Das Salz der Erde
Roman. Mit einem Nachwort von Martin Pollack
Eine Wiederentdeckung: der Antikriegsroman 'Das Salz der Erde' von Joseph Wittlin
1914, in den polnischen Karpaten lebt Peter Niewiadomski zufrieden als Bahnwärter. Er hat sein Auskommen, eine Geliebte, einen Hund. In diese Ruhe bricht die Nachricht: Der...
1914, in den polnischen Karpaten lebt Peter Niewiadomski zufrieden als Bahnwärter. Er hat sein Auskommen, eine Geliebte, einen Hund. In diese Ruhe bricht die Nachricht: Der...
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Produktinformationen zu „Das Salz der Erde “
Klappentext zu „Das Salz der Erde “
Eine Wiederentdeckung: der Antikriegsroman 'Das Salz der Erde' von Joseph Wittlin1914, in den polnischen Karpaten lebt Peter Niewiadomski zufrieden als Bahnwärter. Er hat sein Auskommen, eine Geliebte, einen Hund. In diese Ruhe bricht die Nachricht: Der Thronfolger des Habsburgerreichs wurde in Sarajevo erschossen, Peter wird an die Front einberufen. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges vermag sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand ausmalen. Dunkle Bedrohung und Hilflosigkeit lassen Peter klarer sehen, was ihm Heimat, Zukunft und Menschenwürde bedeuten.
Joseph Wittlins Antikriegsroman erschien 1935 auf Polnisch, 1937 auf Deutsch, also 20 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als das NS-Regime Deutschland und die Welt zunehmend in Angst versetzte. Mit Sprachkraft und präziser Charakteristik gelingt Wittlin in seinem Roman die Demontage jeder Kriegsbegeisterung.
Mit einem Nachwort von Martin Pollack.
Mit Daten zu Leben und Werk.
Lese-Probe zu „Das Salz der Erde “
Das Salz der Erde von Joseph WittlinPROLOG
I
Der schwarze doppelköpfige Vogel, der Adler mit den drei Kronen, umklammert mit seinen Klauen den goldenen Apfel und das blanke Schwert. Weshalb erschien er plötzlich über uns? Weshalb verhüllte er den Himmel mit seinem schwarzen Gefieder? Mit rauschenden Flügeln, mit klirrenden Ketten, an denen Wappen hingen, entwich er dem schwarzgelben Schild über dem Tabakladen, in dem mein Bruder seine Zigaretten einzukaufen pflegte. Ähnlich einem aufgescheuchten Hahn riß er sich plötzlich los von dem blechernen Schild über dem Haupteingang der Post, gerade in dem Augenblick, als ich meiner Mutter ein Telegramm ins Dorf schickte, eine Botschaft, daß ich einen Sohn bekommen habe. Seine bequemen Nester, gebaut vor vielen Jahren über den Toren der Schule, des Gerichts und des Gefängnisses, ließ der Adler hinter sich. Weg flog er von den roten runden Siegeln der Tauf-, Trau- und Totenscheine. Jäh verschwand er von meiner zerfetzten Staatsangehörigkeitsurkunde. Reißaus nahm er von dem Urteil, das mich zu zehn Kronen Strafe verurteilte für eigenmächtiges Überschreiten der Eisenbahnschienen. Er floh von den messingnen Knöpfen des Briefträgers, von der Mütze des Finanzbeamten, vom Helm des Gendarmen. Also wiegte er sich über unseren Köpfen, mit dem Schwert zwischen den Klauen, ein riesiges schwarzgelbes Flugzeug.
... mehr
Mein Bruder: er ist Leser eines Lokalblättchens. Mein anderer Bruder: er ist Angestellter in einem Handelsbüro. Alle meine Brüder sehen den Adler, wie er so in der Luft kreist und die Kralle mit dem heraldischen Schwert bedrohlich vorstreckt. Wie ein göttlicher Blitz schimmert das scharfe Schwert in seinen geschliffenen Fängen, bis es unerwartet aus der Höhe stürzt, und seine Spitze durchbohrt das Herz meiner fernen Mutter, unserer Mutter, der alten Bäuerin, während sie, zur Erde gebeugt, ihr mit der Forke die letzte Frucht dieses Jahres entreißt: die Kartoffel. Mein Bruder ist ein gewöhnlicher Mensch. Meine Brüder: das sind gewöhnliche Leute: Barbiere, Schuster, Eisenbahner, Straßenbahnschaffner, Eisengießer, Büroangestellte, Kellner, Bauern. Ja, Bauern.
Meine Schwester ist eine einfache Frau. Alle sind sie so: einfach und geschwätzig. Marktfrauen, Büglerinnen, Modistinnen, Näherinnen, ›Mädchen für alles‹, Ammen für Kinder, die besser daran sind als meine.
Sie sahen, hörten, lasen in ihren Blättchen, betrachteten die bunten Ansichtskarten. Ich selbst sah, hörte, las vielleicht.
II
Alle erhoben sich. Alte Rokokofauteuils seufzten erleichtert auf, mit einem Mal befreit vom Druck der würdigen Körper.
Unten, vor dem Portal, schlugen die Stiefel der Schloßwache zusammen. Soldaten des 99. mährischen Infanterieregiments hatten das uralte Privileg, diesen heiligen Ort zu bewachen.
