Das Siegel der Tage
Von der Autorin des Weltbestsellers »Das Geisterhaus«
Der Bestseller - jetzt im Taschenbuch!
Isabel Allende ist die Meisterin des Erzählens, und ihre vielköpfige Familie bietet einen reichen Fundus an unglaublichen Geschichten. Die Erfolgsautorin hat sie in diesem Buch, das sie...
Isabel Allende ist die Meisterin des Erzählens, und ihre vielköpfige Familie bietet einen reichen Fundus an unglaublichen Geschichten. Die Erfolgsautorin hat sie in diesem Buch, das sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Siegel der Tage “
Der Bestseller - jetzt im Taschenbuch!
Isabel Allende ist die Meisterin des Erzählens, und ihre vielköpfige Familie bietet einen reichen Fundus an unglaublichen Geschichten. Die Erfolgsautorin hat sie in diesem Buch, das sie an die verstorbene Tochter Paula richtet, aufgeschrieben: Liebschaften und unverhoffte Trennungen spielen eine Rolle ebenso wie zwei lesbische buddhistische Nonnen, die sich wie selbstverständlich eines elternlosen Säuglings annehmen, oder ein stoischer Buchhalter, der sich auf Befehl seiner chinesischen Mutter auf die Suche nach einer Ehefrau macht. Mit Wärme, Humor und ihrem handfesten Sinn dafür, wie sich dem Leben in all seinen Formen begegnen läßt, erzählt Isabel Allende in Das Siegel der Tage von den schwierigen Zeiten nach dem Verlust ihrer Tochter Paula und von den erfüllten Tagen im Zentrum einer überaus farbigen Großfamilie.
Isabel Allende ist die Meisterin des Erzählens, und ihre vielköpfige Familie bietet einen reichen Fundus an unglaublichen Geschichten. Die Erfolgsautorin hat sie in diesem Buch, das sie an die verstorbene Tochter Paula richtet, aufgeschrieben: Liebschaften und unverhoffte Trennungen spielen eine Rolle ebenso wie zwei lesbische buddhistische Nonnen, die sich wie selbstverständlich eines elternlosen Säuglings annehmen, oder ein stoischer Buchhalter, der sich auf Befehl seiner chinesischen Mutter auf die Suche nach einer Ehefrau macht. Mit Wärme, Humor und ihrem handfesten Sinn dafür, wie sich dem Leben in all seinen Formen begegnen läßt, erzählt Isabel Allende in Das Siegel der Tage von den schwierigen Zeiten nach dem Verlust ihrer Tochter Paula und von den erfüllten Tagen im Zentrum einer überaus farbigen Großfamilie.
Klappentext zu „Das Siegel der Tage “
»Ich will dir erzählen, was aus uns geworden ist, nachdem du fort warst.« Mit diesen Worten richtet sich Isabel Allende in Das Siegel der Tage an ihre verstorbene Tochter Paula. Heitere, traurige, oft unglaubliche und doch immer tröstliche Geschichten, die sich nach dem schmerzhaften Verlust ihrer Tochter im Kreise des Allende-Clans zugetragen haben, hat die chilenische Erfolgsautorin hier aufgeschrieben.Mit lebenskluger Wärme erzählt sie von unverhofften Begegnungen, Liebschaften, Trennungen und Versöhnungen; von den beiden lesbischen buddhistischen Nonnen, die sich wie selbstverständlich eines elternlosen Säuglings annehmen, oder von dem stoischen Buchhalter, der sich auf Befehl seiner chinesischen Mutter auf die Suche nach einer Ehefrau macht. Und schliesslich lesen wir von der schicksalhaften Liebe zwischen zwei reifen Menschen, die gemeinsam alle Stromschnellen und Untiefen des Lebens gemeistert haben.
Mit Wärme, Humor und ihrem handfesten Sinn dafür, wie sich dem Leben in all seinen Formen begegnen lässt, erzählt Isabel Allende in Das Siegel der Tage von den schwierigen Zeiten nach dem Verlust ihrer Tochter Paula und von den erfüllten Tagen im Zentrum einer überaus farbigen Grossfamilie.
Lese-Probe zu „Das Siegel der Tage “
Das Siegel der Tage von Isabel AllendeLESEPROBE
7
Die Launen der Muse bei Tagesanbruch
... mehr
Meinem Leben fehlt es nicht an Dramatik, zirkusreifes Material, über das ich schreiben könnte, findet sich mehr als genug, und doch weiß ich am 7. Januar nicht, wohin mit mir. Letzte Nacht habe ich kein Auge zugetan, draußen tobte das Unwetter, der Wind brüllte in den Eichen und rüttelte an den Fenstern, die Sintflut der letzten Wochen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Einige Wohngebiete im County standen bereits unter Wasser, die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, des gigantischen Desasters Herr zu werden, und die Leute verließen ihre Häuser und wateten bis zur Hüfte durch die Fluten, um zu retten, was zu retten war. Möbel trieben durch die Hauptstraßen, und auf den Verdecks versunkener Autos hockte manches verstörte Haustier und hoffte auf das rettende Herrchen, während die Presse aus dem Hubschrauber die Bilder von einem kalifornischen Winter einfing, der eher an einen Hurrikan in Louisiana erinnerte. Manche Viertel waren für zwei Tage ganz von der Außenwelt abgeschnitten, und als man endlich wieder hinkam und das Ausmaß der Schäden zutage trat, karrte man Trupps lateinamerikanischer Einwanderer herbei, die sich daranmachten, das Wasser mit Pumpen und die Trümmer von Hand wegzuschaffen. Unser Haus, hoch oben auf einem Hügel, ist dem peitschenden Wind ausgesetzt, der die Palmen niederdrückt und Bäume, die zu stolz sind, ihr Haupt zu beugen, zuweilen mitsamt der Wurzel ausreißt, aber von Überschwemmungen bleibt es verschont. Hin und wieder bauen sich während der heftigsten Sturmtage launische Brecher auf, die den einzigen Weg zu uns herauf unpassierbar machen; dann schauen wir, gefangen, von oben hinab auf das ungewohnte Schauspiel der wutschäumenden Bucht.
