Das Herz ihrer Tochter
Roman
Shay Bourne hat June Nealons Leben zerstört, als er ihren Mann und ihre älteste Tochter umgebracht hat. Doch jetzt bietet sich ausgerechnet Shay als Herzspender für Junes todkranke Tochter an. Kann Junes größter Feind zum Retter ihrer Tochter werden?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Herz ihrer Tochter “
Shay Bourne hat June Nealons Leben zerstört, als er ihren Mann und ihre älteste Tochter umgebracht hat. Doch jetzt bietet sich ausgerechnet Shay als Herzspender für Junes todkranke Tochter an. Kann Junes größter Feind zum Retter ihrer Tochter werden?
Klappentext zu „Das Herz ihrer Tochter “
June Nealon war eine glückliche Frau. Bis Shay Bourne in einem einzigen Augenblick ihrem Glück ein Ende bereitete. Für den Mord an ihrem Mann und ihrer ersten Tochter erwartet Bourne nun die Todesstrafe. Doch mit einer ungeheuerlichen Tat will er das Leben ihrer zweiten Tochter retten und alles wieder gutmachen.
Lese-Probe zu „Das Herz ihrer Tochter “
Das Herz ihrer Tochter von Jodi PicoultProlog: 1996
JUNE
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Am Anfang glaubte ich noch, jeder von uns bekomme eine zweite Chance. Wie sonst hätte ich mir vor Jahren, gleich nach dem Unfall - als der Rauch sich verzog und der Wagen, der sich mehrmals überschlagen hatte, in einem Graben auf dem Dach liegen geblieben war -, erklären sollen, dass ich noch lebte, dass ich Elizabeth, meine Kleine, weinen hören konnte? Der Polizeibeamte, der mich aus dem Wrack gezogen hatte, fuhr im Rettungswagen mit mir zum Krankenhaus, um mein gebrochenes Bein versorgen zu lassen, während Elizabeth - wie durch ein Wunder unverletzt - die ganze Zeit bei ihm auf dem Schoß saß.
Er hielt meine Hand, als ich den Leichnam meines Mannes Jack identifizieren musste. Er kam zur Beerdigung. Er überbrachte mir die Nachricht, dass der betrunkene Fahrer, der uns von der Straße gedrängt hatte, festgenommen worden war.
Der Name des Polizisten war Kurt Nealon. Noch lange Zeit nach dem Prozess, der mit einem Schuldspruch endete, kam er gelegentlich vorbei, um bei Elizabeth und mir nach dem Rechten zu sehen. Er schenkte ihr Spielsachen zum Geburtstag und zu Weihnachten. Er reparierte den Abfluss oben im Bad. Er kam nach Feierabend, um die Prärie zu mähen, die mal unser Rasen gewesen war. Ich hatte Jack geheiratet, weil er die große Liebe meines Lebens war, ich hatte für immer mit ihm zusammenbleiben wollen. Aber das war, bevor die Definition von für immer von einem Mann mit 2,2 Promille im Blut verändert wurde. Zu meiner Verwunderung schien Kurt zu verstehen, dass man vielleicht nie wieder so stark lieben kann wie beim ersten Mal. Und noch größer war meine Verwunderung, als sich herausstellte, dass es vielleicht doch möglich ist.
Fünf Jahre später, als Kurt und ich erfuhren, dass wir ein Baby bekommen würden, bedauerte ich das fast - so wie wenn man an einem wunderbaren Sommertag zu einem makellos blauen Himmel hinaufschaut und sich eingesteht, dass von nun an kein Augenblick mehr daran heranreichen wird. Elizabeth war zwei, als Jack starb, als Vater hatte sie immer nur Kurt wahrgenommen.
Sie hatten eine so innige Nähe zueinander, dass ich manchmal schon fast meinte, ich sollte mich besser zurückziehen, weil ich störte. Wenn Elizabeth die Prinzessin war, dann war Kurt ihr strahlender Ritter.