»Gewehr herauuus!« rief jammernd der Posten die Wache an wie eine Lokomotive, die den Opfern einer Katastrophe die letzten Ehren erweist. Die Wache präsentierte das Gewehr. Der kahle, hagere Elegant, ein kaltes Lächeln unter dem schwarzen Schnurrbart, räusperte sich. Ihm fällt heute die wichtigste Rolle zu. Schon in seiner Kindheit hatte er eine außerordentliche Vorliebe für Geschichte. Einen herausfordernden Blick warf er noch einmal auf die Minister, die in Erwartung erstarrt waren. Ihre Galagesichter, an Wochentagen eher sauer und übelgelaunt, verrieten eine bereits fortgeschrittene Arterienverkalkung. Nur mit Mühe führten abgebrauchte Pumpen den Herzen dieser Herren blaues Blut zu. Es ist allgemein bekannt, für wen diese Herzen schlagen. Die Geschichte selbst wird es bezeugen, wem sie ihren ›letzten Tropfen Bluts‹ zu opfern gelobt haben. (Besonders, da niemand nach ihm verlangt hatte.) Unterdessen kämpfte dieses Blut gegen seine eigene Dekadenz.
Der Blick des höflichen Elegants verharrte schließlich auf der silbernen Perücke der Maria Theresia, die aus dem enormen Rahmen, mit großen, unbestechlich männlichen Augen, auf die Glatzen und Bärte rings um den Tisch heruntersah. Oberhalb ihrer Perücke, über dem vergoldeten Rahmen, brannte das rote, grüne, violette Feuer großer Edelsteine, die in der Krone des heiligen Stephan eingefaßt waren, auf deren Zacke ein Kreuz sich beugte. Die Krone glitzerte im Glanz der untergehenden Sonne, und farbige Tränen tropften von ihr. Aber noch stärker glühten die Augen der Herrscherin. (Sie hatte nie an Sklerose gelitten.) Ein Wagen fuhr ratternd vor das Tor. Ein trockener Aufprall der Gewehrkolben. Irgendwo unten ein hartes Husten. Und die prächtigen Türflügel sprangen auf. Zwei straffe Gardeoffiziere pflanzten sich reglos zu beiden Seiten des Eingangs auf, zwei Statuen im Foyer des Hoftheaters ähnlich. Ein geheimnisvoller Ritus mauerte blitzschnell zwei lebendige Figuren in die trübe Stille hinein wie in das leere Innere kalter Marmornischen. In dieser Stille verlor sich der splitternde, klirrende, gläserne Klang der Sporen. Rasch legten die Gesichter der Herren Gala an. Der kleine, gedrungene Generalstabschef runzelte die buschigen Brauen. Sein ergrauender Kopf, auf ›Igel‹ geschoren, neigte sich leicht seitwärts über die linke Brust, an der bald die höchsten Sterne und Orden aufblühen sollten. Der kahle und elegante ›Minister des kaiserlichen Hauses und der äußeren Angelegenheiten‹ trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er hatte Hühneraugen von den allzu engen Lackstiefeln, die er in seiner Position so oft anlegen mußte. Es geht darum, die Gesandtschaften zu faszinieren! Er, als einziger in dieser Gesellschaft, war parfümiert. Sehr diskret übrigens. Die Parfüms pflegte er direkt aus Paris zu beziehen. Er traute den heimatlichen nicht.
Auf einmal erschienen zwei Alte in Generalsuniformen, dottergelbe Scherpen über der Brust, einen dritten Greis im himmelblauen Rock in der Mitte. Er ging gebückt und stützte sich auf einen Stock mit silbernem Griff. Alle drei trugen graue Backenbärte und waren einander ähnlich wie drei Briefmarken. Ein gemeinsames Leben, die gleiche Langeweile und die gleichen Freuden hatten ihnen das gleiche Aussehen gegeben. Und wenn nicht das Goldene Vließ unter dem dritten Knopf an der Brust der gebückten Gestalt gewesen wäre, hätte ein Fremder nicht erkannt, wer von den drei Greisen Österreichs Kaiser von Gottes Gnaden sein sollte: apostolischer König von Ungarn, König von Böhmen, König von Dalmatien, Kroatien und Slavonien, König von Galizien und Lodomerien, König von Illyrien, Erzherzog von Ober- und Niederösterreich, Großherzog von Krakau, Großherzog von Siebenbürgen, Herzog von Lothringen, Kärnten, Krain, Bukowina, Ober- und Niederschlesien, gefürsteter Graf auf Habsburg und Tirol, Markgraf von Mähren, König von Jerusalem usw. usw., und welche die Adjutanten sind: der Graf Paar und der Baron Bolfras.
Die Minister und Generäle neigten die Häupter. Nur einer, diesmal der dritte backenbärtige Doppelgänger seiner Majestät, stand aufrecht. Dazu war er befugt. An seiner Brust - sie war bedeutend jünger als die kaiserliche - trug auch er das Goldene Vließ. War er doch der Enkel des Siegers von Aspern, des Erzherzogs Karl.
Der Fauteuil, auf dem sich der Kaiser niederließ, war rot und aus Plüsch und stand dicht unter dem großen Porträt der Maria Theresia. Eine Weile lang schien es, als ob die Augen der Kaiserin, über den Kopf Franz Josephs hinweg, nach den buschigen Brauen des kleinen Barons Conrad spähten, dem Chef des Generalstabs, wie, um ihn zu erinnern, daß die höchste Auszeichnung für einen Offizier der kaiserlichen und königlichen Armee ihr Orden, der MariaTheresien- Orden, ist, war und bleiben wird. Conrad weiß, wofür man ihn bekommt.
