Der Augensammler
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | "Ein echter Pageturner!" Focus. Buch fängt mit der Seite 439 an und geht rückwärts!
Ein Killer verschleppt Kinder. Deren Vater hat 45 Stunden Zeit für die Suche, danach wird das Kind getötet. Allen Leichen fehlt das linke Auge. Nach kurzer Zeit meldet sich bei der Polizei eine mysteriöse Zeugin, die den "Augensammler"...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Augensammler “
Ein Killer verschleppt Kinder. Deren Vater hat 45 Stunden Zeit für die Suche, danach wird das Kind getötet. Allen Leichen fehlt das linke Auge. Nach kurzer Zeit meldet sich bei der Polizei eine mysteriöse Zeugin, die den "Augensammler" angeblich kennt.
Sachdienlicher Hinweis
Sachdienlicher Hinweis
Die Kapitelnummern dieses Thrillers laufen rückwärts! Das ist Absicht und kein Fehler. Sollten Sie dieses Buch umtauschen wollen, müssen Sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Ansonsten gilt: Nein, bitte nicht nach hinten springen (hinten ist da, wo die Danksagung steht), sondern wie gewohnt (von oben nach unten) lesen. Der Sinn der Rückwartsnummerierung erschließt sich am Ende des Thrillers und wird hier nicht verraten.
Viel Spaß beim Lesen
Ihr Sebastian Fitzek
Klappentext zu „Der Augensammler “
Die spektakuläre Geschichte um einen Serienmörder, der die Augen seiner Opfer sammelt
Er spielt das älteste Spiel der Welt: Verstecken.
Er spielt es mit deinen Kindern.
Er gibt dir 45 Stunden, sie zu finden.
Doch deine Suche wird ewig dauern.
Erst tötet er die Mutter, dann verschleppt er das Kind und gibt dem Vater 45 Stunden Zeit für die Suche. Das ist seine Methode. Nach Ablauf der Frist stirbt das Opfer in seinem Versteck. Doch damit ist das Grauen nicht vorbei: Den aufgefundenen Kinderleichen fehlt jeweils das linke Auge. Bislang hat der "Augensammler" keine brauchbare Spur hinterlassen. Da meldet sich eine mysteriöse Zeugin: Alina Gregoriev, eine blinde Physiotherapeutin, die behauptet, durch blosse Körperberührungen in die Vergangenheit ihrer Patienten sehen zu können. Und gestern habe sie womöglich den Augensammler behandelt ...
Bestsellerautor Sebastian Fitzeks erste Thriller-Reihe!
Dieser Serienkiller-Thriller punktet mit knallharter Action und unerwarteten Wendungen. "Der Augensammler" ist ein absolutes Must-read für alle Thriller-Fans, die auf der Suche nach einem atemlosen Lesevergnügen sind.
"Der Psychothriller Der Augensammler geht bis an die Grenzen des Erträglichen, weniger der Grausamkeiten als der seelischen Höchstspannung wegen. Ein echter Pageturner!" Focus
Lese-Probe zu „Der Augensammler “
Der Augensammler von Sebastian FitzekEpilog
Alexander Zorbach (Ich)
Es gibt Geschichten, die sind wie tödliche Spiralen und graben sich mit rostigen Widerhaken tiefer und tiefer
in das Bewusstsein dessen, der sie sich anhören muss. Ich nenne sie Perpetuum morbile. Geschichten, die niemals begonnen haben und auch niemals enden werden, denn sie handeln vom ewigen Sterben.
Manchmal werden sie einem von einer gewissenlosen Person erzählt, die sich an dem Entsetzen in den Augen ihres Zuhörers ergötzt und an den Alpträumen, die sie mit Sicherheit auslösen werden - nachts, wenn man alleine im Bett liegt und die Decke anstarrt, weil man nicht schlafen kann.
Hin und wieder findet man solch ein Perpetuum morbile zwischen zwei Buchdeckeln, so dass man ihm entfliehen kann, indem man das Buch zuschlägt. Ein Ratschlag, den ich Ihnen jetzt schon geben möchte: Lesen Sie nicht weiter!
Ich weiß nicht, wie Sie an diese Zeilen geraten sind. Ich weiß nur, dass sie nicht für Sie bestimmt sind. Das Protokoll des Grauens sollte niemandem in die Hände fallen. Nicht einmal Ihrem größten Feind.
Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung. Ich konnte die Augen nicht schließen. Das Buch nicht weglegen. Denn die Geschichte des Mannes, dessen Tränen wie Blutstropfen aus den Augen quellen - die Geschichte des Mannes, der das verdrehte Bündel menschlichen Fleisches an sich presst, das nur wenige Minuten zuvor noch geatmet, geliebt und gelebt hat - diese Geschichte ist kein Film, keine Legende, kein Buch.
Sie ist mein Schicksal.
Mein Leben.
Denn der Mann, der am Höhepunkt seiner Qualen erkennen musste, dass das Sterben erst begonnen hat - dieser Mann bin ich.
Letztes Kapitel. Das Ende
»Schlaf, Kindlein, schlaf.
Der Vater hüt' die Schaf ... «
... mehr
»Sagen Sie ihr, sie muss damit aufhören«, brüllte die Stimme des Einsatzleiters in mein rechtes Ohr.
»Die Mutter schüttelt's Bäumelein.
Da fällt herab ein Träumelein ... «
»Sie soll sofort aufhören, dieses verdammte Lied zu singen. «
»Ja, ja. Ist mir klar. Ich weiß schon, was ich zu tun habe«, antwortete ich über das winzige Funkmikrophon, das der Techniker des mobilen Einsatzkommandos mir vor wenigen Minuten an mein Hemd gepappt hatte und über das ich nun mit dem Einsatzleiter die Verbindung hielt. »Wenn Sie mich weiter so anschreien, reiße ich mir den verdammten Knopf aus dem Ohr, verstanden?«
Ich näherte mich der Mitte der Brücke, die über die A100 führte. Die Stadtautobahn, elf Meter unter uns, war mittlerweile in beiden Richtungen gesperrt - mehr, um die Autofahrer zu schützen als die verwirrte Frau, die eine Omnibuslänge von mir entfernt stand.
»Angelique?«, rief ich laut ihren Namen. Dank des kurzen Briefings, das ich in der provisorischen Kommandozentrale erhalten hatte, wusste ich, dass sie siebenunddreißig Jahre alt war, zwei Vorstrafen wegen versuchter Kindesentführung hatte und von den letzten zehn Jahren mindestens sieben in einer geschlossenen Anstalt hatte verbringen müssen. Leider hatte ein verständnisvoller Psychologe vor vier Wochen ein Gutachten erstellt, das ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft empfahl.
