Das Nemesis-Spiel
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Paul Reynolds ist Top-Manager mit Leib und Seele. Doch als seine Frau und seine Tochter bei einem Bombenanschlag sterben, gerät sein Leben aus der Bahn. Er hat nur noch eines im Sinn: Rache. Also macht er sich im südamerikanischen Dschungel auf...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Nemesis-Spiel “
Paul Reynolds ist Top-Manager mit Leib und Seele. Doch als seine Frau und seine Tochter bei einem Bombenanschlag sterben, gerät sein Leben aus der Bahn. Er hat nur noch eines im Sinn: Rache. Also macht er sich im südamerikanischen Dschungel auf die Jagd nach dem Attentäter, dem Drogenboss El Toro.
Klappentext zu „Das Nemesis-Spiel “
Paul Reynolds ist Vorstandsvorsitzender eines weltweit operierenden Unternehmens. Für den Top--Manager ist Effizienz oberstes Gebot: Arbeit, Familie, Beziehungen, Sex - alles muss sich diesem Diktat unterordnen. Als seine Frau und seine Tochter in einem Hotel in London einem Bombenanschlag zum Opfer fallen, wird Pauls Leben völlig aus der Bahn geworfen. Offenkundig gehen die Morde auf das Konto von El Toro, einem der gefährlichsten Drogenbosse der Welt. Paul setzt alles daran, El Toro aus seinem Labyrinth im Dschungel Lateinamerikas zu locken. Er will nur noch eines: Rache. Und er ist nicht allein, denn seine gefährlichste Waffe ist der Schlangenmann ...
Paul Reynolds ist Vorstandsvorsitzender eines weltweit operierenden Unternehmens. Für den Top--Manager ist Effizienz oberstes Gebot: Arbeit, Familie, Beziehungen, Sex - alles muss sich diesem Diktat unterordnen. Als seine Frau und seine Tochter in einem Hotel in London einem Bombenanschlag zum Opfer fallen, wird Pauls Leben völlig aus der Bahn geworfen. Offenkundig gehen die Morde auf das Konto von El Toro, einem der gefährlichsten Drogenbosse der Welt. Paul setzt alles daran, El Toro aus seinem Labyrinth im Dschungel Lateinamerikas zu locken. Er will nur noch eines: Rache. Und er ist nicht allein, denn seine gefährlichste Waffe ist der Schlangenmann ...
Lese-Probe zu „Das Nemesis-Spiel “
Das Nemesis-Spiel von Scott McBainProlog
Der Mythos ist die geheime Öffnung,
durch die die unerschöpfl ichen Energien des Kosmos in die
kulturelle Manifestation des Menschen einströmen.
Joseph Campbell
... mehr
Worin der Sinn dieser Welt - und der Zweck des Lebens -- besteht, ist doch klar, oder? Reich zu werden, mächtig und berühmt. Vorzugsweise alles drei. Und um reich, mächtig und berühmt zu werden, gibt es offensichtlich eine Methode, mit der sich die anstehende Aufgabe mit Sicherheit meistern lässt: Man kaufe genagelte Stiefel.
Denn jeder Erfolg gründet, notwendigerweise, auf dem Scheitern anderer. Wobei es nicht nur darum geht, den Feind zu vernichten, sondern auch darum, den Freund auszubeuten. Freunde sind auf der materiellen Ebene nichts anderes als ein weiteres Hilfsmittel im Streben nach Selbsterfüllung. Die obigen Aussagen sind natürlich über jeden Zweifel erhaben. Nur ein Narr würde sie in Frage stellen - denn nur ein Narr würde es wagen, die Wahrheit auszusprechen. Aber an Narren mangelt es in der heutigen Welt. Sie sind so selten wie eine Lotusblume in der Arktis.
Doch bei der Suche nach den einzigen Dingen, die das Leben lebenswert machen, wirkt ein merkwürdiges, fast unsichtbares System dynamischer Prozesse. Die Reichen suchen die Gesellschaft von ihresgleichen. Verzehrt vom Verlangen, um jeden Preis Geld zu verdienen, jagen und essen sie gemeinsam. Die Mächtigen tun das Gleiche. Auf der ganzen Welt bringen sie, gezwungen vom Drang, ihre Mitmenschen zu dominieren, ihren politischen Einfl uss und ihre Verbindungen zusammen, damit sie andere ohne Skrupel manipulieren können. Kurzum: Die Reichen und Mächtigen jagen in Meuten. Das gilt auch für die Berühmten. Diese stellen ihre Fähigkeiten, ihren Körper, ja selbst ihre Laster zur Schau - und umgeben sich mit einer Schar von Bewunderern und Schmeichlern, die jeden Preis zahlen, um den Berühmten dabei zuzuschauen, wie sie das tun, was sie am besten können - ob das nun Singen, Tanzen oder das Fremdgehen ist. Und in der Tat: Diese Primadonnen dieser Welt beherrschen souverän die schwierigste aller Situationen - das Sterben. Selbst im Tode sind sie wie versessen auf Berühmtheit, auf die Objektive der Fotoapparate. Sie verstehen es meisterhaft, Gefühle in Vergötterung ... und Bares umzumünzen.
So viel zu den Siegern.
Würde ein Besucher von einem fremden Planeten dieses Bild erblicken, so würde er eine riesige Herde sehen, die über die große Savanne galoppiert, aus der die Welt besteht. Die Beute -- die menschliche Entsprechung zu den Zebras, Springböcken und Antilopen und deren Nachkommen - wird von den gefährlicheren Tieren der Savanne, beispielsweise Löwen, Hyänen und Geparden, angegriffen und erlegt. Und wenn die Übriggebliebenen der Herde dann dieser blutigen Szene ringsum gewahr werden, noch während sie um ihr Leben laufen, erkennen sie ihre unausweichliche Verwundbarkeit. Um dem traurigen Schicksal der Opfer zu entgehen, versuchen sie dann ihre Identität zu ändern, ihren Unterdrückern immer ähnlicher zu werden.
Kurzum: Menschen passen sich an, je nachdem, wie sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wahrnehmen, mit dem Ziel, sich der drohenden Ausbeutung zu entziehen. Dadurch werden sie oftmals selbst zu Ausbeutern. Die Beute wird zum Raubtier.