In diesem Augenblick begann die Dämmerung die Konturen der alten Porträts mit einem grauen Schleier zu überziehen und sie zu vergrößern. Die Porträts wuchsen, wuchsen, bis sie mit den Tapeten und Täfelungen des prächtigen Saales in ein einziges Grau verschmolzen. Prinz Eugen von Savoyen versank schon mit einem letzten Blitz des schwarzen, spiegelglatten Panzers im Dämmer, aus dem sich nur noch für eine Weile das goldene Zepter und der Siegelring abhoben. Die Krinoline der Maria Theresia blähte sich wie ein riesiges, schwellendes, wassergefülltes Polster. Man hätte meinen können: bald steigt aus dem goldenen Rahmen die alte Stammutter der Habsburger, drängt mit mächtigen Ellbogen die Sklerotiker auseinander und setzt sich vertraulich neben die welke Frucht ihres satten Blutes. Sie legt ihren nackten, schwellenden Arm um den Alten, sie flößt Kraft in seine blutlose Dürre und bricht in ein starkes, lebensvolles Gelächter aus. Aber schon erlöschen die Lichter an der Krone des heiligen Stephan; und auch das Feuer ihrer Augen.
Ein Lakai tritt ein. Er entzündet das elektrische Licht in den kristallenen Kronleuchtern. Aber nicht alle Birnen, denn Seine Majestät verträgt kein starkes Licht. Mit zitternder Hand setzt der Kaiser seine Brille auf. Dann nimmt er sie wieder ab und putzt sie lange mit dem Taschentuch. Nun ist die Geduld des kahlen Außenministers, des Grafen Berchtold, erschöpft. Er entnimmt der Aktentasche Papiere und blickt streng und dennoch dienstbeflissen zum Kaiser hin. Das Pariser Parfüm steigt seinem Nachbarn, dem Kriegsminister Exzellenz Krobatin, lieblich in die Nase. Dieser Duft um die Dämmerstunde weckt Erinnerungen aus den Zeiten der Jugend. Wundervoll küßt man in Ungarn! ... Der Kaiser putzt nicht mehr die Brille. Die hölzernen Gesichter der höchsten Würdenträger des Staates beleben sich - keine Spur mehr von Sklerose. Der Kaiser spricht. Mit matter Stimme dankt er für irgend etwas. Das, wovon gestern der liebe Graf Berchtold sprach, hat ihn sehr traurig gemacht. Wenn er sich nicht irrt, das heißt - wenn sein Gedächtnis nicht irrt: Belgrad? - Mit Befriedigung nimmt der Kaiser die ungeheure Erbitterung seiner geliebten Völker zur Kenntnis, die fordern - fordern -, der Kaiser kann sich nicht erinnern, was sie fordern - die geliebten Völker.
Also fingen sie an, ihm zu erklären. Etwas, was der Kaiser dennoch um keinen Preis verstehen wollte. Zuerst setzten sie es ihm ruhig auseinander, wie eine Mutter ihrem Kind, bis sie die Selbstbeherrschung verloren und zu gestikulieren anfingen. Als er endlich begriff, begannen sie schon mit ihm zu handeln. Der Kaiser wehrte sich, sträubte sich, zögerte lange, hustete, erinnerte an die ermordete Kaiserin Elisabeth. Einmal erhob er sich sogar, aus eigener Kraft, und schlug mit dem silbernen Griff des Stockes auf den Tisch, daß die lebendigen Statuen der Gardeoffiziere erbebten, daß die Augen der Maria Theresia wieder aufflackerten. Erzherzog Friedrich sprang auf, der Enkel jenes von Aspern. Er näherte sich der Majestät, beugte sich über das rosige Ohr, in dem ein Klümpchen grauer Watte steckte, und streute lange Zeit irgendwelche schweren Worte hinein. So begegneten einander die beiden Goldenen Vließe an der Brust der Habsburger und baumelten einige Minuten friedlich nebeneinander. Und nun gab der Kaiser nach. Er fügte sich dem Willen seiner geliebten Völker.
Er hatte noch einen Wunsch: sie möchten, getreu der Tradition, Eichenblätter auf ihre Tschakos stecken. Und singen sollen sie.
An dieser Stelle unterbricht der Erzherzog den Monarchen wiederum und bemerkt laut, daß das Heer im zwanzigsten Jahrhundert im Krieg keine Tschakos mehr trage, sondern einfache, leichte Feldkappen. Der Kaiser bittet um Entschuldigung: er hat lange keine Manöver mitgemacht.
