Der Anschlag
Roman
Stephen King ist zurück! In seinem neuen Roman schreibt der Erfolgsautor die amerikanische Geschichte neu.
Der Anschlag auf John F. Kennedy im Jahre 1963 versetzte die ganze Welt in einen Schockzustand. Was würde sich positiv...
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Produktinformationen zu „Der Anschlag “
Stephen King ist zurück! In seinem neuen Roman schreibt der Erfolgsautor die amerikanische Geschichte neu.
Der Anschlag auf John F. Kennedy im Jahre 1963 versetzte die ganze Welt in einen Schockzustand. Was würde sich positiv verändern, wenn Kennedy nicht ermordet worden wäre? Jake Epping reist in die Vergangenheit, um das Attentat zu vereiteln und die Geschichte neu zu schreiben. In einer Welt von Elvis, großen amerikanischen Autos und beschwingten Highschoolbällen beginnt für Jake ein neues Leben. Doch Jakes Vorhaben scheint schwerer als erwartet. Die Vergangenheit wehrt sich - auch gegen Jakes neue große Liebe, die Bibliothekarin Sadie Dunhill.
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Der Anschlag “
Wenn die Vergangenheit grausam zuschlägt - Stephen King schreibt die amerikanische Geschichte neuAm 22. November 1963 fielen in Dallas, Texas, drei Schüsse. John F. Kennedy starb, und die Welt veränderte sich für immer. Wenn man das Geschehene ungeschehen machen könnte - wären die Folgen es wert? Jake Epping kann in die Vergangenheit zurückkehren und will den Anschlag verhindern. Aber je näher er seinem Ziel kommt, umso vehementer wehrt sich die Vergangenheit gegen jede Änderung. Stephen Kings neuer grosser Roman ist eine Tour de Force, die ihresgleichen sucht - voller spannender Action, tiefer Einsichten und grosser Gefühle.
Jake Epping lebt ein normales Leben, bis sein Freund Al ihm ein grosses Geheimnis enthüllt: Er kennt ein Portal, das ins Jahr 1958 führt. Und Al gewinnt ihn für eine wahnsinnige Mission. Jake soll in die Vergangenheit zurückkehren und das Attentat auf John F. Kennedy vereiteln, um den Gang der Geschichte positiv zu korrigieren. Und so beginnt für Jake ein neues Leben in einer für ihn neuen Welt. Es ist die Welt von Elvis und JFK, von grossen amerikanischen Autos und beschwingten Highschool-Tanzveranstaltungen. Es ist die Welt des gequälten Einzelgängers Lee Harvey Oswald, aber auch die der Bibliothekarin Sadie Dunhill, die Jakes grosse Liebe seines Lebens wird - eines Lebens, das gegen alle normalen Regeln der Zeit verstösst. Und je näher Jake seinem Ziel kommt, den Mord an Kennedy rückgängig zu machen, desto bizarrer wehrt sich die Vergangenheit dagegen - mit aller gnadenlosen Gewalt, die sich auch gegen Jakes neue Liebe richtet ...
Lese-Probe zu „Der Anschlag “
Der Anschlag von Stephen KingAus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
Ich war nie das, was man eine Heulsuse nennt.
Meine Exfrau gab meinen »nicht vorhandenen emotionalen Gradienten « als Hauptgrund dafür an, dass sie mich verließ (als ob der Kerl, den sie bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hatte, ganz nebensächlich wäre). Christy sagte, sie könne mir zur Not verzeihen, dass ich auf der Beerdigung ihres Vaters nicht geweint habe; ich hätte ihn nur sechs Jahre gekannt und könne daher nicht sehen, was für ein wundervoller, großzügiger Mensch er gewesen sei (was beispielsweise ein Mustang-Cabrio zum Highschool-Abschluss bewies). Aber als ich auch auf den Beerdigungen meiner Eltern nicht weinte - sie starben im Abstand von nur zwei Jahren, Dad an Magenkrebs, Mutter an einem Herzschlag bei einem Strand spaziergang in Florida -, begann sie die Sache mit dem nicht vorhandenen Gradienten zu verstehen. »Ich war unfähig, meine Gefühle zu fühlen«, wie es im AA-Sprech hieß.
»Ich habe dich niemals weinen sehen«, sagte sie in dem ausdruckslosen Tonfall, in dem einem in einer Beziehung der andere den ultimativen Trennungsgrund verkündete. »Nicht mal, als du mir erklärt hast, ich müsste eine Entziehungskur machen, sonst würdest du mich verlassen.« Dieses Gespräch hatte etwa sechs Wochen vor dem Tag stattgefunden, an dem sie ihre Sachen packte, sie quer durch die Stadt karrte und bei Mel Thompson einzog. »Mann trifft Frau auf dem AA-Campus« - das ist eine weitere Redensart, die sie bei diesen Meetings haben.
... mehr
Ich habe nicht geweint, als wir uns verabschiedeten. Ich habe auch nicht geweint, als ich wieder in das kleine Haus mit der großen Hypothek ging. In das Haus, in das nie ein Baby gekommen war und in das nun auch niemals eines kommen würde. Ich legte mich nur auf das Bett, das jetzt mir allein gehörte, und legte einen Arm über die Augen und trauerte.
Tränenlos.
Aber ich bin nicht emotional blockiert. In diesem Punkt hatte Christy unrecht. Als ich neun war, erwartete meine Mutter mich eines Tages an der Haustür, als ich aus der Schule kam. Sie erzählte mir, dass Rags, mein Collie, von einem Laster totgefahren worden sei und der Fahrer sich nicht einmal die Mühe gemacht habe anzuhalten. Später, als wir ihn begruben, habe ich nicht geweint, obwohl mein Dad mir versicherte, niemand werde deswegen schlecht von mir denken. Aber als sie mir erzählte, was passiert sei, da habe ich geweint. Teilweise, weil dies meine erste Erfahrung mit dem Tod war; hauptsächlich, weil es meine Aufgabe gewesen war, dafür zu sorgen, dass Rags immer sicher im Garten hinter unserem Haus eingesperrt war.