Doch was geschieht, wenn es immer mehr wilde Tiere auf der Welt gibt? Wie es aussieht, werden die Verhältnisse nie wieder so sein können, wie sie einmal waren: Das Gleichgewicht der Natur wird sich nicht wieder durchsetzen können, und am Ende werden diese Zerstörer der Harmonie alles auslöschen. Die Lebensbedingungen auf der Savanne verändern sich. Die weiten Ebenen werden immer öder,
und im Rennen um das Leben -- im Rennen des Lebens -wird die Herde von einer unsichtbaren Macht zusammen-
getrieben, damit sie ein Labyrinth betritt. Dann drängen sich die Menschen in immer wilderer Verzweifl ung aneinander. Hierbei kommt es entscheidend auf Geschwindigkeit und das sichere Wissen um den Fluchtweg an. Selbst dem mächtigsten Löwen kann der schnellste Wasserbüffel davonlaufen. Auf dieser wilden Flucht regiert das Chaos, wobei es keinen Ausweg zu geben scheint.
Kurzum: Die Lebensbedingungen auf der Welt neigen aufgrund der menschlichen Gier und des Verlangens, anderen voraus zu sein, stets zur Unordnung.
Doch selbst hier setzt die Natur -- die verborgene Dynamik, die dem Funktionieren der Welt zugrunde liegt - eine Waffe ein, um der Menschheit das Überleben zu ermöglichen. Im Kampf, bei dem der König des Dschungels bestimmt wird, betritt eine weitere Kreatur die Bühne. Die Schlange.
Und die Schlange ist Weisheit.
Das Unerwartete
1
Doch der Mensch, der stolze Mensch,
in kleine, kurze Majestät gekleidet.
William Shakespeare
Mächtige Menschen sind selbstzufriedene Menschen; sie sind allerdings auch ewig unzufrieden mit dem, was sie haben. Wäre es anders, so wären sie mit ihrem Schicksal zufrieden. Dann könnten sie möglicherweise damit beginnen, anderen zu helfen - anstatt immer nur für sich selbst zu sorgen. Aber das ist wohl zu viel verlangt; das gehört zu einer anderen Welt.
»Rachel!«
»Ja, Mr. Reynolds?«
Die Dreißigjährige eilte in das Büro, wenn auch etwas wackelig, weil ihre hochhackigen Schuhe an den Fersen schmerzhaft drückten. Sie hatte die schwarzen Stilettos am Wochenende in einem exklusiven New Yorker Kaufhaus gekauft und gehofft, die Schuhe rechtzeitig einlaufen zu können. Dummerweise hatte sie jedoch am frühen Morgen die High Heels zwischen den anderen Schuhen in ihrem Kleiderschrank hervorgeholt, wofür sie nun büßte. Nach einem langen Arbeitstag schnitten ihr nun die Schuhe ins rohe Fleisch.
»Die Briefing-Unterlagen?«
»Hier.«
»Die Geschäftszahlen der schwedischen Firma?«
»Hier.«
Rachel strich sich die langen blonden Haare zurück und hielt ihrem »Herrn und Meister« die Dokumente hin. Sie war eine intelligente Frau und wusste sich zu kleiden. Hübsch, ohne schön zu sein, besaß sie Eigenschaften, die den Männern gefi elen und die es ihr ermöglichten, mit ihnen auszukommen, ohne übermäßig bestimmt aufzutreten. Ein gewinnendes Lächeln, hübsche Beine und Brüste, die die Blicke verführten, ohne groß zu sein. All das und ein gutes Gedächtnis. Die wesentlichen Waffen einer Frau, die in jungen Jahren zur persönlichen Assistentin eines mächtigen Mannes aufgestiegen war. Und sie besaß noch eine Eigenschaft - jedoch eine verborgene. Insgeheim war sie ehrgeizig; sie hatte Träume, wollte sich selbst verwirklichen.
»Und ...«
»Hier.«
Sie legte weitere Unterlagen in Reynolds' ausgestreckte Hand; er sah nicht hin, denn er hatte schon wieder ein Telefonat begonnen. Er ließ die Dokumente auf den Schreibtisch fallen, während er einem nervösen Mitarbeiter in Europa weitere Anweisungen gab.
»Ich komme morgen um 8.50 Uhr in Paris an, Flughafen Charles de Gaulle. Lassen Sie mich von einem Wagen abholen. Und die Besprechung in London - wer nimmt daran teil?«
Reynolds' Stimme klang herablassend und entschlossen. Er hatte Rachel den Rücken zugekehrt, aber weil er sie noch nicht aufgefordert hatte zu gehen, wartete sie dicht neben ihm. Als sie ein zaghaftes Hüsteln vernahm, wandte sie sich halb um -- und sah ein Mitglied des Vorstands im Türrahmen stehen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie lautlos. Reynolds konnte den Mann nicht sehen.
»Informationen über diese französische Firma. Und besorgen Sie mir ...«, die Anweisungen nahmen kein Ende.
Paul Reynolds war hoch gewachsen, über eins neunzig groß. Anfang fünfzig. Er hatte keinen Bauch - das Ergebnis seines täglichen Fitnesstrainings. An diesem Nachmittag trug er eine schwarze Hose, ein hellblaues gestreiftes Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, keine Krawatte. Dazu eine Armbanduhr aus Platin. Die Gesichtszüge waren attraktiv, wenn auch nicht fotogen. Kantiges Kinn, schmaler Mund, dunkelblaue Augen und gerade Nase, insgesamt ein guter Kopf mit ersten grauen Strähnen im Haar. So viel zu den körperlichen Attributen (seine Frau würde noch ein anderes erwähnen). Sein Ansehen in der Welt war noch beeindruckender. Er war Multimillionär, ein Mann, der seine Umgebung dominierte, und verkörperte den amerikanischen Traum: ein Selfmade-Man, der sein Vermögen selbst verdient hatte. Worum ihn viele beneideten.
»In London will ich mich mit ...«
Rachel wandte den Blick vom Chef von Reynolds Holdings ab. Sie befanden sich im sechsten Stock eines Wolkenkratzers. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie das Meer aus Neonlichtern, die an den anderen Gebäuden flackerten. Es dämmerte, bald würde es Nacht werden in New York. Doch niemand schien es zu bemerken; nicht einmal, dass es ein lauer Abend im September war. In ihren Häusern aus Stahl und Beton arbeiteten die Menschen auch weiterhin fieberhaft -- gruben nach Geld. In dem Unternehmen, in dem Rachel angestellt war, war das nicht anders. Zweitausend Beschäftigte, manipuliert, drangsaliert und angetrieben von ihren Vorgesetzten. Vom dunklen Morgen bis zum dunklen Abend schufteten diese menschlichen Ameisen, um ihr Firmennest wie auch die eigenen Bankkonten zu vergrößern. Sinnvoll oder sinnlos? Die Tätigkeit von Menschen oder menschlichen Ameisen? Spielte das eine Rolle?