Die bevorstehende Ankunft der kleinen Schwester (ist es nicht seltsam, dass keiner von uns auch nur eine Sekunde daran zweifelte, dass das neue Baby auch ein Mädchen war?) versetzte Kurt und Elizabeth in fieberhafte Aktivität. Elizabeth malte genau auf, wie das Zimmer des Babys aussehen sollte. Kurt beauftragte einen Handwerker mit dem erforderlichen Anbau. Doch dann hatte die Mutter des Mannes einen Schlaganfall, und er ließ alles stehen und liegen, um zu ihr nach Florida zu ziehen. Ein Ersatz, der den Auftrag bis zur Geburt des Kindes erledigte, war kurzfristig nicht aufzutreiben. Somit lebten wir praktisch auf einer Baustelle, mit einem Loch in der Wand und einem undichten Dach und Feuchtigkeit im Gebälk. Ich war im siebten Monat.
Als ich zu dieser Zeit an einem Morgen nach unten kam, sah ich, wie Elizabeth in einem Berg Laub spielte, das an der Plastikplane vorbei ins Wohnzimmer geweht war. Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich losheulen oder den Teppich harken sollte, als es an der Haustür klingelte.
Er hatte eine Segeltuchrolle unter dem Arm, die sein Werkzeug enthielt und die er mit einer Selbstverständlichkeit bei sich trug wie andere ihre Brieftasche. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern und war verfilzt. Seine Kleidung war verdreckt, und er roch nach Schnee - obwohl es gar nicht die Jahreszeit war.
Shay Bourne tauchte unerwartet auf, wie ein Werbezettel für eine Sommerkirmes, der mit dem Winterwind herangeweht kommt, sodass du dich fragst, wo er bloß die ganze Zeit gesteckt hat. Er tat sich schwer damit, sein Anliegen vorzubringen. »Ich möchte...«, setzte er an, hielt dann inne und begann von vorn: »Haben Sie, kann ich, weil ...« Ein dünner Schweißfilm trat ihm auf die Stirn. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte er schließlich schüchtern, als Elizabeth zur Haustür gerannt kam.
Oh ja, Sie können wieder gehen, dachte ich. Ich wollte schon die Tür schließen, instinktiv meine Tochter schützen. »Nein, vielen Dank...«
Elizabeth schob ihre Hand in meine und blinzelte zu ihm hoch. »Bei uns im Haus sind viele Sachen kaputt«, sagte sie.
Dann ging er in die Hocke, und meiner Tochter gegenüber schien mit einem Mal alle Unsicherheit von ihm abzufallen. Die Worte kamen ihm jetzt klar und ganz entschlossen über die Lippen: »Ich kann euch helfen«, erwiderte er.
Kurt sagte immer, dass keiner der ist, für den man ihn hält, dass man die Vergangenheit eines Menschen vollkommen durchleuchten muss, ehe man irgendwelche Versprechungen macht. Ich hielt ihm dann entgegen, dass er zu misstrauisch sei, zu sehr Polizist. Schließlich hatte ich ja Kurt einfach nur deshalb in mein Leben gelassen, weil er freundliche Augen und ein gutes Herz hatte, und an dem, was dabei herausgekommen war, konnte nicht mal er etwas auszusetzen haben.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Shay. Shay Bourne.«
»Sie sind engagiert, Mr. Bourne«, sagte ich, der Anfang vom Ende.
Sieben Monate später
MICHAEL
Shay Bourne war ganz anders, als ich erwartet hatte.
Ich hatte mich auf einen Schrank von Mann gefasst gemacht, einen mit Hammerfäusten und Stiernacken und verkniffenen Augen, so schmal wie Schlitze. Immerhin ging es hier um das Verbrechen des Jahrhunderts in unserer Gegend - ein Doppelmord, der ganz New Hampshire aufgewühlt hatte. Ein Verbrechen, das umso schlimmer wirkte, weil die Opfer ein kleines Mädchen und ein Polizeibeamter, noch dazu ihr Stiefvater, gewesen waren. Es war die Art von Verbrechen, bei der man sich fragt, ob man in seinen eigenen vier Wänden noch sicher ist, ob sich die Menschen, denen man vertraut, nicht jeden Augenblick gegen einen wenden können - und vielleicht war das der Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft von New Hampshire zum ersten Mal seit achtundfünfzig Jahren die Todesstrafe forderte.