Und ich weinte, als Mutters Arzt anrief und mir mitteilte, was an jenem Tag am Strand geschehen sei. »Tut mir leid, aber sie hatte keine Chance«, sagte er. »Es passiert manchmal ganz plötzlich, aber wir Ärzte tendieren eher dazu, das als Segen zu betrachten. «
Christy war an diesem Tag nicht da - sie musste länger in der Schule bleiben und mit einer Mutter reden, die Fragen zum letzten Zeugnis ihres Sohnes hatte -, aber ich weinte tatsächlich. Ich ging in unseren kleinen Wäscheraum und zog ein gebrauchtes Bettlaken aus dem Korb und weinte hinein. Nicht lange, aber mir kamen wirklich Tränen. Ich hätte ihr später davon erzählen können, aber ich sah keinen Sinn darin, teils weil sie geglaubt hätte, ich wollte Mitleid schinden (das ist kein AA-Ausdruck, aber es sollte vielleicht einer sein), und teils weil ich nicht finde, dass die Fähigkeit, praktisch auf Kommando loszuheulen, zu den Voraussetzungen für eine gute Ehe gehören sollte.
Wenn ich's mir recht überlege, habe ich meinen Vater niemals weinen sehen; in seinen emotionalsten Augenblicken seufzte er vielleicht schwer oder grunzte ein paar widerstrebende Lacher - für William Epping gab es kein Sich-an-die-Brust-Schlagen oder dröhnendes Lachen. Er war der starke, schweigsame Typ, und meine Mutter weitgehend ebenso. Vielleicht ist die Tatsache, dass ich nicht leicht weine, also genetisch bedingt. Aber blockiert? Unfähig, meine Gefühle zu fühlen? Nein, beides war ich nie.
Abgesehen von dem Tag, an dem ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, kann ich mich an nur ein einziges Mal erinnern, dass ich als Erwachsener geweint habe, und das war, als ich die Geschichte von dem Vater des Hausmeisters las. Ich saß allein im Lehrerzimmer der Lisbon High School und arbeitete einen Stapel Aufsätze durch, die meine Klasse »Englisch für Erwachsene« geschrieben hatte. Vom Ende des Korridors her konnte ich das dumpfe Aufprallen von Basketbällen, das Plärren der Time-out- Hupe und das Geschrei der Menge hören, während die Sportbestien kämpften: Lisbon Greyhounds gegen Jay Tigers.
Wer kann wissen, wann das Leben auf der Kippe steht oder weshalb?
Das von mir gestellte Thema lautete: »Der Tag, der mein Leben veränderte«. Die meisten Antworten waren tief empfundene, aber schauderhaft: sentimentale Geschichten von einer lieben Tante, die eine schwangere Jugendliche aufgenommen hatte; ein Kamerad in der Army, der demonstriert hatte, was Tapferkeit wirklich bedeutete; eine zufällige Begegnung mit einer Berühmtheit ( Jeopardy- Showmaster Alex Trebek, glaube ich, aber vielleicht war es auch Karl Malden). Die Lehrer unter Ihnen, die sich zusätzlich drei- bis viertausend Dollar pro Jahr verdienen, indem sie eine Klasse mit Erwachsenen übernommen haben, die aufs General Equivalency Diploma lernen, werden wissen, wie entmutigend es sein kann, solche Aufsätze zu lesen. Die Benotung spielt dabei kaum eine Rolle, zumindest nicht für mich: Ich ließ alle durchkommen, weil ich nie einen erwachsenen Schüler oder eine Schülerin hatte, der oder die sich nicht den Arsch aufgerissen hätte. Jeder, der ein beschriebenes Blatt Papier einreichte, bekam garantiert ein Häkchen von Jake Epping vom English Department der LHS, und wer das Geschriebene auch noch in Absätze unterteilt hatte, dem war wenigstens ein B minus sicher.
Was meinen Job so hart machte, war die Tatsache, dass mein wichtigstes Lehrmittel nicht mein Mund war, sondern der Rotstift, den ich regelrecht abnutzte. Was den Job so entmutigend machte, war die Gewissheit, dass bei diesem Rotstiftunterricht nur sehr wenig hängen bleiben würde; wer das Alter von fünfundzwanzig oder dreißig Jahren erreicht, ohne zu wissen, wie man richtig schreibt (totally, nicht todilly), wann man großschreibt (White House, nicht whitehouse) oder wie man einen Satz schreibt, der sowohl ein Substantiv als auch ein Verb enthält, wird es vermutlich nicht mehr lernen. Trotzdem machen wir unermüdlich weiter, kringeln tapfer das falsch verwendete Wort ein, in Sätzen wie Mein Mann war immer zu flink dabei, mich zu verurteilen, oder streichen schwimmte in dem Satz Danach schwimmte ich oft zum Floß hinaus durch und ersetzen es durch schwamm.
Solch hoffnungsloser, mühseliger Arbeit widmete ich mich an jenem Abend, während sich nicht weit von mir entfernt ein weiteres Basketballspiel zweier Highschool-Teams auf eine weitere Schlusssirene zubewegte, Welt ohne Ende, amen. Das war, nicht lange nachdem Christy aus der Entziehungskur gekommen war, und falls ich überhaupt etwas dachte, dann vermutlich dass ich sie beim Heimkommen nüchtern antraf (was übrigens der Fall war; sie hat sich ihre Nüchternheit besser bewahrt als ihren Ehemann). Ich weiß noch, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte und mir die Schläfen rieb, wie man es tut, um möglichst zu verhindern, dass aus einem kleinen Pochen ein großes Dröhnen wird.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Noch drei davon, nur noch drei, dann kann ich hier raus. Ich kann nach Hause fahren, mir einen großen Becher Instantkakao machen und mich in den neuen Roman von John Irving vergraben, ohne an diese aufrichtigen, aber schlecht geschriebenen Ergüsse denken zu müssen.
Es gab keine Geigenklänge oder Warnsignale, als ich den Aufsatz des Hausmeisters von dem Stapel nahm und vor mich hinlegte; keine Vorahnung davon, dass sich bald nicht nur mein eigenes kleines Leben, sondern das Leben aller Menschen auf der ganzen Welt ändern würde. Aber das wissen wir nie, nicht wahr? Das Leben schlägt oft unerwartete Kapriolen.
