Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
Roman
Zwei Sekunden können das ganze Leben verändern!
Der große neue Roman der preisgekrönten Autorin des Bestsellers "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry".
Niemand hat das Mädchen mit dem roten...
Der große neue Roman der preisgekrönten Autorin des Bestsellers "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry".
Niemand hat das Mädchen mit dem roten...
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Produktinformationen zu „Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte “
Zwei Sekunden können das ganze Leben verändern!
Der große neue Roman der preisgekrönten Autorin des Bestsellers "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry".
Niemand hat das Mädchen mit dem roten Fahrrad gesehen. Nur der elfjährige Byron, der mit seiner Mutter im Wagen sitzt, als der Unfall im dichten Nebel geschieht. Byron weiß sofort: Er darf keinem etwas davon erzählen. Doch in nur zwei Sekunden ist die ganze Welt aus den Fugen geraten - und es wird mehr als ein halbes Leben dauern, bis sie wieder in den Takt kommt. Mit ihrer zarten, glasklaren Sprache zieht uns Rachel Joyce ins Herz der Zeit und erzählt von einem ewigen Sommer, vierzig kurzen Jahren und zwei lebenslangen Sekunden. Ein berührender Roman über Zeit und Wahrheit, Zerbrechlichkeit und Hoffnung, Freundschaft und Liebe.
Der große neue Roman der preisgekrönten Autorin des Bestsellers "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry".
Niemand hat das Mädchen mit dem roten Fahrrad gesehen. Nur der elfjährige Byron, der mit seiner Mutter im Wagen sitzt, als der Unfall im dichten Nebel geschieht. Byron weiß sofort: Er darf keinem etwas davon erzählen. Doch in nur zwei Sekunden ist die ganze Welt aus den Fugen geraten - und es wird mehr als ein halbes Leben dauern, bis sie wieder in den Takt kommt. Mit ihrer zarten, glasklaren Sprache zieht uns Rachel Joyce ins Herz der Zeit und erzählt von einem ewigen Sommer, vierzig kurzen Jahren und zwei lebenslangen Sekunden. Ein berührender Roman über Zeit und Wahrheit, Zerbrechlichkeit und Hoffnung, Freundschaft und Liebe.
Klappentext zu „Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte “
ZWEI SEKUNDEN KÖNNEN DAS GANZE LEBEN VERÄNDERNDer grosse neue Roman der preisgekrönten Autorin des Bestsellers 'Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry'.
Niemand hat das Mädchen mit dem roten Fahrrad gesehen. Nur der elfjährige Byron, der mit seiner Mutter im Wagen sitzt, als der Unfall im dichten Nebel geschieht. Byron weiss sofort: Er darf keinem etwas davon erzählen. Doch in nur zwei Sekunden ist die ganze Welt aus den Fugen geraten - und es wird mehr als ein halbes Leben dauern, bis sie wieder in den Takt kommt.
Mit ihrer zarten, glasklaren Sprache zieht uns Rachel Joyce ins Herz der Zeit und erzählt von einem ewigen Sommer, vierzig kurzen Jahren und zwei lebenslangen Sekunden. Ein berührender Roman über Zeit und Wahrheit, Zerbrechlichkeit und Hoffnung, Freundschaft und Liebe.
"Sie werden dieses wilde, suchende Buch am Ende jedem empfehlen, den Sie kennen." The Times
"Ein beinah vollkommener Roman emotionaler Wahrheit." Evening Standard
"Die Kraft von Joyce' Prosa liegt in ihren subtilen, hellwachen Beobachtungen. Der Roman hat eine starke und hypnotische Wirkung - zart und fesselnd zugleich." Sunday Times
"Bezaubernd, traurig, witzig und erbaulich - der perfekte Nachfolger von 'Harold Fry'." Heat Review
Lese-Probe zu „Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte “
Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte von Rachel JoyceProlog Die hinzugefügte Zeit
... mehr
1972 wurden der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt. Großbritannien beschloss den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und die New Seekers traten mit Beg, Steal or Borrow beim Grand Prix Eurovision de la Chanson an. Die Zusatzsekunden wurden notwendig, weil das Jahr ein Schaltjahr war und die Zeit nicht mehr im Takt mit der Erdbewegung. Den Grand Prix gewannen die New Seekers nicht, was aber nichts mit der Erdbewegung zu tun hatte und erst recht nichts mit den zwei Sekunden.
Dass Zeit einfach so hinzuaddiert wurde, versetzte Byron Hemmings in Angst und Schrecken. Mit seinen elf Jahren hatte er eine blühende Phantasie. Er lag wach, malte sich das Ereignis aus, und sein Herz flatterte wild wie ein Vogel. Er belauerte die Uhren, ob er sie vielleicht dabei ertappte. »Wann machen die das?«, fragte er seine Mutter.
Sie stand an der neuen Frühstückstheke und schnitt Apfelviertel klein. Die Morgensonne schien durch die Glastüren und warf so klare Lichtquadrate auf den Boden, dass Byron sich hineinstellen konnte.
»Wahrscheinlich, wenn wir schlafen«, sagte sie.
»Wenn wir schlafen?« Es stand schlimmer, als er gedacht hatte.
»Oder vielleicht, wenn wir wach sind.«
Da bekam er den Eindruck, dass sie im Grunde keine Ahnung hatte. »Zwei Sekunden sind doch gar nichts«, sagte sie lächelnd. »Bitte trink dein Sunquick aus.« Ihre Augen waren fröhlich, ihr Rock gebügelt, ihr Haar in Form geföhnt.
Byron hatte von den Extrasekunden durch seinen Freund erfahren, James Lowe. James war der klügste Junge, den Byron kannte, er las jeden Tag die Times. Das Einschleusen zweier Sekunden sei extrem aufregend, meinte James. Erst war der Mensch zum Mond geflogen. Jetzt griff er in die Zeit ein. Aber wie konnten zwei Sekunden plötzlich existieren, wo sie vorher nicht existiert hatten? Da fügte man doch etwas hinzu, was es gar nicht gab. Das war doch nicht geheuer. Wenn Byron darauf hinwies, lächelte James nur - das sei eben der Fortschritt.
Byron schrieb vier Briefe, einen an den Abgeordneten ihres Wahlkreises, einen an die NASA, einen weiteren an die Herausgeber des Guinness Buch der Rekorde und einen letzten an Mr Roy Castle, der auf BBC eine Kindersendung moderierte. Byron gab die Briefe seiner Mutter, damit sie sie zur Post brachte, und schärfte ihr ein, wie wichtig sie seien.
Er bekam ein Foto von Roy Castle mit Autogramm zugeschickt und eine durchgehend illustrierte Broschüre über die Mondlandung der Apollo 15, aber auf die zwei Sekunden ging niemand ein.
Innerhalb von Monaten hatte sich alles verändert. Früher hatte Byrons Mutter alle Uhren im Haus mit peinlicher Sorgfalt aufgezogen, jetzt ging jede anders. Die Kinder schliefen, wann sie müde waren, und aßen, wann sie hungrig waren; so konnten ganze Tage vergehen, einer gesichtslos wie der andere. Wenn also in ein Jahr, in dem sich eine Katastrophe ereignet hatte, zwei Sekunden eingefügt worden waren, während das Herausnehmen zweier Sekunden diese Katastrophe womöglich verhindert hätte - war die Entscheidung für den Zeiteinschub dann nicht grundfalsch? War sie nicht ein noch schlimmeres Vergehen?
»Es war nicht deine Schuld«, wiederholte Byron immer wieder. Im Spätsommer war seine Mutter oft am Teich zu finden, unten in der Wiese. Das Frühstück wurde jetzt von Byron gemacht, vielleicht ein Schmelzkäsedreieck aus der Folie, zwischen zwei Brotscheiben gequetscht. Seine Mutter saß auf einem Stuhl, klirrte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas und rupfte von Grasrispen die Samen ab. In der Ferne leuchtete die Heide unter einem Lichtschleier, zartgelb wie Zitronensorbet; die Wiese war mit Blumen durchwebt. »Hast du gehört?«, wiederholte er dann, weil sie gern vergaß, dass sie nicht allein war. »Es war nur, weil sie Zeit dazugefügt haben. Es war ein Unfall.«
Dann hob sie das Kinn und lächelte. »Du bist ein lieber Junge. Danke.«
Und das alles, die ganze Geschichte, nur wegen eines kleinen Stolperers in der Zeit. Die Schockwellen waren Jahre um Jahre zu spüren. Von den beiden Jungen, James und Byron, konnte nur einer den Kurs halten. Manchmal schaute Byron in den Himmel über der Heide, in dem solche Unmengen Sterne schillerten, dass die Dunkelheit lebendig schien, und dann bekam er eine solche Sehnsucht, dass es wehtat. Er sehnte sich danach, diese zwei Extrasekunden auszulöschen. Sehnte die Unantastbarkeit der Zeit zurück - sie sollte wieder sein, wie es sich gehörte.