»Ich will ... ich will ... ich will.«
»Mr. Reynolds«, Rachel hob leicht die Stimme, »die Vorstandssitzung.«
Ohne sich zu ihr umzudrehen, sprach er schneller, während er letzte Anweisungen gab. Anweisungen, von denen die Welt notwendigerweise abhing, was bei mächtigen Menschen ja immer der Fall ist. Wussten die andern das eigentlich nicht?
»Das wär's dann«, beendete er das Telefonat und nahm mehrere Dokumente zur Hand. »Gehen wir.«
Unmittelbar bevor sie durch die Tür traten, ging Rachel langsamer und stellte sich ihm leicht in den Weg, so dass er seine Schritte verlangsamen musste.
»Ihre Frau hat dreimal angerufen; sie ist in London, mit Ihrer Tochter. Sie möchte unbedingt mit Ihnen sprechen, glaube ich.«
Vorübergehend von der anstehenden Aufgabe abgelenkt, nahm Reynolds seine persönliche Assistentin wahr. Heute trug sie eine weiße Bluse, einen schwarzen Rock und schwarze High Heels. Sie arbeitete seit zwei Jahren für ihn, und sie gefi el ihm. Er konnte sich zwar nicht genau daran erinnern, wie alt sie war, aber sie war wohl Ende zwanzig. Sie war schlank und besaß eine gute Figur. Ihr Mund war ein wenig zu breit (auch wenn sie gute Zähne und ein freundliches Lächeln hatte), und er begehrte alles Perfekte. Aber sie hatte auch eine Gabe: Sie war extrem effi zient in ihrer Arbeit und
wusste fast instinktiv, was er wollte. Und das war wichtig.
Denn das, was er begehrte, bestimmte den Wert der Dinge - so wie er es sah.
»Ich rede mit ihr nach der Vorstandssitzung.«
Sie verließen Reynolds' Büro und gingen den Flur entlang. An den Wänden hingen Werbeplakate, die die Erfolge des Unternehmens priesen. Schließlich blieben sie vor einer Mahagonitür stehen. Ein Angestellter kam auf sie zu, aber Reynolds schickte ihn mit einer kurzen Kopfbewegung weg. Seine Zeit war sakrosankt, und dieser Mitarbeiter - sein Untergebener -- hatte das winzige Fenster für den richtigen Moment verpasst. Manche Leute lagen mit ihrem Timing immer daneben. So erging es auch jenen Mitarbeitern, die starben -- oder hinausgeworfen wurden. Sie konnten mit dem Tempo des Unternehmens einfach nicht mithalten; sie blieben am biblischen Wegrand liegen.
»Ist meine Aktentasche gepackt?«
»Ja.« Rachel öffnete eine der Flügeltüren. Schweigen senkte sich über die Männer und Frauen, die in dem Konferenzraum auf rot gepolsterten Stühlen um einen Tisch aus poliertem Edelstahl saßen. Die Vorstandssitzung des internationalen Konzerns Reynolds Holdings Inc. begann.
Nachdem Rachel ihren Chef an der Tür zum Zentrum der Macht zurückgelassen hatte, kehrte sie an ihren Arbeitsplatz vor dem Büro des Vorstandsvorsitzenden zurück. Sie strich sich den Rock glatt und setzte sich auf ihren Drehstuhl. Auf dem Schreibtisch türmten sich neue Stapel von Papier. Anrufe aus der ganzen Welt waren eingegangen, mehrere Knöpfe des Telefons blinkten. Na ja, wenigstens hatte sie versucht, ihn dazu zu bringen, seine Frau anzurufen. Sie mochte Mrs. Reynolds, sie war ein herzensguter Mensch. Rachel nahm ihre Anrufe - und auch die ihrer Tochter Caroline - an ihren Mann entgegen, wenn er im Büro war, und die beiden bedankten sich immer bei ihr, wenn sie ins Büro kamen, was in letzter Zeit jedoch nicht mehr so häufig vorkam. Es war schade, dass Mr. Reynolds die Anrufe seiner Frau nur ganz selten beantwortete. Vielleicht lag das ja daran, dass er so viel zu tun hatte. Oder stimmten die Gerüchte, wonach eine Scheidung bevorstand? Oder dass er mit Prostituierten schlief? Rachel schob diese lieblosen Gedanken beiseite. Derlei Dinge gingen sie nichts an - zu ihren Aufgaben gehörte schließlich nicht, über das Privatleben des Vorstandschefs zu tratschen.
Zwei Stunden verstrichen. In dieser Zeit erwarb Reynolds Holdings hinter verschlossenen Türen noch ein Unternehmen - diesmal ein australisches.
Reynolds Holdings war nicht aufzuhalten, und der Bauch des Konzerns weitete sich entsprechend seinem gesteigerten Appetit. Und doch war Reynolds nie zufrieden. Aber welcher Chef war das schon? Wer war das nächste Opfer? Ah ja, ein schwedisches Technologieunternehmen mit Sitz in Stockholm. Es stand als Nächstes auf der Liste, eine kleine Firma, die verfolgt und erlegt werden musste - wie ein waidwundes Tier. Die firmeneigenen Wirtschaftsprüfer hatten die Fährte aufgenommen; aber dieses Tier würde niemals ihrem Angriff mit flüchtigen Zahlen entkommen. Danach kamen ein Beratungsunternehmen in Frankreich und ein Mischkonzern in Brasilien (der Raketenlenksysteme herstellte) an die Reihe. Weitere Produktionsstätten, die im Laufe dieses -- oder des kommenden -- Jahres erworben werden mussten. All diese Unternehmen -- und ihre Beschäftigten - waren die schwächeren Tiere, die durch die Savanne zogen. Sie mussten angegriffen, erlegt, einverleibt und in eine neue Unternehmensform gebracht, kurz: reynoldisiert werden.