Er hatte mit einem billigen Kugelschreiber geschrieben, der auf den fünf Seiten mehrfach ausgelaufen war und offenbar Flecken an seinen Fingern zurückgelassen hatte. Seine Handschrift war ein verschlungenes, aber noch lesbares Gekritzel, und er musste stark aufgedrückt haben, weil die Wörter förmlich in das billige linierte Papier eingraviert waren; hätte ich die Augen geschlossen und meine Fingerkuppen über diese herausgerissenen Seiten gleiten lassen, wäre es gewesen, als läse ich Blindenschrift. Unter jedem g war wie zur Verzierung ein kleiner Schnörkel angefügt. Daran erinnere ich mich besonders deutlich.
Ich weiß auch noch, wie der Aufsatz begann. Ich kann mich an jedes einzelne Wort erinnern.
Es war kein Tag sondern ein Ahmd. Der Ahmd der mein Leben veränderte, war der Ahmd an dem mein Vater meine Mutter und meine zwei Brüder erschlagen und mich schwer verletzt hat. Er hat auch meine Schwester verletzt, so schwer dass sie in ein Komah fiel. Nach drei Jahren ist sie gestorm ohne nochmahl aufzuwachen. Ihr Name war Ellen und ich hatt sie sehr lieb. Sie hat gern Blumen geflüggt und in Wasen gestellt.
Schon auf der ersten Seite begannen mir auf halber Strecke die Augen zu brennen, und ich legte meinen treuen Rotstift weg. Und als ich zu dem Teil kam, wo er unters Bett kroch, während ihm Blut in die Augen lief (es lief mir auch in den Mund und schmeckte gräslich), begann ich zu weinen - Christy wäre so stolz auf mich gewesen. Ich las alles bis zum Ende, ohne irgendwas rot anzustreichen, und wischte mir die Augen, damit keine Tränen auf die Seiten fielen, die ihn offensichtlich so viel Mühe gekostet hatten. Hatte ich geglaubt, er wäre langsamer als die anderen, vielleicht bloß einen halben Schritt über dem, was man früher »bildungsfähiger Minderbegabter« genannt hat? Nun, das hatte weiß Gott einen Grund, nicht wahr? Genau wie sein Hinken. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Aber er war am Leben. Ein netter Mann, der immer lächelte und die Kinder niemals anschrie. Ein netter Mann, der die Hölle durchlitten hatte und jetzt daran arbeitete - bescheiden und hoffnungsvoll wie die meisten -, seinen Highschool-Abschluss zu machen. Auch wenn er für den Rest seines Lebens Hausmeister bleiben würde: nur ein Kerl in einer grünen oder braunen Arbeitskluft, der mit einem Besen unterwegs war oder mit dem Kittmesser, das er immer in der Gesäßtasche hatte, Kaugummis vom Boden kratzte. Vielleicht hätte er früher einmal etwas anderes werden können, aber eines Abends hatte sein Leben Kapriolen geschlagen, und so war er heute nur ein Kerl in Carhartt-Overalls, den die Kids als »Hoptoad Harry« verspotteten, weil er hinkte.
Ich habe also geweint. Nicht lange, aber die Tränen waren echt, solche, die tief von innen kommen. Vom Ende des Korridors her war zu hören, wie die Lisbon-Band ihren Siegesmarsch anstimmte - also hatte die Heimmannschaft gewonnen, was ich ihr gönnte. Später würden Harry und einige seiner Kollegen wahrscheinlich die Tribünen zusammenschieben und das Zeug aufkehren, das zwischen den Stufen durchgefallen war.
Ich malte ein großes rotes A aufs erste Blatt. Betrachtete es einen Augenblick und setzte dann ein großes rotes + daneben. Weil der Aufsatz gut war und Harrys Schmerz in mir, seinem Leser, eine emotionale Reaktion hervorgerufen hatte. Und ist es nicht das, was ein mit A plus benoteter Aufsatz tun sollte? Eine Reaktion hervorrufen?
Was mich betrifft, wünsche ich mir nur, die ehemalige Christy Epping hätte recht behalten. Ich wünschte, ich wäre doch emotional blockiert gewesen. Denn alles, was danach folgte - inklusive all der schrecklichen Dinge -, entstand aus diesen Tränen.
Teil 1
Ein entscheidender Augenblick
Kapitel 1
1
Harry Dunning bestand mit Bravour. Auf seine Einladung hin ging ich zu der kleinen Zeremonie in der LHS-Turnhalle. Er hatte wirklich sonst niemanden, und ich tat ihm diesen Gefallen gern.
Nach dem Segen (von Pater Bandy gesprochen, der kaum eine LHS-Veranstaltung ausließ) arbeitete ich mich durch das Gedränge aus Freunden und Verwandten zu der Ecke vor, in der Harry in seinem wallenden, schwarzen Talar allein dastand - mit seinem Diplom in der einen und dem geliehenen quadratischen Barett in der anderen Hand. Ich nahm ihm das Barett ab, damit ich ihm die Hand schütteln konnte. Er grinste und ließ dabei ein Gebiss mit Lücken und mehreren schiefen Zähnen sehen. Aber es war trotzdem ein sonniges, gewinnendes Grinsen.
»Danke fürs Kommen, Mr. Epping. Vielen Dank!«
»War mir ein Vergnügen. Und Sie können ruhig Jake zu mir sagen. Das ist eine kleine Vergünstigung, die ich Schülern gewähre, die alt genug sind, um mein Vater zu sein.«
Harry verstand nicht gleich, aber dann lachte er. »Das bin ich wohl, stimmt's? Schiet!« Ich lachte ebenfalls. Um uns herum lachten viele Leute. Und es gab natürlich Tränen. Was mir so schwerfällt, ist für sehr viele Menschen ganz leicht.