Wenn James es ihm nur nie erzählt hätte.
Erster Teil
Drinnen
1
Etwas Schlimmes
James Lowe und Byron Hemmings besuchten die Winston House School, weil sie eine Privatschule war. Es gab noch eine andere Grundschule, die näher lag, aber die war nicht privat, sondern für alle. Die Kinder, die dort hingingen, kamen aus den Sozialwohnungen an der Digby Road. Sie schnippten vom Oberdeck des Busses Orangenschalen und Zigarettenstummel auf die Mützen der Winston-House-Jungen herunter. Die fuhren nicht mit dem Bus zur Schule. Sie wurden von ihren Müttern im Auto hingebracht, weil sie es so weit hatten.
Die Zukunft war für die Winston-House-Jungen bereits abgesteckt - eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Im nächsten Jahr würden sie die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule machen. Die Besten würden ein Stipendium bekommen und mit dreizehn ins Internat wechseln. Sie würden sich den richtigen Akzent aneignen, die richtigen Dinge lernen und die richtigen Kontakte knüpfen. Danach käme Oxford oder Cambridge. James' Eltern dachten an das St. Peter's College in Oxford, Byrons Eltern an Oriel, ebenfalls in Oxford. Im Anschluss würden die Jungen wie ihre Väter Karriere machen, als Juristen, als Banker, in der Kirche oder beim Militär. Eines Tages würden sie eine Stadtwohnung in London und ein großes Haus auf dem Land besitzen, wo sie die Wochenenden mit ihren Frauen und Kindern verbringen würden.
Es war Anfang Juni 1972. Ein Streifen Morgensonne rutschte unter Byrons blauen Vorhängen durch und beleuchtete seine säuberlich geordneten Besitztümer: seine Look and Learn-Jahrbücher, sein Briefmarkenalbum, seine Taschenlampe, seinen neuen Abrakadabra-Zauberkasten und den Chemiebaukasten mit eigenem Vergrößerungsglas, den er zu Weihnachten bekommen hatte. Seine Schuluniform, von seiner Mutter am Abend zuvor gewaschen und gebügelt, lag über dem Stuhl wie ein flachgepresster Junge. Byron kontrollierte sowohl seine Armbanduhr als auch seinen Wecker. Die Sekundenzeiger rückten gleichmäßig voran. Er überquerte leise den Gang, schob vorsichtig die Tür zum Zimmer seiner Mutter auf und nahm seinen Platz auf der Bettkante ein.
Sie lag ganz ruhig da. Die Goldrüsche ihres Haars war über das Kopfkissen gebreitet, ihr Gesicht bebte bei jedem Atemzug, als wäre sie aus Wasser. Durch die Haut schimmerten violett die Adern. Byron hatte weiche, pummelige Hände wie Pfirsichfleisch, bei James dagegen zeichneten sich schon die Adern ab, feine, erhabene Linien, die von den Fingerknöcheln aufwärts liefen und eines Tages wie bei einem Mann hervortreten würden.
Um halb sieben setzte der Wecker der Stille ein Ende, und seine Mutter schlug sofort die Augen auf, ein blauer Glanz.
»Hallo, Schatz.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Byron.
»Doch nicht schon wieder wegen der Zeit?« Sie griff nach ihrem Glas und ihrer Tablette und trank einen Schluck Wasser.
»Und wenn sie heute die Extrasekunden dazutun?«
»Macht James sich auch solche Sorgen?«
»Er hat es anscheinend vergessen.«
Sie wischte sich über den Mund, er sah sie lächeln. Zwei Grübchen bohrten winzige Löcher in ihre Wangen. »Wir haben das alles doch schon besprochen. Zig Mal. Wenn sie die Sekunden zufügen, wird es vorher in der Times angekündigt. Und im Fernsehen kommt auch was darüber, in Nationwide.«
»Das macht mir Kopfschmerzen«, sagte er.
»Wenn es geschieht, wirst du nichts davon mitkriegen. Zwei Sekunden sind doch gar nichts.«
Byron spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Er wollte schon aufstehen, setzte sich dann aber wieder. »Zwei Sekunden machen einen gewaltigen Unterschied aus, das ist anscheinend niemandem klar. In zwei Sekunden kann viel passieren, was sonst nicht passiert wäre. Ein einziger Schritt zu weit, und man stürzt eine Klippe hinunter. Das ist sehr gefährlich. « Seine Worte sprudelten hervor wie ein Sturzbach.
Sie kniff das Gesicht zusammen, wie sie es sonst beim Kopfrechnen immer machte, und sah ihn an. »Wir müssen jetzt wirklich aufstehen.«
Sie zog die Vorhänge im Erkerfenster auf und starrte hinaus. Sommernebel floss von Cranham Moor herein, so dick, dass er die Hügel hinter dem Garten wegzuspülen drohte. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Vierundzwanzig Minuten vor sieben«, sagte sie, als informiere sie die Uhr über die korrekte Zeit. Sie nahm ihren rosa Morgenmantel vom Haken und ging Lucy wecken.
Wenn Byron sich ein Bild machen wollte, wie es im Kopf seiner Mutter aussah, stellte er sich eine Reihe intarsienverzierter Miniaturschubladen vor, mit so winzigen Griffen aus Edelsteinen, dass er Mühe hätte, sie mit seinen Fingern aufzuziehen. Die anderen Mütter waren ganz anders als sie. Sie trugen Häkelpullunder und Lagenröcke, manche sogar die neuen Schuhe mit Keilabsätzen. Byrons Vater sah seine Frau lieber förmlicher gekleidet. Neben Diana mit ihren schmalen Bleistiftröcken und Pfennigabsätzen, der farblich passenden Handtasche und ihrem Notizbuch wirkten andere Frauen überproportioniert, ihre Kleidung unter Niveau. Andrea Lowe, die Mutter von James, ragte neben ihr auf wie eine dunkelhaarige Riesin. Dianas Notizbuch enthielt Artikel, die sie aus Frauenzeitschriften wie Good Housekeeping und Family Circle ausgeschnitten hatte. Sie notierte Geburtstage, die sie nicht vergessen durfte, wichtige Schultermine, aber auch Rezepte, Handarbeitsanleitungen, Gartenideen, Frisiertipps und Worte, die neu für sie waren. Die Kladde quoll über von Verbesserungsvorschlägen: »22 neue Frisuren, damit Sie diesen Sommer noch hübscher sind.« - »Geschenke aus Seidenpapier für jeden Anlass.« - »Kochen mit Innereien.« - »BRAUCHEN niemals ohne ›ZU‹ gebrauchen!«
»Elle est la plus belle mère«, sagte James manchmal. Dann errötete er und verstummte, wie in die Betrachtung von etwas Heiligem versunken.
Byron zog sich die kurze graue Hose und die Sommerjacke an. Die Knöpfe an seinem Hemd spannten, obwohl es fast neu war. Er sicherte den Sitz seiner Socken mit selbstgemachten Sockenhaltern und lief nach unten. Die getäfelten Wände schimmerten dunkel wie Kastanien.
»Ich rede mit niemandem als mit dir, Darling«, sagte seine Mutter mit dem ihr eigenen Singsang.
Sie stand an ihrem Telefontischchen kurz vor der Eingangshalle, fertig angezogen. Neben ihr wartete Lucy, dass sie Bänder in die Zöpfe gebunden bekam. Es roch intensiv nach Vim und Möbelpolitur, was für Byron genauso beruhigend duftete wie frische Luft. Als er vorbeiging, küsste seine Mutter ihre Fingerspitzen und drückte sie auf seine Stirn. Sie war nur wenig größer als er.
»Es sind nur die Kinder hier und ich«, sagte sie in den Hörer. Die Fenster hinter ihr zeigten ein mattes Weiß.
In der Küche setzte sich Byron an die Frühstückstheke und faltete eine saubere Serviette auseinander. Seine Mutter telefonierte mit seinem Vater. Er rief jeden Morgen um dieselbe Zeit an, und jeden Morgen versicherte sie ihm, sie höre ihm zu.
