischen seinen Lippen, als er durch die Glastür trat. Er ließ die raue, unnatürliche Wärme von Oslos Untergrund hinter sich und trat in die alles andere als unnatürliche Kälte und Dezemberdunkelheit der Stadt hinaus. Harry zog unwillkürlich die Schultern hoch. Egertorg. Der kleine, offene Platz war eine Kreuzung von Fußgängerzonen im Herzen von Oslo, sofern die Stadt in dieser Jahreszeit denn überhaupt so etwas wie ein Herz hatte. Die Geschäfte hatten am vorletzten Wochenende vor Weihnachten auch sonntags geöffnet. Der Platz wimmelte von Menschen, die im gelben Licht hin und her rannten, das durch die Fenster der bescheidenen, dreistöckigen Geschäftshäuser fiel. Harry sah die Taschen mit den eingepackten Geschenken und rief sich ins Gedächtnis, dass er noch etwas für Bjarne Møller kaufen musste, der am kommenden Tag seinen Abschied vom Polizeipräsidium feiern sollte. Harrys Chef, der in all den Jahren bei der Polizei auch so etwas wie sein oberster Schutzheiliger gewesen war, hatte sein Vorhaben, es langsamer angehen zu lassen, tatsächlich in die Tat um- gesetzt. Ab kommender Woche wollte er als
... mehr
sogenannter Senior-Sonderermittler für die Polizeikammer in Bergen arbeiten, was in Wahrheit nichts anderes bedeutete, als dass Bjarne Møller von nun an bis zu seiner Pensionierung tun und lassen konnte, was er wollte. An sich ja ganz schön, aber ausgerechnet Bergen? Regen und nasse Felsen. Møller kam nicht einmal von dort. Harry hatte Bjarne Møller immer gemocht - wenn er ihn auch nicht immer verstanden hatte.
Ein Mann im Ganzkörperdaunenanzug wankte wie ein Astronaut vorbei, er grinste mit roten Backen, während ihm der Atem in weißen Wölkchen aus dem Mund quoll. Gekrümmte Rücken und verschlossene Wintergesichter. Harry fiel eine blasse Frau auf, die eine dünne, schwarze Lederjacke mit löchrigen Ärmeln trug. Sie stand an der Mauer neben dem Uhrmachergeschäft, trat von einem Bein aufs andere und hielt mit flackerndem Blick nach ihrem Dealer Ausschau. Ein Bettler saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt und den Kopf wie in Meditation zur Seite geneigt. Er hatte lange Haare und war unrasiert, trug aber gute, warme, durchaus moderne Kleider. Vor ihm stand ein brauner Pappbecher aus einem Café. Harry waren im letzten Jahr immer mehr Bettler aufgefallen, und irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sahen. Sogar die Pappbecher waren die gleichen, als gäbe es da einen geheimen Code. Vielleicht waren es Außerirdische, die im Stillen dabei waren, seine Stadt zu übernehmen, seine Straßen. Und wenn schon. Sollten sie doch! Harry betrat das Uhrmachergeschäft.
»Können Sie die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen und reichte ihm eine Großvateruhr, die tatsächlich die Uhr seines Großvaters war. Harry hatte sie als Junge in Åndalsnes bekommen, bei der Beerdigung seiner Mutter. Ihm hatte das beinahe Angst gemacht, aber sein Großvater hatte ihn beruhigt und gesagt, dass Uhren dazu da seien, weitergegeben zu werden, und dass auch er das eines Tages tun sollte:
»Ehe es zu spät ist.«
Harry hatte die Uhr vollkommen vergessen, bis er im Herbst bei sich in der Sofies gate Besuch von Oleg bekommen hatte, der auf der Suche nach Harrys Gameboy in einer Schublade auf die silberne Uhr gestoßen war. Und Oleg, der neun Jahre alt war, Harry aber längst beim Tetris-Spielen schlug - ihrer gemeinsamen Leidenschaft -, hatte das Duell, auf das er sich so gefreut hatte, vergessen und stattdessen an der Uhr herumgefingert, um sie wieder in Gang zu setzen.