»Und dieses A plus! Schiet! Ich hab mein Leben lang noch kein A plus gekriegt! Hab auch keins erwartet!«
»Sie hatten es verdient, Harry. Was haben Sie als Highschool- Absolvent als Erstes vor?«
Sein Lächeln verblasste kurz - das war etwas, worüber er noch nicht nachgedacht hatte. »Ach, ich glaube, ich fahre heim. Ich wohne in der Goddard Street in einem gemieteten Häuschen.« Er hielt das Diplom vorsichtig zwischen den Fingerspitzen hoch, als hätte er Angst, die Tinte zu verwischen. »Das hier werde ich mir einrahmen und an die Wand hängen. Dann hole ich mir ein Glas Wein oder so und setze mich auf die Couch und bewundere es, bis es Zeit fürs Bett ist.«
»Klingt nach einem Plan«, sagte ich. »Aber wie wär's, wenn Sie vorher einen Burger mit Fritten mit mir essen würden? Wir könnten zu Al's fahren.«
Ich erwartete, dass er zusammenzucken würde, aber damit warf ich Harry natürlich fälschlicherweise in einen Topf mit meinen Kollegen. Ganz zu schweigen von den meisten unserer Schüler: Sie mieden das Al's wie die Pest und bevorzugten das Dairy Queen gegenüber der Schule oder das Hi-Hat draußen an der 196, wo früher das Lisbon Drive-in gestanden hatte.
»Das wäre großartig, Mr. Epping. Danke!«
»Jake, okay?«
»Jake, klar doch.«
Also nahm ich Harry mit zu Al's, wo ich als einziger Lehrer Stammgast war, und obwohl Al in diesem Sommer doch tatsächlich eine Kellnerin beschäftigte, bediente er uns selbst. Wie üblich hatte er eine Zigarette (in Esslokalen illegal, aber das hatte Al noch nie gekümmert) im linken Mundwinkel und kniff das Auge darüber wegen des Rauchs halb zu. Als er den zusammengelegten Talar sah und erkannte, aus welchem Anlass wir hier waren, bestand er darauf, uns einzuladen (für ihn kein großes Verlustgeschäft; die Mahlzeiten im Al's waren immer erstaunlich billig, was zu Gerüchten über das Schicksal bestimmter streunender Tiere in der Nachbarschaft geführt hatte). Er machte auch ein Foto von uns, das er später an seine Wand mit Lokalprominenz pinnte. Zur sonstigen »Prominenz« gehörten der verstorbene Albert Dunton, Gründer von Dunton Jewelry; Earl Higgins, ein ehemaliger LHS- Direktor; John Crafts, Gründer von John Crafts Auto Sales, und natürlich Pater Bandy von St. Cyril's. (Der Pater hing neben Papst Johannes XXIII., der kein Einheimischer war, aber von Al Templeton verehrt wurde, der sich rühmte, ein »guter Kattelick« zu sein.) Das Foto, das Al an jenem Tag machte, zeigt Harry Dunning mit breitem Grinsen im Gesicht. Ich stand neben ihm, und wir hielten beide sein Diplom hoch. Seine Krawatte saß ein bisschen schief. Daran erinnere ich mich, weil es mich an den kleinen Schnörkel erinnerte, den er unter jedes g setzte. Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich sehr gut.
2
Zwei Jahre später, am letzten Tag des Schuljahres, saß ich in genau demselben Lehrerzimmer und arbeitete einen Stapel Abschlussaufsätze ab, die mein Leistungskurs Amerikanische Lyrik geschrieben hatte. Die Kids selbst waren bereits fort, entlassen in einen weiteren Sommer, und bald würde auch ich gehen. Aber vorläufig war ich hier ganz zufrieden, weil ich die ungewohnte Stille genoss. Ich dachte sogar daran, den Schrank mit den Snacks auszuräumen, bevor ich ging. Irgendjemand sollte das tun, fand ich.
Früher an diesem Tag war Harry Dunning nach der ersten Stunde (in der es, wie am letzten Schultag in fast allen ersten Stunden und Freistunden, besonders laut zugegangen war) zu mir gehinkt gekommen und hatte mir die Hand hingestreckt.
»Ich möchte Ihnen nur für alles danken«, sagte er.
Ich grinste. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie das bereits getan.«
»Ja schon, aber heute ist mein letzter Tag. Ich gehe in den Ruhestand. Darum wollte ich nicht vergessen, Ihnen nochmals zu danken.«
Als ich ihm die Hand schüttelte, kam ein Junge vorbei - höchstens ein Zehntklässler, seinen frischen Pickeln und dem ernsthaft- komischen Gestrüpp an seinem Kinn, das ein Spitzbart sein wollte, nach zu urteilen - und murmelte spöttisch: »Hoptoad Harry, hoppin' down the av-a-new.«
Ich wollte ihn mir schnappen und dafür sorgen, dass er sich entschuldigte, aber Harry hielt mich zurück. Sein Lächeln war ungezwungen, nicht gekränkt. »Schon gut, lassen Sie nur. Das bin ich gewohnt. Jungs sind eben so.«
»Richtig«, sagte ich. »Und es ist unser Job, ihnen etwas beizubringen. «
»Ich weiß, und Sie sind gut darin. Aber es ist nicht mein Job, jedermanns Dingsbums, wieheißtdasnochmal ... lernfähiger Augenblick zu sein. Vor allem heute nicht. Ich hoffe, Sie passen gut auf sich auf, Mr. Epping.« Er mochte dem Alter nach mein Vater sein, aber zu Jake würde er sich wohl nie durchringen.
»Gleichfalls, Harry.«
»Dieses A plus werde ich nie vergessen. Das hab ich auch eingerahmt. Hängt jetzt gleich neben meinem Diplom.«
»Das freut mich.«
Und das war es. Alles war gut. Sein Aufsatz war naive Kunst gewesen - aber genauso kraftvoll und authentisch wie jedes Gemälde von Grandma Moses. Jedenfalls sehr viel besser als das Zeug, das ich jetzt gerade las. In Leistungskursaufsätzen war die Rechtschreibung größtenteils richtig, und der Ausdruck war klar (auch wenn meine vorsichtigen Geh-bloß-kein-Risiko-ein-Universitätsanwärter auf irritierende Weise dazu neigten, ins Passiv zu verfallen), aber der Stil war blass. Langweilig. Meine Schüler im Leistungskurs waren im vorletzten Jahr - die im letzten Jahr behielt Mac Steadman, der den Fachbereich leitete, für sich -, aber sie schrieben wie kleine alte Männer und kleine alte Damen, immer mit gespitzten Lippen und ohhh, rutsch nicht auf dieser Glatteisstelle aus, Mildred. Dagegen hatte Harry Dunning trotz aller Rechtschreibfehler und seiner mühsamen Schreibweise wie ein Held geschrieben. Zumindest dieses eine Mal.