»Die persönliche Assistentin von Mr. Reynolds am Apparat.«
Welche Unternehmen im Einzelnen zu Reynolds Holdings gehörten, darüber waren sich viele Angestellte im Unklaren, denn das Firmenimperium war in weniger als zwanzig Jahren auf die Zahl von mehr als hunderttausend Beschäftigten angewachsen. Inzwischen erstreckte es sich über die Welt wie ein Gespinst. Das ursprüngliche Unternehmen hatte zunächst lasergelenkte Technologien für Krankenhäuser, Forschungsinstitutionen und Universitäten hergestellt. Dann hatte es Verträge mit dem Militär geschlossen. Bald hatte es seiner Produktpalette die Wartung elektronischer Bezahlsysteme für Banken, Fluggesellschaften und Flughäfen hinzugefügt.
In den vergangenen fünf Jahren hatte man in erstaunlichem Tempo ein Unternehmen nach dem andern aufgekauft. Wann immer Reynolds eine Kaufgelegenheit sah, erwarb er das Unternehmen und integrierte es in seinen Konzern. Er gehörte zu der neuen Art US-amerikanischer Unternehmer.
Natürlich zählte er noch nicht zu den größten in Amerika -sein glattrasiertes Gesicht grinste noch nicht von den Titelseiten von Fortune, mit dem unausgesprochenen Statement: »Beneidet mich, denn ich habe mehr genommen als die meisten.« Sicher, er war Multimillionär - doch er war noch nicht in den goldenen Kreis der Milliardäre eingetreten. Trotzdem: Es war klar, dass er hart daran arbeitete, um dorthin zu gelangen. Und weil er erst zweiundfünfzig war und sich hundertprozentig für die Arbeit engagierte, bestanden gute Aussichten, dass er sein Ziel bald erreicht hätte. Aber hatten mächtige Männer Ziele -- oder drillte ihr Ego sie dazu, immer und immer weiterzumachen?
»Er darf nicht gestört werden ... ich richte ihm aus, dass Sie angerufen haben.«
»Ja, ich sage ihm, dass Sie angerufen haben ... Er weiß, dass es wichtig ist.«
»Nein. Nicht heute.«
»Er wird Sie später am Abend anrufen.«
Das »Ja« und »Nein«, ein unvermeidlicher Teil im Leben jeder Sekretärin. Rachel war die Türhüterin -- sie besaß die Macht, andere in die Höhle dieses besonderen Löwen hineinzulassen. Die Leute fragten sie oft, wie ihr Chef so sei. Worauf sie aufrichtig antwortete -- es gab keinen Grund, der dagegen sprach. Paul Reynolds war weder ein guter noch ein böser Mensch. Er war wie so viele von seinesgleichen: ungeheuer hart arbeitend, getrieben, egozentrisch, hartgesotten - ein geborener Unternehmer. Er war höflich, aber kein emotionaler Mensch und konnte sein Gegenüber mit einem Blick zum Schweigen bringen. Aber das, dachte Rachel, gehört wohl zur Persönlichkeit eines Vorstandsvorsitzenden dazu. Solche Menschen waren eben distanzierter, weniger umgänglich als andere. Welcher Industriekapitän, welcher General konnte sich denn allzu viele Sorgen um seine Truppen machen? Was Reynolds' Auftreten Rachel gegenüber betraf, so war er höfl ich, aber auch fordernd, keiner, der gern einen Plausch hielt. Sie war ersetzbar - so wie alle im Unternehmen. Abgesehen von ihm selbstverständlich.
»Nein. Ein Treffen wird nicht möglich sein. Mr. Reynolds fliegt heute Abend nach Paris. Er kommt erst am Donnerstag zurück.«
Die Anrufe hörten nicht auf. Noch ein roter Knopf blinkte. Rachel, die ihr Headset trug, wusste bereits, wer dran war. »Es tut mir leid, Mrs. Reynolds. Ja, ich habe es ihm ausgerichtet.« Rachel sprach nun sanfter als zuvor. Sie fühlte die Enttäuschung am anderen Ende der Leitung, empfand Mitleid mit Mrs. Reynolds. »Ja, ich werde ihn daran erinnern, dass er Ihre Tochter anrufen und ihr gratulieren soll. Bitte richten Sie Caroline meine Glückwünsche aus.«
Zehn Minuten nach dem Telefonat gingen die Teilnehmer der Vorstandssitzung auseinander. Der Chef erschien, mehrere leitende Manager im Schlepptau - manche gut gelaunt, andere niedergeschlagen. Rachel erhob sich von ihrem Stuhl und reichte Reynolds seine Aktentasche, während er weiter mit seinen Untergebenen sprach. Sekretärin und Chef gingen zum Fahrstuhl. Die Übrigen blieben stehen, kaum dass sie die Kabine betreten hatten, denn sie waren ja nicht aufgefordert worden. Die Tür schloss sich, der Lift glitt nach unten.
»Wer hat angerufen?« Reynolds machte sich gar nicht die Mühe, aufzublicken. Er las in einem Schnellhefter, während er sprach. Während er weiterhin die Finanzinformationen überflog, ratterte Rachel die Namen der wichtigsten Anrufer herunter. Die anderen spielten keine Rolle, sie wurden an die unteren Ränge des Managements weitergereicht. Es schien zwar so, als ignoriere Reynolds sie, doch Rachel wusste, dass er genau zuhörte.
»Die ersten drei rufe ich gleich an. Den übrigen richten Sie aus, dass ich mich später melde.«
Der Fahrstuhl war fast im Erdgeschoss angekommen. Als er hielt, ergriff Rachel die Gelegenheit. »Ihre Frau hat nochmals angerufen; Ihre Tochter hat einen Preis an der London School of Music gewonnen, im Bereich Abteilung Klavier. Sie würde sich sehr über einen Anruf von Ihnen freuen.«
»Ich rufe sie später an.«
Sie stiegen aus. Eine kleine Gruppe drängte sich vor, um in die anderen Fahrstühle zu steigen. Sekretärin und Chef drängelten sich durch das Getümmel, ohne auf die Gesichter zu achten. Sie waren in ihrer eigenen Welt -- dem Trugbild der Macht - gefangen, die Reynolds um sich herum geschaffen hatte. Sie verließen den Wolkenkratzer, schritten die Treppe aus Granit hinunter. Am Bordstein wartete eine Limousine, daneben stand ein Chauffeur. Reynolds stieg ein.