An seinen Augen ziehen die alten Köpfe der Veteranen von Novarra vorbei, von Mortara und von Solferino, die Panduren und Radetzky ... Verschämt wendet er sich an den Kriegsminister, so wie ein Schüler an seinen Lehrer: »Vielleicht könnten Sie mir sagen, Exzellenz, wieviel Soldaten ich habe?«
»Achtunddreißig Divisionen in Friedensstärke, die Honveds und die Landwehr nicht eingerechnet!«
»Danke. Ich habe achtunddreißig Divisionen!« Achtunddreißig Divisionen! Franz Joseph sieht jede einzelne Division vor sich, die ihm auf Tod und Leben vereidigt ist, er vergnügt sich an der Vielfalt und den bunten Farben dieser Ziffern. Er beschwört die letzten Paraden herauf, an denen er teilgenommen hat, die letzten fiktiven Kämpfe, in denen der Feind durch ein rotes Band an der Mütze kenntlich gemacht war. Er selbst, der Kaiser zu Pferd, führte damals eine der kämpfenden Armeen, und sein Gegner war kein anderer als der vor vier Wochen ermordete Franz Ferdinand, der Thronfolger. Hier täuscht ihn das Gedächtnis nicht! Das vergißt man nicht! Die alte Leidenschaft erwachte. Für eine Weile verspürte der Greis von neuem den alten Unwillen gegen diesen fiktiven Feind aus den Manövern, dessen wirklichen Tod er jetzt zu rächen hat, er und das ganze kaiser- und königliche Heer. Das Blut stieg dem alten Kaiser zu Kopf bei dem Gedanken, daß ihm dieser hartnäckige Franz Ferdinand nicht einmal nach dem Tode Ruhe gebe, der Thronfolger, der so viele Jahre auf des Kaisers natürlichen Tod vergeblich gewartet hatte. Irgend etwas in dem Alten rief: Und ich habe ihn überlebt! - Aber auch dieser Gedanke verlor sich sogleich im Nebel der Trauer um den unvergeßlichen, einzigen Sohn Rudolf, dem es auch nicht vergönnt gewesen war ... »Mir bleibt nichts erspart!«
Eine peinliche Stille senkte sich über den Saal. Wie Weihrauch über den Leichen Ermordeter schwebte der süßliche Duft Berchtoldscher Parfüms. Adieu, Pariser Parfümerien! Der Weg ist verschlossen: hier - Dreibund, dort - Triple-Entente! Das begriff Berchtold sehr wohl. Er wußte, wonach die neue Geschichte roch. Sie roch nach Beschränkung auf heimatliche Erzeugnisse. Aber jetzt, in dieser gespenstischen Stille, nahm nicht einmal der joviale Krobatin Berchtolds Parfüms zur Kenntnis. Pulver hatte er zwar auch niemals gerochen, aber immerhin, er war Kriegsminister.
Der Kaiser dachte nach. Seine blauen, feuchten Augen trübten sich hinter den Gläsern. Das glattrasierte Kinn versank im goldenen Kragen, aus dem nur noch die Watte des Backenbarts hervorkam. Das glitzernde Kreuz auf der Krone des heiligen Stephan neigte sich noch tiefer, als drohte es auf das Haupt des Greises zu fallen. Er schwieg weiter, versunken in den düsteren Katakomben seiner Erinnerung: lauter Tote ...
Die Atmosphäre um den runden Tisch verdichtete sich immer mehr. Die alten Fauteuils stöhnten. Die Sklerose in den Adern der Paladine schritt vor. Bis die Ungeduld des Kronrats stärker wurde als die Etikette. Die Generäle fingen an zu flüstern. - Höchste Zeit! Er muß unterzeichnen! - Krobatin konnte ohne eine Zigarette nicht länger sitzen bleiben. Da stieß Graf Berchtold den Grafen Paar an. Der schob dem Kaiser einen länglichen Bogen Papier hin. Der andere von den Doppelgängern des Kaisers hielt in der Hand einen Federhalter mit einer neuen, noch nicht gebrauchten Stahlfeder, wie es das Hofzeremoniell befiehlt. Die Augen aller richteten sich auf die trockene, feinnervige Hand des Kaisers. Endlich raffte er sich auf und rückte die Brille zurecht. Alle atmeten auf. Einige Minuten lang schritt der kalte Blick des Monarchen die schwarzen, steifen Reihen der Buchstaben ab. Er hielt strenge Musterung über jeden Ausdruck, über jedes Komma. Aber nach der Durchsicht der ersten Sätze röteten sich die Augenlider, und etwas fing in den Augen zu brennen an. Seine Brille beschlug. In der letzten Zeit ermüdete den Greis das Lesen schon sehr, besonders bei künstlichem Licht. Er riß seinen Blick vom Bogen los, und da er die Ungeduld des Kronrats sah, führte er die Feder mit zitternder Hand an den offenen, schwarzen Schlund des Tintenfasses. Die Hand kehrte zurück mit der Feder, feucht von der giftigen Flüssigkeit, und bebend fiel sie auf das Papier. Bald kam die Linke zu Hilfe und hielt das Papier fest.
Der Kaiser setzte seinen Namen darunter, auf den die Minister so lange gewartet hatten. Kaum aber stand das Wort ›Franz‹ auf dem Papier, versagte die Feder, die Tinte reichte nicht. Der Kaiser griff zum zweitenmal nach dem Tintenfaß und ritzte sich leicht mit der zitternden Feder den Daumen der linken Hand. Aus dem Finger quoll ein winziger Tropfen Blut. Er war rot. Niemand hatte es bemerkt. Der Kaiser trocknete schnell den Finger und schrieb mit einem kräftigen Zug ›Joseph‹ dazu. Die Tinte war blau.