Während ich über den Unterschied zwischen offensivem und defensivem Schreiben nachdachte, räusperte sich die Gegensprechanlage an der Wand. »Ist Mr. Epping im Lehrerzimmer im Westflügel? Sind Sie zufällig noch da, Jake?«
Ich stand auf, drückte die Sprechtaste und sagte: »Noch da, Gloria. Als Buße für meine Sünden. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie haben einen Anruf. Ein gewisser Al Templeton. Wenn Sie wollen, kann ich ihn durchstellen. Oder ich kann sagen, dass Sie für heute gegangen sind.«
Al Templeton, Eigentümer und Betreiber von Al's Diner, in dem sich außer mir niemals jemand aus dem LHS-Lehrkörper blicken ließ. Sogar mein geschätzter Fachleiter - der wie ein Cambridge- Dozent zu reden versuchte und selbst kurz vor der Pensionierung stand - hatte Al's Famous Fatburger, die Spezialität des Hauses, schon einmal als Al's Famous Catburger bezeichnet.
Nun, natürlich ist das nicht wirklich Katze, pflegten die Leute zu sagen, oder wahrscheinlich nicht Katze, aber es kann kein Rind sein, nicht für einen Dollar neunzehn.
»Jake? Sind Sie mir eingeschlafen?«
»Nein, bin hellwach.« Außerdem war ich neugierig, warum Al mich in der Schule anrief. Oder warum er mich überhaupt anrief. Unsere Beziehung war stets nur ein Koch-und-Gast-Verhältnis gewesen. Ich schätzte sein Essen, und er schätzte meine Kundschaft. »Schön, stellen Sie ihn durch.«
»Warum sind Sie überhaupt noch da?«
»Ich geißele mich.«
»Oooh!«, sagte Gloria, und ich konnte mir vorstellen, wie sie mit ihren langen Wimpern klimperte. »Ich liebe es, wenn Sie
Copyright © 2011 by Stephen King Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
Ich habe nicht geweint, als wir uns verabschiedeten. Ich habe auch nicht geweint, als ich wieder in das kleine Haus mit der großen Hypothek ging. In das Haus, in das nie ein Baby gekommen war und in das nun auch niemals eines kommen würde. Ich legte mich nur auf das Bett, das jetzt mir allein gehörte, und legte einen Arm über die Augen und trauerte.
Tränenlos.
Aber ich bin nicht emotional blockiert. In diesem Punkt hatte Christy unrecht. Als ich neun war, erwartete meine Mutter mich eines Tages an der Haustür, als ich aus der Schule kam. Sie erzählte mir, dass Rags, mein Collie, von einem Laster totgefahren worden sei und der Fahrer sich nicht einmal die Mühe gemacht habe anzuhalten. Später, als wir ihn begruben, habe ich nicht geweint, obwohl mein Dad mir versicherte, niemand werde deswegen schlecht von mir denken. Aber als sie mir erzählte, was passiert sei, da habe ich geweint. Teilweise, weil dies meine erste Erfahrung mit dem Tod war; hauptsächlich, weil es meine Aufgabe gewesen war, dafür zu sorgen, dass Rags immer sicher im Garten hinter unserem Haus eingesperrt war.
Und ich weinte, als Mutters Arzt anrief und mir mitteilte, was an jenem Tag am Strand geschehen sei. »Tut mir leid, aber sie hatte keine Chance«, sagte er. »Es passiert manchmal ganz plötzlich, aber wir Ärzte tendieren eher dazu, das als Segen zu betrachten. «
Christy war an diesem Tag nicht da - sie musste länger in der Schule bleiben und mit einer Mutter reden, die Fragen zum letzten Zeugnis ihres Sohnes hatte -, aber ich weinte tatsächlich. Ich ging in unseren kleinen Wäscheraum und zog ein gebrauchtes Bettlaken aus dem Korb und weinte hinein. Nicht lange, aber mir kamen wirklich Tränen. Ich hätte ihr später davon erzählen können, aber ich sah keinen Sinn darin, teils weil sie geglaubt hätte, ich wollte Mitleid schinden (das ist kein AA-Ausdruck, aber es sollte vielleicht einer sein), und teils weil ich nicht finde, dass die Fähigkeit, praktisch auf Kommando loszuheulen, zu den Voraussetzungen für eine gute Ehe gehören sollte.
Wenn ich's mir recht überlege, habe ich meinen Vater niemals weinen sehen; in seinen emotionalsten Augenblicken seufzte er vielleicht schwer oder grunzte ein paar widerstrebende Lacher - für William Epping gab es kein Sich-an-die-Brust-Schlagen oder dröhnendes Lachen. Er war der starke, schweigsame Typ, und meine Mutter weitgehend ebenso. Vielleicht ist die Tatsache, dass ich nicht leicht weine, also genetisch bedingt. Aber blockiert? Unfähig, meine Gefühle zu fühlen? Nein, beides war ich nie.
Abgesehen von dem Tag, an dem ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, kann ich mich an nur ein einziges Mal erinnern, dass ich als Erwachsener geweint habe, und das war, als ich die Geschichte von dem Vater des Hausmeisters las. Ich saß allein im Lehrerzimmer der Lisbon High School und arbeitete einen Stapel Aufsätze durch, die meine Klasse »Englisch für Erwachsene« geschrieben hatte. Vom Ende des Korridors her konnte ich das dumpfe Aufprallen von Basketbällen, das Plärren der Time-out- Hupe und das Geschrei der Menge hören, während die Sportbestien kämpften: Lisbon Greyhounds gegen Jay Tigers.
Wer kann wissen, wann das Leben auf der Kippe steht oder weshalb?