»Ach, heute mache ich wieder das Übliche. Das Haus in Ordnung bringen, Unkraut jäten. Nach dem Wochenende saubermachen. Es soll heiß werden.«
Entlassen aus den mütterlichen Händen, hüpfte Lucy in die Küche und stemmte sich auf ihren Hocker hoch. Sie kippte die Schachtel Zuckersterne über ihr Peter-Rabbit-Schälchen. »Vorsicht«, sagte Byron, als sie nach dem blauen Krug griff. Er sah zu, wie der Milchstrahl ziemlich von ungefähr auf ihre Getreideflocken spritzte. »Pass auf, dass du nichts verschüttest, Lucy.« Das war höflich ausgedrückt - sie hatte schon etwas verschüttet.
»Ich weiß schon, was ich tue, Byron. Ich brauche keine Hilfe «, erwiderte Lucy. Jedes Wort klang wie ein gezielter kleiner Luftangriff. Sie stellte den Krug wieder auf den Tisch, ein Ungetüm in ihren Händen. Dann baute sie um ihr Schälchen eine dichte Mauer von Müslischachteln. Er konnte nur noch ihren strohblonden Scheitel sehen.
Aus der Diele kam die Stimme seiner Mutter. »Ja, Seymour. Sie steht poliert in der Garage.« Er nahm an, sie redeten von dem neuen Jaguar.
»Könnte ich bitte die Zuckersterne haben, Lucy?«
»Du darfst keine Zuckersterne. Du musst deinen Obstsalat und dein gesundes Alpenmüsli essen.«
»Ich würde nur gern lesen, was auf dem Paket steht. Ich möchte mir Sooty den Bären anschauen.«
»Ich lese selber gerade, was auf den Paketen steht.«
»Du brauchst sie doch nicht alle auf einmal«, sagte er sanft. »Und außerdem kannst du noch gar nicht lesen, Lucy.«
»Alles ist bestens«, trällerte seine Mutter aus der Diele. Ihr Lachen war wie ein Flügelflattern.
Byron spürte in seinem Magen einen heißen Knoten. Er versuchte, sich eine der Schachteln zu nehmen, nur eine, bevor Lucy ihn daran hindern konnte, aber ihre Hand flog hoch, als er die Schachtel wegzog. Dabei schlitterte der Milchkrug zur Seite, es klirrte laut, und der neue Boden war plötzlich eine Brühe aus weißer Milch und blauen Porzellansplittern. Die Kinder starrten entsetzt. Es war fast Zeit zum Zähneputzen.
Im Nu war Diana in der Küche. »Keine Bewegung!«, rief sie. Sie streckte den Kindern die Handflächen entgegen, als hielte sie den Verkehr auf. »Ihr könntet euch verletzen!« Byron saß so reglos, dass ihm der Hals steif wurde. Diana balancierte mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern auf Zehenspitzen zum Putzschrank hinüber; der Boden unter ihr schmatzte und knackte.
»Das war deine Schuld, Byron«, sagte Lucy.
Diana eilte mit Mopp und Eimer, Schaufel und Besen zurück. Sie drehte den Mopp in Seifenwasser aus und zog ihn durch die Milchpfütze. Mit einem Blick auf die Uhr kehrte sie die Scherben auf eine trockene Stelle und von dort auf die Schaufel. Die letzten Splitter schob sie mit den Fingern zusammen und kippte alles in den Mülleimer. »Fertig«, sagte sie munter. Da fiel ihr Blick auf ihre linke Handfläche, auf die Streifen, aus denen es purpurrot hervorquoll.
»Jetzt blutest du auch noch«, sagte Lucy, die auf körperliche
Verletzungen mit Entsetzen, aber auch mit einer lustvollen Faszination reagierte.
»Ach, das ist doch nichts«, trällerte ihre Mutter, aber das Blut rann ihr das Handgelenk herunter und hatte trotz Schürze schon mehrere Flecken auf den Rocksaum gemacht. »Keine Bewegung!«, rief sie noch einmal, machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.
»Wir kommen zu spät«, sagte Lucy.
»Wir kommen nie zu spät«, widersprach Byron. Das war einer der Grundsätze ihres Vaters. Ein Engländer hatte immer pünktlich zu sein.
Diana tauchte umgezogen wieder auf. Sie trug jetzt ein pfefferminzgrünes Kleid mit einer passenden Lambswool- Strickjacke und hatte sich die Lippen erdbeerrot geschminkt. Die Hand war verbunden und sah aus wie eine kleine Pfote.
»Warum sitzt ihr immer noch hier?«, rief sie.
»Du hast gesagt, wir sollen uns nicht bewegen«, sagte Lucy.
Klack, klack, hallten Dianas Absätze über den Gang; die Kinder liefen ihr hinterher. Die Blazer und die Schulmützen hingen an den Garderobenhaken, darunter standen die Schulschuhe. Diana lud sich die Schultaschen und Sportbeutel auf die Arme.
»Kommt schon«, rief sie.
»Aber wir haben uns noch gar nicht die Zähne geputzt.«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie zog mit einem Schwung die Haustür auf und lief in den Nebel hinein. Byron musste rennen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Da stand sie, eine zarte Gestalt an der Garagentür. Sie sah auf die Uhr und hielt dazu das linke Handgelenk mit dem rechten Daumen und Zeigefinger hoch, als wäre die Zeit eine kleine Zelle, die sie durch ein Mikroskop betrachtete.
»Wir kommen noch rechtzeitig«, sagte sie. »Wenn wir uns beeilen, holen wir die Verspätung wieder auf.«
Cranham House war um die Jahrhundertwende erbaut worden, aus einem blassen Stein, der in der Hochsommersonne knochenweiß und an einem Wintermorgen fleischig rosa leuchtete. Es gab hier kein Dorf. Es gab nur das Haus, den Garten und dahinter die Heide mit ihren Hügelketten. Das Haus kehrte der gewaltigen Masse aus Wind, Himmel und Erde, die sich hinter ihm auftürmte, trotzig den Rücken zu. Deshalb hatte Byron immer den Eindruck, es stünde lieber anderswo, in den flachen Fluren einer englischen Parklandschaft zum Beispiel, oder an den sanften Hängen eines Flusses. Die Privatsphäre sei der Vorteil der Lage, sagte sein Vater. Eine Aussage, die James als Understatement bezeichnete. Zum nächsten Nachbarn musste man mindestens fünf Kilometer fahren. Zwischen den Gärten und den ersten Hügelausläufern lag eine Wiese mit einem großen Teich und dahinter einer Reihe von Eschen. Vor einem Jahr war das Wasser eingezäunt, den Kindern das Spielen dort verboten worden.
Auf der Auffahrt spritzte der Kies unter den Rädern des Jaguars. Der Nebel lag wie eine Kapuze über Byrons Augen. Er stahl selbst den Dingen in nächster Nähe die Farben und Konturen. Der obere Rasen, die Staudenrabatten und Rosenpergolen, die Obstbäume, die Buchenhecken, das Gemüsebeet, die Beete mit den Setzlingen, das Lattentor - alles war weg. Der Wagen bog nach links und bahnte sich seinen Weg zu den Hügelkuppen. Niemand sprach. Byrons Mutter beugte sich angestrengt über das Lenkrad nach vorn.
Oben auf Hochebene war die Sicht noch schlechter. Die Heide erstreckte sich über fünfzehn Kilometer in alle Richtungen, doch an diesem Vormittag konnte man zwischen Hügeln und Himmel nicht mehr unterscheiden. Die Löcher, die die Scheinwerfer in die weiße Decke bohrten, waren nicht sehr tief. Gelegentlich nahm eine durchnässte Gruppe von
Vieh oder ein überstehender Ast Gestalt an, und Byrons Herz machte einen Satz, wenn seine Mutter zum Überholen ausbog. Byron hatte James einmal erzählt, dass die Bäume auf der Hochebene so gruselig aussahen, dass sie Gespenster sein könnten. James hatte die Stirn gerunzelt. Das sei wie Lyrik, hatte James gesagt, aber nicht echt, genauso wenig wie es echt war, wenn im Fernsehen ein Spürhund reden konnte. Sie fuhren an den Eisentoren von Besley Hill vorbei, wo die Verrückten wohnten. Als die Räder des Jaguars über den Weiderost ratterten, seufzte Byron erleichtert auf. Sie näherten sich der Stadt, bogen um eine Kurve, und Diana bremste scharf.
»Nein!«, sagte er und setzte sich auf. »Was ist denn da los?«
»Keine Ahnung. Ein Stau.« Das war das Letzte, was sie jetzt brauchten.