»Die ist kaputt«, sagte Harry.
»Blödsinn«, antwortete Oleg. »Man kann alles reparieren.«
Harry hoffte aus tiefstem Herzen, dass diese Behauptung stimmte, es gab aber Tage, an denen er es aufs Stärkste bezweifelte. Trotzdem fragte er sich kurz, ob er Oleg mit der Gruppe »Jokke & Valentinerne « bekannt machen sollte, die ein Album mit genau diesem Titel herausgebracht hatte: »Man kann alles reparieren«. Doch dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Olegs Mutter, Rakel, sicher nicht begeistert wäre von der ganz besonderen Konstellation, dass nämlich ihr Exlover und Alkoholiker ihrem Sohn die Lieder eines verstorbenen Junkies vorspielte, der sein Alkoholikerdasein besang.
»Kann man die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen. Wie zur Antwort wurde die Uhr von raschen, kundigen Händen geöffnet.
»Das würde sich nicht lohnen.«
»Sich lohnen?«
»Gehen Sie zu einem Antiquitätenhändler. Da bekommen Sie bestimmt bessere Uhren, die auch noch laufen - und das für weniger Geld, als die Reparatur kosten würde.«
»Versuchen Sie es trotzdem«, sagte Harry.
»Gut«, erwiderte der junge Mann, der bereits begonnen hatte, das Innere der Uhr zu studieren. Eigentlich schien er ganz froh über Harrys Entscheidung zu sein. »Kommen Sie nächste Woche Mittwoch wieder.«
Als Harry wieder auf die Straße trat, hörte er den dünnen Ton einer einfachen Gitarrensaite durch einen Verstärker. Er wurde höher, als der Gitarrist, ein Junge mit spärlichem Bartwuchs und Pulswärmern, an einem Wirbel herumdrehte. Jetzt begannen wieder die traditionellen Vorweihnachtskonzerte, bei denen bekannte Künstler zugunsten der Heilsarmee auf dem Egertorg auftraten. Die Menschen scharten sich bereits um die Band, die sich hinter dem schwarzen Kessel der Heilsarmee aufgestellt hatte, der mitten auf dem Platz an einem dreibeinigen Ständer hing.
»Bist du das?«
Harry drehte sich um. Es war die Frau mit dem Junkieblick.
»Du bist es doch, oder? Kommst du für Snoopy? Ich brauch sofort einen Null-eins, ich hab«
»Sorry«, unterbrach Harry sie. »Ich bin nicht der, den du meinst.« Sie sah ihn an, legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen, als wollte sie überprüfen, ob er sie anlog. »Doch, ich hab dich doch schon mal gesehen.«
»Ich bin Polizist.«
Sie hielt inne. Harry atmete ein. Ihre Reaktion kam allerdings mit einer gewissen Verzögerung, als müsste diese Nachricht erst ein paar Umwege nehmen, um verkohlte Nerven und zerschossene Synapsen zu meiden. Dann ging die matte Lampe des Hasses an, auf die Harry schon gewartet hatte.
»Ein Bulle?«
»Ich dachte, wir hätten ein Abkommen, dass ihr auf der Plata am Bahnhofsvorplatz bleibt«, sagte Harry und blickte an ihr vorbei zum Sänger der Band.
»Pah«, sagte die Frau, die sich direkt vor Harry aufgebaut hatte. »Du bist doch gar keiner von diesen Drogenbullen. Du bist doch der, der da im Fernsehen war, der diesen Typen abgeknallt« »Dezernat für Gewaltverbrechen.« Harry packte sie leicht am Arm. »Hör mal, das, was du brauchst, findest du auf der Plata. Zwing mich nicht, dich festzunehmen.«
»Geht nicht.« Sie wand sich los.