Das von mir gestellte Thema lautete: »Der Tag, der mein Leben veränderte«. Die meisten Antworten waren tief empfundene, aber schauderhaft: sentimentale Geschichten von einer lieben Tante, die eine schwangere Jugendliche aufgenommen hatte; ein Kamerad in der Army, der demonstriert hatte, was Tapferkeit wirklich bedeutete; eine zufällige Begegnung mit einer Berühmtheit ( Jeopardy- Showmaster Alex Trebek, glaube ich, aber vielleicht war es auch Karl Malden). Die Lehrer unter Ihnen, die sich zusätzlich drei- bis viertausend Dollar pro Jahr verdienen, indem sie eine Klasse mit Erwachsenen übernommen haben, die aufs General Equivalency Diploma lernen, werden wissen, wie entmutigend es sein kann, solche Aufsätze zu lesen. Die Benotung spielt dabei kaum eine Rolle, zumindest nicht für mich: Ich ließ alle durchkommen, weil ich nie einen erwachsenen Schüler oder eine Schülerin hatte, der oder die sich nicht den Arsch aufgerissen hätte. Jeder, der ein beschriebenes Blatt Papier einreichte, bekam garantiert ein Häkchen von Jake Epping vom English Department der LHS, und wer das Geschriebene auch noch in Absätze unterteilt hatte, dem war wenigstens ein B minus sicher.
Was meinen Job so hart machte, war die Tatsache, dass mein wichtigstes Lehrmittel nicht mein Mund war, sondern der Rotstift, den ich regelrecht abnutzte. Was den Job so entmutigend machte, war die Gewissheit, dass bei diesem Rotstiftunterricht nur sehr wenig hängen bleiben würde; wer das Alter von fünfundzwanzig oder dreißig Jahren erreicht, ohne zu wissen, wie man richtig schreibt (totally, nicht todilly), wann man großschreibt (White House, nicht whitehouse) oder wie man einen Satz schreibt, der sowohl ein Substantiv als auch ein Verb enthält, wird es vermutlich nicht mehr lernen. Trotzdem machen wir unermüdlich weiter, kringeln tapfer das falsch verwendete Wort ein, in Sätzen wie Mein Mann war immer zu flink dabei, mich zu verurteilen, oder streichen schwimmte in dem Satz Danach schwimmte ich oft zum Floß hinaus durch und ersetzen es durch schwamm.
Solch hoffnungsloser, mühseliger Arbeit widmete ich mich an jenem Abend, während sich nicht weit von mir entfernt ein weiteres Basketballspiel zweier Highschool-Teams auf eine weitere Schlusssirene zubewegte, Welt ohne Ende, amen. Das war, nicht lange nachdem Christy aus der Entziehungskur gekommen war, und falls ich überhaupt etwas dachte, dann vermutlich dass ich sie beim Heimkommen nüchtern antraf (was übrigens der Fall war; sie hat sich ihre Nüchternheit besser bewahrt als ihren Ehemann). Ich weiß noch, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte und mir die Schläfen rieb, wie man es tut, um möglichst zu verhindern, dass aus einem kleinen Pochen ein großes Dröhnen wird.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Noch drei davon, nur noch drei, dann kann ich hier raus. Ich kann nach Hause fahren, mir einen großen Becher Instantkakao machen und mich in den neuen Roman von John Irving vergraben, ohne an diese aufrichtigen, aber schlecht geschriebenen Ergüsse denken zu müssen.
Es gab keine Geigenklänge oder Warnsignale, als ich den Aufsatz des Hausmeisters von dem Stapel nahm und vor mich hinlegte; keine Vorahnung davon, dass sich bald nicht nur mein eigenes kleines Leben, sondern das Leben aller Menschen auf der ganzen Welt ändern würde. Aber das wissen wir nie, nicht wahr? Das Leben schlägt oft unerwartete Kapriolen.
Er hatte mit einem billigen Kugelschreiber geschrieben, der auf den fünf Seiten mehrfach ausgelaufen war und offenbar Flecken an seinen Fingern zurückgelassen hatte. Seine Handschrift war ein verschlungenes, aber noch lesbares Gekritzel, und er musste stark aufgedrückt haben, weil die Wörter förmlich in das billige linierte Papier eingraviert waren; hätte ich die Augen geschlossen und meine Fingerkuppen über diese herausgerissenen Seiten gleiten lassen, wäre es gewesen, als läse ich Blindenschrift. Unter jedem g war wie zur Verzierung ein kleiner Schnörkel angefügt. Daran erinnere ich mich besonders deutlich.
Ich weiß auch noch, wie der Aufsatz begann. Ich kann mich an jedes einzelne Wort erinnern.
Es war kein Tag sondern ein Ahmd. Der Ahmd der mein Leben veränderte, war der Ahmd an dem mein Vater meine Mutter und meine zwei Brüder erschlagen und mich schwer verletzt hat. Er hat auch meine Schwester verletzt, so schwer dass sie in ein Komah fiel. Nach drei Jahren ist sie gestorm ohne nochmahl aufzuwachen. Ihr Name war Ellen und ich hatt sie sehr lieb. Sie hat gern Blumen geflüggt und in Wasen gestellt.
Schon auf der ersten Seite begannen mir auf halber Strecke die Augen zu brennen, und ich legte meinen treuen Rotstift weg. Und als ich zu dem Teil kam, wo er unters Bett kroch, während ihm Blut in die Augen lief (es lief mir auch in den Mund und schmeckte gräslich), begann ich zu weinen - Christy wäre so stolz auf mich gewesen. Ich las alles bis zum Ende, ohne irgendwas rot anzustreichen, und wischte mir die Augen, damit keine Tränen auf die Seiten fielen, die ihn offensichtlich so viel Mühe gekostet hatten. Hatte ich geglaubt, er wäre langsamer als die anderen, vielleicht bloß einen halben Schritt über dem, was man früher »bildungsfähiger Minderbegabter« genannt hat? Nun, das hatte weiß Gott einen Grund, nicht wahr? Genau wie sein Hinken. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Aber er war am Leben. Ein netter Mann, der immer lächelte und die Kinder niemals anschrie. Ein netter Mann, der die Hölle durchlitten hatte und jetzt daran arbeitete - bescheiden und hoffnungsvoll wie die meisten -, seinen Highschool-Abschluss zu machen. Auch wenn er für den Rest seines Lebens Hausmeister bleiben würde: nur ein Kerl in einer grünen oder braunen Arbeitskluft, der mit einem Besen unterwegs war oder mit dem Kittmesser, das er immer in der Gesäßtasche hatte, Kaugummis vom Boden kratzte. Vielleicht hätte er früher einmal etwas anderes werden können, aber eines Abends hatte sein Leben Kapriolen geschlagen, und so war er heute nur ein Kerl in Carhartt-Overalls, den die Kids als »Hoptoad Harry« verspotteten, weil er hinkte.