Graf Berchtold nahm das Schriftstück entgegen. Am nächsten Tag wurde es in alle Sprachen der Monarchie übersetzt. Es hing gedruckt an allen Ecken der Städte und Städtchen, der Dörfer und begann mit den Worten: »An meine Völker«. Denen, die nicht lesen konnten, lasen die Trommler der Gemeinden das Manifest vor. Der Kaiser erhob sich mit Hilfe der Adjutanten. Während des Dienstes gab er niemandem die Hand. Diesmal drückte er nur die Hand des Ministerpräsidenten. Noch einmal wandte er sich an der Schwelle um und sagte - niemand wußte, zu wem:
»Wenn ich mich nicht irre ... Blut wird fließen!« Dann ging er hinaus. Der Erzherzog Friedrich bot dem Finanzminister Bilinski eine Havanna an.
Unten schlugen die Absätze der Stiefel der Infanteristen vom
99. Regiment zusammen. Ein trockener Aufschlag der Gewehrkolben. In den nahen Kasernen blies man zum Zapfenstreich: die neunte Stunde. Die Soldaten der ganzen Monarchie gehen um neun Uhr schlafen ...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Mein Bruder: er ist Leser eines Lokalblättchens. Mein anderer Bruder: er ist Angestellter in einem Handelsbüro. Alle meine Brüder sehen den Adler, wie er so in der Luft kreist und die Kralle mit dem heraldischen Schwert bedrohlich vorstreckt. Wie ein göttlicher Blitz schimmert das scharfe Schwert in seinen geschliffenen Fängen, bis es unerwartet aus der Höhe stürzt, und seine Spitze durchbohrt das Herz meiner fernen Mutter, unserer Mutter, der alten Bäuerin, während sie, zur Erde gebeugt, ihr mit der Forke die letzte Frucht dieses Jahres entreißt: die Kartoffel. Mein Bruder ist ein gewöhnlicher Mensch. Meine Brüder: das sind gewöhnliche Leute: Barbiere, Schuster, Eisenbahner, Straßenbahnschaffner, Eisengießer, Büroangestellte, Kellner, Bauern. Ja, Bauern.
Meine Schwester ist eine einfache Frau. Alle sind sie so: einfach und geschwätzig. Marktfrauen, Büglerinnen, Modistinnen, Näherinnen, ›Mädchen für alles‹, Ammen für Kinder, die besser daran sind als meine.
Sie sahen, hörten, lasen in ihren Blättchen, betrachteten die bunten Ansichtskarten. Ich selbst sah, hörte, las vielleicht.
II
Alle erhoben sich. Alte Rokokofauteuils seufzten erleichtert auf, mit einem Mal befreit vom Druck der würdigen Körper.
Unten, vor dem Portal, schlugen die Stiefel der Schloßwache zusammen. Soldaten des 99. mährischen Infanterieregiments hatten das uralte Privileg, diesen heiligen Ort zu bewachen.
»Gewehr herauuus!« rief jammernd der Posten die Wache an wie eine Lokomotive, die den Opfern einer Katastrophe die letzten Ehren erweist. Die Wache präsentierte das Gewehr. Der kahle, hagere Elegant, ein kaltes Lächeln unter dem schwarzen Schnurrbart, räusperte sich. Ihm fällt heute die wichtigste Rolle zu. Schon in seiner Kindheit hatte er eine außerordentliche Vorliebe für Geschichte. Einen herausfordernden Blick warf er noch einmal auf die Minister, die in Erwartung erstarrt waren. Ihre Galagesichter, an Wochentagen eher sauer und übelgelaunt, verrieten eine bereits fortgeschrittene Arterienverkalkung. Nur mit Mühe führten abgebrauchte Pumpen den Herzen dieser Herren blaues Blut zu. Es ist allgemein bekannt, für wen diese Herzen schlagen. Die Geschichte selbst wird es bezeugen, wem sie ihren ›letzten Tropfen Bluts‹ zu opfern gelobt haben. (Besonders, da niemand nach ihm verlangt hatte.) Unterdessen kämpfte dieses Blut gegen seine eigene Dekadenz.
Der Blick des höflichen Elegants verharrte schließlich auf der silbernen Perücke der Maria Theresia, die aus dem enormen Rahmen, mit großen, unbestechlich männlichen Augen, auf die Glatzen und Bärte rings um den Tisch heruntersah. Oberhalb ihrer Perücke, über dem vergoldeten Rahmen, brannte das rote, grüne, violette Feuer großer Edelsteine, die in der Krone des heiligen Stephan eingefaßt waren, auf deren Zacke ein Kreuz sich beugte. Die Krone glitzerte im Glanz der untergehenden Sonne, und farbige Tränen tropften von ihr. Aber noch stärker glühten die Augen der Herrscherin. (Sie hatte nie an Sklerose gelitten.) Ein Wagen fuhr ratternd vor das Tor. Ein trockener Aufprall der Gewehrkolben. Irgendwo unten ein hartes Husten. Und die prächtigen Türflügel sprangen auf. Zwei straffe Gardeoffiziere pflanzten sich reglos zu beiden Seiten des Eingangs auf, zwei Statuen im Foyer des Hoftheaters ähnlich. Ein geheimnisvoller Ritus mauerte blitzschnell zwei lebendige Figuren in die trübe Stille hinein wie in das leere Innere kalter Marmornischen. In dieser Stille verlor sich der splitternde, klirrende, gläserne Klang der Sporen. Rasch legten die Gesichter der Herren Gala an. Der kleine, gedrungene Generalstabschef runzelte die buschigen Brauen. Sein ergrauender Kopf, auf ›Igel‹ geschoren, neigte sich leicht seitwärts über die linke Brust, an der bald die höchsten Sterne und Orden aufblühen sollten. Der kahle und elegante ›Minister des kaiserlichen Hauses und der äußeren Angelegenheiten‹ trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er hatte Hühneraugen von den allzu engen Lackstiefeln, die er in seiner Position so oft anlegen mußte. Es geht darum, die Gesandtschaften zu faszinieren! Er, als einziger in dieser Gesellschaft, war parfümiert. Sehr diskret übrigens. Die Parfüms pflegte er direkt aus Paris zu beziehen. Er traute den heimatlichen nicht.