Der Medienrummel hatte zu Recht Zweifel daran aufkommen lassen, ob es überhaupt noch möglich war, zwölf Geschworene zu finden, die sich noch keine Meinung über die Tat gebildet hatten, dennoch gelang es, uns ausfindig zu machen. Mich stöberten sie in der Unibibliothek auf, wo ich meine Abschlussarbeit in Mathematik vorbereitete. Ich hatte seit einem Monat keine anständige Mahlzeit mehr zu mir genommen, geschweige denn eine Zeitung gelesen, und das machte mich zum perfekten Kandidaten für die Jury im Mordprozess gegen Shay Bourne.
Als wir das erste Mal im Gänsemarsch aus unserem kleinen Beratungsraum im Kammergericht kamen - wo ich mich schon bald wie zu Hause fühlen würde -, dachte ich, der Gerichtsdie- ner hätte uns vielleicht in den falschen Saal geführt. Der Angeklagte war klein und schmächtig - jemand, der bestimmt als Kind zahllose Hänseleien hatte einstecken müssen. Er trug eine Tweedjacke, in der er fast ertrank, und sein Krawattenknoten stand beinahe senkrecht vom Hals ab, als würde er von einer unsichtbaren Kraft abgestoßen. Die Hände, in Handschellen, ruhten schlaff in seinem Schoß, und sein Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren. Er hielt den Blick gesenkt, selbst als der Richter seinen Namen nannte, der wie Dampf aus einem Heizungsventil durch den Saal zischte.
Der Richter und die Anwälte klärten gerade irgendwelche Formalitäten ab, als die Fliege hereinkam. Sie fiel mir aus zweierlei Gründen auf: Im März sieht man nicht viele Fliegen in New Hampshire, und ich fragte mich, wie man es anstellen sollte, eine Fliege zu verscheuchen, wenn man Handschellen trug, die an einer Kette um die Taille festgemacht waren. Shay Bourne starrte auf das Insekt, als es auf dem Schreibblock vor ihm landete, und dann hob er mit metallischem Klirren die gefesselten Hände und ließ sie auf den Tisch krachen, um die Fliege zu töten.
Das dachte ich zumindest, bis er die Handflächen nach oben drehte, die Finger behutsam öffnete und das Insekt davonschwirrte, um jemand anderen zu ärgern.
In diesem Moment sah er mich an, und mir wurden zwei Dinge klar: Erstens, er hatte panische Angst. Zweitens, er war ungefähr so alt wie ich.
Dieser Doppelmörder, dieses Monster, sah aus wie der Kapitän der Wasserballmannschaft, der letztes Semester neben mir im Statistikseminar gesessen hatte. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Pizzaboten von dem Italiener, wo die Pizzen so waren, wie ich sie am liebsten mochte: dünn und knusprig. Er erinnerte mich sogar an den Jungen, den ich auf dem Weg zum Gericht durch den Schnee hatte stapfen sehen, für den ich das Fenster runtergekurbelt hatte, um ihn zu fragen, ob ich ihn ein Stück mitnehmen könne. Anders ausgedrückt, er sah nicht so aus, wie ein Mörder meiner Vorstellung nach aussehen würde, sollte mir je einer über den Weg laufen. Er hätte irgendein x-beliebiger junger Mann Anfang zwanzig sein können. Ich hätte er selbst sein können. Bis auf einen entscheidenden Unterschied: Er saß in Hand- und Fußschellen ein paar Meter von mir entfernt, und es war meine Aufgabe zu entscheiden, ob er es verdiente weiterzuleben oder nicht.