Ich habe also geweint. Nicht lange, aber die Tränen waren echt, solche, die tief von innen kommen. Vom Ende des Korridors her war zu hören, wie die Lisbon-Band ihren Siegesmarsch anstimmte - also hatte die Heimmannschaft gewonnen, was ich ihr gönnte. Später würden Harry und einige seiner Kollegen wahrscheinlich die Tribünen zusammenschieben und das Zeug aufkehren, das zwischen den Stufen durchgefallen war.
Ich malte ein großes rotes A aufs erste Blatt. Betrachtete es einen Augenblick und setzte dann ein großes rotes + daneben. Weil der Aufsatz gut war und Harrys Schmerz in mir, seinem Leser, eine emotionale Reaktion hervorgerufen hatte. Und ist es nicht das, was ein mit A plus benoteter Aufsatz tun sollte? Eine Reaktion hervorrufen?
Was mich betrifft, wünsche ich mir nur, die ehemalige Christy Epping hätte recht behalten. Ich wünschte, ich wäre doch emotional blockiert gewesen. Denn alles, was danach folgte - inklusive all der schrecklichen Dinge -, entstand aus diesen Tränen.
Teil 1
Ein entscheidender Augenblick
Kapitel 1
1
Harry Dunning bestand mit Bravour. Auf seine Einladung hin ging ich zu der kleinen Zeremonie in der LHS-Turnhalle. Er hatte wirklich sonst niemanden, und ich tat ihm diesen Gefallen gern.
Nach dem Segen (von Pater Bandy gesprochen, der kaum eine LHS-Veranstaltung ausließ) arbeitete ich mich durch das Gedränge aus Freunden und Verwandten zu der Ecke vor, in der Harry in seinem wallenden, schwarzen Talar allein dastand - mit seinem Diplom in der einen und dem geliehenen quadratischen Barett in der anderen Hand. Ich nahm ihm das Barett ab, damit ich ihm die Hand schütteln konnte. Er grinste und ließ dabei ein Gebiss mit Lücken und mehreren schiefen Zähnen sehen. Aber es war trotzdem ein sonniges, gewinnendes Grinsen.
»Danke fürs Kommen, Mr. Epping. Vielen Dank!«
»War mir ein Vergnügen. Und Sie können ruhig Jake zu mir sagen. Das ist eine kleine Vergünstigung, die ich Schülern gewähre, die alt genug sind, um mein Vater zu sein.«
Harry verstand nicht gleich, aber dann lachte er. »Das bin ich wohl, stimmt's? Schiet!« Ich lachte ebenfalls. Um uns herum lachten viele Leute. Und es gab natürlich Tränen. Was mir so schwerfällt, ist für sehr viele Menschen ganz leicht.
»Und dieses A plus! Schiet! Ich hab mein Leben lang noch kein A plus gekriegt! Hab auch keins erwartet!«
»Sie hatten es verdient, Harry. Was haben Sie als Highschool- Absolvent als Erstes vor?«
Sein Lächeln verblasste kurz - das war etwas, worüber er noch nicht nachgedacht hatte. »Ach, ich glaube, ich fahre heim. Ich wohne in der Goddard Street in einem gemieteten Häuschen.« Er hielt das Diplom vorsichtig zwischen den Fingerspitzen hoch, als hätte er Angst, die Tinte zu verwischen. »Das hier werde ich mir einrahmen und an die Wand hängen. Dann hole ich mir ein Glas Wein oder so und setze mich auf die Couch und bewundere es, bis es Zeit fürs Bett ist.«
»Klingt nach einem Plan«, sagte ich. »Aber wie wär's, wenn Sie vorher einen Burger mit Fritten mit mir essen würden? Wir könnten zu Al's fahren.«
Ich erwartete, dass er zusammenzucken würde, aber damit warf ich Harry natürlich fälschlicherweise in einen Topf mit meinen Kollegen. Ganz zu schweigen von den meisten unserer Schüler: Sie mieden das Al's wie die Pest und bevorzugten das Dairy Queen gegenüber der Schule oder das Hi-Hat draußen an der 196, wo früher das Lisbon Drive-in gestanden hatte.
»Das wäre großartig, Mr. Epping. Danke!«
»Jake, okay?«
»Jake, klar doch.«
Also nahm ich Harry mit zu Al's, wo ich als einziger Lehrer Stammgast war, und obwohl Al in diesem Sommer doch tatsächlich eine Kellnerin beschäftigte, bediente er uns selbst. Wie üblich hatte er eine Zigarette (in Esslokalen illegal, aber das hatte Al noch nie gekümmert) im linken Mundwinkel und kniff das Auge darüber wegen des Rauchs halb zu. Als er den zusammengelegten Talar sah und erkannte, aus welchem Anlass wir hier waren, bestand er darauf, uns einzuladen (für ihn kein großes Verlustgeschäft; die Mahlzeiten im Al's waren immer erstaunlich billig, was zu Gerüchten über das Schicksal bestimmter streunender Tiere in der Nachbarschaft geführt hatte). Er machte auch ein Foto von uns, das er später an seine Wand mit Lokalprominenz pinnte. Zur sonstigen »Prominenz« gehörten der verstorbene Albert Dunton, Gründer von Dunton Jewelry; Earl Higgins, ein ehemaliger LHS- Direktor; John Crafts, Gründer von John Crafts Auto Sales, und natürlich Pater Bandy von St. Cyril's. (Der Pater hing neben Papst Johannes XXIII., der kein Einheimischer war, aber von Al Templeton verehrt wurde, der sich rühmte, ein »guter Kattelick« zu sein.) Das Foto, das Al an jenem Tag machte, zeigt Harry Dunning mit breitem Grinsen im Gesicht. Ich stand neben ihm, und wir hielten beide sein Diplom hoch. Seine Krawatte saß ein bisschen schief. Daran erinnere ich mich, weil es mich an den kleinen Schnörkel erinnerte, den er unter jedes g setzte. Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich sehr gut.