Ich mag den erzwungenen Rückzug im Winter. Ich lebe im Marin County, nördlich von San Francisco, zwanzig Minuten von der Golden Gate Bridge entfernt, zwischen Hügeln, die sich im Sommer golden und im Winter smaragdfarben kleiden, am Westufer der weiten Bucht. An klaren Tagen können wir in der Ferne noch zwei andere Brücken sehen, außerdem die verschwommene Silhouette der Häfen von Oakland und San Francisco, die schweren Containerschiffe, viele hundert Segelboote und darüber die Möwen wie weiße Papiertaschentücher. Im Mai tauchen die ersten Tollkühnen auf, die an bunten Gleitschirmen über das Wasser flitzen und die Ruhe der alten Asiaten stören, die am Abend auf den Felsen ihre Angeln auswerfen. Vom offenen Pazifik aus ist die schmale Einfahrt zur Bucht, die sich bei Tagesanbruch in Nebel hüllt, nicht zu sehen, und die ersten Seefahrer segelten daran vorbei, ohne zu ahnen, welche Schönheit sich hier verbirgt. Heute ist die Einfahrt von der schlanken Golden Gate Bridge mit den prächtigen roten Pfeilern gekrönt. Wasser, Himmel, Hügel und Wald – das ist meine Landschaft. Nicht die Weltuntergangsböen waren es und auch nicht das Prasseln der Hagelkörner auf dem Dach, was mich letzte Nacht um den Schlaf brachte, sondern meine Unruhe, weil unvermeidlich der 8. Januar anbrechen würde. Seit fünfundzwanzig Jahren beginne ich an diesem Tag mit dem Schreiben, mehr aus Aberglauben als aus Disziplin:
Ich fürchte, das Buch werde scheitern, sollte ich an einem anderen Tag anfangen, und daß ich den Rest des Jahres nicht werde schreiben können, wenn ich nicht am 8. Januar damit beginne. Anfang Januar liegen einige Monate hinter mir, in denen ich nicht geschrieben, sondern nach außen gekehrt, im Tumult der Welt gelebt habe, auf Reisen war, meine Bücher vorgestellt, Vorträge gehalten habe, immer von Menschen umgeben war, zu viel geredet habe. Trubel und Radau. Mehr als alles fürchte ich dann, taub geworden zu sein, die Stille nicht mehr zu hören. Ohne Stille bin ich aufgeschmissen. Unter allerlei Vorwänden stand ich in der Nacht etliche Male auf, schlüpfte in Willies alte Kaschmirjacke, die mir zur zweiten Haut geworden ist, lief mit immer neuen Tassen heißer Schokolade in der Hand durch die Zimmer und wälzte dabei in meinem Kopf die Gedanken an das, was ich in ein paar Stunden schreiben würde, bis die Kälte mich ins Bett zurücktrieb, in dem Willie, gesegnet sei er, ungerührt schnarchte. Ich machte an seinem nackten Rücken fest, schob meine eisigen Füße zwischen seine langen, sehnigen Beine und atmete seinen überraschend jungen Geruch ein, der sich im Verlauf der Jahre nicht verändert hat. Nie wird er wach, wenn ich mich an ihn kuschle, nur wenn ich mich von ihm löse; er ist an meine Berührung gewöhnt, an meine Schlaflosigkeit und meine schweren Träume. Und wenn ich noch so viel nachts umherwandere, Olivia, die auf einer Bank am Fußende des Bettes schläft, wird auch nicht wach. Nichts vermag den Schlaf dieser dusseligen Hundedame zu stören, die Hausmäuse nicht, die sich manchmal aus ihren Löchern wagen, nicht das Odeur der Skunks bei der Paarung, nicht das Wispern der rastlosen Seelen im Dunkeln. Würde ein wahnsinniger Axtmörder bei uns einbrechen, sie wäre die letzte, die es mitkriegte. Sie ist über die Humane Society zu uns gekommen, ein mitleiderregendes Geschöpf mit einem gebrochenen Bein und mehreren angeknacksten Rippen, das man auf einer Müllkippe aufgelesen hatte. Einen Monat kauerte sie zitternd im Wandschrank zwischen meinen Schuhen, erholte sich aber nach und nach von den erlittenen Mißhandlungen, und als sie schließlich mit hängenden Ohren und niedergedrücktem Schwanz aus ihrem Versteck schlich, wurde uns klar, daß sie als Wachhund nicht zu gebrauchen ist: Sie schläft wie ein Stein. Endlich legte sich der Zorn des Sturms, und mit dem ersten hellen Schimmer im Fenster stand ich auf, duschte und zog mich an, während Willie in seinem Morgenmantel eines übernächtigten Scheichs in der Küche verschwand. Der Duft frisch gemahlenen Kaffees war wie ein Streicheln für mich – Aromatherapie. Unsere tägliche Routine schafft mehr Nähe zwischen uns als der Taumel der Leidenschaft; sind wir getrennt voneinander, ist es dieser behutsame Tanz, der uns am meisten fehlt. Wir brauchen das Gefühl, daß der andere bei uns ist, in diesem geschützten Raum, der allein uns gehört. Ein kühler Morgen, Kaffee mit Toastbrot, Zeit zum Schreiben, eine Hündin, die mit dem Schwanz wedelt, und mein Liebster: Besser könnte das Leben nicht sein. Danach nahm Willie mich zum Abschied in die Arme, denn ich brach zu einer langen Reise auf. »Viel Glück«, wünschte er mir leise wie jedes Jahr an diesem Tag, und ich ging mit Mantel und Regenschirm sechs Stufen vorm Eingang hinunter, am Pool entlang, siebzehn Meter durch den Garten und betrat das Häuschen, in dem ich schreibe, meinen Bau. Und hier bin ich jetzt.