Schönen Dank, Herr Kollege. Jetzt haben wir den Salat! »Ich komme etwas näher, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte ich und hob die Hände. Keine Reaktion. Sie lehnte an dem verrosteten Geländer, die Arme vor dem Oberkörper zu einer Wiege verschränkt. Hin und wieder schwankte sie leicht nach vorne, so dass ihre Ellbogen über die Brüstung ragten.
Ich zitterte ebenso vor Anspannung wie vor Kälte. Zwar lagen die Temperaturen für den Monat Dezember noch erstaunlich weit über dem Gefrierpunkt, doch die gefühlte Temperatur konnte mühelos mit der von Jakutsk mithalten. Drei Minuten hier draußen im Wind, und mir fielen fast die Ohren ab.
»Hallo, Angelique?«
Schotter knirschte unter meinen schweren Stiefeln, und sie drehte zum ersten Mal den Kopf zu mir; ganz langsam, wie in Zeitlupe.
»Mein Name ist Alexander Zorbach, und ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
Denn das ist mein Job. Ich bin heute der Verhandlungsführer.
»Ist es nicht wunderschön?«, fragte sie im gleichen Singsang, in dem sie eben noch das Kinderlied intoniert hatte. Schlaf, Kindlein, schlaf ...
»Ist mein Baby nicht wunder-, wunderschön?«
Ich bestätigte es ihr, obwohl ich aus der Entfernung kaum erkennen konnte, was sie da an ihren schmächtigen Oberkörper presste. Es hätte ebenso eine Kissenrolle sein können, ein zusammengefaltetes Laken oder eine Stoffpuppe. Doch so viel Glück war uns nicht beschieden. Die Wärmebildkamera hatte es bestätigt. In ihren Armen lag etwas Lebendiges, etwas Warmes. Noch konnte ich es nicht sehen, dafür aber hören.
Das sechs Monate alte Baby schrie. Etwas entkräftet, aber immerhin schrie es noch.
Das war bis jetzt die beste Nachricht des Tages.
Die schlechte war, dass der Säugling nur noch wenige Minuten zu leben hatte.
Und zwar selbst dann, wenn die geistig verwirrte Frau ihn nicht von der Brücke werfen würde.
Verdammt, Angelique. Du hast dir diesmal in jeglicher Hinsicht das falsche Baby ausgesucht.
»Wie heißt denn der süße Fratz?«, versuchte ich erneut ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen.
Wegen einer verpfuschten Abtreibung konnte die Frau keine Kinder bekommen. Eine Tatsache, über der sie den Verstand verloren hatte. Nun hatte sie bereits zum dritten Mal ein fremdes Baby entführt, um es als ihr eigenes auszugeben. Und zum dritten Mal war sie von Passanten in der Nähe des Krankenhauses entdeckt worden. Heute hatte es nur eine halbe Stunde gedauert, bis einem Fahrradkurier die barfüßige Frau mit dem weinenden Baby auf der Brücke aufgefallen war.
»Es hat noch keinen Namen«, sagte Angelique. Ihr Verdrängungsprozess war so weit fortgeschritten, dass sie in diesem Augenblick fest davon ausging, das Kind in ihren Armen wäre tatsächlich ihr eigen Fleisch und Blut. Ich wusste, es war sinnlos, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Was sieben Jahre Intensivtherapie nicht erreicht hatten, würde mir in sieben Minuten ganz sicher nicht gelingen - aber das war auch gar nicht meine Absicht.
»Was halten Sie von ›Hans‹?«, schlug ich vor. Mein Abstand zu ihr betrug jetzt höchstens noch zehn Meter. »Hans?« Sie löste einen Arm von dem Bündel und öffnete die Wickeldecke. Erleichtert hörte ich, wie das Baby anfing zu plärren.
»Hans klingt schön«, sagte Angelique selbstvergessen. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und stand nun nicht mehr so nah an dem Geländer. »Wie ›Hans im Glück‹.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei und setzte vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorne.
Neun Meter.
»Oder wie der Hans aus dem anderen Märchen.«
Sie drehte sich zu mir und sah mich fragend an. »Welches andere Märchen?«
»Na das von der Nymphe Undine.«
Um genau zu sein, war das eher eine germanische Sage als ein Märchen, aber das war im Augenblick irrelevant. »Undine?« Sie zog die Mundwinkel herab. »Kenn ich nicht.«
»Nein? Ach, dann muss ich es Ihnen erzählen. Es ist wunderschön.«
»Was haben Sie vor? Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt?«, schrie der Einsatzleiter in meinem rechten Ohr, was ich ignorierte.
Acht Meter. Schritt für Schritt arbeitete ich mich in ihren Strafraum vor.
»Undine war ein gottgleiches Wesen, eine Nymphe, so wunderschön wie keine Zweite. Sie verliebte sich unsterblich in den Ritter Hans.«
»Hörst du, mein Süßer? Du bist ein Ritter!«
Das Baby quittierte das mit einem lauten Schrei.
Es atmete also noch. Gott sei Dank.
»Ja, aber der Ritter war so schön, dass ihm alle Frauen hinterherliefen«, fuhr ich fort. »Und leider verliebte er sich in eine andere Frau und verließ Undine.«
Sieben Meter.
Ich wartete, bis ich das Baby wieder plärren hörte, dann fuhr ich fort. »Darüber war Undines Vater, der Meeresgott Poseidon, so erzürnt, dass er Hans verfluchte.«
»Ein Fluch?« Angelique hielt in ihrer Wiegebewegung inne. »Ja. Fortan konnte Hans nicht mehr unbewusst von alleine atmen. Er musste sich darauf konzentrieren.«
Ich sog geräuschvoll die kalte Luft in meine Lungen und stieß sie beim Sprechen stoßweise wieder aus. »Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.« Mein Brustkorb hob und senkte sich demonstrativ.
»Würde Hans nur ein einziges Mal nicht daran denken zu atmen, müsste er sterben.«
Sechs Meter.
»Wie endet das Märchen?«, fragte Angelique misstrauisch, als ich mich bis auf eine Autolänge vorgetastet hatte. Dabei schien ihr jedoch weniger meine Nähe als die Wendung zu missfallen, die das Märchen genommen hatte.
»Hans tut alles, um nicht einzuschlafen. Er kämpft gegen die Müdigkeit an, aber am Ende fallen ihm doch die Augen zu.«
»Er stirbt?«, fragte sie tonlos. Jede Freude war aus dem ausgezehrten Gesicht gewichen.
»Ja. Denn im Schlaf wird er unweigerlich vergessen zu atmen. Und das bedeutet seinen Tod.«
In meinem Ohr knackte es, doch dieses eine Mal hielt der Einsatzleiter den Mund. Hier draußen war nun nichts zu hören außer dem entfernten Rauschen des Stadtverkehrs. Ein Schwarm schwarzer Vögel zog hoch über unseren Köpfen Richtung Osten.