»Gute Reise, Sir.«
Die Tür schloss sich. Rachel sah, wie der Wagen sich in den starken Verkehr New Yorks einfädelte. Dann kehrte sie in ihr Büro zurück und räumte ihren Schreibtisch auf. Gleichzeitig tätigte sie ein Telefonat.
»Er ist weg.«
Noch ein hektischer Tag war vorüber, und Rachel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie drehte der Telefonanlage, deren Knöpfe noch immer blinkten, den Rücken zu und ging zur Damentoilette. Der Raum hatte rosafarbene Kacheln und große Spiegel, die Luft war parfümiert.
Die drei Sekretärinnen darin tauschten gerade den neuesten Klatsch aus. Die Frauen befanden sich in verschiedenen Stadien des Entkleidens. Alle Frauen auf der Chefetage machten sich hier am Feierabend zurecht, um sich der Welt zu stellen - egal ob Ehemänner, Freunde, Freundinnen oder alles drei zusammen auf sie warteten.
Übersetzung: Michael Benthack
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe by
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Worin der Sinn dieser Welt - und der Zweck des Lebens -- besteht, ist doch klar, oder? Reich zu werden, mächtig und berühmt. Vorzugsweise alles drei. Und um reich, mächtig und berühmt zu werden, gibt es offensichtlich eine Methode, mit der sich die anstehende Aufgabe mit Sicherheit meistern lässt: Man kaufe genagelte Stiefel.
Denn jeder Erfolg gründet, notwendigerweise, auf dem Scheitern anderer. Wobei es nicht nur darum geht, den Feind zu vernichten, sondern auch darum, den Freund auszubeuten. Freunde sind auf der materiellen Ebene nichts anderes als ein weiteres Hilfsmittel im Streben nach Selbsterfüllung. Die obigen Aussagen sind natürlich über jeden Zweifel erhaben. Nur ein Narr würde sie in Frage stellen - denn nur ein Narr würde es wagen, die Wahrheit auszusprechen. Aber an Narren mangelt es in der heutigen Welt. Sie sind so selten wie eine Lotusblume in der Arktis.
Doch bei der Suche nach den einzigen Dingen, die das Leben lebenswert machen, wirkt ein merkwürdiges, fast unsichtbares System dynamischer Prozesse. Die Reichen suchen die Gesellschaft von ihresgleichen. Verzehrt vom Verlangen, um jeden Preis Geld zu verdienen, jagen und essen sie gemeinsam. Die Mächtigen tun das Gleiche. Auf der ganzen Welt bringen sie, gezwungen vom Drang, ihre Mitmenschen zu dominieren, ihren politischen Einfl uss und ihre Verbindungen zusammen, damit sie andere ohne Skrupel manipulieren können. Kurzum: Die Reichen und Mächtigen jagen in Meuten. Das gilt auch für die Berühmten. Diese stellen ihre Fähigkeiten, ihren Körper, ja selbst ihre Laster zur Schau - und umgeben sich mit einer Schar von Bewunderern und Schmeichlern, die jeden Preis zahlen, um den Berühmten dabei zuzuschauen, wie sie das tun, was sie am besten können - ob das nun Singen, Tanzen oder das Fremdgehen ist. Und in der Tat: Diese Primadonnen dieser Welt beherrschen souverän die schwierigste aller Situationen - das Sterben. Selbst im Tode sind sie wie versessen auf Berühmtheit, auf die Objektive der Fotoapparate. Sie verstehen es meisterhaft, Gefühle in Vergötterung ... und Bares umzumünzen.
So viel zu den Siegern.
Würde ein Besucher von einem fremden Planeten dieses Bild erblicken, so würde er eine riesige Herde sehen, die über die große Savanne galoppiert, aus der die Welt besteht. Die Beute -- die menschliche Entsprechung zu den Zebras, Springböcken und Antilopen und deren Nachkommen - wird von den gefährlicheren Tieren der Savanne, beispielsweise Löwen, Hyänen und Geparden, angegriffen und erlegt. Und wenn die Übriggebliebenen der Herde dann dieser blutigen Szene ringsum gewahr werden, noch während sie um ihr Leben laufen, erkennen sie ihre unausweichliche Verwundbarkeit. Um dem traurigen Schicksal der Opfer zu entgehen, versuchen sie dann ihre Identität zu ändern, ihren Unterdrückern immer ähnlicher zu werden.
Kurzum: Menschen passen sich an, je nachdem, wie sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wahrnehmen, mit dem Ziel, sich der drohenden Ausbeutung zu entziehen. Dadurch werden sie oftmals selbst zu Ausbeutern. Die Beute wird zum Raubtier.
Doch was geschieht, wenn es immer mehr wilde Tiere auf der Welt gibt? Wie es aussieht, werden die Verhältnisse nie wieder so sein können, wie sie einmal waren: Das Gleichgewicht der Natur wird sich nicht wieder durchsetzen können, und am Ende werden diese Zerstörer der Harmonie alles auslöschen. Die Lebensbedingungen auf der Savanne verändern sich. Die weiten Ebenen werden immer öder,
und im Rennen um das Leben -- im Rennen des Lebens -wird die Herde von einer unsichtbaren Macht zusammen-
getrieben, damit sie ein Labyrinth betritt. Dann drängen sich die Menschen in immer wilderer Verzweifl ung aneinander. Hierbei kommt es entscheidend auf Geschwindigkeit und das sichere Wissen um den Fluchtweg an. Selbst dem mächtigsten Löwen kann der schnellste Wasserbüffel davonlaufen. Auf dieser wilden Flucht regiert das Chaos, wobei es keinen Ausweg zu geben scheint.
Kurzum: Die Lebensbedingungen auf der Welt neigen aufgrund der menschlichen Gier und des Verlangens, anderen voraus zu sein, stets zur Unordnung.
Doch selbst hier setzt die Natur -- die verborgene Dynamik, die dem Funktionieren der Welt zugrunde liegt - eine Waffe ein, um der Menschheit das Überleben zu ermöglichen. Im Kampf, bei dem der König des Dschungels bestimmt wird, betritt eine weitere Kreatur die Bühne. Die Schlange.
Und die Schlange ist Weisheit.
Das Unerwartete
1
Doch der Mensch, der stolze Mensch,
in kleine, kurze Majestät gekleidet.