Harry bereute es sofort und nahm beide Hände in die Höhe. »Sag mir trotzdem, dass du hier jetzt nichts kaufen willst, damit ich gehen kann. Okay?«
Sie legte den Kopf auf die Seite. Ihre dünnen, blutleeren Lippen strafften sich ein wenig. Als sähe sie in der ganzen Situation auch etwas Amüsantes. »Soll ich dir sagen, warum ich nicht runter zur Plata gehen kann?«
Harry wartete.
»Weil mein Junge da unten rumläuft.«
Harry spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
»Ich will nicht, dass er mich so sieht. Verstehst du das, Bulle?«
Harry blickte in ihr trotziges Gesicht und suchte nach Worten. »Fröhliche Weihnachten«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.
Harry ließ die Zigarette in den braunen, pulverisierten Schnee fallen und ging. Er musste diesen Job endlich hinter sich bringen. Er sah die Menschen nicht an, die ihm entgegenkamen, und sie beachteten ihn auch nicht, sondern richteten ihre Blicke auf den vereisten Boden, als hätten sie ein schlechtes Gewissen; als schämten sie sich als Bürger der großzügigsten Sozialdemokratie der Welt. »Weil mein Junge da unten rumläuft.«
Im Fredensborgvei blieb Harry unweit der Deichmannschen Bibliothek vor der Hausnummer stehen, die auf seinem Briefumschlag notiert war. Er legte den Kopf in den Nacken. Die grauschwarze Fassade war frisch gestrichen. Der feuchte Traum eines jeden Sprayers. An einigen Fenstern hob sich Weihnachtsdekoration als dunkle Silhouette von diesem weichen, gelblichen Licht ab, das jeder unweigerlich mit einem sicheren warmen Zuhause in Verbindung bringt. Und vielleicht war das ja auch richtig, zwang sich Harry zu denken. Was ihm freilich nur mit Mühe gelang, denn man konnte nicht zwölf Jahre bei der Polizei sein, ohne von der Menschenverachtung angesteckt zu werden, die der Job mit sich brach - te. Aber er wehrte sich, das musste man ihm lassen. Er fand den Namen auf den Klingelschildern, schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, um die passenden Worte zu finden. Es half nichts. Ihre Stimme stand ihm noch immer im Weg.
»Ich will nicht, dass er mich so sieht«
Harry gab auf. Gab es passende Worte für das Unmögliche? Er drückte mit dem Daumen auf den kalten Metallknopf, und irgendwo im Haus erklang eine Türglocke.
© Ullstein Buchverlage
Übersetzung: Günther Frauenlob
Ein Mann im Ganzkörperdaunenanzug wankte wie ein Astronaut vorbei, er grinste mit roten Backen, während ihm der Atem in weißen Wölkchen aus dem Mund quoll. Gekrümmte Rücken und verschlossene Wintergesichter. Harry fiel eine blasse Frau auf, die eine dünne, schwarze Lederjacke mit löchrigen Ärmeln trug. Sie stand an der Mauer neben dem Uhrmachergeschäft, trat von einem Bein aufs andere und hielt mit flackerndem Blick nach ihrem Dealer Ausschau. Ein Bettler saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt und den Kopf wie in Meditation zur Seite geneigt. Er hatte lange Haare und war unrasiert, trug aber gute, warme, durchaus moderne Kleider. Vor ihm stand ein brauner Pappbecher aus einem Café. Harry waren im letzten Jahr immer mehr Bettler aufgefallen, und irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sahen. Sogar die Pappbecher waren die gleichen, als gäbe es da einen geheimen Code. Vielleicht waren es Außerirdische, die im Stillen dabei waren, seine Stadt zu übernehmen, seine Straßen. Und wenn schon. Sollten sie doch! Harry betrat das Uhrmachergeschäft.