»Das ist aber kein schönes Märchen.« Angelique wankte etwas nach vorne, wiegte jetzt mit dem gesamten Körper das eng an sie gepresste Baby. »Nicht schön.«
Ich streckte ihr die Hand entgegen und kam noch näher. »Nein, ist es nicht. Und eigentlich ist es auch gar kein Märchen!«
»Sondern?«
Ich machte eine Pause, wartete wieder darauf, dass ich irgendein Lebenszeichen des Kleinen hörte. Doch da war nichts mehr. Nur Stille. Mein Mund war wie ausgedörrt, als ich es ihr sagte. »Es ist die Wahrheit.«
»Die Wahrheit?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, als ahne sie bereits, was ich jetzt sagen wollte.
»Angelique, hören Sie mir bitte zu. Das Baby in Ihren Händen leidet am Undine-Syndrom, einer Krankheit, benannt nach dem Märchen, das ich Ihnen eben erzählt habe.«
»Nein!«
Doch.
Die Tragik war, dass ich ihr keine taktische Lüge auftischte. Das Undine-Syndrom ist eine seltene Störung des zentralen Nervensystems, bei der die betroffenen Kinder ersticken, wenn sie sich nicht willentlich auf ihre Atmung konzentrieren. Eine schwere, lebensgefährliche Krankheit. Bei Tim (so hieß der Säugling wirklich) reichte die Atemaktivität in seinen Wachphasen noch aus, um den kleinen Körper mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Nur wenn er schlief, musste er beatmet werden.
»Es ist mein Kind«, protestierte Angelique wieder mit ihrer Schlafliedstimme.
Schlaf, Kindlein, schlaf ...
»Sehen Sie nur, wie friedlich es in meinen Armen schlummert.«
O Gott, nein. Sie hatte recht. Das Baby gab keinen Ton mehr von sich.
Der Vater hüt' die Schaf.
»Ja, es ist Ihr Baby, Angelique«, sagte ich eindringlich und näherte mich einen weiteren Meter. »Das bestreitet niemand. Aber es darf nicht einschlafen, hören Sie? Sonst stirbt es, so wie der Hans im Märchen.«
»Nein, nein, nein!« Sie schüttelte trotzig den Kopf. »Mein Baby ist nicht böse gewesen. Es wurde nicht verflucht.« »Nein, das wurde es ganz sicher nicht. Aber es ist krank. Geben Sie ihn mir bitte, damit die Ärzte Ihren Jungen wieder gesund machen können.«
Jetzt war ich so nah bei ihr, dass ich den süßlich-ranzigen Duft ihrer ungewaschenen Haare roch. Den Geruch der geistigen und körperlichen Verwahrlosung, der jede Faser ihres billigen Jogginganzugs durchtränkte.
Sie drehte sich zu mir, und zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf das Baby werfen. Auf sein leicht gerötetes, auf sein winziges ... auf sein schlafendes Gesicht. Erschrocken sah ich zu Angelique. Und da setzte es bei mir aus.
»Scheiße, nein, tun Sie das nicht!«, brüllte die Stimme des Einsatzleiters in meinem Ohr, die ich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr hörte. »Runter damit. Runter!« Diese und die folgenden Sätze entnahm ich später dem Einsatzprotokoll, das mir der Leiter der Untersuchungskommission vorlegte.
Heute, sieben Jahre nach dem Tag, der mein Leben zerstörte, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte.
Es.
Dieses Etwas in ihrem Blick. Den Ausdruck reinster, völlig verzweifelter Selbsterkenntnis. Aber damals war ich mir sicher.
Nennen Sie es Vorahnung, Intuition, Hellsichtigkeit. Es ist, was es ist, und ich spürte es mit all meinen Sinnen: In der Sekunde, in der sich Angelique zu mir drehte, war ihr ihre psychische Störung bewusst geworden. Sie hatte sich selbst erkannt. Wusste, dass sie krank war. Dass ihr das Baby nicht gehörte. Und dass ich es ihr niemals wieder zurückgeben würde, sobald ich es erst in meinen Händen hielt.
»Hören Sie auf. Machen Sie keinen Scheiß, Mann.«
Ich hatte genügend Erfahrung durch mein Boxtraining, um zu wissen, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man seine Bewegungen im Voraus erahnen will. Auf seine Schultern! Und Angeliques Schultern bewegten sich in eine Richtung, die nur eine einzige Interpretation zuließ, zumal sie jetzt langsam die Arme öffnete.
Drei Meter. Nur noch drei verdammte Meter.
Sie wollte das Baby von der Brücke schleudern.
»Waffe fallen lassen. Ich wiederhole: Waffe sofort fallen lassen. «
Und deshalb achtete ich nicht auf die Stimme in meinem Kopf, sondern richtete die Pistole direkt auf ihre Stirn. Und schoss.
Meist ist das der Moment, in dem ich schreiend aufwache und mich für eine Sekunde freue, dass das alles nur ein Alptraum gewesen ist. Bis ich die Hand ausstrecke und auf der Betthälfte neben mir ins Leere taste. Bis mir einfällt, dass diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Sie sorgten dafür, dass ich meinen Job, meine Familie und die Fähigkeit verlor, eine Nacht durchzuschlafen, ohne von den Alpträumen geweckt zu werden.
Seit jenem Schuss lebe ich in Angst. Eine klare, kalte und alles durchdringende Angst; das Konzentrat, aus dem sich meine Träume speisen.
Damals auf der Brücke habe ich einen Menschen getötet. Und sosehr ich es mir auch einrede, dass ich eine andere Seele dafür retten konnte, so sicher bin ich mir, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Denn was, wenn ich mich damals geirrt habe? Was, wenn Angelique niemals vorgehabt hatte, dem Baby etwas anzutun? Vielleicht hatte sie die Arme nur geöffnet, um mir das Kind zu reichen? In der Sekunde, in der das Geschoss, das ich auf sie feuerte, ihren Schädel durchdrang. So schnell, dass ihr Gehirn nicht einmal mehr einen Impuls senden konnte, die Arme noch weiter zu lockern. So schnell, dass ich das Baby auffangen konnte, bevor es ihr aus den toten Händen glitt.
Was also, wenn ich damals auf der Brücke einen unschuldigen Menschen getötet habe?
Dann, so viel war sicher, würde ich eines Tages für meinen Fehler bezahlen müssen.
Das wusste ich. Mir war nur nicht klar gewesen, dass dieser Tag so bald kommen würde.
Copyright © 2010 by Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
»Sagen Sie ihr, sie muss damit aufhören«, brüllte die Stimme des Einsatzleiters in mein rechtes Ohr.