Einen Monat später wusste ich, dass der Dienst als Geschworener himmelweit von dem entfernt ist, was man aus Film und Fernsehen kennt. Ständig ging es zwischen Gerichtssaal und Geschworenenzimmer hin und her; das angelieferte Essen war mies; manche Anwälte hörten sich furchtbar gern reden, und glauben Sie mir, nicht jede Staatsanwältin ist so sexy wie die in Law&Order. Noch nach vier Wochen hatte ich beim Betreten dieses Gerichtssaales das Gefühl, ohne Reiseführer in einem fremden Land anzukommen...aber hier konnte ich meine Unwissenheit nicht damit entschuldigen, Tourist zu sein. Man erwartete von mir, dass ich die fremde Sprache fließend sprach. Der erste Teil des Prozesses war abgeschlossen: Wir hatten Bourne für schuldig befunden. Die Staatsanwaltschaft hatte reichlich Beweise dafür vorgelegt, dass Kurt Nealon in Ausübung seines Dienstes als Polizeibeamter bei dem Versuch erschossen worden war, Shay Bourne festzunehmen, nachdem er ihn mit seiner Stieftochter überrascht hatte, deren Unterwäsche in Bournes Tasche gefunden worden war. Als June Nealon, die bei einer Ultraschalluntersuchung gewesen war, nach Hause kam, erwartete sie ein Aufgebot an Rettungs- und Polizeifahrzeugen:
Ihre Tochter war tot, ihr Mann tödlich verletzt. Gegen die überwältigende Beweislast der Staatsanwaltschaft hatte die Verteidigung keine Chance. Erschwerend kam hinzu, dass Bourne selbst nicht in den Zeugenstand gerufen worden war, vielleicht aufgrund seiner mangelhaften Ausdrucksfähigkeit... oder weil er nicht nur schuldig wie die Sünde war, sondern auch weil sein eigener Verteidiger ihn für ein unkalkulierbares Risiko hielt.
Jetzt waren wir kurz davor, den zweiten Teil des Prozesses abzuschließen - die Festlegung des Strafmaßes -, genauer gesagt, den Teil, der diesen Prozess von jedem anderen Mordprozess im vergangenen halben Jahrhundert in New Hampshire unterschied. Hatte Bourne, von dem wir nun wussten, dass er der Täter war, die Todesstrafe verdient?
Dieser zweite Teil war sozusagen eine aufs Wesentliche reduzierte Version des ersten Teils. Die Staatsanwaltschaft fasste die Beweismittel noch einmal zusammen, dann erhielt die Verteidigung Gelegenheit, Mitgefühl für einen Mörder zu wecken.
Wir erfuhren, dass Bourne von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht worden war. Dass er mit sechzehn im Haus seiner Pflegeeltern einen Brand gelegt und dafür zwei Jahre im Jugendgefängnis gesessen hatte. Er litt an einer unbehandelten bipolaren Störung, einer zentral-auditiven Verarbeitungsstörung, einer Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen, und er hatte Probleme mit dem Lesen und Schreiben.
Das alles erfuhren wir allerdings aus dem Mund von Zeugen. Wieder einmal war es nicht Shay Bourne persönlich, der uns um Gnade bat.
Jetzt war es Zeit für die Schlussplädoyers, und ich sah, wie der Staatsanwalt seine gestreifte Krawatte glatt strich und vortrat.
Ein großer Unterschied zwischen einem herkömmlichen Prozess und der Strafzumessungsphase in einem Prozess, in dem die Todesstrafe beantragt wurde, besteht darin, wer das letzte Wort bekommt. Ich selbst hatte keine Ahnung von so was, aber Maureen - eine reizende ältere Geschworene, die ich liebend gern als Großmutter gehabt hätte - verpasste nicht eine einzige Folge von Law & Order und hatte quasi ein Jurastudium im Fernsehsessel absolviert. In den meisten Prozessen kam die Staatsanwaltschaft mit ihrem Schlussplädoyer als Letzte zu Wort...sodass einem ihre Worte noch in den Ohren klangen, wenn man sich mit den übrigen Geschworenen zur Beratung zurückzog. Aber in einem Prozess, in dem es um die Todesstrafe ging, sprach die Staatsanwaltschaft zuerst, und dann hatte die Verteidigung eine letzte Chance, die Meinung der Geschworenen zu ändern.