Seine Mutter hob die Finger zu den Zähnen und riss von einem Fingernagel einen Streifen ab.
»Kommt das vom Nebel?«
Wieder: »Ich weiß es nicht.« Sie zog die Handbremse an.
»Ich glaube, die Sonne ist irgendwo da oben«, sagte er munter. »Die brennt das schnell wieder weg.«
Autos blockierten die Straße, soweit das Auge reichte, bis in den Nebelschleier hinein. Links kündigte das düstere Wrack eines ausgebrannten Fahrzeugs die Einfahrt zur Siedlung an der Digby Road an. Diese Straße fuhren sie nie. Er sah, wie seine Mutter einen kurzen Blick hinüberwarf.
»Wir kommen zu spät«, heulte Lucy.
Da tat seine Mutter etwas völlig Unerwartetes. Sie löste mit einem Knacken die Handbremse, legte den ersten Gang ein, dass das Getriebe knirschte, schlug das Steuer mit einem Ruck nach links ein und gab Gas, ohne vor dem Ausscheren in den Spiegel zu blicken und zu blinken. Sie hielten direkt auf die Digby Road zu.
Den Kindern verschlug es zunächst einmal vor Verblüffung die Sprache. Sie fuhren an der ausgebrannten Karosserie vorbei. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Räder, die Türen und der Motor waren abmontiert, so dass das Wrack aussah wie ein verkohltes Skelett. Byron summte leise, denn an so etwas wollte er nicht denken.
»Vater sagt, wir dürfen nie da langfahren«, sagte Lucy. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Das ist eine Abkürzung durch die Siedlung«, sagte ihre Mutter. »Ich bin hier schon gefahren.« Sie beschleunigte sachte.
Es war keine Zeit, über diese Äußerung nachzudenken - dass sie trotz Vaters Verbot schon hier langgefahren war. Die Digby Road war noch schlimmer, als Byron es sich vorgestellt hatte. An manchen Stellen war sie nicht einmal asphaltiert. In dem Nebel setzten sich die Häuserreihen trist und unterschiedslos fort, bis sie zu zerfallen schienen. Müll verstopfte den Rinnstein, da lagen Schutt, Tüten, Decken, Schachteln - Einzelheiten waren schwer zu erkennen. Gelegentlich tauchten Wäscheleinen auf, an denen ausgeblichene Bettwäsche und Kleidung hingen.
»Ich schau nicht hin«, sagte Lucy und rutschte tief in den Sitz, um sich zu verstecken.
Byron hielt Ausschau nach etwas, was ihn nicht beunruhigte. Was er wiedererkannte, was ihm auch in der Digby Road ein gutes Gefühl geben könnte. Er machte sich zu viele Sorgen, das hatte ihm seine Mutter schon oft gesagt. Und dann fand er es plötzlich. Etwas Schönes: ein Baum, der durch den Nebel leuchtete. Weit streckte er die geschwungenen Äste aus, die mit Girlanden aus kaugummirosa Blüten geschmückt schienen, obwohl die Obstblüte am Cranham House längst vorbei war. Eine Welle der Erleichterung schwappte über Byron, als hätte er ein kleines Wunder erlebt oder eine gute Tat; zumindest in diesem Moment hätte er an beides geglaubt. Unter dem Baum kam eine Gestalt hervor. Sie war klein, wie ein Kind. Sie sauste auf die Straße zu, auf Rädern. Sie saß auf einem roten Fahrrad.
»Wie viel Uhr haben wir jetzt?«, fragte Lucy. »Sind wir zu spät dran?«
Byron warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erstarrte. Der Sekundenzeiger bewegte sich rückwärts. Erst als ihm seine eigene Stimme in die Kehle schnitt, merkte er, dass er schrie.
»Mummy, es passiert gerade! Halt an!« Er packte sie an der Schulter. Zerrte heftig daran.
Er begriff nicht, was als Nächstes geschah. Es ging so schnell. Während er versuchte, seine Uhr oder vielmehr den verstellten Zeiger seiner Mutter vors Gesicht zu halten, nahm er gleichzeitig den Wunderbaum und das kleine Mädchen wahr, das auf die Straße zuradelte. Sie gehörten alle zum selben Geschehen, schossen aus dem Nichts hervor, aus dem dichten Nebel, aus der Zeit. Der Jaguar schlingerte, und Byron schlug mit den Händen gegen das Armaturenbrett, um sich abzustemmen. Als der Wagen mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam, gab es ein Geräusch wie ein metallisches Flüstern, dann war alles still.
In den nun folgenden Taktschlägen, die kürzer waren als Sekunden, kürzer sogar als ein Flimmern, und in denen Byron am Straßenrand nach dem Kind suchte und es nicht entdecken konnte, wurde ihm klar, dass etwas Schlimmes passiert war. Dass das Leben nie mehr sein würde wie zuvor. Er wusste es, noch bevor er die Worte dafür fand.
Über den Hügeln gleißte eine Scheibe aus blendend weißem Licht. Byron hatte recht gehabt mit der Sonne. Sie würde sich jeden Moment durch den Nebel brennen.
2
Jim
Jim wohnt in einem Camper, am Rand der neuen Siedlung. Jeden Tag läuft er bei Morgengrauen über die Heide und jeden Abend wieder zurück. Er hat einen Job im frisch renovierten Café des Supermarkts. Es gibt jetzt einen Wi-Fi-Zugang, und man kann sein Handy aufladen, aber Jim nützt weder das eine noch das andere. Als er vor sechs Monaten hier anfing, arbeitete er bei den Heißgetränken, aber nachdem er Cappuccinos mit Himbeerschaum und Schokoraspeln garniert hatte, wurde er an die Tische verbannt. Wenn er diese Arbeit nun auch noch vermasselt, bleibt ihm nichts mehr. Nicht einmal Besley Hill.
Der schwarze Himmel ist von Faserwolken durchzogen wie von Silberhaar, die Luft so kalt, dass sie ihm die Haut aufraut. Der Boden unter seinen Füßen ist beinhart gefroren, und unter seinen Stiefeln knirschen die spröden Grasstummel. Er sieht schon den Neonschein von Cranham Village; dahinter kriechen in der Ferne Scheinwerfer über die Heide, eine Halskette aus winzigen, wandernden Lichtern in Rot und Silber, durchs Dunkel gefädelt.
Als Jugendlicher war er dort oben aufgegriffen worden, nur mit Unterhose und Schuhen bekleidet. Er hatte seine Kleider den Bäumen geschenkt, hatte tagelang im Freien geschlafen. Er wurde sofort in die Psychiatrie eingeliefert. »Hallo, Jim«, sagte der Arzt, als wären sie alte Freunde, als hätte Jim wie er einen Anzug an und eine Krawatte. »Hallo, Herr Doktor«, hatte Jim gesagt, um zu zeigen, dass er ein umgänglicher Mensch war. Der Arzt hatte Elektrokonvulsionstherapie verordnet. Die hatte bei Jim ein Stottern ausgelöst und später ein Kribbeln in den Fingern, das er jetzt noch spürt.
So ist es eben mit dem Schmerz; das weiß er. Was ihm da zugestoßen ist, hat sich in seinem Gehirn mit anderem vermengt, hat sich verwandelt, ist nicht mehr nur der Schmerz eines bestimmten Moments, sondern ein anderer Schmerz aus vielen Schichten, der die Ereignisse vor über vierzig Jahren einschließt und alles, was er verloren hat.
Er folgt der Straße zur Siedlung. Ein Schild heißt die Besucher von Cranham Village willkommen und bittet sie, vorsichtig zu fahren. Vor kurzem wurde das Schild beschmiert, wie auch das Bushäuschen und die Schaukeln für die Kinder; jetzt heißt es Welcome to Crapham - Willkommen im Scheißkaff. Zum Glück gehört Cranham zu den Orten, in die man nur hineingerät, wenn das Navi einen Fehler macht. Jim wischt über das Schild, weil es ihn kränkt, den Namen so herabgewürdigt zu sehen, aber das »n« kommt nicht wieder hervor.