Kaum hatte ich die Kerze angezündet, die mir beim Schreiben stets leuchtet, als meine Agentin Carmen Balcells aus Santa Fe anrief, diesem Dorf der verrückten Bergziegen südlich von Barcelona, aus dem sie stammt. Dort will sie ihre reifen Jahre in Frieden verbringen, weil sie aber nicht weiß, wohin mit ihrer Energie, kauft sie Haus für Haus den Ort auf.
»Lies mir den ersten Satz vor«, bat mich diese Übermutter. Einmal mehr erklärte ich ihr, daß zwischen Kalifornien und Spanien neun Stunden Zeitdifferenz liegen. Von einem ersten Satz konnte die Rede noch nicht sein.»Schreib über dein Leben, Isabel.«
»Das habe ich doch schon getan, weißt du das nicht mehr?«»Das ist dreizehn Jahre her.«
»Meine Familie sieht sich nicht gern an die Öffentlichkeit gezerrt, Carmen.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Schick mir einen Brief von zwei-, dreihundert Seiten und laß den Rest meine Sorge sein. Wenn man sich zwischen einer Geschichte und der beleidigten Verwandtschaft zu entscheiden hat, wählt jeder professionelle Schriftsteller die Geschichte.«»Sicher?«»Ganz sicher.« Die dunkelsten Wasser
In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1992, als es eben zu regnen aufgehört hatte, brachen wir im Kreis der Familie auf, um deine Asche auszustreuen, wie du, Paula, das, lange bevor du krank geworden warst, in einem Brief verfügt hattest. Dein Mann Ernesto war aus New Jersey, dein Vater aus Chile angereist, kaum daß wir sie über das Geschehene benachrichtigt hatten. Sie trafen rechtzeitig ein, um von dir Abschied zu nehmen – du lagst aufgebahrt unter einem weißen Laken –, ehe man dich zur Einäscherung brachte. Danach versammelten wir uns in einer Kirche, hörten die Messe und weinten miteinander. Dein Vater hätte eigentlich nach Chile zurückgemußt, wartete jedoch, daß der Regen nachließ, und als sich zwei Tage später schließlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen zeigten, fuhr die ganze Familie in drei Autos zu einem Wald. Dein Vater saß im ersten Wagen und führte uns. Er kennt sich hier nicht aus, hatte die Gegend aber in den Tagen zuvor durchstreift und nach dem Ort gesucht, der dir der liebste gewesen wäre. Es gibt hier viele Stellen, die man hätte wählen können, die Natur ist verschwenderisch, doch durch eine dieser Fügungen, die schon üblich sind bei allem, was dich betrifft, Tochter, führte er uns in ebenden Wald, durch den ich häufig gewandert war, wenn ich meinen Zorn und Kummer lindern wollte, als du krank lagst, in den Willie mich zum Picknick ausgeführt hatte, als wir uns gerade kennengelernt hatten, in dem Ernesto und du Hand in Hand spazierengingt, wenn ihr bei uns in Kalifornien zu Besuch wart. Dein Vater fuhr ein Stück in den Nationalpark hinein, stellte das Auto ab und winkte uns, ihm zu folgen. Er brachte uns geradewegs zu der Stelle, die auch ich gewählt hätte, denn hier war ich häufig gewesen, um für dich zu beten: ein Bachlauf, gesäumt von hohen Sequoien, deren Kronen die Kuppel einer grünen Kathedrale bilden. Ein dünner Nebel hing in der Luft und ließ alle Konturen der Wirklichkeit verschwimmen; kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel, aber die Blätter im Unterholz schimmerten winterfeucht. Der Boden roch würzig nach Humus und Dill. Dort, wo der Bach eine Biegung machte und das Wasser sich an Felsen und umgestürzten Stämmen etwas staute, blieben wir stehen. Ernst, mit bleichen Wangen, doch ohne eine Träne, denn die hatte er alle schon geweint, hielt Ernesto die Keramikurne mit deiner Asche in den Händen. Ein klein wenig davon hatte ich in einem Porzellankästchen verwahrt, um es immer auf meinem Altar zu haben. Nico hielt deinen kleinen Neffen Alejandro im Arm, und deine Schwägerin Celia hatte Andrea, die noch ein Säugling war, in Wollschals gewickelt an der Brust. Ich hatte einen Strauß Rosen mitgebracht, die ich, eine nach der anderen, ins Wasser warf. Danach nahmen wir alle, auch Alejandro mit seinen drei Jahren, eine Handvoll Asche aus der Urne und streuten sie ins Wasser. Einige Flocken trieben kurz zwischen den Rosen, doch die meisten sanken wie weißer Sand auf den Grund.
»Was ist das?« wollte Alejandro wissen.
»Deine Tante Paula«, sagte meine Mutter schluchzend.
»Sieht gar nicht so aus«, bemerkte er verwirrt. Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist, nachdem du fort warst, und werde mich auf die Familie beschränken, weil die dich interessiert. Zwei von Willies Söhnen müssen dabei unerwähnt bleiben: Lindsay, weil ich ihn kaum kenne, wir uns nur etwa ein Dutzend Mal gesehen haben und über erste Höflichkeitsfloskeln nie hinausgekommen sind, und Scott, der auf diesen Seiten nicht auftauchen möchte. Du hattest ihn sehr gern, diesen hageren, einzelgängerischen Jungen mit der dicken Brille und den Wuschelhaaren. Heute ist er ein Mann von achtundzwanzig, sieht Willie ähnlich und nennt sich Harleigh;
»Scott« hatte er sich mit fünf Jahren selber ausgesucht, weil ihm der Name gefiel, und er hat ihn lange benutzt, als Teenager aber schließlich den eigenen wieder für sich entdeckt.