Schließlich ging es hier um Leben oder Tod.
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2009 Piper Verlag Gmbh, München
Am Anfang glaubte ich noch, jeder von uns bekomme eine zweite Chance. Wie sonst hätte ich mir vor Jahren, gleich nach dem Unfall - als der Rauch sich verzog und der Wagen, der sich mehrmals überschlagen hatte, in einem Graben auf dem Dach liegen geblieben war -, erklären sollen, dass ich noch lebte, dass ich Elizabeth, meine Kleine, weinen hören konnte? Der Polizeibeamte, der mich aus dem Wrack gezogen hatte, fuhr im Rettungswagen mit mir zum Krankenhaus, um mein gebrochenes Bein versorgen zu lassen, während Elizabeth - wie durch ein Wunder unverletzt - die ganze Zeit bei ihm auf dem Schoß saß.
Er hielt meine Hand, als ich den Leichnam meines Mannes Jack identifizieren musste. Er kam zur Beerdigung. Er überbrachte mir die Nachricht, dass der betrunkene Fahrer, der uns von der Straße gedrängt hatte, festgenommen worden war.
Der Name des Polizisten war Kurt Nealon. Noch lange Zeit nach dem Prozess, der mit einem Schuldspruch endete, kam er gelegentlich vorbei, um bei Elizabeth und mir nach dem Rechten zu sehen. Er schenkte ihr Spielsachen zum Geburtstag und zu Weihnachten. Er reparierte den Abfluss oben im Bad. Er kam nach Feierabend, um die Prärie zu mähen, die mal unser Rasen gewesen war. Ich hatte Jack geheiratet, weil er die große Liebe meines Lebens war, ich hatte für immer mit ihm zusammenbleiben wollen. Aber das war, bevor die Definition von für immer von einem Mann mit 2,2 Promille im Blut verändert wurde. Zu meiner Verwunderung schien Kurt zu verstehen, dass man vielleicht nie wieder so stark lieben kann wie beim ersten Mal. Und noch größer war meine Verwunderung, als sich herausstellte, dass es vielleicht doch möglich ist.
Fünf Jahre später, als Kurt und ich erfuhren, dass wir ein Baby bekommen würden, bedauerte ich das fast - so wie wenn man an einem wunderbaren Sommertag zu einem makellos blauen Himmel hinaufschaut und sich eingesteht, dass von nun an kein Augenblick mehr daran heranreichen wird. Elizabeth war zwei, als Jack starb, als Vater hatte sie immer nur Kurt wahrgenommen.
Sie hatten eine so innige Nähe zueinander, dass ich manchmal schon fast meinte, ich sollte mich besser zurückziehen, weil ich störte. Wenn Elizabeth die Prinzessin war, dann war Kurt ihr strahlender Ritter.
Die bevorstehende Ankunft der kleinen Schwester (ist es nicht seltsam, dass keiner von uns auch nur eine Sekunde daran zweifelte, dass das neue Baby auch ein Mädchen war?) versetzte Kurt und Elizabeth in fieberhafte Aktivität. Elizabeth malte genau auf, wie das Zimmer des Babys aussehen sollte. Kurt beauftragte einen Handwerker mit dem erforderlichen Anbau. Doch dann hatte die Mutter des Mannes einen Schlaganfall, und er ließ alles stehen und liegen, um zu ihr nach Florida zu ziehen. Ein Ersatz, der den Auftrag bis zur Geburt des Kindes erledigte, war kurzfristig nicht aufzutreiben. Somit lebten wir praktisch auf einer Baustelle, mit einem Loch in der Wand und einem undichten Dach und Feuchtigkeit im Gebälk. Ich war im siebten Monat.
Als ich zu dieser Zeit an einem Morgen nach unten kam, sah ich, wie Elizabeth in einem Berg Laub spielte, das an der Plastikplane vorbei ins Wohnzimmer geweht war. Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich losheulen oder den Teppich harken sollte, als es an der Haustür klingelte.