Auf einmal erschienen zwei Alte in Generalsuniformen, dottergelbe Scherpen über der Brust, einen dritten Greis im himmelblauen Rock in der Mitte. Er ging gebückt und stützte sich auf einen Stock mit silbernem Griff. Alle drei trugen graue Backenbärte und waren einander ähnlich wie drei Briefmarken. Ein gemeinsames Leben, die gleiche Langeweile und die gleichen Freuden hatten ihnen das gleiche Aussehen gegeben. Und wenn nicht das Goldene Vließ unter dem dritten Knopf an der Brust der gebückten Gestalt gewesen wäre, hätte ein Fremder nicht erkannt, wer von den drei Greisen Österreichs Kaiser von Gottes Gnaden sein sollte: apostolischer König von Ungarn, König von Böhmen, König von Dalmatien, Kroatien und Slavonien, König von Galizien und Lodomerien, König von Illyrien, Erzherzog von Ober- und Niederösterreich, Großherzog von Krakau, Großherzog von Siebenbürgen, Herzog von Lothringen, Kärnten, Krain, Bukowina, Ober- und Niederschlesien, gefürsteter Graf auf Habsburg und Tirol, Markgraf von Mähren, König von Jerusalem usw. usw., und welche die Adjutanten sind: der Graf Paar und der Baron Bolfras.
Die Minister und Generäle neigten die Häupter. Nur einer, diesmal der dritte backenbärtige Doppelgänger seiner Majestät, stand aufrecht. Dazu war er befugt. An seiner Brust - sie war bedeutend jünger als die kaiserliche - trug auch er das Goldene Vließ. War er doch der Enkel des Siegers von Aspern, des Erzherzogs Karl.
Der Fauteuil, auf dem sich der Kaiser niederließ, war rot und aus Plüsch und stand dicht unter dem großen Porträt der Maria Theresia. Eine Weile lang schien es, als ob die Augen der Kaiserin, über den Kopf Franz Josephs hinweg, nach den buschigen Brauen des kleinen Barons Conrad spähten, dem Chef des Generalstabs, wie, um ihn zu erinnern, daß die höchste Auszeichnung für einen Offizier der kaiserlichen und königlichen Armee ihr Orden, der MariaTheresien- Orden, ist, war und bleiben wird. Conrad weiß, wofür man ihn bekommt.
In diesem Augenblick begann die Dämmerung die Konturen der alten Porträts mit einem grauen Schleier zu überziehen und sie zu vergrößern. Die Porträts wuchsen, wuchsen, bis sie mit den Tapeten und Täfelungen des prächtigen Saales in ein einziges Grau verschmolzen. Prinz Eugen von Savoyen versank schon mit einem letzten Blitz des schwarzen, spiegelglatten Panzers im Dämmer, aus dem sich nur noch für eine Weile das goldene Zepter und der Siegelring abhoben. Die Krinoline der Maria Theresia blähte sich wie ein riesiges, schwellendes, wassergefülltes Polster. Man hätte meinen können: bald steigt aus dem goldenen Rahmen die alte Stammutter der Habsburger, drängt mit mächtigen Ellbogen die Sklerotiker auseinander und setzt sich vertraulich neben die welke Frucht ihres satten Blutes. Sie legt ihren nackten, schwellenden Arm um den Alten, sie flößt Kraft in seine blutlose Dürre und bricht in ein starkes, lebensvolles Gelächter aus. Aber schon erlöschen die Lichter an der Krone des heiligen Stephan; und auch das Feuer ihrer Augen.
Ein Lakai tritt ein. Er entzündet das elektrische Licht in den kristallenen Kronleuchtern. Aber nicht alle Birnen, denn Seine Majestät verträgt kein starkes Licht. Mit zitternder Hand setzt der Kaiser seine Brille auf. Dann nimmt er sie wieder ab und putzt sie lange mit dem Taschentuch. Nun ist die Geduld des kahlen Außenministers, des Grafen Berchtold, erschöpft. Er entnimmt der Aktentasche Papiere und blickt streng und dennoch dienstbeflissen zum Kaiser hin. Das Pariser Parfüm steigt seinem Nachbarn, dem Kriegsminister Exzellenz Krobatin, lieblich in die Nase. Dieser Duft um die Dämmerstunde weckt Erinnerungen aus den Zeiten der Jugend. Wundervoll küßt man in Ungarn! ... Der Kaiser putzt nicht mehr die Brille. Die hölzernen Gesichter der höchsten Würdenträger des Staates beleben sich - keine Spur mehr von Sklerose. Der Kaiser spricht. Mit matter Stimme dankt er für irgend etwas. Das, wovon gestern der liebe Graf Berchtold sprach, hat ihn sehr traurig gemacht. Wenn er sich nicht irrt, das heißt - wenn sein Gedächtnis nicht irrt: Belgrad? - Mit Befriedigung nimmt der Kaiser die ungeheure Erbitterung seiner geliebten Völker zur Kenntnis, die fordern - fordern -, der Kaiser kann sich nicht erinnern, was sie fordern - die geliebten Völker.