William Shakespeare
Mächtige Menschen sind selbstzufriedene Menschen; sie sind allerdings auch ewig unzufrieden mit dem, was sie haben. Wäre es anders, so wären sie mit ihrem Schicksal zufrieden. Dann könnten sie möglicherweise damit beginnen, anderen zu helfen - anstatt immer nur für sich selbst zu sorgen. Aber das ist wohl zu viel verlangt; das gehört zu einer anderen Welt.
»Rachel!«
»Ja, Mr. Reynolds?«
Die Dreißigjährige eilte in das Büro, wenn auch etwas wackelig, weil ihre hochhackigen Schuhe an den Fersen schmerzhaft drückten. Sie hatte die schwarzen Stilettos am Wochenende in einem exklusiven New Yorker Kaufhaus gekauft und gehofft, die Schuhe rechtzeitig einlaufen zu können. Dummerweise hatte sie jedoch am frühen Morgen die High Heels zwischen den anderen Schuhen in ihrem Kleiderschrank hervorgeholt, wofür sie nun büßte. Nach einem langen Arbeitstag schnitten ihr nun die Schuhe ins rohe Fleisch.
»Die Briefing-Unterlagen?«
»Hier.«
»Die Geschäftszahlen der schwedischen Firma?«
»Hier.«
Rachel strich sich die langen blonden Haare zurück und hielt ihrem »Herrn und Meister« die Dokumente hin. Sie war eine intelligente Frau und wusste sich zu kleiden. Hübsch, ohne schön zu sein, besaß sie Eigenschaften, die den Männern gefi elen und die es ihr ermöglichten, mit ihnen auszukommen, ohne übermäßig bestimmt aufzutreten. Ein gewinnendes Lächeln, hübsche Beine und Brüste, die die Blicke verführten, ohne groß zu sein. All das und ein gutes Gedächtnis. Die wesentlichen Waffen einer Frau, die in jungen Jahren zur persönlichen Assistentin eines mächtigen Mannes aufgestiegen war. Und sie besaß noch eine Eigenschaft - jedoch eine verborgene. Insgeheim war sie ehrgeizig; sie hatte Träume, wollte sich selbst verwirklichen.
»Und ...«
»Hier.«
Sie legte weitere Unterlagen in Reynolds' ausgestreckte Hand; er sah nicht hin, denn er hatte schon wieder ein Telefonat begonnen. Er ließ die Dokumente auf den Schreibtisch fallen, während er einem nervösen Mitarbeiter in Europa weitere Anweisungen gab.
»Ich komme morgen um 8.50 Uhr in Paris an, Flughafen Charles de Gaulle. Lassen Sie mich von einem Wagen abholen. Und die Besprechung in London - wer nimmt daran teil?«
Reynolds' Stimme klang herablassend und entschlossen. Er hatte Rachel den Rücken zugekehrt, aber weil er sie noch nicht aufgefordert hatte zu gehen, wartete sie dicht neben ihm. Als sie ein zaghaftes Hüsteln vernahm, wandte sie sich halb um -- und sah ein Mitglied des Vorstands im Türrahmen stehen.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie lautlos. Reynolds konnte den Mann nicht sehen.
»Informationen über diese französische Firma. Und besorgen Sie mir ...«, die Anweisungen nahmen kein Ende.
Paul Reynolds war hoch gewachsen, über eins neunzig groß. Anfang fünfzig. Er hatte keinen Bauch - das Ergebnis seines täglichen Fitnesstrainings. An diesem Nachmittag trug er eine schwarze Hose, ein hellblaues gestreiftes Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, keine Krawatte. Dazu eine Armbanduhr aus Platin. Die Gesichtszüge waren attraktiv, wenn auch nicht fotogen. Kantiges Kinn, schmaler Mund, dunkelblaue Augen und gerade Nase, insgesamt ein guter Kopf mit ersten grauen Strähnen im Haar. So viel zu den körperlichen Attributen (seine Frau würde noch ein anderes erwähnen). Sein Ansehen in der Welt war noch beeindruckender. Er war Multimillionär, ein Mann, der seine Umgebung dominierte, und verkörperte den amerikanischen Traum: ein Selfmade-Man, der sein Vermögen selbst verdient hatte. Worum ihn viele beneideten.
»In London will ich mich mit ...«
Rachel wandte den Blick vom Chef von Reynolds Holdings ab. Sie befanden sich im sechsten Stock eines Wolkenkratzers. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie das Meer aus Neonlichtern, die an den anderen Gebäuden flackerten. Es dämmerte, bald würde es Nacht werden in New York. Doch niemand schien es zu bemerken; nicht einmal, dass es ein lauer Abend im September war. In ihren Häusern aus Stahl und Beton arbeiteten die Menschen auch weiterhin fieberhaft -- gruben nach Geld. In dem Unternehmen, in dem Rachel angestellt war, war das nicht anders. Zweitausend Beschäftigte, manipuliert, drangsaliert und angetrieben von ihren Vorgesetzten. Vom dunklen Morgen bis zum dunklen Abend schufteten diese menschlichen Ameisen, um ihr Firmennest wie auch die eigenen Bankkonten zu vergrößern. Sinnvoll oder sinnlos? Die Tätigkeit von Menschen oder menschlichen Ameisen? Spielte das eine Rolle?
»Ich will ... ich will ... ich will.«
»Mr. Reynolds«, Rachel hob leicht die Stimme, »die Vorstandssitzung.«
Ohne sich zu ihr umzudrehen, sprach er schneller, während er letzte Anweisungen gab. Anweisungen, von denen die Welt notwendigerweise abhing, was bei mächtigen Menschen ja immer der Fall ist. Wussten die andern das eigentlich nicht?
»Das wär's dann«, beendete er das Telefonat und nahm mehrere Dokumente zur Hand. »Gehen wir.«
Unmittelbar bevor sie durch die Tür traten, ging Rachel langsamer und stellte sich ihm leicht in den Weg, so dass er seine Schritte verlangsamen musste.