Er hatte eine Segeltuchrolle unter dem Arm, die sein Werkzeug enthielt und die er mit einer Selbstverständlichkeit bei sich trug wie andere ihre Brieftasche. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern und war verfilzt. Seine Kleidung war verdreckt, und er roch nach Schnee - obwohl es gar nicht die Jahreszeit war.
Shay Bourne tauchte unerwartet auf, wie ein Werbezettel für eine Sommerkirmes, der mit dem Winterwind herangeweht kommt, sodass du dich fragst, wo er bloß die ganze Zeit gesteckt hat. Er tat sich schwer damit, sein Anliegen vorzubringen. »Ich möchte...«, setzte er an, hielt dann inne und begann von vorn: »Haben Sie, kann ich, weil ...« Ein dünner Schweißfilm trat ihm auf die Stirn. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte er schließlich schüchtern, als Elizabeth zur Haustür gerannt kam.
Oh ja, Sie können wieder gehen, dachte ich. Ich wollte schon die Tür schließen, instinktiv meine Tochter schützen. »Nein, vielen Dank...«
Elizabeth schob ihre Hand in meine und blinzelte zu ihm hoch. »Bei uns im Haus sind viele Sachen kaputt«, sagte sie.
Dann ging er in die Hocke, und meiner Tochter gegenüber schien mit einem Mal alle Unsicherheit von ihm abzufallen. Die Worte kamen ihm jetzt klar und ganz entschlossen über die Lippen: »Ich kann euch helfen«, erwiderte er.
Kurt sagte immer, dass keiner der ist, für den man ihn hält, dass man die Vergangenheit eines Menschen vollkommen durchleuchten muss, ehe man irgendwelche Versprechungen macht. Ich hielt ihm dann entgegen, dass er zu misstrauisch sei, zu sehr Polizist. Schließlich hatte ich ja Kurt einfach nur deshalb in mein Leben gelassen, weil er freundliche Augen und ein gutes Herz hatte, und an dem, was dabei herausgekommen war, konnte nicht mal er etwas auszusetzen haben.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Shay. Shay Bourne.«
»Sie sind engagiert, Mr. Bourne«, sagte ich, der Anfang vom Ende.
Sieben Monate später
MICHAEL
Shay Bourne war ganz anders, als ich erwartet hatte.
Ich hatte mich auf einen Schrank von Mann gefasst gemacht, einen mit Hammerfäusten und Stiernacken und verkniffenen Augen, so schmal wie Schlitze. Immerhin ging es hier um das Verbrechen des Jahrhunderts in unserer Gegend - ein Doppelmord, der ganz New Hampshire aufgewühlt hatte. Ein Verbrechen, das umso schlimmer wirkte, weil die Opfer ein kleines Mädchen und ein Polizeibeamter, noch dazu ihr Stiefvater, gewesen waren. Es war die Art von Verbrechen, bei der man sich fragt, ob man in seinen eigenen vier Wänden noch sicher ist, ob sich die Menschen, denen man vertraut, nicht jeden Augenblick gegen einen wenden können - und vielleicht war das der Grund, weshalb die Staatsanwaltschaft von New Hampshire zum ersten Mal seit achtundfünfzig Jahren die Todesstrafe forderte.
Der Medienrummel hatte zu Recht Zweifel daran aufkommen lassen, ob es überhaupt noch möglich war, zwölf Geschworene zu finden, die sich noch keine Meinung über die Tat gebildet hatten, dennoch gelang es, uns ausfindig zu machen. Mich stöberten sie in der Unibibliothek auf, wo ich meine Abschlussarbeit in Mathematik vorbereitete. Ich hatte seit einem Monat keine anständige Mahlzeit mehr zu mir genommen, geschweige denn eine Zeitung gelesen, und das machte mich zum perfekten Kandidaten für die Jury im Mordprozess gegen Shay Bourne.