»Die Mutter schüttelt's Bäumelein.
Da fällt herab ein Träumelein ... «
»Sie soll sofort aufhören, dieses verdammte Lied zu singen. «
»Ja, ja. Ist mir klar. Ich weiß schon, was ich zu tun habe«, antwortete ich über das winzige Funkmikrophon, das der Techniker des mobilen Einsatzkommandos mir vor wenigen Minuten an mein Hemd gepappt hatte und über das ich nun mit dem Einsatzleiter die Verbindung hielt. »Wenn Sie mich weiter so anschreien, reiße ich mir den verdammten Knopf aus dem Ohr, verstanden?«
Ich näherte mich der Mitte der Brücke, die über die A100 führte. Die Stadtautobahn, elf Meter unter uns, war mittlerweile in beiden Richtungen gesperrt - mehr, um die Autofahrer zu schützen als die verwirrte Frau, die eine Omnibuslänge von mir entfernt stand.
»Angelique?«, rief ich laut ihren Namen. Dank des kurzen Briefings, das ich in der provisorischen Kommandozentrale erhalten hatte, wusste ich, dass sie siebenunddreißig Jahre alt war, zwei Vorstrafen wegen versuchter Kindesentführung hatte und von den letzten zehn Jahren mindestens sieben in einer geschlossenen Anstalt hatte verbringen müssen. Leider hatte ein verständnisvoller Psychologe vor vier Wochen ein Gutachten erstellt, das ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft empfahl.
Schönen Dank, Herr Kollege. Jetzt haben wir den Salat! »Ich komme etwas näher, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte ich und hob die Hände. Keine Reaktion. Sie lehnte an dem verrosteten Geländer, die Arme vor dem Oberkörper zu einer Wiege verschränkt. Hin und wieder schwankte sie leicht nach vorne, so dass ihre Ellbogen über die Brüstung ragten.
Ich zitterte ebenso vor Anspannung wie vor Kälte. Zwar lagen die Temperaturen für den Monat Dezember noch erstaunlich weit über dem Gefrierpunkt, doch die gefühlte Temperatur konnte mühelos mit der von Jakutsk mithalten. Drei Minuten hier draußen im Wind, und mir fielen fast die Ohren ab.
»Hallo, Angelique?«
Schotter knirschte unter meinen schweren Stiefeln, und sie drehte zum ersten Mal den Kopf zu mir; ganz langsam, wie in Zeitlupe.
»Mein Name ist Alexander Zorbach, und ich würde gerne mit Ihnen sprechen.«
Denn das ist mein Job. Ich bin heute der Verhandlungsführer.
»Ist es nicht wunderschön?«, fragte sie im gleichen Singsang, in dem sie eben noch das Kinderlied intoniert hatte. Schlaf, Kindlein, schlaf ...
»Ist mein Baby nicht wunder-, wunderschön?«
Ich bestätigte es ihr, obwohl ich aus der Entfernung kaum erkennen konnte, was sie da an ihren schmächtigen Oberkörper presste. Es hätte ebenso eine Kissenrolle sein können, ein zusammengefaltetes Laken oder eine Stoffpuppe. Doch so viel Glück war uns nicht beschieden. Die Wärmebildkamera hatte es bestätigt. In ihren Armen lag etwas Lebendiges, etwas Warmes. Noch konnte ich es nicht sehen, dafür aber hören.
Das sechs Monate alte Baby schrie. Etwas entkräftet, aber immerhin schrie es noch.
Das war bis jetzt die beste Nachricht des Tages.
Die schlechte war, dass der Säugling nur noch wenige Minuten zu leben hatte.
Und zwar selbst dann, wenn die geistig verwirrte Frau ihn nicht von der Brücke werfen würde.
Verdammt, Angelique. Du hast dir diesmal in jeglicher Hinsicht das falsche Baby ausgesucht.
»Wie heißt denn der süße Fratz?«, versuchte ich erneut ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen.
Wegen einer verpfuschten Abtreibung konnte die Frau keine Kinder bekommen. Eine Tatsache, über der sie den Verstand verloren hatte. Nun hatte sie bereits zum dritten Mal ein fremdes Baby entführt, um es als ihr eigenes auszugeben. Und zum dritten Mal war sie von Passanten in der Nähe des Krankenhauses entdeckt worden. Heute hatte es nur eine halbe Stunde gedauert, bis einem Fahrradkurier die barfüßige Frau mit dem weinenden Baby auf der Brücke aufgefallen war.
»Es hat noch keinen Namen«, sagte Angelique. Ihr Verdrängungsprozess war so weit fortgeschritten, dass sie in diesem Augenblick fest davon ausging, das Kind in ihren Armen wäre tatsächlich ihr eigen Fleisch und Blut. Ich wusste, es war sinnlos, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Was sieben Jahre Intensivtherapie nicht erreicht hatten, würde mir in sieben Minuten ganz sicher nicht gelingen - aber das war auch gar nicht meine Absicht.
»Was halten Sie von ›Hans‹?«, schlug ich vor. Mein Abstand zu ihr betrug jetzt höchstens noch zehn Meter. »Hans?« Sie löste einen Arm von dem Bündel und öffnete die Wickeldecke. Erleichtert hörte ich, wie das Baby anfing zu plärren.
»Hans klingt schön«, sagte Angelique selbstvergessen. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und stand nun nicht mehr so nah an dem Geländer. »Wie ›Hans im Glück‹.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei und setzte vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorne.
Neun Meter.
»Oder wie der Hans aus dem anderen Märchen.«
Sie drehte sich zu mir und sah mich fragend an. »Welches andere Märchen?«
»Na das von der Nymphe Undine.«
Um genau zu sein, war das eher eine germanische Sage als ein Märchen, aber das war im Augenblick irrelevant. »Undine?« Sie zog die Mundwinkel herab. »Kenn ich nicht.«
»Nein? Ach, dann muss ich es Ihnen erzählen. Es ist wunderschön.«
»Was haben Sie vor? Sind Sie jetzt völlig übergeschnappt?«, schrie der Einsatzleiter in meinem rechten Ohr, was ich ignorierte.
Acht Meter. Schritt für Schritt arbeitete ich mich in ihren Strafraum vor.
»Undine war ein gottgleiches Wesen, eine Nymphe, so wunderschön wie keine Zweite. Sie verliebte sich unsterblich in den Ritter Hans.«
»Hörst du, mein Süßer? Du bist ein Ritter!«
Das Baby quittierte das mit einem lauten Schrei.
Es atmete also noch. Gott sei Dank.
»Ja, aber der Ritter war so schön, dass ihm alle Frauen hinterherliefen«, fuhr ich fort. »Und leider verliebte er sich in eine andere Frau und verließ Undine.«
Sieben Meter.