Die erste, zu der meine Gedanken und Gefühle wandern, ist Jennifer, Willies einzige Tochter, die zu Beginn jenes Jahres zum dritten Mal aus der Klinik weglief, in der ihre geschundenen Knochen wegen einer der vielen Infektionen gelandet waren, die sie in ihrem kurzen Leben schon hatte durchstehen müssen. Die Polizei gab nicht einmal vor, nach ihr zu suchen, ihr Fall war nur einer unter vielen, und diesmal halfen auch Willies juristische Kontakte nicht weiter. Der Arzt, ein großgewachsener, zurückhaltender Philippine, der ihr durch schiere Hartnäckigkeit das Leben gerettet hatte, als sie fieberschlotternd in die Klinik eingeliefert wurde, und der sie bereits kannte, weil er sie die beiden vorangegangenen Male behandelt hatte, erklärte Willie, er müsse seine Tochter umgehend finden oder sie werde sterben. Wenn sie über Wochen massive Gaben von Antibiotika bekäme, könne sie durchkommen, sagte er, aber einen Rückfall werde sie wohl nicht überleben. Wir saßen in einem gelbgestrichenen Wartezimmer mit Plastikstühlen, Plakaten zu Mammographie und Aidstests an den Wänden und voller Patienten, die dringend darauf warteten, behandelt zu werden. Der Arzt nahm seine Nickelbrille ab, wischte sie mit einem Papiertuch sauber und antwortete nur zögernd auf unsere Fragen. Er hatte weder für Willie noch für mich viel übrig, hielt mich vielleicht für Jennifers Mutter. In seinen Augen waren wir schuld, hatten Jennifer vernachlässigt und kamen jetzt, zu spät, reuig zu ihm. Er vermied es, uns Einzelheiten zu nennen, weil die unter die Schweigepflicht fielen, aber Willie erfuhr doch, daß die zu Spänen gewordenen Knochen und die vielfältigen Infektionen seiner Tochter nicht alles waren, sondern ihr Herz nicht mehr lange mitmachen würde. Seit neun Jahren spielte Jennifer nun schon mit dem Tod Katz und Maus. Wir hatten sie in den Wochen zuvor in der Klinik gesehen, an den Handgelenken fixiert, damit sie sich im Fieber nicht die Schläuche aus der Haut riß. Sie war süchtig nach nahezu allen bekannten Drogen, von Tabak bis Heroin; mir ist unbegreiflich, wie ihr Körper diesem Mißbrauch standhalten konnte. Weil man keine gesunde Vene fand, um ihr die Medikamente zu verabreichen, wurde ihr eine Sonde an eine Arterie der Brust gelegt. Nach einer Woche kam sie von der Intensivstation in ein Dreibettzimmer, das sie mit anderen Patienten teilte, war nicht mehr festgeschnallt und wurde weniger streng überwacht als zuvor. Von da an besuchte ich sie täglich und brachte ihr, was sie sich wünschte, Parfüm, Nachthemden, Musik, aber alles verschwand sofort wieder. Wahrscheinlich kamen ihre miesen Freunde außerhalb der Besuchszeiten vorbei und versorgten sie mit Drogen, die sie, weil sie kein Geld hatte, mit meinen Geschenken bezahlte. Als Teil der Behandlung bekam sie Methadon, das ihr helfen sollte, den Entzug durchzustehen, aber daneben verabreichte sie sich über die Sonde, was immer ihre Lieferanten ihr ins Krankenhaus schmuggelten. Ein paarmal war es an mir, sie zu waschen. Ihre Knöchel und Füße waren geschwollen, ihr Körper von Schrammen und Schrunden gezeichnet, von den Spuren infizierter Nadeln, von Narben und einem Piratenschmiß quer über den Rücken. »Von einem Messer«, war alles, was sie dazu sagte. Willies Tochter war ein blondes Mädchen gewesen, mit großen blauen Augen wie ihr Vater, aber aus jener Zeit waren nur wenige Fotos geblieben, und niemand erinnerte sich mehr daran, wie sie gewesen war, die Klassenbeste, brav und adrett. Auf den Bildern hatte sie etwas Ätherisches. Ich lernte sie 1988 kennen, kurz nachdem ich nach Kalifornien gekommen war, um mit Willie zu leben, und damals war sie noch hübsch, auch wenn ihr Blick bereits ausweichend war und diese nebelhafte Unaufrichtigkeit sie umgab wie ein dunkler Schatten. Im Überschwang meiner frischen Liebe zu Willie wunderte ich mich nicht weiter, als er mich eines Sonntags im Winter in ein Gefängnis im Osten der Bucht von San Francisco mitnahm. Lange standen wir in einem unwirtlichen Hof in einer Schlange mit anderen Besuchern, fast ausschließlich Schwarzen oder Latinos, bis das Gittertor geöffnet wurde und man uns in ein düsteres Gebäude ließ. Die wenigen Männer wurden von den vielen Frauen und Kindern getrennt. Ich weiß nicht, was Willie erlebte, mir jedenfalls nahm eine uniformierte Matrone die Handtasche ab, schob mich hinter einen Vorhang und versenkte ihre Hände an Stellen, an die sich noch niemand gewagt hatte, das alles schroffer als nötig, vielleicht weil mein Akzent mich verdächtig machte. In der Besucherschlange hatte mich eine Bauersfrau aus El Salvador zum Glück vorgewarnt und gesagt, ich solle keine Scherereien machen, weil es dann noch viel übler würde. Endlich trafen Willie und ich uns in einem Trailer wieder, der für die Besuche der Gefangenen hergerichtet war, ein langer, schmaler Schlauch mit einer Trennwand aus Hasendraht, hinter der Jennifer saß. Sie war seit zwei Monaten im Gefängnis; sauber und gut genährt, wirkte sie, verglichen mit ihren vierschrötigen Mitgefangenen, wie ein Schulmädchen am Sonntag. Ihren Vater begrüßte sie unendlich niedergeschlagen. In den Jahren danach lernte ich, daß sie immer weinte, wenn sie mit Willie zusammen war, ich weiß nicht, ob aus Scham oder aus Groll. Willie stellte mich kurz als eine »Freundin« vor, obwohl wir schon seit einer Weile zusammenlebten, und blieb mit verschränkten Armen und trotzig gesenktem Blick vor dem Hasendraht stehen. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete die beiden, hörte durch das Gewirr der anderen Stimmen Fetzen ihres Gesprächs mit.»Weshalb diesmal?«
»Was soll die Frage? Das weißt du doch. Hol mich hier raus, Papa.«»Kann ich nicht.«»Bist du Anwalt oder was?«
»Das letzte Mal habe ich dir gesagt, daß ich dir nicht noch einmal helfe. Du hast dich für dieses Leben entschieden, also bezahl auch dafür.«
Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort, aber sie rannen immer weiter über ihre Wangen, während sie nach ihren Brüdern und ihrer Mutter fragte. Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden, und sie wurde von derselben Frau in Uniform fortgebracht, die meine Handtasche durchwühlt hatte. Damals besaß Jennifer noch einen letzten Rest Unschuld, doch als sie Jahre später aus der Obhut dieses philippinischen Arztes aus der Klinik davonlief, war von dem Mädchen, das ich seinerzeit im Gefängnis kennengelernt hatte, nichts mehr geblieben. Mit sechsundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Frau von sechzig. Als wir das Gefängnis verließen, regnete es, und durchnässt rannten Willie und ich die zwei Straßen bis zu dem Parkplatz, auf dem unser Auto stand. Ich fragte ihn, warum er so kalt mit seiner Tochter umging, nicht dafür sorgte, dass sie einen Entzug machte, und sie statt dessen hinter Gittern ließ.