Als wir das erste Mal im Gänsemarsch aus unserem kleinen Beratungsraum im Kammergericht kamen - wo ich mich schon bald wie zu Hause fühlen würde -, dachte ich, der Gerichtsdie- ner hätte uns vielleicht in den falschen Saal geführt. Der Angeklagte war klein und schmächtig - jemand, der bestimmt als Kind zahllose Hänseleien hatte einstecken müssen. Er trug eine Tweedjacke, in der er fast ertrank, und sein Krawattenknoten stand beinahe senkrecht vom Hals ab, als würde er von einer unsichtbaren Kraft abgestoßen. Die Hände, in Handschellen, ruhten schlaff in seinem Schoß, und sein Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren. Er hielt den Blick gesenkt, selbst als der Richter seinen Namen nannte, der wie Dampf aus einem Heizungsventil durch den Saal zischte.
Der Richter und die Anwälte klärten gerade irgendwelche Formalitäten ab, als die Fliege hereinkam. Sie fiel mir aus zweierlei Gründen auf: Im März sieht man nicht viele Fliegen in New Hampshire, und ich fragte mich, wie man es anstellen sollte, eine Fliege zu verscheuchen, wenn man Handschellen trug, die an einer Kette um die Taille festgemacht waren. Shay Bourne starrte auf das Insekt, als es auf dem Schreibblock vor ihm landete, und dann hob er mit metallischem Klirren die gefesselten Hände und ließ sie auf den Tisch krachen, um die Fliege zu töten.
Das dachte ich zumindest, bis er die Handflächen nach oben drehte, die Finger behutsam öffnete und das Insekt davonschwirrte, um jemand anderen zu ärgern.
In diesem Moment sah er mich an, und mir wurden zwei Dinge klar: Erstens, er hatte panische Angst. Zweitens, er war ungefähr so alt wie ich.
Dieser Doppelmörder, dieses Monster, sah aus wie der Kapitän der Wasserballmannschaft, der letztes Semester neben mir im Statistikseminar gesessen hatte. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Pizzaboten von dem Italiener, wo die Pizzen so waren, wie ich sie am liebsten mochte: dünn und knusprig. Er erinnerte mich sogar an den Jungen, den ich auf dem Weg zum Gericht durch den Schnee hatte stapfen sehen, für den ich das Fenster runtergekurbelt hatte, um ihn zu fragen, ob ich ihn ein Stück mitnehmen könne. Anders ausgedrückt, er sah nicht so aus, wie ein Mörder meiner Vorstellung nach aussehen würde, sollte mir je einer über den Weg laufen. Er hätte irgendein x-beliebiger junger Mann Anfang zwanzig sein können. Ich hätte er selbst sein können. Bis auf einen entscheidenden Unterschied: Er saß in Hand- und Fußschellen ein paar Meter von mir entfernt, und es war meine Aufgabe zu entscheiden, ob er es verdiente weiterzuleben oder nicht.
Einen Monat später wusste ich, dass der Dienst als Geschworener himmelweit von dem entfernt ist, was man aus Film und Fernsehen kennt. Ständig ging es zwischen Gerichtssaal und Geschworenenzimmer hin und her; das angelieferte Essen war mies; manche Anwälte hörten sich furchtbar gern reden, und glauben Sie mir, nicht jede Staatsanwältin ist so sexy wie die in Law&Order. Noch nach vier Wochen hatte ich beim Betreten dieses Gerichtssaales das Gefühl, ohne Reiseführer in einem fremden Land anzukommen...aber hier konnte ich meine Unwissenheit nicht damit entschuldigen, Tourist zu sein. Man erwartete von mir, dass ich die fremde Sprache fließend sprach. Der erste Teil des Prozesses war abgeschlossen: Wir hatten Bourne für schuldig befunden. Die Staatsanwaltschaft hatte reichlich Beweise dafür vorgelegt, dass Kurt Nealon in Ausübung seines Dienstes als Polizeibeamter bei dem Versuch erschossen worden war, Shay Bourne festzunehmen, nachdem er ihn mit seiner Stieftochter überrascht hatte, deren Unterwäsche in Bournes Tasche gefunden worden war. Als June Nealon, die bei einer Ultraschalluntersuchung gewesen war, nach Hause kam, erwartete sie ein Aufgebot an Rettungs- und Polizeifahrzeugen:
Ihre Tochter war tot, ihr Mann tödlich verletzt. Gegen die überwältigende Beweislast der Staatsanwaltschaft hatte die Verteidigung keine Chance. Erschwerend kam hinzu, dass Bourne selbst nicht in den Zeugenstand gerufen worden war, vielleicht aufgrund seiner mangelhaften Ausdrucksfähigkeit... oder weil er nicht nur schuldig wie die Sünde war, sondern auch weil sein eigener Verteidiger ihn für ein unkalkulierbares Risiko hielt.