Ich wartete, bis ich das Baby wieder plärren hörte, dann fuhr ich fort. »Darüber war Undines Vater, der Meeresgott Poseidon, so erzürnt, dass er Hans verfluchte.«
»Ein Fluch?« Angelique hielt in ihrer Wiegebewegung inne. »Ja. Fortan konnte Hans nicht mehr unbewusst von alleine atmen. Er musste sich darauf konzentrieren.«
Ich sog geräuschvoll die kalte Luft in meine Lungen und stieß sie beim Sprechen stoßweise wieder aus. »Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.« Mein Brustkorb hob und senkte sich demonstrativ.
»Würde Hans nur ein einziges Mal nicht daran denken zu atmen, müsste er sterben.«
Sechs Meter.
»Wie endet das Märchen?«, fragte Angelique misstrauisch, als ich mich bis auf eine Autolänge vorgetastet hatte. Dabei schien ihr jedoch weniger meine Nähe als die Wendung zu missfallen, die das Märchen genommen hatte.
»Hans tut alles, um nicht einzuschlafen. Er kämpft gegen die Müdigkeit an, aber am Ende fallen ihm doch die Augen zu.«
»Er stirbt?«, fragte sie tonlos. Jede Freude war aus dem ausgezehrten Gesicht gewichen.
»Ja. Denn im Schlaf wird er unweigerlich vergessen zu atmen. Und das bedeutet seinen Tod.«
In meinem Ohr knackte es, doch dieses eine Mal hielt der Einsatzleiter den Mund. Hier draußen war nun nichts zu hören außer dem entfernten Rauschen des Stadtverkehrs. Ein Schwarm schwarzer Vögel zog hoch über unseren Köpfen Richtung Osten.
»Das ist aber kein schönes Märchen.« Angelique wankte etwas nach vorne, wiegte jetzt mit dem gesamten Körper das eng an sie gepresste Baby. »Nicht schön.«
Ich streckte ihr die Hand entgegen und kam noch näher. »Nein, ist es nicht. Und eigentlich ist es auch gar kein Märchen!«
»Sondern?«
Ich machte eine Pause, wartete wieder darauf, dass ich irgendein Lebenszeichen des Kleinen hörte. Doch da war nichts mehr. Nur Stille. Mein Mund war wie ausgedörrt, als ich es ihr sagte. »Es ist die Wahrheit.«
»Die Wahrheit?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, als ahne sie bereits, was ich jetzt sagen wollte.
»Angelique, hören Sie mir bitte zu. Das Baby in Ihren Händen leidet am Undine-Syndrom, einer Krankheit, benannt nach dem Märchen, das ich Ihnen eben erzählt habe.«
»Nein!«
Doch.
Die Tragik war, dass ich ihr keine taktische Lüge auftischte. Das Undine-Syndrom ist eine seltene Störung des zentralen Nervensystems, bei der die betroffenen Kinder ersticken, wenn sie sich nicht willentlich auf ihre Atmung konzentrieren. Eine schwere, lebensgefährliche Krankheit. Bei Tim (so hieß der Säugling wirklich) reichte die Atemaktivität in seinen Wachphasen noch aus, um den kleinen Körper mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Nur wenn er schlief, musste er beatmet werden.
»Es ist mein Kind«, protestierte Angelique wieder mit ihrer Schlafliedstimme.
Schlaf, Kindlein, schlaf ...
»Sehen Sie nur, wie friedlich es in meinen Armen schlummert.«
O Gott, nein. Sie hatte recht. Das Baby gab keinen Ton mehr von sich.
Der Vater hüt' die Schaf.
»Ja, es ist Ihr Baby, Angelique«, sagte ich eindringlich und näherte mich einen weiteren Meter. »Das bestreitet niemand. Aber es darf nicht einschlafen, hören Sie? Sonst stirbt es, so wie der Hans im Märchen.«
»Nein, nein, nein!« Sie schüttelte trotzig den Kopf. »Mein Baby ist nicht böse gewesen. Es wurde nicht verflucht.« »Nein, das wurde es ganz sicher nicht. Aber es ist krank. Geben Sie ihn mir bitte, damit die Ärzte Ihren Jungen wieder gesund machen können.«
Jetzt war ich so nah bei ihr, dass ich den süßlich-ranzigen Duft ihrer ungewaschenen Haare roch. Den Geruch der geistigen und körperlichen Verwahrlosung, der jede Faser ihres billigen Jogginganzugs durchtränkte.
Sie drehte sich zu mir, und zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf das Baby werfen. Auf sein leicht gerötetes, auf sein winziges ... auf sein schlafendes Gesicht. Erschrocken sah ich zu Angelique. Und da setzte es bei mir aus.
»Scheiße, nein, tun Sie das nicht!«, brüllte die Stimme des Einsatzleiters in meinem Ohr, die ich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr hörte. »Runter damit. Runter!« Diese und die folgenden Sätze entnahm ich später dem Einsatzprotokoll, das mir der Leiter der Untersuchungskommission vorlegte.
Heute, sieben Jahre nach dem Tag, der mein Leben zerstörte, bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte.
Es.
Dieses Etwas in ihrem Blick. Den Ausdruck reinster, völlig verzweifelter Selbsterkenntnis. Aber damals war ich mir sicher.
Nennen Sie es Vorahnung, Intuition, Hellsichtigkeit. Es ist, was es ist, und ich spürte es mit all meinen Sinnen: In der Sekunde, in der sich Angelique zu mir drehte, war ihr ihre psychische Störung bewusst geworden. Sie hatte sich selbst erkannt. Wusste, dass sie krank war. Dass ihr das Baby nicht gehörte. Und dass ich es ihr niemals wieder zurückgeben würde, sobald ich es erst in meinen Händen hielt.
»Hören Sie auf. Machen Sie keinen Scheiß, Mann.«
Ich hatte genügend Erfahrung durch mein Boxtraining, um zu wissen, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man seine Bewegungen im Voraus erahnen will. Auf seine Schultern! Und Angeliques Schultern bewegten sich in eine Richtung, die nur eine einzige Interpretation zuließ, zumal sie jetzt langsam die Arme öffnete.
Drei Meter. Nur noch drei verdammte Meter.
Sie wollte das Baby von der Brücke schleudern.
»Waffe fallen lassen. Ich wiederhole: Waffe sofort fallen lassen. «
Und deshalb achtete ich nicht auf die Stimme in meinem Kopf, sondern richtete die Pistole direkt auf ihre Stirn. Und schoss.