»Weil sie dort sicherer ist«, sagte er.
»Kannst du denn nichts tun? Es muß doch irgendeine Behandlung geben!«
»Es bringt nichts, sie hat sich nie helfen lassen wollen, und ich kann sie nicht mehr zwingen, sie ist volljährig.«
»Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu retten.«
»Sie ist nicht deine Tochter«, sagte er mit einer Art dumpfem Groll in der Stimme. © Isabel Allende, 2007
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Ich mag den erzwungenen Rückzug im Winter. Ich lebe im Marin County, nördlich von San Francisco, zwanzig Minuten von der Golden Gate Bridge entfernt, zwischen Hügeln, die sich im Sommer golden und im Winter smaragdfarben kleiden, am Westufer der weiten Bucht. An klaren Tagen können wir in der Ferne noch zwei andere Brücken sehen, außerdem die verschwommene Silhouette der Häfen von Oakland und San Francisco, die schweren Containerschiffe, viele hundert Segelboote und darüber die Möwen wie weiße Papiertaschentücher. Im Mai tauchen die ersten Tollkühnen auf, die an bunten Gleitschirmen über das Wasser flitzen und die Ruhe der alten Asiaten stören, die am Abend auf den Felsen ihre Angeln auswerfen. Vom offenen Pazifik aus ist die schmale Einfahrt zur Bucht, die sich bei Tagesanbruch in Nebel hüllt, nicht zu sehen, und die ersten Seefahrer segelten daran vorbei, ohne zu ahnen, welche Schönheit sich hier verbirgt. Heute ist die Einfahrt von der schlanken Golden Gate Bridge mit den prächtigen roten Pfeilern gekrönt. Wasser, Himmel, Hügel und Wald – das ist meine Landschaft. Nicht die Weltuntergangsböen waren es und auch nicht das Prasseln der Hagelkörner auf dem Dach, was mich letzte Nacht um den Schlaf brachte, sondern meine Unruhe, weil unvermeidlich der 8. Januar anbrechen würde. Seit fünfundzwanzig Jahren beginne ich an diesem Tag mit dem Schreiben, mehr aus Aberglauben als aus Disziplin:
Ich fürchte, das Buch werde scheitern, sollte ich an einem anderen Tag anfangen, und daß ich den Rest des Jahres nicht werde schreiben können, wenn ich nicht am 8. Januar damit beginne. Anfang Januar liegen einige Monate hinter mir, in denen ich nicht geschrieben, sondern nach außen gekehrt, im Tumult der Welt gelebt habe, auf Reisen war, meine Bücher vorgestellt, Vorträge gehalten habe, immer von Menschen umgeben war, zu viel geredet habe. Trubel und Radau. Mehr als alles fürchte ich dann, taub geworden zu sein, die Stille nicht mehr zu hören. Ohne Stille bin ich aufgeschmissen. Unter allerlei Vorwänden stand ich in der Nacht etliche Male auf, schlüpfte in Willies alte Kaschmirjacke, die mir zur zweiten Haut geworden ist, lief mit immer neuen Tassen heißer Schokolade in der Hand durch die Zimmer und wälzte dabei in meinem Kopf die Gedanken an das, was ich in ein paar Stunden schreiben würde, bis die Kälte mich ins Bett zurücktrieb, in dem Willie, gesegnet sei er, ungerührt schnarchte. Ich machte an seinem nackten Rücken fest, schob meine eisigen Füße zwischen seine langen, sehnigen Beine und atmete seinen überraschend jungen Geruch ein, der sich im Verlauf der Jahre nicht verändert hat. Nie wird er wach, wenn ich mich an ihn kuschle, nur wenn ich mich von ihm löse; er ist an meine Berührung gewöhnt, an meine Schlaflosigkeit und meine schweren Träume. Und wenn ich noch so viel nachts umherwandere, Olivia, die auf einer Bank am Fußende des Bettes schläft, wird auch nicht wach. Nichts vermag den Schlaf dieser dusseligen Hundedame zu stören, die Hausmäuse nicht, die sich manchmal aus ihren Löchern wagen, nicht das Odeur der Skunks bei der Paarung, nicht das Wispern der rastlosen Seelen im Dunkeln. Würde ein wahnsinniger Axtmörder bei uns einbrechen, sie wäre die letzte, die es mitkriegte. Sie ist über die Humane Society zu uns gekommen, ein mitleiderregendes Geschöpf mit einem gebrochenen Bein und mehreren angeknacksten Rippen, das man auf einer Müllkippe aufgelesen hatte. Einen Monat kauerte sie zitternd im Wandschrank zwischen meinen Schuhen, erholte sich aber nach und nach von den erlittenen Mißhandlungen, und als sie schließlich mit hängenden Ohren und niedergedrücktem Schwanz aus ihrem Versteck schlich, wurde uns klar, daß sie als Wachhund nicht zu gebrauchen ist: Sie schläft wie ein Stein. Endlich legte sich der Zorn des Sturms, und mit dem ersten hellen Schimmer im Fenster stand ich auf, duschte und zog mich an, während Willie in seinem Morgenmantel eines übernächtigten Scheichs in der Küche verschwand. Der Duft frisch gemahlenen Kaffees war wie ein Streicheln für mich – Aromatherapie. Unsere tägliche Routine schafft mehr Nähe zwischen uns als der Taumel der Leidenschaft; sind wir getrennt voneinander, ist es dieser behutsame Tanz, der uns am meisten fehlt. Wir brauchen das Gefühl, daß der andere bei uns ist, in diesem geschützten Raum, der allein uns gehört. Ein kühler Morgen, Kaffee mit Toastbrot, Zeit zum Schreiben, eine Hündin, die mit dem Schwanz wedelt, und mein Liebster: Besser könnte das Leben nicht sein. Danach nahm Willie mich zum Abschied in die Arme, denn ich brach zu einer langen Reise auf. »Viel Glück«, wünschte er mir leise wie jedes Jahr an diesem Tag, und ich ging mit Mantel und Regenschirm sechs Stufen vorm Eingang hinunter, am Pool entlang, siebzehn Meter durch den Garten und betrat das Häuschen, in dem ich schreibe, meinen Bau. Und hier bin ich jetzt.