»Ihre Frau hat dreimal angerufen; sie ist in London, mit Ihrer Tochter. Sie möchte unbedingt mit Ihnen sprechen, glaube ich.«
Vorübergehend von der anstehenden Aufgabe abgelenkt, nahm Reynolds seine persönliche Assistentin wahr. Heute trug sie eine weiße Bluse, einen schwarzen Rock und schwarze High Heels. Sie arbeitete seit zwei Jahren für ihn, und sie gefi el ihm. Er konnte sich zwar nicht genau daran erinnern, wie alt sie war, aber sie war wohl Ende zwanzig. Sie war schlank und besaß eine gute Figur. Ihr Mund war ein wenig zu breit (auch wenn sie gute Zähne und ein freundliches Lächeln hatte), und er begehrte alles Perfekte. Aber sie hatte auch eine Gabe: Sie war extrem effi zient in ihrer Arbeit und
wusste fast instinktiv, was er wollte. Und das war wichtig.
Denn das, was er begehrte, bestimmte den Wert der Dinge - so wie er es sah.
»Ich rede mit ihr nach der Vorstandssitzung.«
Sie verließen Reynolds' Büro und gingen den Flur entlang. An den Wänden hingen Werbeplakate, die die Erfolge des Unternehmens priesen. Schließlich blieben sie vor einer Mahagonitür stehen. Ein Angestellter kam auf sie zu, aber Reynolds schickte ihn mit einer kurzen Kopfbewegung weg. Seine Zeit war sakrosankt, und dieser Mitarbeiter - sein Untergebener -- hatte das winzige Fenster für den richtigen Moment verpasst. Manche Leute lagen mit ihrem Timing immer daneben. So erging es auch jenen Mitarbeitern, die starben -- oder hinausgeworfen wurden. Sie konnten mit dem Tempo des Unternehmens einfach nicht mithalten; sie blieben am biblischen Wegrand liegen.
»Ist meine Aktentasche gepackt?«
»Ja.« Rachel öffnete eine der Flügeltüren. Schweigen senkte sich über die Männer und Frauen, die in dem Konferenzraum auf rot gepolsterten Stühlen um einen Tisch aus poliertem Edelstahl saßen. Die Vorstandssitzung des internationalen Konzerns Reynolds Holdings Inc. begann.
Nachdem Rachel ihren Chef an der Tür zum Zentrum der Macht zurückgelassen hatte, kehrte sie an ihren Arbeitsplatz vor dem Büro des Vorstandsvorsitzenden zurück. Sie strich sich den Rock glatt und setzte sich auf ihren Drehstuhl. Auf dem Schreibtisch türmten sich neue Stapel von Papier. Anrufe aus der ganzen Welt waren eingegangen, mehrere Knöpfe des Telefons blinkten. Na ja, wenigstens hatte sie versucht, ihn dazu zu bringen, seine Frau anzurufen. Sie mochte Mrs. Reynolds, sie war ein herzensguter Mensch. Rachel nahm ihre Anrufe - und auch die ihrer Tochter Caroline - an ihren Mann entgegen, wenn er im Büro war, und die beiden bedankten sich immer bei ihr, wenn sie ins Büro kamen, was in letzter Zeit jedoch nicht mehr so häufig vorkam. Es war schade, dass Mr. Reynolds die Anrufe seiner Frau nur ganz selten beantwortete. Vielleicht lag das ja daran, dass er so viel zu tun hatte. Oder stimmten die Gerüchte, wonach eine Scheidung bevorstand? Oder dass er mit Prostituierten schlief? Rachel schob diese lieblosen Gedanken beiseite. Derlei Dinge gingen sie nichts an - zu ihren Aufgaben gehörte schließlich nicht, über das Privatleben des Vorstandschefs zu tratschen.
Zwei Stunden verstrichen. In dieser Zeit erwarb Reynolds Holdings hinter verschlossenen Türen noch ein Unternehmen - diesmal ein australisches.
Reynolds Holdings war nicht aufzuhalten, und der Bauch des Konzerns weitete sich entsprechend seinem gesteigerten Appetit. Und doch war Reynolds nie zufrieden. Aber welcher Chef war das schon? Wer war das nächste Opfer? Ah ja, ein schwedisches Technologieunternehmen mit Sitz in Stockholm. Es stand als Nächstes auf der Liste, eine kleine Firma, die verfolgt und erlegt werden musste - wie ein waidwundes Tier. Die firmeneigenen Wirtschaftsprüfer hatten die Fährte aufgenommen; aber dieses Tier würde niemals ihrem Angriff mit flüchtigen Zahlen entkommen. Danach kamen ein Beratungsunternehmen in Frankreich und ein Mischkonzern in Brasilien (der Raketenlenksysteme herstellte) an die Reihe. Weitere Produktionsstätten, die im Laufe dieses -- oder des kommenden -- Jahres erworben werden mussten. All diese Unternehmen -- und ihre Beschäftigten - waren die schwächeren Tiere, die durch die Savanne zogen. Sie mussten angegriffen, erlegt, einverleibt und in eine neue Unternehmensform gebracht, kurz: reynoldisiert werden.
»Die persönliche Assistentin von Mr. Reynolds am Apparat.«
Welche Unternehmen im Einzelnen zu Reynolds Holdings gehörten, darüber waren sich viele Angestellte im Unklaren, denn das Firmenimperium war in weniger als zwanzig Jahren auf die Zahl von mehr als hunderttausend Beschäftigten angewachsen. Inzwischen erstreckte es sich über die Welt wie ein Gespinst. Das ursprüngliche Unternehmen hatte zunächst lasergelenkte Technologien für Krankenhäuser, Forschungsinstitutionen und Universitäten hergestellt. Dann hatte es Verträge mit dem Militär geschlossen. Bald hatte es seiner Produktpalette die Wartung elektronischer Bezahlsysteme für Banken, Fluggesellschaften und Flughäfen hinzugefügt.
In den vergangenen fünf Jahren hatte man in erstaunlichem Tempo ein Unternehmen nach dem andern aufgekauft. Wann immer Reynolds eine Kaufgelegenheit sah, erwarb er das Unternehmen und integrierte es in seinen Konzern. Er gehörte zu der neuen Art US-amerikanischer Unternehmer.
Natürlich zählte er noch nicht zu den größten in Amerika -sein glattrasiertes Gesicht grinste noch nicht von den Titelseiten von Fortune, mit dem unausgesprochenen Statement: »Beneidet mich, denn ich habe mehr genommen als die meisten.« Sicher, er war Multimillionär - doch er war noch nicht in den goldenen Kreis der Milliardäre eingetreten. Trotzdem: Es war klar, dass er hart daran arbeitete, um dorthin zu gelangen. Und weil er erst zweiundfünfzig war und sich hundertprozentig für die Arbeit engagierte, bestanden gute Aussichten, dass er sein Ziel bald erreicht hätte. Aber hatten mächtige Männer Ziele -- oder drillte ihr Ego sie dazu, immer und immer weiterzumachen?