Die neuen Häuser stehen dicht an dicht wie Zähne. Jedes hat einen Vorgarten, nicht größer als ein Parkplatz, und vor dem Fenster einen Blumenkasten aus Kunststoff, in dem nichts wächst. Letztes Wochenende haben viele Bewohner ihre Regenrinnen mit weihnachtlichen Lichtgirlanden geschmückt, und Jim bleibt stehen, um sie zu bewundern. Ihm gefallen vor allem die mit den blinkenden Eiszapfen. Auf einem der Dächer scheint ein aufblasbarer Weihnachtsmann die Satellitenschüssel zu demontieren. Er sieht wohl eher nicht aus wie jemand, den man gern durch den Kamin zu Besuch bekäme. Jim geht an dem lehmigen Rechteck vorbei, das die Anwohner den Dorfanger nennen, an dem eingezäunten Wassergraben in der Mitte. Er hebt ein paar leere Bierdosen auf und trägt sie zum Abfalleimer.
Als er in die Sackgasse einbiegt, sieht er das Haus an, das die ausländischen Studenten gemietet haben, und das andere Haus, wo jeden Tag ein alter Mann am Fenster sitzt. Er geht an dem Gartentor mit dem Schild Vorsicht, bissiger Hund vorbei und an dem Garten mit der Wäsche, die nie abgehängt wird. Niemand schaut heraus, sonst hätte er gewinkt. Vorn schimmert sein Wohnmobil milchfahl im Mondlicht.
Zwei Jungs flitzen auf einem Fahrrad an ihm vorbei, aufgeregt kreischend, einer auf dem Sattel, der andere auf dem Lenker balancierend. Er ruft, V-Vorsicht, aber sie hören ihn nicht.
Wie bin ich hier gelandet?, fragt sich Jim. Auch wir waren einmal zwei.
Der Wind weht und schweigt.
Übersetzung: Maria Andreas
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
1972 wurden der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt. Großbritannien beschloss den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und die New Seekers traten mit Beg, Steal or Borrow beim Grand Prix Eurovision de la Chanson an. Die Zusatzsekunden wurden notwendig, weil das Jahr ein Schaltjahr war und die Zeit nicht mehr im Takt mit der Erdbewegung. Den Grand Prix gewannen die New Seekers nicht, was aber nichts mit der Erdbewegung zu tun hatte und erst recht nichts mit den zwei Sekunden.
Dass Zeit einfach so hinzuaddiert wurde, versetzte Byron Hemmings in Angst und Schrecken. Mit seinen elf Jahren hatte er eine blühende Phantasie. Er lag wach, malte sich das Ereignis aus, und sein Herz flatterte wild wie ein Vogel. Er belauerte die Uhren, ob er sie vielleicht dabei ertappte. »Wann machen die das?«, fragte er seine Mutter.
Sie stand an der neuen Frühstückstheke und schnitt Apfelviertel klein. Die Morgensonne schien durch die Glastüren und warf so klare Lichtquadrate auf den Boden, dass Byron sich hineinstellen konnte.
»Wahrscheinlich, wenn wir schlafen«, sagte sie.
»Wenn wir schlafen?« Es stand schlimmer, als er gedacht hatte.
»Oder vielleicht, wenn wir wach sind.«
Da bekam er den Eindruck, dass sie im Grunde keine Ahnung hatte. »Zwei Sekunden sind doch gar nichts«, sagte sie lächelnd. »Bitte trink dein Sunquick aus.« Ihre Augen waren fröhlich, ihr Rock gebügelt, ihr Haar in Form geföhnt.
Byron hatte von den Extrasekunden durch seinen Freund erfahren, James Lowe. James war der klügste Junge, den Byron kannte, er las jeden Tag die Times. Das Einschleusen zweier Sekunden sei extrem aufregend, meinte James. Erst war der Mensch zum Mond geflogen. Jetzt griff er in die Zeit ein. Aber wie konnten zwei Sekunden plötzlich existieren, wo sie vorher nicht existiert hatten? Da fügte man doch etwas hinzu, was es gar nicht gab. Das war doch nicht geheuer. Wenn Byron darauf hinwies, lächelte James nur - das sei eben der Fortschritt.
Byron schrieb vier Briefe, einen an den Abgeordneten ihres Wahlkreises, einen an die NASA, einen weiteren an die Herausgeber des Guinness Buch der Rekorde und einen letzten an Mr Roy Castle, der auf BBC eine Kindersendung moderierte. Byron gab die Briefe seiner Mutter, damit sie sie zur Post brachte, und schärfte ihr ein, wie wichtig sie seien.
Er bekam ein Foto von Roy Castle mit Autogramm zugeschickt und eine durchgehend illustrierte Broschüre über die Mondlandung der Apollo 15, aber auf die zwei Sekunden ging niemand ein.
Innerhalb von Monaten hatte sich alles verändert. Früher hatte Byrons Mutter alle Uhren im Haus mit peinlicher Sorgfalt aufgezogen, jetzt ging jede anders. Die Kinder schliefen, wann sie müde waren, und aßen, wann sie hungrig waren; so konnten ganze Tage vergehen, einer gesichtslos wie der andere. Wenn also in ein Jahr, in dem sich eine Katastrophe ereignet hatte, zwei Sekunden eingefügt worden waren, während das Herausnehmen zweier Sekunden diese Katastrophe womöglich verhindert hätte - war die Entscheidung für den Zeiteinschub dann nicht grundfalsch? War sie nicht ein noch schlimmeres Vergehen?
»Es war nicht deine Schuld«, wiederholte Byron immer wieder. Im Spätsommer war seine Mutter oft am Teich zu finden, unten in der Wiese. Das Frühstück wurde jetzt von Byron gemacht, vielleicht ein Schmelzkäsedreieck aus der Folie, zwischen zwei Brotscheiben gequetscht. Seine Mutter saß auf einem Stuhl, klirrte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas und rupfte von Grasrispen die Samen ab. In der Ferne leuchtete die Heide unter einem Lichtschleier, zartgelb wie Zitronensorbet; die Wiese war mit Blumen durchwebt. »Hast du gehört?«, wiederholte er dann, weil sie gern vergaß, dass sie nicht allein war. »Es war nur, weil sie Zeit dazugefügt haben. Es war ein Unfall.«
Dann hob sie das Kinn und lächelte. »Du bist ein lieber Junge. Danke.«
Und das alles, die ganze Geschichte, nur wegen eines kleinen Stolperers in der Zeit. Die Schockwellen waren Jahre um Jahre zu spüren. Von den beiden Jungen, James und Byron, konnte nur einer den Kurs halten. Manchmal schaute Byron in den Himmel über der Heide, in dem solche Unmengen Sterne schillerten, dass die Dunkelheit lebendig schien, und dann bekam er eine solche Sehnsucht, dass es wehtat. Er sehnte sich danach, diese zwei Extrasekunden auszulöschen. Sehnte die Unantastbarkeit der Zeit zurück - sie sollte wieder sein, wie es sich gehörte.
Wenn James es ihm nur nie erzählt hätte.
Erster Teil
Drinnen
1
Etwas Schlimmes
James Lowe und Byron Hemmings besuchten die Winston House School, weil sie eine Privatschule war. Es gab noch eine andere Grundschule, die näher lag, aber die war nicht privat, sondern für alle. Die Kinder, die dort hingingen, kamen aus den Sozialwohnungen an der Digby Road. Sie schnippten vom Oberdeck des Busses Orangenschalen und Zigarettenstummel auf die Mützen der Winston-House-Jungen herunter. Die fuhren nicht mit dem Bus zur Schule. Sie wurden von ihren Müttern im Auto hingebracht, weil sie es so weit hatten.
Die Zukunft war für die Winston-House-Jungen bereits abgesteckt - eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Im nächsten Jahr würden sie die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule machen. Die Besten würden ein Stipendium bekommen und mit dreizehn ins Internat wechseln. Sie würden sich den richtigen Akzent aneignen, die richtigen Dinge lernen und die richtigen Kontakte knüpfen. Danach käme Oxford oder Cambridge. James' Eltern dachten an das St. Peter's College in Oxford, Byrons Eltern an Oriel, ebenfalls in Oxford. Im Anschluss würden die Jungen wie ihre Väter Karriere machen, als Juristen, als Banker, in der Kirche oder beim Militär. Eines Tages würden sie eine Stadtwohnung in London und ein großes Haus auf dem Land besitzen, wo sie die Wochenenden mit ihren Frauen und Kindern verbringen würden.