Kaum hatte ich die Kerze angezündet, die mir beim Schreiben stets leuchtet, als meine Agentin Carmen Balcells aus Santa Fe anrief, diesem Dorf der verrückten Bergziegen südlich von Barcelona, aus dem sie stammt. Dort will sie ihre reifen Jahre in Frieden verbringen, weil sie aber nicht weiß, wohin mit ihrer Energie, kauft sie Haus für Haus den Ort auf.
»Lies mir den ersten Satz vor«, bat mich diese Übermutter. Einmal mehr erklärte ich ihr, daß zwischen Kalifornien und Spanien neun Stunden Zeitdifferenz liegen. Von einem ersten Satz konnte die Rede noch nicht sein.»Schreib über dein Leben, Isabel.«
»Das habe ich doch schon getan, weißt du das nicht mehr?«»Das ist dreizehn Jahre her.«
»Meine Familie sieht sich nicht gern an die Öffentlichkeit gezerrt, Carmen.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Schick mir einen Brief von zwei-, dreihundert Seiten und laß den Rest meine Sorge sein. Wenn man sich zwischen einer Geschichte und der beleidigten Verwandtschaft zu entscheiden hat, wählt jeder professionelle Schriftsteller die Geschichte.«»Sicher?«»Ganz sicher.« Die dunkelsten Wasser
In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1992, als es eben zu regnen aufgehört hatte, brachen wir im Kreis der Familie auf, um deine Asche auszustreuen, wie du, Paula, das, lange bevor du krank geworden warst, in einem Brief verfügt hattest. Dein Mann Ernesto war aus New Jersey, dein Vater aus Chile angereist, kaum daß wir sie über das Geschehene benachrichtigt hatten. Sie trafen rechtzeitig ein, um von dir Abschied zu nehmen – du lagst aufgebahrt unter einem weißen Laken –, ehe man dich zur Einäscherung brachte. Danach versammelten wir uns in einer Kirche, hörten die Messe und weinten miteinander. Dein Vater hätte eigentlich nach Chile zurückgemußt, wartete jedoch, daß der Regen nachließ, und als sich zwei Tage später schließlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen zeigten, fuhr die ganze Familie in drei Autos zu einem Wald. Dein Vater saß im ersten Wagen und führte uns. Er kennt sich hier nicht aus, hatte die Gegend aber in den Tagen zuvor durchstreift und nach dem Ort gesucht, der dir der liebste gewesen wäre. Es gibt hier viele Stellen, die man hätte wählen können, die Natur ist verschwenderisch, doch durch eine dieser Fügungen, die schon üblich sind bei allem, was dich betrifft, Tochter, führte er uns in ebenden Wald, durch den ich häufig gewandert war, wenn ich meinen Zorn und Kummer lindern wollte, als du krank lagst, in den Willie mich zum Picknick ausgeführt hatte, als wir uns gerade kennengelernt hatten, in dem Ernesto und du Hand in Hand spazierengingt, wenn ihr bei uns in Kalifornien zu Besuch wart. Dein Vater fuhr ein Stück in den Nationalpark hinein, stellte das Auto ab und winkte uns, ihm zu folgen. Er brachte uns geradewegs zu der Stelle, die auch ich gewählt hätte, denn hier war ich häufig gewesen, um für dich zu beten: ein Bachlauf, gesäumt von hohen Sequoien, deren Kronen die Kuppel einer grünen Kathedrale bilden. Ein dünner Nebel hing in der Luft und ließ alle Konturen der Wirklichkeit verschwimmen; kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel, aber die Blätter im Unterholz schimmerten winterfeucht. Der Boden roch würzig nach Humus und Dill. Dort, wo der Bach eine Biegung machte und das Wasser sich an Felsen und umgestürzten Stämmen etwas staute, blieben wir stehen. Ernst, mit bleichen Wangen, doch ohne eine Träne, denn die hatte er alle schon geweint, hielt Ernesto die Keramikurne mit deiner Asche in den Händen. Ein klein wenig davon hatte ich in einem Porzellankästchen verwahrt, um es immer auf meinem Altar zu haben. Nico hielt deinen kleinen Neffen Alejandro im Arm, und deine Schwägerin Celia hatte Andrea, die noch ein Säugling war, in Wollschals gewickelt an der Brust. Ich hatte einen Strauß Rosen mitgebracht, die ich, eine nach der anderen, ins Wasser warf. Danach nahmen wir alle, auch Alejandro mit seinen drei Jahren, eine Handvoll Asche aus der Urne und streuten sie ins Wasser. Einige Flocken trieben kurz zwischen den Rosen, doch die meisten sanken wie weißer Sand auf den Grund.