Also fingen sie an, ihm zu erklären. Etwas, was der Kaiser dennoch um keinen Preis verstehen wollte. Zuerst setzten sie es ihm ruhig auseinander, wie eine Mutter ihrem Kind, bis sie die Selbstbeherrschung verloren und zu gestikulieren anfingen. Als er endlich begriff, begannen sie schon mit ihm zu handeln. Der Kaiser wehrte sich, sträubte sich, zögerte lange, hustete, erinnerte an die ermordete Kaiserin Elisabeth. Einmal erhob er sich sogar, aus eigener Kraft, und schlug mit dem silbernen Griff des Stockes auf den Tisch, daß die lebendigen Statuen der Gardeoffiziere erbebten, daß die Augen der Maria Theresia wieder aufflackerten. Erzherzog Friedrich sprang auf, der Enkel jenes von Aspern. Er näherte sich der Majestät, beugte sich über das rosige Ohr, in dem ein Klümpchen grauer Watte steckte, und streute lange Zeit irgendwelche schweren Worte hinein. So begegneten einander die beiden Goldenen Vließe an der Brust der Habsburger und baumelten einige Minuten friedlich nebeneinander. Und nun gab der Kaiser nach. Er fügte sich dem Willen seiner geliebten Völker.
Er hatte noch einen Wunsch: sie möchten, getreu der Tradition, Eichenblätter auf ihre Tschakos stecken. Und singen sollen sie.
An dieser Stelle unterbricht der Erzherzog den Monarchen wiederum und bemerkt laut, daß das Heer im zwanzigsten Jahrhundert im Krieg keine Tschakos mehr trage, sondern einfache, leichte Feldkappen. Der Kaiser bittet um Entschuldigung: er hat lange keine Manöver mitgemacht.
An seinen Augen ziehen die alten Köpfe der Veteranen von Novarra vorbei, von Mortara und von Solferino, die Panduren und Radetzky ... Verschämt wendet er sich an den Kriegsminister, so wie ein Schüler an seinen Lehrer: »Vielleicht könnten Sie mir sagen, Exzellenz, wieviel Soldaten ich habe?«
»Achtunddreißig Divisionen in Friedensstärke, die Honveds und die Landwehr nicht eingerechnet!«
»Danke. Ich habe achtunddreißig Divisionen!« Achtunddreißig Divisionen! Franz Joseph sieht jede einzelne Division vor sich, die ihm auf Tod und Leben vereidigt ist, er vergnügt sich an der Vielfalt und den bunten Farben dieser Ziffern. Er beschwört die letzten Paraden herauf, an denen er teilgenommen hat, die letzten fiktiven Kämpfe, in denen der Feind durch ein rotes Band an der Mütze kenntlich gemacht war. Er selbst, der Kaiser zu Pferd, führte damals eine der kämpfenden Armeen, und sein Gegner war kein anderer als der vor vier Wochen ermordete Franz Ferdinand, der Thronfolger. Hier täuscht ihn das Gedächtnis nicht! Das vergißt man nicht! Die alte Leidenschaft erwachte. Für eine Weile verspürte der Greis von neuem den alten Unwillen gegen diesen fiktiven Feind aus den Manövern, dessen wirklichen Tod er jetzt zu rächen hat, er und das ganze kaiser- und königliche Heer. Das Blut stieg dem alten Kaiser zu Kopf bei dem Gedanken, daß ihm dieser hartnäckige Franz Ferdinand nicht einmal nach dem Tode Ruhe gebe, der Thronfolger, der so viele Jahre auf des Kaisers natürlichen Tod vergeblich gewartet hatte. Irgend etwas in dem Alten rief: Und ich habe ihn überlebt! - Aber auch dieser Gedanke verlor sich sogleich im Nebel der Trauer um den unvergeßlichen, einzigen Sohn Rudolf, dem es auch nicht vergönnt gewesen war ... »Mir bleibt nichts erspart!«
Eine peinliche Stille senkte sich über den Saal. Wie Weihrauch über den Leichen Ermordeter schwebte der süßliche Duft Berchtoldscher Parfüms. Adieu, Pariser Parfümerien! Der Weg ist verschlossen: hier - Dreibund, dort - Triple-Entente! Das begriff Berchtold sehr wohl. Er wußte, wonach die neue Geschichte roch. Sie roch nach Beschränkung auf heimatliche Erzeugnisse. Aber jetzt, in dieser gespenstischen Stille, nahm nicht einmal der joviale Krobatin Berchtolds Parfüms zur Kenntnis. Pulver hatte er zwar auch niemals gerochen, aber immerhin, er war Kriegsminister.
Der Kaiser dachte nach. Seine blauen, feuchten Augen trübten sich hinter den Gläsern. Das glattrasierte Kinn versank im goldenen Kragen, aus dem nur noch die Watte des Backenbarts hervorkam. Das glitzernde Kreuz auf der Krone des heiligen Stephan neigte sich noch tiefer, als drohte es auf das Haupt des Greises zu fallen. Er schwieg weiter, versunken in den düsteren Katakomben seiner Erinnerung: lauter Tote ...