Jetzt waren wir kurz davor, den zweiten Teil des Prozesses abzuschließen - die Festlegung des Strafmaßes -, genauer gesagt, den Teil, der diesen Prozess von jedem anderen Mordprozess im vergangenen halben Jahrhundert in New Hampshire unterschied. Hatte Bourne, von dem wir nun wussten, dass er der Täter war, die Todesstrafe verdient?
Dieser zweite Teil war sozusagen eine aufs Wesentliche reduzierte Version des ersten Teils. Die Staatsanwaltschaft fasste die Beweismittel noch einmal zusammen, dann erhielt die Verteidigung Gelegenheit, Mitgefühl für einen Mörder zu wecken.
Wir erfuhren, dass Bourne von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht worden war. Dass er mit sechzehn im Haus seiner Pflegeeltern einen Brand gelegt und dafür zwei Jahre im Jugendgefängnis gesessen hatte. Er litt an einer unbehandelten bipolaren Störung, einer zentral-auditiven Verarbeitungsstörung, einer Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen, und er hatte Probleme mit dem Lesen und Schreiben.
Das alles erfuhren wir allerdings aus dem Mund von Zeugen. Wieder einmal war es nicht Shay Bourne persönlich, der uns um Gnade bat.
Jetzt war es Zeit für die Schlussplädoyers, und ich sah, wie der Staatsanwalt seine gestreifte Krawatte glatt strich und vortrat.
Ein großer Unterschied zwischen einem herkömmlichen Prozess und der Strafzumessungsphase in einem Prozess, in dem die Todesstrafe beantragt wurde, besteht darin, wer das letzte Wort bekommt. Ich selbst hatte keine Ahnung von so was, aber Maureen - eine reizende ältere Geschworene, die ich liebend gern als Großmutter gehabt hätte - verpasste nicht eine einzige Folge von Law & Order und hatte quasi ein Jurastudium im Fernsehsessel absolviert. In den meisten Prozessen kam die Staatsanwaltschaft mit ihrem Schlussplädoyer als Letzte zu Wort...sodass einem ihre Worte noch in den Ohren klangen, wenn man sich mit den übrigen Geschworenen zur Beratung zurückzog. Aber in einem Prozess, in dem es um die Todesstrafe ging, sprach die Staatsanwaltschaft zuerst, und dann hatte die Verteidigung eine letzte Chance, die Meinung der Geschworenen zu ändern.
Schließlich ging es hier um Leben oder Tod.
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2009 Piper Verlag Gmbh, München
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Autoren-Porträt von Jodi Picoult
Picoult, JodiJodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, studierte in Princeton Creative Writing und in Harvard Erziehungswissenschaften.1992 veröffentlichte sie ihren ersten Roman und gehört heute zu den beliebtesten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Hanover, New Hampshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jodi Picoult
- 2010, 464 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Wasel, Ulrike; Timmermann, Klaus
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492263763
- ISBN-13: 9783492263764
Rezension zu „Das Herz ihrer Tochter “
"Ein höchst spannendes Buch (...) über die Moralvorstellungen und religiösen Fragen unserer Gesellschaft, das einem noch lange im Kopf bleibt!", Kölner Stadt-Anzeiger, 26.07.2012 20151120
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