Meist ist das der Moment, in dem ich schreiend aufwache und mich für eine Sekunde freue, dass das alles nur ein Alptraum gewesen ist. Bis ich die Hand ausstrecke und auf der Betthälfte neben mir ins Leere taste. Bis mir einfällt, dass diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Sie sorgten dafür, dass ich meinen Job, meine Familie und die Fähigkeit verlor, eine Nacht durchzuschlafen, ohne von den Alpträumen geweckt zu werden.
Seit jenem Schuss lebe ich in Angst. Eine klare, kalte und alles durchdringende Angst; das Konzentrat, aus dem sich meine Träume speisen.
Damals auf der Brücke habe ich einen Menschen getötet. Und sosehr ich es mir auch einrede, dass ich eine andere Seele dafür retten konnte, so sicher bin ich mir, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Denn was, wenn ich mich damals geirrt habe? Was, wenn Angelique niemals vorgehabt hatte, dem Baby etwas anzutun? Vielleicht hatte sie die Arme nur geöffnet, um mir das Kind zu reichen? In der Sekunde, in der das Geschoss, das ich auf sie feuerte, ihren Schädel durchdrang. So schnell, dass ihr Gehirn nicht einmal mehr einen Impuls senden konnte, die Arme noch weiter zu lockern. So schnell, dass ich das Baby auffangen konnte, bevor es ihr aus den toten Händen glitt.
Was also, wenn ich damals auf der Brücke einen unschuldigen Menschen getötet habe?
Dann, so viel war sicher, würde ich eines Tages für meinen Fehler bezahlen müssen.
Das wusste ich. Mir war nur nicht klar gewesen, dass dieser Tag so bald kommen würde.
Copyright © 2010 by Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Sebastian Fitzek
Sebastian Fitzek, geboren 1971, ist Deutschlands erfolgreichster Autor. Seit seinem Debüt "Die Therapie" ist er mit allen Romanen ganz oben auf den Bestsellerlisten zu finden. Mittlerweile erscheinen seine Bücher in sechsunddreissig Ländern und sind Vorlage für internationale Kinoverfilmungen und Theateradaptionen. Als erster deutscher Autor wurde Sebastian Fitzek mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet und 2018 mit der 11. Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau geehrt. Er lebt in Berlin.www.facebook.de/sebastianfitzekwww.instagram.de/sebastianfitzekwww.sebastianfitzek.defitzek@sebastianfitzek.de
Autoren-Interview mit Sebastian Fitzek
Herr Fitzek, haben Sie eigentlich Angst im Dunkeln? Fitzek: Kommt drauf an, was ich vorher gemacht habe. Wenn ich gerade einen spannenden Thriller gesehen oder gelesen habe, dann sind dunkle Keller nicht gerade mein bevorzugter Aufenthaltsort. Allerdings habe ich (unter anderem) die Macke, dass ich nur bei kompletter Dunkelheit einschlafen kann - selbst ein Standbylämpchen des Fernsehers kann mich da schon stören.
Da Sie Ihren Lesern quasi Alpträume auf dem literarischen Silbertablett servieren - verraten Sie uns, ob Sie selber einen Alptraum haben, der Sie nachts einholt?
Fitzek: Ja - und den habe ich natürlich gleich verbraten, damals schon in meinem Erstling "Die Therapie". Ich fahre nachts mit meiner Freundin im Auto und wir können die Küste nicht finden, zu der wir eigentlich wollen. Die Straße ist sehr eng und führt durch einen dunklen, dichten Wald. Ich denke mir: "Mensch, wir müssten doch schon längst am Meer sein, so lange, wie wir schon unterwegs sind", da lichtet sich auf einmal der Wald und ich erkenne, dass wir die gesamte Zeit nicht auf einer Straße sondern auf einem Steg gefahren sind. Der Steg führt weit über das offene Meer und hört plötzlich auf - ich sehe das Ende und kann nicht bremsen.
Sobald das Auto abhebt und in den tosenden Wellen zu versinken droht, wache ich auf. Das ist so in etwa der Alptraum, der Viktor Larenz auf Parkum heimsucht.
Im "Augensammler" geht es um einen mörderischen Wettlauf gegen einen Mann, der ritualisierte Morde an Frauen und Kindern vollzieht. Auf den ersten Blick wirkt das ausschließlich grausam, auf den zweiten zeigt sich ein krankhaftes, aber logisches System. Wie kommen Sie zu so einem Motiv - legen Sie diese Plots an reale Fälle an oder fallen Sie Ihnen einfach ein?
Fitzek: In diesem Fall entspringt das Szenario meiner Phantasie und ich hoffe, dass
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es dafür keine Parallele in der Realität gibt. Aber meine Erfahrung zeigt, dass die Wirklichkeit die Fiktion an Grausamkeit leider oftmals um Längen schlägt.
Ebenso beeindruckend wie beklemmend ist Ihr medizinisches Wissen, zum Beispiel in der Szene mit der eingeschweißten Frau. Wie recherchieren Sie diese Details?
Fitzek: Zuerst einmal habe ich eine bestimme Szene in meinem Kopf. Ich weiß genau, wie es in diesem Keller aussieht und was mit der eingeschweißten Frau geschieht. Dann versuche ich dieses Bild in meinem Kopf zu "zeichnen", indem ich es anfangs ohne Recherche herunter schreibe. Ich gestehe, das Schreiben hat auch den Effekt, dass ich das schreckliche Bild (für eine kurze Zeit) aus meinem Kopf bekomme.
Dann erst beginne ich in Büchern und im Internet zu recherchieren, ob ein solcher oder ähnlicher Zustand zuvor schon einmal dokumentiert wurde. Ich gebe das Kapitel dann Ärzten zu lesen und nehme am Ende die notwendigen Korrekturen vor.
Viele gehen sicher andersherum vor - aber ich persönlich mag keine Bücher und Filme, denen man anmerkt, dass sich da jemand durch gerichtsmedizinische Literatur gewälzt hat, auf der Suche nach möglichst grausamen Todesarten. Das kennt man zum Beispiel von den späteren SAW-Folgen (die erste hat mir noch sehr gefallen).
Wenn ich explizite Gewalt schildere, (meist seelische), dann ergibt die an dieser Stelle einen übergeordneten Sinn im Gesamtgefüge. Ich baue meine Geschichten nicht um derartige Stellen herum, sondern sie entwickeln sich während des Schreibens von alleine. Deswegen steht bei mir in der Regel erst die Phantasie und dann die Recherche. Aber das ist keine starre Regel. Selbstverständlich stoße ich auch während meiner Recherche auf interessante Fakten, die mich dann wieder inspirieren - meist für ein neues Buch ;)
Die Seitennummerierung des Buches verläuft entgegengesetzt. Stand das von Anfang an fest oder haben Sie das "unterwegs" entschieden?