»Er darf nicht gestört werden ... ich richte ihm aus, dass Sie angerufen haben.«
»Ja, ich sage ihm, dass Sie angerufen haben ... Er weiß, dass es wichtig ist.«
»Nein. Nicht heute.«
»Er wird Sie später am Abend anrufen.«
Das »Ja« und »Nein«, ein unvermeidlicher Teil im Leben jeder Sekretärin. Rachel war die Türhüterin -- sie besaß die Macht, andere in die Höhle dieses besonderen Löwen hineinzulassen. Die Leute fragten sie oft, wie ihr Chef so sei. Worauf sie aufrichtig antwortete -- es gab keinen Grund, der dagegen sprach. Paul Reynolds war weder ein guter noch ein böser Mensch. Er war wie so viele von seinesgleichen: ungeheuer hart arbeitend, getrieben, egozentrisch, hartgesotten - ein geborener Unternehmer. Er war höflich, aber kein emotionaler Mensch und konnte sein Gegenüber mit einem Blick zum Schweigen bringen. Aber das, dachte Rachel, gehört wohl zur Persönlichkeit eines Vorstandsvorsitzenden dazu. Solche Menschen waren eben distanzierter, weniger umgänglich als andere. Welcher Industriekapitän, welcher General konnte sich denn allzu viele Sorgen um seine Truppen machen? Was Reynolds' Auftreten Rachel gegenüber betraf, so war er höfl ich, aber auch fordernd, keiner, der gern einen Plausch hielt. Sie war ersetzbar - so wie alle im Unternehmen. Abgesehen von ihm selbstverständlich.
»Nein. Ein Treffen wird nicht möglich sein. Mr. Reynolds fliegt heute Abend nach Paris. Er kommt erst am Donnerstag zurück.«
Die Anrufe hörten nicht auf. Noch ein roter Knopf blinkte. Rachel, die ihr Headset trug, wusste bereits, wer dran war. »Es tut mir leid, Mrs. Reynolds. Ja, ich habe es ihm ausgerichtet.« Rachel sprach nun sanfter als zuvor. Sie fühlte die Enttäuschung am anderen Ende der Leitung, empfand Mitleid mit Mrs. Reynolds. »Ja, ich werde ihn daran erinnern, dass er Ihre Tochter anrufen und ihr gratulieren soll. Bitte richten Sie Caroline meine Glückwünsche aus.«
Zehn Minuten nach dem Telefonat gingen die Teilnehmer der Vorstandssitzung auseinander. Der Chef erschien, mehrere leitende Manager im Schlepptau - manche gut gelaunt, andere niedergeschlagen. Rachel erhob sich von ihrem Stuhl und reichte Reynolds seine Aktentasche, während er weiter mit seinen Untergebenen sprach. Sekretärin und Chef gingen zum Fahrstuhl. Die Übrigen blieben stehen, kaum dass sie die Kabine betreten hatten, denn sie waren ja nicht aufgefordert worden. Die Tür schloss sich, der Lift glitt nach unten.
»Wer hat angerufen?« Reynolds machte sich gar nicht die Mühe, aufzublicken. Er las in einem Schnellhefter, während er sprach. Während er weiterhin die Finanzinformationen überflog, ratterte Rachel die Namen der wichtigsten Anrufer herunter. Die anderen spielten keine Rolle, sie wurden an die unteren Ränge des Managements weitergereicht. Es schien zwar so, als ignoriere Reynolds sie, doch Rachel wusste, dass er genau zuhörte.
»Die ersten drei rufe ich gleich an. Den übrigen richten Sie aus, dass ich mich später melde.«
Der Fahrstuhl war fast im Erdgeschoss angekommen. Als er hielt, ergriff Rachel die Gelegenheit. »Ihre Frau hat nochmals angerufen; Ihre Tochter hat einen Preis an der London School of Music gewonnen, im Bereich Abteilung Klavier. Sie würde sich sehr über einen Anruf von Ihnen freuen.«
»Ich rufe sie später an.«
Sie stiegen aus. Eine kleine Gruppe drängte sich vor, um in die anderen Fahrstühle zu steigen. Sekretärin und Chef drängelten sich durch das Getümmel, ohne auf die Gesichter zu achten. Sie waren in ihrer eigenen Welt -- dem Trugbild der Macht - gefangen, die Reynolds um sich herum geschaffen hatte. Sie verließen den Wolkenkratzer, schritten die Treppe aus Granit hinunter. Am Bordstein wartete eine Limousine, daneben stand ein Chauffeur. Reynolds stieg ein.
»Gute Reise, Sir.«
Die Tür schloss sich. Rachel sah, wie der Wagen sich in den starken Verkehr New Yorks einfädelte. Dann kehrte sie in ihr Büro zurück und räumte ihren Schreibtisch auf. Gleichzeitig tätigte sie ein Telefonat.
»Er ist weg.«
Noch ein hektischer Tag war vorüber, und Rachel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie drehte der Telefonanlage, deren Knöpfe noch immer blinkten, den Rücken zu und ging zur Damentoilette. Der Raum hatte rosafarbene Kacheln und große Spiegel, die Luft war parfümiert.
Die drei Sekretärinnen darin tauschten gerade den neuesten Klatsch aus. Die Frauen befanden sich in verschiedenen Stadien des Entkleidens. Alle Frauen auf der Chefetage machten sich hier am Feierabend zurecht, um sich der Welt zu stellen - egal ob Ehemänner, Freunde, Freundinnen oder alles drei zusammen auf sie warteten.
Übersetzung: Michael Benthack
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe by
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Autoren-Porträt von Scott McBain
Scott McBain ist Rechtsanwalt mit dem Spezialgebiet Seerecht und lebt abwechselnd in London und Panama. Das Erfolgsrezept seiner Thriller ist die gelungene Mischung aus Abenteuer, Spannung und dem Kampf des Guten und Gerechten gegen das Böse. Seine Romane "Der Judasfluch", "Das Judasgift" und "Der Mastercode" standen monatelang auf den Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Scott McBain
- 2010, 619 Seiten, Masse: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Benthack
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426505665
- ISBN-13: 9783426505663
- Erscheinungsdatum: 09.09.2010
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