2
Zwei Jahre später, am letzten Tag des Schuljahres, saß ich in genau demselben Lehrerzimmer und arbeitete einen Stapel Abschlussaufsätze ab, die mein Leistungskurs Amerikanische Lyrik geschrieben hatte. Die Kids selbst waren bereits fort, entlassen in einen weiteren Sommer, und bald würde auch ich gehen. Aber vorläufig war ich hier ganz zufrieden, weil ich die ungewohnte Stille genoss. Ich dachte sogar daran, den Schrank mit den Snacks auszuräumen, bevor ich ging. Irgendjemand sollte das tun, fand ich.
Früher an diesem Tag war Harry Dunning nach der ersten Stunde (in der es, wie am letzten Schultag in fast allen ersten Stunden und Freistunden, besonders laut zugegangen war) zu mir gehinkt gekommen und hatte mir die Hand hingestreckt.
»Ich möchte Ihnen nur für alles danken«, sagte er.
Ich grinste. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie das bereits getan.«
»Ja schon, aber heute ist mein letzter Tag. Ich gehe in den Ruhestand. Darum wollte ich nicht vergessen, Ihnen nochmals zu danken.«
Als ich ihm die Hand schüttelte, kam ein Junge vorbei - höchstens ein Zehntklässler, seinen frischen Pickeln und dem ernsthaft- komischen Gestrüpp an seinem Kinn, das ein Spitzbart sein wollte, nach zu urteilen - und murmelte spöttisch: »Hoptoad Harry, hoppin' down the av-a-new.«
Ich wollte ihn mir schnappen und dafür sorgen, dass er sich entschuldigte, aber Harry hielt mich zurück. Sein Lächeln war ungezwungen, nicht gekränkt. »Schon gut, lassen Sie nur. Das bin ich gewohnt. Jungs sind eben so.«
»Richtig«, sagte ich. »Und es ist unser Job, ihnen etwas beizubringen. «
»Ich weiß, und Sie sind gut darin. Aber es ist nicht mein Job, jedermanns Dingsbums, wieheißtdasnochmal ... lernfähiger Augenblick zu sein. Vor allem heute nicht. Ich hoffe, Sie passen gut auf sich auf, Mr. Epping.« Er mochte dem Alter nach mein Vater sein, aber zu Jake würde er sich wohl nie durchringen.
»Gleichfalls, Harry.«
»Dieses A plus werde ich nie vergessen. Das hab ich auch eingerahmt. Hängt jetzt gleich neben meinem Diplom.«
»Das freut mich.«
Und das war es. Alles war gut. Sein Aufsatz war naive Kunst gewesen - aber genauso kraftvoll und authentisch wie jedes Gemälde von Grandma Moses. Jedenfalls sehr viel besser als das Zeug, das ich jetzt gerade las. In Leistungskursaufsätzen war die Rechtschreibung größtenteils richtig, und der Ausdruck war klar (auch wenn meine vorsichtigen Geh-bloß-kein-Risiko-ein-Universitätsanwärter auf irritierende Weise dazu neigten, ins Passiv zu verfallen), aber der Stil war blass. Langweilig. Meine Schüler im Leistungskurs waren im vorletzten Jahr - die im letzten Jahr behielt Mac Steadman, der den Fachbereich leitete, für sich -, aber sie schrieben wie kleine alte Männer und kleine alte Damen, immer mit gespitzten Lippen und ohhh, rutsch nicht auf dieser Glatteisstelle aus, Mildred. Dagegen hatte Harry Dunning trotz aller Rechtschreibfehler und seiner mühsamen Schreibweise wie ein Held geschrieben. Zumindest dieses eine Mal.
Während ich über den Unterschied zwischen offensivem und defensivem Schreiben nachdachte, räusperte sich die Gegensprechanlage an der Wand. »Ist Mr. Epping im Lehrerzimmer im Westflügel? Sind Sie zufällig noch da, Jake?«
Ich stand auf, drückte die Sprechtaste und sagte: »Noch da, Gloria. Als Buße für meine Sünden. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie haben einen Anruf. Ein gewisser Al Templeton. Wenn Sie wollen, kann ich ihn durchstellen. Oder ich kann sagen, dass Sie für heute gegangen sind.«
Al Templeton, Eigentümer und Betreiber von Al's Diner, in dem sich außer mir niemals jemand aus dem LHS-Lehrkörper blicken ließ. Sogar mein geschätzter Fachleiter - der wie ein Cambridge- Dozent zu reden versuchte und selbst kurz vor der Pensionierung stand - hatte Al's Famous Fatburger, die Spezialität des Hauses, schon einmal als Al's Famous Catburger bezeichnet.
Nun, natürlich ist das nicht wirklich Katze, pflegten die Leute zu sagen, oder wahrscheinlich nicht Katze, aber es kann kein Rind sein, nicht für einen Dollar neunzehn.
»Jake? Sind Sie mir eingeschlafen?«
»Nein, bin hellwach.« Außerdem war ich neugierig, warum Al mich in der Schule anrief. Oder warum er mich überhaupt anrief. Unsere Beziehung war stets nur ein Koch-und-Gast-Verhältnis gewesen. Ich schätzte sein Essen, und er schätzte meine Kundschaft. »Schön, stellen Sie ihn durch.«
»Warum sind Sie überhaupt noch da?«
»Ich geißele mich.«
»Oooh!«, sagte Gloria, und ich konnte mir vorstellen, wie sie mit ihren langen Wimpern klimperte. »Ich liebe es, wenn Sie
Copyright © 2011 by Stephen King Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
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Autoren-Porträt von Stephen King
King, StephenStephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen King
- 2011, 1055 Seiten, Masse: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Bergner, Wulf
- Übersetzer: Wulf Bergner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453267540
- ISBN-13: 9783453267541
- Erscheinungsdatum: 23.01.2012
Rezension zu „Der Anschlag “
"Stephen Kings neues Buch 'Der Anschlag' ist wie ein Labor, in dem er mit den Mitteln des Romans Gesellschaft, Politik und Kultur der Vereinigten Staaten untersucht - von Pop bis Literatur. (...) Stephen Kings erstaunlicher Roman ist wie kein anderes Buch, das er bisher geschrieben hat, ein Hauptwerk - ein philosophischer Zeitreiseroman."
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