Fitzek: Das stand von Anfang an fest, nachdem ich den Prolog schrieb und dachte, dass könnte ebenso gut ein Epilog sein. Nicht nur die Seitenzahlen laufen daher rückwärts, auch die Kapitelnummerierungen.
Sie schreiben über seelische Abgründe, perfide Verbrechen und strauchelnde Menschen - wie schreibt man so etwas, ohne sich selbst darin zu verlieren? Abgedunkelte Schreibhöhle oder lichtdurchflutetes Arbeitszimmer?
Fitzek: Gute Frage! Erst kürzlich habe ich darüber nachgedacht, dass es schon paradox ist: Aber je grausamer eine Geschichte ist, desto schöner muss der Ausblick sein, den ich beim Schreiben habe. Aus diesem Grund habe ich meinen Schreibtisch in den Wintergarten gewuchtet. Der ist zwar viel zu groß für den kleinen Raum und sieht auch nicht besonders aus, aber von hier aus habe ich einen herrlichen Blick in den bewaldeten Garten und auf einen Mini-Teich. Ich glaube, das stellt den Ausgleich her, wenn ich ein verliebtes Entenehepaar beobachte, während der Held meines Buches gerade am Ersticken ist.
Im Augensammler schaffen Sie das Kunststück, trotz der grausamen Faszination des Mörders und seiner Taten die eigentliche Spannung in die Figur des Ermittlers zu legen. Wer war zuerst da, der Gute oder der Böse?
Fitzek: Die Blinde! Ich hatte von Anfang an Alina Gregoriev, die blinde Physiotherapeutin vor Augen, die behauptet, sie könne bei bestimmten Menschen durch bloße Berührungen in deren Vergangenheit sehen. Und zuletzt habe sie den Augensammler behandelt und seine Morde "gesehen". Für mich ist Alina die heimliche Hauptfigur, nicht zuletzt weil ich mich ein Jahr lang intensiv mit der Welt der Blinden und Sehbehinderten beschäftigt habe. Ich stand mit über zwanzig Blinden in direktem Austausch, habe sie interviewt, mich mit ihnen getroffen und die wesentlichen Kapitel vorab zum Lesen gegeben. Die Einblicke, die mir gewährt wurden, waren so faszinierend (nehmen Sie nur mal die Frage, wie blind Geborene träumen), dass ich das alles gar nicht in einem Buch unterbekommen habe.
Was fällt Ihnen leicht zu schreiben, was finden Sie besonders schwer?
Fitzek: Das kann ich so allgemein nicht beantworten. Schreiben ist für mich wie Sport. Man muss sich jeden Tag aufs Neue motivieren und den inneren Schweinehund überwinden, der immer schönere Tätigkeiten findet, wenn man das Glück hat, sich seinen Tag selbst einzuteilen. Am Anfang ist es dann manchmal beschwerlich, aber wenn man dann mittendrin ist (und zu schwitzen beginnt;) macht es auf einmal plötzlich Spaß und alles scheint wie von selbst zu laufen. Am Schönsten aber ist es, wenn man das Ende erreicht hat und mit einem guten Gefühl unter der Dusche steht - oder vor dem Kühlschrank. Passt auch beides auf Sport und Schreiben.
Wie geht Ihnen nach dem Ende eines Buches? Leben die Hauptfiguren weiter oder sind sie mit dem Schlusspunkt dann auch ruhig?
Fitzek: Die leben weiter. Zumindest die, die mir ans Herz gewachsen sind, und das können sogar die Bösen sein. Daher tauchen bestimmte Figuren auch in anderen Büchern wieder auf, allerdings nur am Rande. Obwohl - beim Augensammler denke ich tatsächlich über eine Trilogie nach.
Und wer liest als Erstes gegen?
Fitzek: Meine Freundin Sandra. Da kann sie sich gar nicht gegen wehren ;)
Angesichts der menschlichen Abgründe und Nöte, die Sie zeigen - was sind Sie selbst für ein Typ? Halb volles oder halb leeres Glas Wasser?
Fitzek: Sie denken, da ist Wasser drin? Dann nehmen Sie mal einen Schluck. Nur zu. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!
Und wo wir schon bei den Flüssigkeiten sind - gibt es bestimmte Getränke, Rituale, Musik, die für Sie beim Schreiben wichtig sind?
Fitzek: Nee, eigentlich nicht. Ich hab es mal mit Musik versucht. Ausgewählte Filmmusiken, die mich vielleicht motivieren und inspirieren. Das war toll, ich hatte wirklich tausende von Bildern im Kopf. Aber ich war so abgelenkt, ich konnte nichts davon zu Papier bringen.
Ich brauche wirklich nur einen Laptop und Strom. Na ja, und meinen Schreibtisch im Wintergarten, da geht's am besten.
Aggression, Frustration und Verletzungen - wie reagieren Sie selbst sich ab? Sie sind Sie ein Mensch, der explodiert oder implodiert?
Fitzek: Da fragen Sie mal besser meine Freundin. Die würde sagen, dass ich sehr aufbrausend bin. Vor allen Dingen, wenn ich müde und hungrig bin und Sandra meine Geschichte kritisiert - die schlimmste Kombination in der Sie mich antreffen können. Sie hält - kein Witz - für den Fall der Fälle immer ein Snickers bereit.
Ich selbst weise das aufs Heftigste zurück und halte mich (Sternzeichen Waage!) für den ausgeglichensten Menschen der Welt ;)
Lieber Herr Fitzek, wenn Sie als Buchhändler einem Kunden das Buch empfehlen würden - mit welchen drei Schlagworten würden Sie es beschreiben?
Fitzek: Auf. Eigene. Gefahr.
Ebenso beeindruckend wie beklemmend ist Ihr medizinisches Wissen, zum Beispiel in der Szene mit der eingeschweißten Frau. Wie recherchieren Sie diese Details?
Fitzek: Zuerst einmal habe ich eine bestimme Szene in meinem Kopf. Ich weiß genau, wie es in diesem Keller aussieht und was mit der eingeschweißten Frau geschieht. Dann versuche ich dieses Bild in meinem Kopf zu "zeichnen", indem ich es anfangs ohne Recherche herunter schreibe. Ich gestehe, das Schreiben hat auch den Effekt, dass ich das schreckliche Bild (für eine kurze Zeit) aus meinem Kopf bekomme.
Dann erst beginne ich in Büchern und im Internet zu recherchieren, ob ein solcher oder ähnlicher Zustand zuvor schon einmal dokumentiert wurde. Ich gebe das Kapitel dann Ärzten zu lesen und nehme am Ende die notwendigen Korrekturen vor.