Die Atmosphäre um den runden Tisch verdichtete sich immer mehr. Die alten Fauteuils stöhnten. Die Sklerose in den Adern der Paladine schritt vor. Bis die Ungeduld des Kronrats stärker wurde als die Etikette. Die Generäle fingen an zu flüstern. - Höchste Zeit! Er muß unterzeichnen! - Krobatin konnte ohne eine Zigarette nicht länger sitzen bleiben. Da stieß Graf Berchtold den Grafen Paar an. Der schob dem Kaiser einen länglichen Bogen Papier hin. Der andere von den Doppelgängern des Kaisers hielt in der Hand einen Federhalter mit einer neuen, noch nicht gebrauchten Stahlfeder, wie es das Hofzeremoniell befiehlt. Die Augen aller richteten sich auf die trockene, feinnervige Hand des Kaisers. Endlich raffte er sich auf und rückte die Brille zurecht. Alle atmeten auf. Einige Minuten lang schritt der kalte Blick des Monarchen die schwarzen, steifen Reihen der Buchstaben ab. Er hielt strenge Musterung über jeden Ausdruck, über jedes Komma. Aber nach der Durchsicht der ersten Sätze röteten sich die Augenlider, und etwas fing in den Augen zu brennen an. Seine Brille beschlug. In der letzten Zeit ermüdete den Greis das Lesen schon sehr, besonders bei künstlichem Licht. Er riß seinen Blick vom Bogen los, und da er die Ungeduld des Kronrats sah, führte er die Feder mit zitternder Hand an den offenen, schwarzen Schlund des Tintenfasses. Die Hand kehrte zurück mit der Feder, feucht von der giftigen Flüssigkeit, und bebend fiel sie auf das Papier. Bald kam die Linke zu Hilfe und hielt das Papier fest.
Der Kaiser setzte seinen Namen darunter, auf den die Minister so lange gewartet hatten. Kaum aber stand das Wort ›Franz‹ auf dem Papier, versagte die Feder, die Tinte reichte nicht. Der Kaiser griff zum zweitenmal nach dem Tintenfaß und ritzte sich leicht mit der zitternden Feder den Daumen der linken Hand. Aus dem Finger quoll ein winziger Tropfen Blut. Er war rot. Niemand hatte es bemerkt. Der Kaiser trocknete schnell den Finger und schrieb mit einem kräftigen Zug ›Joseph‹ dazu. Die Tinte war blau.
Graf Berchtold nahm das Schriftstück entgegen. Am nächsten Tag wurde es in alle Sprachen der Monarchie übersetzt. Es hing gedruckt an allen Ecken der Städte und Städtchen, der Dörfer und begann mit den Worten: »An meine Völker«. Denen, die nicht lesen konnten, lasen die Trommler der Gemeinden das Manifest vor. Der Kaiser erhob sich mit Hilfe der Adjutanten. Während des Dienstes gab er niemandem die Hand. Diesmal drückte er nur die Hand des Ministerpräsidenten. Noch einmal wandte er sich an der Schwelle um und sagte - niemand wußte, zu wem:
»Wenn ich mich nicht irre ... Blut wird fließen!« Dann ging er hinaus. Der Erzherzog Friedrich bot dem Finanzminister Bilinski eine Havanna an.
Unten schlugen die Absätze der Stiefel der Infanteristen vom
99. Regiment zusammen. Ein trockener Aufschlag der Gewehrkolben. In den nahen Kasernen blies man zum Zapfenstreich: die neunte Stunde. Die Soldaten der ganzen Monarchie gehen um neun Uhr schlafen ...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Joseph Wittlin
Joseph Wittlin wurde 1896 in Dmytrów bei Radziechów (heute Ukraine) geboren und starb 1976 in New York. Er studierte Philosophie und moderne Philologie in Wien und Lemberg (heute Lwiw, Ukraine), diente von 1916-1918 in der österreichisch-ungarischen Armee. In den zwanziger Jahren arbeitete er als Lehrer, Dramaturg und Kritiker, wurde dann freier Schriftsteller. 1941 emigrierte er in die USA. Der Roman »Das Salz der Erde« ist der erste Teil der nicht vollendeten Trilogie »Die Geschichte vom geduldigen Infanteristen« und gilt als sein literarisches Hauptwerk. Ausserdem übertrug er u.a. Homers »Odyssee«, Joseph Roths »Hiob« und »Kapuzinergruft« sowie Hermann Hesses »Der Steppenwolf« ins Polnische.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joseph Wittlin
- 2014, 2. Aufl., 272 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Izydor Berman, Marianne Seeger
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359690580X
- ISBN-13: 9783596905805
- Erscheinungsdatum: 25.03.2014
Rezension zu „Das Salz der Erde “
Die Figur des durchaus nicht reinen, sondern ressentimentbeladenen und abergläubischen Toren nutzt Wittlin, um die Absurdität des Krieges zu demaskieren. Klaus Nüchtern Falter 20140611
Pressezitat
Die Figur des durchaus nicht reinen, sondern ressentimentbeladenen und abergläubischen Toren nutzt Wittlin, um die Absurdität des Krieges zu demaskieren. Klaus Nüchtern Falter 20140611
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