Es war Anfang Juni 1972. Ein Streifen Morgensonne rutschte unter Byrons blauen Vorhängen durch und beleuchtete seine säuberlich geordneten Besitztümer: seine Look and Learn-Jahrbücher, sein Briefmarkenalbum, seine Taschenlampe, seinen neuen Abrakadabra-Zauberkasten und den Chemiebaukasten mit eigenem Vergrößerungsglas, den er zu Weihnachten bekommen hatte. Seine Schuluniform, von seiner Mutter am Abend zuvor gewaschen und gebügelt, lag über dem Stuhl wie ein flachgepresster Junge. Byron kontrollierte sowohl seine Armbanduhr als auch seinen Wecker. Die Sekundenzeiger rückten gleichmäßig voran. Er überquerte leise den Gang, schob vorsichtig die Tür zum Zimmer seiner Mutter auf und nahm seinen Platz auf der Bettkante ein.
Sie lag ganz ruhig da. Die Goldrüsche ihres Haars war über das Kopfkissen gebreitet, ihr Gesicht bebte bei jedem Atemzug, als wäre sie aus Wasser. Durch die Haut schimmerten violett die Adern. Byron hatte weiche, pummelige Hände wie Pfirsichfleisch, bei James dagegen zeichneten sich schon die Adern ab, feine, erhabene Linien, die von den Fingerknöcheln aufwärts liefen und eines Tages wie bei einem Mann hervortreten würden.
Um halb sieben setzte der Wecker der Stille ein Ende, und seine Mutter schlug sofort die Augen auf, ein blauer Glanz.
»Hallo, Schatz.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Byron.
»Doch nicht schon wieder wegen der Zeit?« Sie griff nach ihrem Glas und ihrer Tablette und trank einen Schluck Wasser.
»Und wenn sie heute die Extrasekunden dazutun?«
»Macht James sich auch solche Sorgen?«
»Er hat es anscheinend vergessen.«
Sie wischte sich über den Mund, er sah sie lächeln. Zwei Grübchen bohrten winzige Löcher in ihre Wangen. »Wir haben das alles doch schon besprochen. Zig Mal. Wenn sie die Sekunden zufügen, wird es vorher in der Times angekündigt. Und im Fernsehen kommt auch was darüber, in Nationwide.«
»Das macht mir Kopfschmerzen«, sagte er.
»Wenn es geschieht, wirst du nichts davon mitkriegen. Zwei Sekunden sind doch gar nichts.«
Byron spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Er wollte schon aufstehen, setzte sich dann aber wieder. »Zwei Sekunden machen einen gewaltigen Unterschied aus, das ist anscheinend niemandem klar. In zwei Sekunden kann viel passieren, was sonst nicht passiert wäre. Ein einziger Schritt zu weit, und man stürzt eine Klippe hinunter. Das ist sehr gefährlich. « Seine Worte sprudelten hervor wie ein Sturzbach.
Sie kniff das Gesicht zusammen, wie sie es sonst beim Kopfrechnen immer machte, und sah ihn an. »Wir müssen jetzt wirklich aufstehen.«
Sie zog die Vorhänge im Erkerfenster auf und starrte hinaus. Sommernebel floss von Cranham Moor herein, so dick, dass er die Hügel hinter dem Garten wegzuspülen drohte. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Vierundzwanzig Minuten vor sieben«, sagte sie, als informiere sie die Uhr über die korrekte Zeit. Sie nahm ihren rosa Morgenmantel vom Haken und ging Lucy wecken.
Wenn Byron sich ein Bild machen wollte, wie es im Kopf seiner Mutter aussah, stellte er sich eine Reihe intarsienverzierter Miniaturschubladen vor, mit so winzigen Griffen aus Edelsteinen, dass er Mühe hätte, sie mit seinen Fingern aufzuziehen. Die anderen Mütter waren ganz anders als sie. Sie trugen Häkelpullunder und Lagenröcke, manche sogar die neuen Schuhe mit Keilabsätzen. Byrons Vater sah seine Frau lieber förmlicher gekleidet. Neben Diana mit ihren schmalen Bleistiftröcken und Pfennigabsätzen, der farblich passenden Handtasche und ihrem Notizbuch wirkten andere Frauen überproportioniert, ihre Kleidung unter Niveau. Andrea Lowe, die Mutter von James, ragte neben ihr auf wie eine dunkelhaarige Riesin. Dianas Notizbuch enthielt Artikel, die sie aus Frauenzeitschriften wie Good Housekeeping und Family Circle ausgeschnitten hatte. Sie notierte Geburtstage, die sie nicht vergessen durfte, wichtige Schultermine, aber auch Rezepte, Handarbeitsanleitungen, Gartenideen, Frisiertipps und Worte, die neu für sie waren. Die Kladde quoll über von Verbesserungsvorschlägen: »22 neue Frisuren, damit Sie diesen Sommer noch hübscher sind.« - »Geschenke aus Seidenpapier für jeden Anlass.« - »Kochen mit Innereien.« - »BRAUCHEN niemals ohne ›ZU‹ gebrauchen!«
»Elle est la plus belle mère«, sagte James manchmal. Dann errötete er und verstummte, wie in die Betrachtung von etwas Heiligem versunken.
Byron zog sich die kurze graue Hose und die Sommerjacke an. Die Knöpfe an seinem Hemd spannten, obwohl es fast neu war. Er sicherte den Sitz seiner Socken mit selbstgemachten Sockenhaltern und lief nach unten. Die getäfelten Wände schimmerten dunkel wie Kastanien.
»Ich rede mit niemandem als mit dir, Darling«, sagte seine Mutter mit dem ihr eigenen Singsang.
Sie stand an ihrem Telefontischchen kurz vor der Eingangshalle, fertig angezogen. Neben ihr wartete Lucy, dass sie Bänder in die Zöpfe gebunden bekam. Es roch intensiv nach Vim und Möbelpolitur, was für Byron genauso beruhigend duftete wie frische Luft. Als er vorbeiging, küsste seine Mutter ihre Fingerspitzen und drückte sie auf seine Stirn. Sie war nur wenig größer als er.
»Es sind nur die Kinder hier und ich«, sagte sie in den Hörer. Die Fenster hinter ihr zeigten ein mattes Weiß.
In der Küche setzte sich Byron an die Frühstückstheke und faltete eine saubere Serviette auseinander. Seine Mutter telefonierte mit seinem Vater. Er rief jeden Morgen um dieselbe Zeit an, und jeden Morgen versicherte sie ihm, sie höre ihm zu.
»Ach, heute mache ich wieder das Übliche. Das Haus in Ordnung bringen, Unkraut jäten. Nach dem Wochenende saubermachen. Es soll heiß werden.«
Entlassen aus den mütterlichen Händen, hüpfte Lucy in die Küche und stemmte sich auf ihren Hocker hoch. Sie kippte die Schachtel Zuckersterne über ihr Peter-Rabbit-Schälchen. »Vorsicht«, sagte Byron, als sie nach dem blauen Krug griff. Er sah zu, wie der Milchstrahl ziemlich von ungefähr auf ihre Getreideflocken spritzte. »Pass auf, dass du nichts verschüttest, Lucy.« Das war höflich ausgedrückt - sie hatte schon etwas verschüttet.
»Ich weiß schon, was ich tue, Byron. Ich brauche keine Hilfe «, erwiderte Lucy. Jedes Wort klang wie ein gezielter kleiner Luftangriff. Sie stellte den Krug wieder auf den Tisch, ein Ungetüm in ihren Händen. Dann baute sie um ihr Schälchen eine dichte Mauer von Müslischachteln. Er konnte nur noch ihren strohblonden Scheitel sehen.
Aus der Diele kam die Stimme seiner Mutter. »Ja, Seymour. Sie steht poliert in der Garage.« Er nahm an, sie redeten von dem neuen Jaguar.
»Könnte ich bitte die Zuckersterne haben, Lucy?«
»Du darfst keine Zuckersterne. Du musst deinen Obstsalat und dein gesundes Alpenmüsli essen.«
»Ich würde nur gern lesen, was auf dem Paket steht. Ich möchte mir Sooty den Bären anschauen.«
»Ich lese selber gerade, was auf den Paketen steht.«
»Du brauchst sie doch nicht alle auf einmal«, sagte er sanft. »Und außerdem kannst du noch gar nicht lesen, Lucy.«
»Alles ist bestens«, trällerte seine Mutter aus der Diele. Ihr Lachen war wie ein Flügelflattern.
Byron spürte in seinem Magen einen heißen Knoten. Er versuchte, sich eine der Schachteln zu nehmen, nur eine, bevor Lucy ihn daran hindern konnte, aber ihre Hand flog hoch, als er die Schachtel wegzog. Dabei schlitterte der Milchkrug zur Seite, es klirrte laut, und der neue Boden war plötzlich eine Brühe aus weißer Milch und blauen Porzellansplittern. Die Kinder starrten entsetzt. Es war fast Zeit zum Zähneputzen.