Viele gehen sicher andersherum vor - aber ich persönlich mag keine Bücher und Filme, denen man anmerkt, dass sich da jemand durch gerichtsmedizinische Literatur gewälzt hat, auf der Suche nach möglichst grausamen Todesarten. Das kennt man zum Beispiel von den späteren SAW-Folgen (die erste hat mir noch sehr gefallen).
Wenn ich explizite Gewalt schildere, (meist seelische), dann ergibt die an dieser Stelle einen übergeordneten Sinn im Gesamtgefüge. Ich baue meine Geschichten nicht um derartige Stellen herum, sondern sie entwickeln sich während des Schreibens von alleine. Deswegen steht bei mir in der Regel erst die Phantasie und dann die Recherche. Aber das ist keine starre Regel. Selbstverständlich stoße ich auch während meiner Recherche auf interessante Fakten, die mich dann wieder inspirieren - meist für ein neues Buch ;)
Die Seitennummerierung des Buches verläuft entgegengesetzt. Stand das von Anfang an fest oder haben Sie das "unterwegs" entschieden?
Fitzek: Das stand von Anfang an fest, nachdem ich den Prolog schrieb und dachte, dass könnte ebenso gut ein Epilog sein. Nicht nur die Seitenzahlen laufen daher rückwärts, auch die Kapitelnummerierungen.
Sie schreiben über seelische Abgründe, perfide Verbrechen und strauchelnde Menschen - wie schreibt man so etwas, ohne sich selbst darin zu verlieren? Abgedunkelte Schreibhöhle oder lichtdurchflutetes Arbeitszimmer?
Fitzek: Gute Frage! Erst kürzlich habe ich darüber nachgedacht, dass es schon paradox ist: Aber je grausamer eine Geschichte ist, desto schöner muss der Ausblick sein, den ich beim Schreiben habe. Aus diesem Grund habe ich meinen Schreibtisch in den Wintergarten gewuchtet. Der ist zwar viel zu groß für den kleinen Raum und sieht auch nicht besonders aus, aber von hier aus habe ich einen herrlichen Blick in den bewaldeten Garten und auf einen Mini-Teich. Ich glaube, das stellt den Ausgleich her, wenn ich ein verliebtes Entenehepaar beobachte, während der Held meines Buches gerade am Ersticken ist.
Im Augensammler schaffen Sie das Kunststück, trotz der grausamen Faszination des Mörders und seiner Taten die eigentliche Spannung in die Figur des Ermittlers zu legen. Wer war zuerst da, der Gute oder der Böse?
Fitzek: Die Blinde! Ich hatte von Anfang an Alina Gregoriev, die blinde Physiotherapeutin vor Augen, die behauptet, sie könne bei bestimmten Menschen durch bloße Berührungen in deren Vergangenheit sehen. Und zuletzt habe sie den Augensammler behandelt und seine Morde "gesehen". Für mich ist Alina die heimliche Hauptfigur, nicht zuletzt weil ich mich ein Jahr lang intensiv mit der Welt der Blinden und Sehbehinderten beschäftigt habe. Ich stand mit über zwanzig Blinden in direktem Austausch, habe sie interviewt, mich mit ihnen getroffen und die wesentlichen Kapitel vorab zum Lesen gegeben. Die Einblicke, die mir gewährt wurden, waren so faszinierend (nehmen Sie nur mal die Frage, wie blind Geborene träumen), dass ich das alles gar nicht in einem Buch unterbekommen habe.
Was fällt Ihnen leicht zu schreiben, was finden Sie besonders schwer?
Fitzek: Das kann ich so allgemein nicht beantworten. Schreiben ist für mich wie Sport. Man muss sich jeden Tag aufs Neue motivieren und den inneren Schweinehund überwinden, der immer schönere Tätigkeiten findet, wenn man das Glück hat, sich seinen Tag selbst einzuteilen. Am Anfang ist es dann manchmal beschwerlich, aber wenn man dann mittendrin ist (und zu schwitzen beginnt;) macht es auf einmal plötzlich Spaß und alles scheint wie von selbst zu laufen. Am Schönsten aber ist es, wenn man das Ende erreicht hat und mit einem guten Gefühl unter der Dusche steht - oder vor dem Kühlschrank. Passt auch beides auf Sport und Schreiben.
Wie geht Ihnen nach dem Ende eines Buches? Leben die Hauptfiguren weiter oder sind sie mit dem Schlusspunkt dann auch ruhig?
Fitzek: Die leben weiter. Zumindest die, die mir ans Herz gewachsen sind, und das können sogar die Bösen sein. Daher tauchen bestimmte Figuren auch in anderen Büchern wieder auf, allerdings nur am Rande. Obwohl - beim Augensammler denke ich tatsächlich über eine Trilogie nach.
Und wer liest als Erstes gegen?
Fitzek: Meine Freundin Sandra. Da kann sie sich gar nicht gegen wehren ;)
Angesichts der menschlichen Abgründe und Nöte, die Sie zeigen - was sind Sie selbst für ein Typ? Halb volles oder halb leeres Glas Wasser?
Fitzek: Sie denken, da ist Wasser drin? Dann nehmen Sie mal einen Schluck. Nur zu. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!
Und wo wir schon bei den Flüssigkeiten sind - gibt es bestimmte Getränke, Rituale, Musik, die für Sie beim Schreiben wichtig sind?
Fitzek: Nee, eigentlich nicht. Ich hab es mal mit Musik versucht. Ausgewählte Filmmusiken, die mich vielleicht motivieren und inspirieren. Das war toll, ich hatte wirklich tausende von Bildern im Kopf. Aber ich war so abgelenkt, ich konnte nichts davon zu Papier bringen.
Ich brauche wirklich nur einen Laptop und Strom. Na ja, und meinen Schreibtisch im Wintergarten, da geht's am besten.
Aggression, Frustration und Verletzungen - wie reagieren Sie selbst sich ab? Sie sind Sie ein Mensch, der explodiert oder implodiert?
Fitzek: Da fragen Sie mal besser meine Freundin. Die würde sagen, dass ich sehr aufbrausend bin. Vor allen Dingen, wenn ich müde und hungrig bin und Sandra meine Geschichte kritisiert - die schlimmste Kombination in der Sie mich antreffen können. Sie hält - kein Witz - für den Fall der Fälle immer ein Snickers bereit.
Ich selbst weise das aufs Heftigste zurück und halte mich (Sternzeichen Waage!) für den ausgeglichensten Menschen der Welt ;)
Lieber Herr Fitzek, wenn Sie als Buchhändler einem Kunden das Buch empfehlen würden - mit welchen drei Schlagworten würden Sie es beschreiben?
Fitzek: Auf. Eigene. Gefahr.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Fitzek
- 2011, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426503751
- ISBN-13: 9783426503751
- Erscheinungsdatum: 01.06.2011
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