»Was ist das?« wollte Alejandro wissen.
»Deine Tante Paula«, sagte meine Mutter schluchzend.
»Sieht gar nicht so aus«, bemerkte er verwirrt. Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist, nachdem du fort warst, und werde mich auf die Familie beschränken, weil die dich interessiert. Zwei von Willies Söhnen müssen dabei unerwähnt bleiben: Lindsay, weil ich ihn kaum kenne, wir uns nur etwa ein Dutzend Mal gesehen haben und über erste Höflichkeitsfloskeln nie hinausgekommen sind, und Scott, der auf diesen Seiten nicht auftauchen möchte. Du hattest ihn sehr gern, diesen hageren, einzelgängerischen Jungen mit der dicken Brille und den Wuschelhaaren. Heute ist er ein Mann von achtundzwanzig, sieht Willie ähnlich und nennt sich Harleigh;
»Scott« hatte er sich mit fünf Jahren selber ausgesucht, weil ihm der Name gefiel, und er hat ihn lange benutzt, als Teenager aber schließlich den eigenen wieder für sich entdeckt.
Die erste, zu der meine Gedanken und Gefühle wandern, ist Jennifer, Willies einzige Tochter, die zu Beginn jenes Jahres zum dritten Mal aus der Klinik weglief, in der ihre geschundenen Knochen wegen einer der vielen Infektionen gelandet waren, die sie in ihrem kurzen Leben schon hatte durchstehen müssen. Die Polizei gab nicht einmal vor, nach ihr zu suchen, ihr Fall war nur einer unter vielen, und diesmal halfen auch Willies juristische Kontakte nicht weiter. Der Arzt, ein großgewachsener, zurückhaltender Philippine, der ihr durch schiere Hartnäckigkeit das Leben gerettet hatte, als sie fieberschlotternd in die Klinik eingeliefert wurde, und der sie bereits kannte, weil er sie die beiden vorangegangenen Male behandelt hatte, erklärte Willie, er müsse seine Tochter umgehend finden oder sie werde sterben. Wenn sie über Wochen massive Gaben von Antibiotika bekäme, könne sie durchkommen, sagte er, aber einen Rückfall werde sie wohl nicht überleben. Wir saßen in einem gelbgestrichenen Wartezimmer mit Plastikstühlen, Plakaten zu Mammographie und Aidstests an den Wänden und voller Patienten, die dringend darauf warteten, behandelt zu werden. Der Arzt nahm seine Nickelbrille ab, wischte sie mit einem Papiertuch sauber und antwortete nur zögernd auf unsere Fragen. Er hatte weder für Willie noch für mich viel übrig, hielt mich vielleicht für Jennifers Mutter. In seinen Augen waren wir schuld, hatten Jennifer vernachlässigt und kamen jetzt, zu spät, reuig zu ihm. Er vermied es, uns Einzelheiten zu nennen, weil die unter die Schweigepflicht fielen, aber Willie erfuhr doch, daß die zu Spänen gewordenen Knochen und die vielfältigen Infektionen seiner Tochter nicht alles waren, sondern ihr Herz nicht mehr lange mitmachen würde. Seit neun Jahren spielte Jennifer nun schon mit dem Tod Katz und Maus. Wir hatten sie in den Wochen zuvor in der Klinik gesehen, an den Handgelenken fixiert, damit sie sich im Fieber nicht die Schläuche aus der Haut riß. Sie war süchtig nach nahezu allen bekannten Drogen, von Tabak bis Heroin; mir ist unbegreiflich, wie ihr Körper diesem Mißbrauch standhalten konnte. Weil man keine gesunde Vene fand, um ihr die Medikamente zu verabreichen, wurde ihr eine Sonde an eine Arterie der Brust gelegt. Nach einer Woche kam sie von der Intensivstation in ein Dreibettzimmer, das sie mit anderen Patienten teilte, war nicht mehr festgeschnallt und wurde weniger streng überwacht als zuvor. Von da an besuchte ich sie täglich und brachte ihr, was sie sich wünschte, Parfüm, Nachthemden, Musik, aber alles verschwand sofort wieder. Wahrscheinlich kamen ihre miesen Freunde außerhalb der Besuchszeiten vorbei und versorgten sie mit Drogen, die sie, weil sie kein Geld hatte, mit meinen Geschenken bezahlte. Als Teil der Behandlung bekam sie Methadon, das ihr helfen sollte, den Entzug durchzustehen, aber daneben verabreichte sie sich über die Sonde, was immer ihre Lieferanten ihr ins Krankenhaus schmuggelten. Ein paarmal war es an mir, sie zu waschen. Ihre Knöchel und Füße waren geschwollen, ihr Körper von Schrammen und Schrunden gezeichnet, von den Spuren infizierter Nadeln, von Narben und einem Piratenschmiß quer über den Rücken. »Von einem Messer«, war alles, was sie dazu sagte. Willies Tochter war ein blondes Mädchen gewesen, mit großen blauen Augen wie ihr Vater, aber aus jener Zeit waren nur wenige Fotos geblieben, und niemand erinnerte sich mehr daran, wie sie gewesen war, die Klassenbeste, brav und adrett. Auf den Bildern hatte sie etwas Ätherisches. Ich lernte sie 1988 kennen, kurz nachdem ich nach Kalifornien gekommen war, um mit Willie zu leben, und damals war sie noch hübsch, auch wenn ihr Blick bereits ausweichend war und diese nebelhafte Unaufrichtigkeit sie umgab wie ein dunkler Schatten. Im Überschwang meiner frischen Liebe zu Willie wunderte ich mich nicht weiter, als er mich eines Sonntags im Winter in ein Gefängnis im Osten der Bucht von San Francisco mitnahm. Lange standen wir in einem unwirtlichen Hof in einer Schlange mit anderen Besuchern, fast ausschließlich Schwarzen oder Latinos, bis das Gittertor geöffnet wurde und man