»Können Sie die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen und reichte ihm eine Großvateruhr, die tatsächlich die Uhr seines Großvaters war. Harry hatte sie als Junge in Åndalsnes bekommen, bei der Beerdigung seiner Mutter. Ihm hatte das beinahe Angst gemacht, aber sein Großvater hatte ihn beruhigt und gesagt, dass Uhren dazu da seien, weitergegeben zu werden, und dass auch er das eines Tages tun sollte:
»Ehe es zu spät ist.«
Harry hatte die Uhr vollkommen vergessen, bis er im Herbst bei sich in der Sofies gate Besuch von Oleg bekommen hatte, der auf der Suche nach Harrys Gameboy in einer Schublade auf die silberne Uhr gestoßen war. Und Oleg, der neun Jahre alt war, Harry aber längst beim Tetris-Spielen schlug - ihrer gemeinsamen Leidenschaft -, hatte das Duell, auf das er sich so gefreut hatte, vergessen und stattdessen an der Uhr herumgefingert, um sie wieder in Gang zu setzen.
»Die ist kaputt«, sagte Harry.
»Blödsinn«, antwortete Oleg. »Man kann alles reparieren.«
Harry hoffte aus tiefstem Herzen, dass diese Behauptung stimmte, es gab aber Tage, an denen er es aufs Stärkste bezweifelte. Trotzdem fragte er sich kurz, ob er Oleg mit der Gruppe »Jokke & Valentinerne « bekannt machen sollte, die ein Album mit genau diesem Titel herausgebracht hatte: »Man kann alles reparieren«. Doch dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Olegs Mutter, Rakel, sicher nicht begeistert wäre von der ganz besonderen Konstellation, dass nämlich ihr Exlover und Alkoholiker ihrem Sohn die Lieder eines verstorbenen Junkies vorspielte, der sein Alkoholikerdasein besang.
»Kann man die reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter dem Tresen. Wie zur Antwort wurde die Uhr von raschen, kundigen Händen geöffnet.
»Das würde sich nicht lohnen.«
»Sich lohnen?«
»Gehen Sie zu einem Antiquitätenhändler. Da bekommen Sie bestimmt bessere Uhren, die auch noch laufen - und das für weniger Geld, als die Reparatur kosten würde.«
»Versuchen Sie es trotzdem«, sagte Harry.
»Gut«, erwiderte der junge Mann, der bereits begonnen hatte, das Innere der Uhr zu studieren. Eigentlich schien er ganz froh über Harrys Entscheidung zu sein. »Kommen Sie nächste Woche Mittwoch wieder.«
Als Harry wieder auf die Straße trat, hörte er den dünnen Ton einer einfachen Gitarrensaite durch einen Verstärker. Er wurde höher, als der Gitarrist, ein Junge mit spärlichem Bartwuchs und Pulswärmern, an einem Wirbel herumdrehte. Jetzt begannen wieder die traditionellen Vorweihnachtskonzerte, bei denen bekannte Künstler zugunsten der Heilsarmee auf dem Egertorg auftraten. Die Menschen scharten sich bereits um die Band, die sich hinter dem schwarzen Kessel der Heilsarmee aufgestellt hatte, der mitten auf dem Platz an einem dreibeinigen Ständer hing.
»Bist du das?«
Harry drehte sich um. Es war die Frau mit dem Junkieblick.
»Du bist es doch, oder? Kommst du für Snoopy? Ich brauch sofort einen Null-eins, ich hab«
»Sorry«, unterbrach Harry sie. »Ich bin nicht der, den du meinst.« Sie sah ihn an, legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen, als wollte sie überprüfen, ob er sie anlog. »Doch, ich hab dich doch schon mal gesehen.«
»Ich bin Polizist.«
Sie hielt inne. Harry atmete ein. Ihre Reaktion kam allerdings mit einer gewissen Verzögerung, als müsste diese Nachricht erst ein paar Umwege nehmen, um verkohlte Nerven und zerschossene Synapsen zu meiden. Dann ging die matte Lampe des Hasses an, auf die Harry schon gewartet hatte.
»Ein Bulle?«
»Ich dachte, wir hätten ein Abkommen, dass ihr auf der Plata am Bahnhofsvorplatz bleibt«, sagte Harry und blickte an ihr vorbei zum Sänger der Band.