Im Nu war Diana in der Küche. »Keine Bewegung!«, rief sie. Sie streckte den Kindern die Handflächen entgegen, als hielte sie den Verkehr auf. »Ihr könntet euch verletzen!« Byron saß so reglos, dass ihm der Hals steif wurde. Diana balancierte mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern auf Zehenspitzen zum Putzschrank hinüber; der Boden unter ihr schmatzte und knackte.
»Das war deine Schuld, Byron«, sagte Lucy.
Diana eilte mit Mopp und Eimer, Schaufel und Besen zurück. Sie drehte den Mopp in Seifenwasser aus und zog ihn durch die Milchpfütze. Mit einem Blick auf die Uhr kehrte sie die Scherben auf eine trockene Stelle und von dort auf die Schaufel. Die letzten Splitter schob sie mit den Fingern zusammen und kippte alles in den Mülleimer. »Fertig«, sagte sie munter. Da fiel ihr Blick auf ihre linke Handfläche, auf die Streifen, aus denen es purpurrot hervorquoll.
»Jetzt blutest du auch noch«, sagte Lucy, die auf körperliche
Verletzungen mit Entsetzen, aber auch mit einer lustvollen Faszination reagierte.
»Ach, das ist doch nichts«, trällerte ihre Mutter, aber das Blut rann ihr das Handgelenk herunter und hatte trotz Schürze schon mehrere Flecken auf den Rocksaum gemacht. »Keine Bewegung!«, rief sie noch einmal, machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.
»Wir kommen zu spät«, sagte Lucy.
»Wir kommen nie zu spät«, widersprach Byron. Das war einer der Grundsätze ihres Vaters. Ein Engländer hatte immer pünktlich zu sein.
Diana tauchte umgezogen wieder auf. Sie trug jetzt ein pfefferminzgrünes Kleid mit einer passenden Lambswool- Strickjacke und hatte sich die Lippen erdbeerrot geschminkt. Die Hand war verbunden und sah aus wie eine kleine Pfote.
»Warum sitzt ihr immer noch hier?«, rief sie.
»Du hast gesagt, wir sollen uns nicht bewegen«, sagte Lucy.
Klack, klack, hallten Dianas Absätze über den Gang; die Kinder liefen ihr hinterher. Die Blazer und die Schulmützen hingen an den Garderobenhaken, darunter standen die Schulschuhe. Diana lud sich die Schultaschen und Sportbeutel auf die Arme.
»Kommt schon«, rief sie.
»Aber wir haben uns noch gar nicht die Zähne geputzt.«
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie zog mit einem Schwung die Haustür auf und lief in den Nebel hinein. Byron musste rennen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Da stand sie, eine zarte Gestalt an der Garagentür. Sie sah auf die Uhr und hielt dazu das linke Handgelenk mit dem rechten Daumen und Zeigefinger hoch, als wäre die Zeit eine kleine Zelle, die sie durch ein Mikroskop betrachtete.
»Wir kommen noch rechtzeitig«, sagte sie. »Wenn wir uns beeilen, holen wir die Verspätung wieder auf.«
Cranham House war um die Jahrhundertwende erbaut worden, aus einem blassen Stein, der in der Hochsommersonne knochenweiß und an einem Wintermorgen fleischig rosa leuchtete. Es gab hier kein Dorf. Es gab nur das Haus, den Garten und dahinter die Heide mit ihren Hügelketten. Das Haus kehrte der gewaltigen Masse aus Wind, Himmel und Erde, die sich hinter ihm auftürmte, trotzig den Rücken zu. Deshalb hatte Byron immer den Eindruck, es stünde lieber anderswo, in den flachen Fluren einer englischen Parklandschaft zum Beispiel, oder an den sanften Hängen eines Flusses. Die Privatsphäre sei der Vorteil der Lage, sagte sein Vater. Eine Aussage, die James als Understatement bezeichnete. Zum nächsten Nachbarn musste man mindestens fünf Kilometer fahren. Zwischen den Gärten und den ersten Hügelausläufern lag eine Wiese mit einem großen Teich und dahinter einer Reihe von Eschen. Vor einem Jahr war das Wasser eingezäunt, den Kindern das Spielen dort verboten worden.
Auf der Auffahrt spritzte der Kies unter den Rädern des Jaguars. Der Nebel lag wie eine Kapuze über Byrons Augen. Er stahl selbst den Dingen in nächster Nähe die Farben und Konturen. Der obere Rasen, die Staudenrabatten und Rosenpergolen, die Obstbäume, die Buchenhecken, das Gemüsebeet, die Beete mit den Setzlingen, das Lattentor - alles war weg. Der Wagen bog nach links und bahnte sich seinen Weg zu den Hügelkuppen. Niemand sprach. Byrons Mutter beugte sich angestrengt über das Lenkrad nach vorn.
Oben auf Hochebene war die Sicht noch schlechter. Die Heide erstreckte sich über fünfzehn Kilometer in alle Richtungen, doch an diesem Vormittag konnte man zwischen Hügeln und Himmel nicht mehr unterscheiden. Die Löcher, die die Scheinwerfer in die weiße Decke bohrten, waren nicht sehr tief. Gelegentlich nahm eine durchnässte Gruppe von
Vieh oder ein überstehender Ast Gestalt an, und Byrons Herz machte einen Satz, wenn seine Mutter zum Überholen ausbog. Byron hatte James einmal erzählt, dass die Bäume auf der Hochebene so gruselig aussahen, dass sie Gespenster sein könnten. James hatte die Stirn gerunzelt. Das sei wie Lyrik, hatte James gesagt, aber nicht echt, genauso wenig wie es echt war, wenn im Fernsehen ein Spürhund reden konnte. Sie fuhren an den Eisentoren von Besley Hill vorbei, wo die Verrückten wohnten. Als die Räder des Jaguars über den Weiderost ratterten, seufzte Byron erleichtert auf. Sie näherten sich der Stadt, bogen um eine Kurve, und Diana bremste scharf.
»Nein!«, sagte er und setzte sich auf. »Was ist denn da los?«
»Keine Ahnung. Ein Stau.« Das war das Letzte, was sie jetzt brauchten.
Seine Mutter hob die Finger zu den Zähnen und riss von einem Fingernagel einen Streifen ab.
»Kommt das vom Nebel?«
Wieder: »Ich weiß es nicht.« Sie zog die Handbremse an.
»Ich glaube, die Sonne ist irgendwo da oben«, sagte er munter. »Die brennt das schnell wieder weg.«
Autos blockierten die Straße, soweit das Auge reichte, bis in den Nebelschleier hinein. Links kündigte das düstere Wrack eines ausgebrannten Fahrzeugs die Einfahrt zur Siedlung an der Digby Road an. Diese Straße fuhren sie nie. Er sah, wie seine Mutter einen kurzen Blick hinüberwarf.
»Wir kommen zu spät«, heulte Lucy.
Da tat seine Mutter etwas völlig Unerwartetes. Sie löste mit einem Knacken die Handbremse, legte den ersten Gang ein, dass das Getriebe knirschte, schlug das Steuer mit einem Ruck nach links ein und gab Gas, ohne vor dem Ausscheren in den Spiegel zu blicken und zu blinken. Sie hielten direkt auf die Digby Road zu.
Den Kindern verschlug es zunächst einmal vor Verblüffung die Sprache. Sie fuhren an der ausgebrannten Karosserie vorbei. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Räder, die Türen und der Motor waren abmontiert, so dass das Wrack aussah wie ein verkohltes Skelett. Byron summte leise, denn an so etwas wollte er nicht denken.
»Vater sagt, wir dürfen nie da langfahren«, sagte Lucy. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht.
»Das ist eine Abkürzung durch die Siedlung«, sagte ihre Mutter. »Ich bin hier schon gefahren.« Sie beschleunigte sachte.
Es war keine Zeit, über diese Äußerung nachzudenken - dass sie trotz Vaters Verbot schon hier langgefahren war. Die Digby Road war noch schlimmer, als Byron es sich vorgestellt hatte. An manchen Stellen war sie nicht einmal asphaltiert. In dem Nebel setzten sich die Häuserreihen trist und unterschiedslos fort, bis sie zu zerfallen schienen. Müll verstopfte den Rinnstein, da lagen Schutt, Tüten, Decken, Schachteln - Einzelheiten waren schwer zu erkennen. Gelegentlich tauchten Wäscheleinen auf, an denen ausgeblichene Bettwäsche und Kleidung hingen.