uns in ein düsteres Gebäude ließ. Die wenigen Männer wurden von den vielen Frauen und Kindern getrennt. Ich weiß nicht, was Willie erlebte, mir jedenfalls nahm eine uniformierte Matrone die Handtasche ab, schob mich hinter einen Vorhang und versenkte ihre Hände an Stellen, an die sich noch niemand gewagt hatte, das alles schroffer als nötig, vielleicht weil mein Akzent mich verdächtig machte. In der Besucherschlange hatte mich eine Bauersfrau aus El Salvador zum Glück vorgewarnt und gesagt, ich solle keine Scherereien machen, weil es dann noch viel übler würde. Endlich trafen Willie und ich uns in einem Trailer wieder, der für die Besuche der Gefangenen hergerichtet war, ein langer, schmaler Schlauch mit einer Trennwand aus Hasendraht, hinter der Jennifer saß. Sie war seit zwei Monaten im Gefängnis; sauber und gut genährt, wirkte sie, verglichen mit ihren vierschrötigen Mitgefangenen, wie ein Schulmädchen am Sonntag. Ihren Vater begrüßte sie unendlich niedergeschlagen. In den Jahren danach lernte ich, daß sie immer weinte, wenn sie mit Willie zusammen war, ich weiß nicht, ob aus Scham oder aus Groll. Willie stellte mich kurz als eine »Freundin« vor, obwohl wir schon seit einer Weile zusammenlebten, und blieb mit verschränkten Armen und trotzig gesenktem Blick vor dem Hasendraht stehen. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete die beiden, hörte durch das Gewirr der anderen Stimmen Fetzen ihres Gesprächs mit.»Weshalb diesmal?«
»Was soll die Frage? Das weißt du doch. Hol mich hier raus, Papa.«»Kann ich nicht.«»Bist du Anwalt oder was?«
»Das letzte Mal habe ich dir gesagt, daß ich dir nicht noch einmal helfe. Du hast dich für dieses Leben entschieden, also bezahl auch dafür.«
Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel fort, aber sie rannen immer weiter über ihre Wangen, während sie nach ihren Brüdern und ihrer Mutter fragte. Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden, und sie wurde von derselben Frau in Uniform fortgebracht, die meine Handtasche durchwühlt hatte. Damals besaß Jennifer noch einen letzten Rest Unschuld, doch als sie Jahre später aus der Obhut dieses philippinischen Arztes aus der Klinik davonlief, war von dem Mädchen, das ich seinerzeit im Gefängnis kennengelernt hatte, nichts mehr geblieben. Mit sechsundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Frau von sechzig. Als wir das Gefängnis verließen, regnete es, und durchnässt rannten Willie und ich die zwei Straßen bis zu dem Parkplatz, auf dem unser Auto stand. Ich fragte ihn, warum er so kalt mit seiner Tochter umging, nicht dafür sorgte, dass sie einen Entzug machte, und sie statt dessen hinter Gittern ließ.
»Weil sie dort sicherer ist«, sagte er.
»Kannst du denn nichts tun? Es muß doch irgendeine Behandlung geben!«
»Es bringt nichts, sie hat sich nie helfen lassen wollen, und ich kann sie nicht mehr zwingen, sie ist volljährig.«
»Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu retten.«
»Sie ist nicht deine Tochter«, sagte er mit einer Art dumpfem Groll in der Stimme. © Isabel Allende, 2007
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Aus dem Spanischen von Svenja Becker
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Autoren-Porträt von Isabel Allende
Isabel Allende, geboren 1942 in Lima, ist eine der weltweit beliebtesten Autorinnen. Ihre Bücher haben sich millionenfach verkauft und sind in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. 2018 wurde sie - und damit erstmals jemand aus der spanischsprachigen Welt - für ihr Lebenswerk mit der National Book Award Medal for Distinguished Contribution to American Letters ausgezeichnet. Isabel Allendes gesamtes Werk ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Becker, SvenjaSvenja Becker, geboren 1967 in Kusel (Pfalz), studierte Spanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Sie lebt als Übersetzerin (u. a. Allende, Guelfenbein, Onetti) in Saarbrücken.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isabel Allende
- 2009, 4. Aufl., 409 Seiten, Masse: 11,9 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Svenja Becker
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518461265
- ISBN-13: 9783518461266
- Erscheinungsdatum: 12.11.2009
Rezension zu „Das Siegel der Tage “
»Es ist das Zeugnis einer Frau, die mit beeindruckender Kraft jeden Tag von neuem mit den Ihren durchs Leben geht. Mit Wärme und Humor berichtet sie von den schwierigen Zeiten nach dem Verlust ihrer Tochter und von den erfüllten Tagen im Zentrum einer überaus farbigen Familie.«
Pressezitat
»Der Roman ist eine heitere, aber auch berührende Lektüre, die glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt rührselig wird. ... Mit ihrem Talent, Ungewöhnliches noch bunter darzustellen, in scheinbar Nebensächlichem das Bizarre zu entdecken, Tragisches sachlich und doch nachhaltig zu verarbeiten, gelingt ihr wieder ein liebenswerter Roman, der eine Fortsetzung nicht ausschliesst.« Frauke Kaberka Berliner Literaturkritik
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