»Pah«, sagte die Frau, die sich direkt vor Harry aufgebaut hatte. »Du bist doch gar keiner von diesen Drogenbullen. Du bist doch der, der da im Fernsehen war, der diesen Typen abgeknallt« »Dezernat für Gewaltverbrechen.« Harry packte sie leicht am Arm. »Hör mal, das, was du brauchst, findest du auf der Plata. Zwing mich nicht, dich festzunehmen.«
»Geht nicht.« Sie wand sich los.
Harry bereute es sofort und nahm beide Hände in die Höhe. »Sag mir trotzdem, dass du hier jetzt nichts kaufen willst, damit ich gehen kann. Okay?«
Sie legte den Kopf auf die Seite. Ihre dünnen, blutleeren Lippen strafften sich ein wenig. Als sähe sie in der ganzen Situation auch etwas Amüsantes. »Soll ich dir sagen, warum ich nicht runter zur Plata gehen kann?«
Harry wartete.
»Weil mein Junge da unten rumläuft.«
Harry spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
»Ich will nicht, dass er mich so sieht. Verstehst du das, Bulle?«
Harry blickte in ihr trotziges Gesicht und suchte nach Worten. »Fröhliche Weihnachten«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.
Harry ließ die Zigarette in den braunen, pulverisierten Schnee fallen und ging. Er musste diesen Job endlich hinter sich bringen. Er sah die Menschen nicht an, die ihm entgegenkamen, und sie beachteten ihn auch nicht, sondern richteten ihre Blicke auf den vereisten Boden, als hätten sie ein schlechtes Gewissen; als schämten sie sich als Bürger der großzügigsten Sozialdemokratie der Welt. »Weil mein Junge da unten rumläuft.«
Im Fredensborgvei blieb Harry unweit der Deichmannschen Bibliothek vor der Hausnummer stehen, die auf seinem Briefumschlag notiert war. Er legte den Kopf in den Nacken. Die grauschwarze Fassade war frisch gestrichen. Der feuchte Traum eines jeden Sprayers. An einigen Fenstern hob sich Weihnachtsdekoration als dunkle Silhouette von diesem weichen, gelblichen Licht ab, das jeder unweigerlich mit einem sicheren warmen Zuhause in Verbindung bringt. Und vielleicht war das ja auch richtig, zwang sich Harry zu denken. Was ihm freilich nur mit Mühe gelang, denn man konnte nicht zwölf Jahre bei der Polizei sein, ohne von der Menschenverachtung angesteckt zu werden, die der Job mit sich brach - te. Aber er wehrte sich, das musste man ihm lassen. Er fand den Namen auf den Klingelschildern, schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, um die passenden Worte zu finden. Es half nichts. Ihre Stimme stand ihm noch immer im Weg.
»Ich will nicht, dass er mich so sieht«
Harry gab auf. Gab es passende Worte für das Unmögliche? Er drückte mit dem Daumen auf den kalten Metallknopf, und irgendwo im Haus erklang eine Türglocke.
© Ullstein Buchverlage
Übersetzung: Günther Frauenlob
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Autoren-Porträt von Jo Nesbø
Nesbø, JoJo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.Frauenlob, Günther
Günther Frauenlob studierte Geografie und ist seit 1993 als freier Übersetzer tätig. Er übersetzt erzählende Literatur und Sachbücher aus dem Norwegischen und Dänischen, zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren gehören Jo Nesbø, Lars Mytting, Thomas Enger und Arnhild Lauveng. Er ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke, VdÜ, und lebt in Waldkirch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Nesbø
- 2008, 528 Seiten, Masse: 11,9 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548269680
- ISBN-13: 9783548269689
Rezension zu „Der Erlöser / Harry Hole Bd.6 “
"Jo Nesbø schreibt nicht einfach Krimis unter einem Epos macht er s nicht, und immer haben seine Geschichten gesellschaftliche Relevanz. Nebenbei lesen sie sich grossartig." (Brigitte)
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