»Ich schau nicht hin«, sagte Lucy und rutschte tief in den Sitz, um sich zu verstecken.
Byron hielt Ausschau nach etwas, was ihn nicht beunruhigte. Was er wiedererkannte, was ihm auch in der Digby Road ein gutes Gefühl geben könnte. Er machte sich zu viele Sorgen, das hatte ihm seine Mutter schon oft gesagt. Und dann fand er es plötzlich. Etwas Schönes: ein Baum, der durch den Nebel leuchtete. Weit streckte er die geschwungenen Äste aus, die mit Girlanden aus kaugummirosa Blüten geschmückt schienen, obwohl die Obstblüte am Cranham House längst vorbei war. Eine Welle der Erleichterung schwappte über Byron, als hätte er ein kleines Wunder erlebt oder eine gute Tat; zumindest in diesem Moment hätte er an beides geglaubt. Unter dem Baum kam eine Gestalt hervor. Sie war klein, wie ein Kind. Sie sauste auf die Straße zu, auf Rädern. Sie saß auf einem roten Fahrrad.
»Wie viel Uhr haben wir jetzt?«, fragte Lucy. »Sind wir zu spät dran?«
Byron warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erstarrte. Der Sekundenzeiger bewegte sich rückwärts. Erst als ihm seine eigene Stimme in die Kehle schnitt, merkte er, dass er schrie.
»Mummy, es passiert gerade! Halt an!« Er packte sie an der Schulter. Zerrte heftig daran.
Er begriff nicht, was als Nächstes geschah. Es ging so schnell. Während er versuchte, seine Uhr oder vielmehr den verstellten Zeiger seiner Mutter vors Gesicht zu halten, nahm er gleichzeitig den Wunderbaum und das kleine Mädchen wahr, das auf die Straße zuradelte. Sie gehörten alle zum selben Geschehen, schossen aus dem Nichts hervor, aus dem dichten Nebel, aus der Zeit. Der Jaguar schlingerte, und Byron schlug mit den Händen gegen das Armaturenbrett, um sich abzustemmen. Als der Wagen mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam, gab es ein Geräusch wie ein metallisches Flüstern, dann war alles still.
In den nun folgenden Taktschlägen, die kürzer waren als Sekunden, kürzer sogar als ein Flimmern, und in denen Byron am Straßenrand nach dem Kind suchte und es nicht entdecken konnte, wurde ihm klar, dass etwas Schlimmes passiert war. Dass das Leben nie mehr sein würde wie zuvor. Er wusste es, noch bevor er die Worte dafür fand.
Über den Hügeln gleißte eine Scheibe aus blendend weißem Licht. Byron hatte recht gehabt mit der Sonne. Sie würde sich jeden Moment durch den Nebel brennen.
2
Jim
Jim wohnt in einem Camper, am Rand der neuen Siedlung. Jeden Tag läuft er bei Morgengrauen über die Heide und jeden Abend wieder zurück. Er hat einen Job im frisch renovierten Café des Supermarkts. Es gibt jetzt einen Wi-Fi-Zugang, und man kann sein Handy aufladen, aber Jim nützt weder das eine noch das andere. Als er vor sechs Monaten hier anfing, arbeitete er bei den Heißgetränken, aber nachdem er Cappuccinos mit Himbeerschaum und Schokoraspeln garniert hatte, wurde er an die Tische verbannt. Wenn er diese Arbeit nun auch noch vermasselt, bleibt ihm nichts mehr. Nicht einmal Besley Hill.
Der schwarze Himmel ist von Faserwolken durchzogen wie von Silberhaar, die Luft so kalt, dass sie ihm die Haut aufraut. Der Boden unter seinen Füßen ist beinhart gefroren, und unter seinen Stiefeln knirschen die spröden Grasstummel. Er sieht schon den Neonschein von Cranham Village; dahinter kriechen in der Ferne Scheinwerfer über die Heide, eine Halskette aus winzigen, wandernden Lichtern in Rot und Silber, durchs Dunkel gefädelt.
Als Jugendlicher war er dort oben aufgegriffen worden, nur mit Unterhose und Schuhen bekleidet. Er hatte seine Kleider den Bäumen geschenkt, hatte tagelang im Freien geschlafen. Er wurde sofort in die Psychiatrie eingeliefert. »Hallo, Jim«, sagte der Arzt, als wären sie alte Freunde, als hätte Jim wie er einen Anzug an und eine Krawatte. »Hallo, Herr Doktor«, hatte Jim gesagt, um zu zeigen, dass er ein umgänglicher Mensch war. Der Arzt hatte Elektrokonvulsionstherapie verordnet. Die hatte bei Jim ein Stottern ausgelöst und später ein Kribbeln in den Fingern, das er jetzt noch spürt.
So ist es eben mit dem Schmerz; das weiß er. Was ihm da zugestoßen ist, hat sich in seinem Gehirn mit anderem vermengt, hat sich verwandelt, ist nicht mehr nur der Schmerz eines bestimmten Moments, sondern ein anderer Schmerz aus vielen Schichten, der die Ereignisse vor über vierzig Jahren einschließt und alles, was er verloren hat.
Er folgt der Straße zur Siedlung. Ein Schild heißt die Besucher von Cranham Village willkommen und bittet sie, vorsichtig zu fahren. Vor kurzem wurde das Schild beschmiert, wie auch das Bushäuschen und die Schaukeln für die Kinder; jetzt heißt es Welcome to Crapham - Willkommen im Scheißkaff. Zum Glück gehört Cranham zu den Orten, in die man nur hineingerät, wenn das Navi einen Fehler macht. Jim wischt über das Schild, weil es ihn kränkt, den Namen so herabgewürdigt zu sehen, aber das »n« kommt nicht wieder hervor.
Die neuen Häuser stehen dicht an dicht wie Zähne. Jedes hat einen Vorgarten, nicht größer als ein Parkplatz, und vor dem Fenster einen Blumenkasten aus Kunststoff, in dem nichts wächst. Letztes Wochenende haben viele Bewohner ihre Regenrinnen mit weihnachtlichen Lichtgirlanden geschmückt, und Jim bleibt stehen, um sie zu bewundern. Ihm gefallen vor allem die mit den blinkenden Eiszapfen. Auf einem der Dächer scheint ein aufblasbarer Weihnachtsmann die Satellitenschüssel zu demontieren. Er sieht wohl eher nicht aus wie jemand, den man gern durch den Kamin zu Besuch bekäme. Jim geht an dem lehmigen Rechteck vorbei, das die Anwohner den Dorfanger nennen, an dem eingezäunten Wassergraben in der Mitte. Er hebt ein paar leere Bierdosen auf und trägt sie zum Abfalleimer.
Als er in die Sackgasse einbiegt, sieht er das Haus an, das die ausländischen Studenten gemietet haben, und das andere Haus, wo jeden Tag ein alter Mann am Fenster sitzt. Er geht an dem Gartentor mit dem Schild Vorsicht, bissiger Hund vorbei und an dem Garten mit der Wäsche, die nie abgehängt wird. Niemand schaut heraus, sonst hätte er gewinkt. Vorn schimmert sein Wohnmobil milchfahl im Mondlicht.
Zwei Jungs flitzen auf einem Fahrrad an ihm vorbei, aufgeregt kreischend, einer auf dem Sattel, der andere auf dem Lenker balancierend. Er ruft, V-Vorsicht, aber sie hören ihn nicht.
Wie bin ich hier gelandet?, fragt sich Jim. Auch wir waren einmal zwei.
Der Wind weht und schweigt.
Übersetzung: Maria Andreas
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Rachel Joyce
Rachel Joyce weiß, wie man Menschen mit Worten ganz direkt berührt. Die Autorin hat über 20 Hörspiele für die BBC verfasst und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Daneben hat sie Stoffe fürs Fernsehen bearbeitet und auch selbst als Schauspielerin für Theater und Film gearbeitet. Ihr erster Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry", wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award für das beste Debüt prämiert, eroberte in über 30 Ländern die Bestellerlisten und wird verfilmt. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Gloucestershire auf dem Land.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rachel Joyce
- 2013, 432 Seiten, Masse: 14,5 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Andreas, Maria
- Übersetzer: Maria Andreas
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810510815
- ISBN-13: 9783810510815
- Erscheinungsdatum: 21.11.2013
Rezension zu „Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte “
Lesen! Weils ans Herz geht. Karoline Laarmann Westdeutscher Rundfunk, 1 LIVE 20131121
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