Das Habsburgerreich - Inspiration für Europa?

Ein interessanter Titel, der Lust auf Mehr macht. Eine Fragestellung, die auf befriedigende, fundierte Antworten hofft. Eigentlich hatte sich der Rezensent vor dem Aufschlagen des Buches ein wissenschaftliches Werk versprochen. Dem Anspruch will sich aber auch die Autorin nicht unterwerfen. Das ist auch gut so, denn sie ist Journalistin und keine Wissenschaftlerin, sondern Journalistin, Kolumnistin und Korrespondentin bei renommierten Zeitungen. Und somit ist die vorliegende Analyse auch nicht unter den Aspekten der Wissenschaft zu bewerten. Trotzdem muss die Faktenlage natürlich stimmen. Und das tut sie, denn ihr ging viel Recherche voraus. So entstand ein besonderes, ein sehr persönliches Buch, ein akribischer Bericht, geschrieben mit Empathie und Engagement, gestützt auf Gespräche, persönliche Besuche bei Personen und an originalen Örtlichkeiten. Und dafür gibt Wien ja eine ganze Menge her. Durchaus ein Plädoyer für Europa und ein Bekenntnis zu Europa, hochinteressant, mit viel Kenntnis- und Erkenntnisgewinn, flüssig geschrieben, dem Rezipienten entgegenkommend, spannend zu lesen, einfach auch mitreissend. Gerne folgt man ihr, hat Teil an ihrem Enthusiasmus, folgt ihr auf ihrer Spurensuche, auf ihrem Weg in die Vergangenheit, die durch sie präsent wird; man teilt gerne ihr Eintauchen in die Welt des sozialen Gefüges der Habsburger, die Vergleiche mit der gegenwärtigen EU sucht. Geht das überhaupt, sind die beiden Konstrukte überhaupt miteinander vergleichbar? Die Autorin meint ja und man kann es nur bestätigen. Auch wenn am Ende für den Einzelnen „nur“ herauskommt, dass Kompromisse unumgänglich sind.

Das Lesevergnügen ist ein Eintauchen in Geschichte, die beim Lesen lebendig wird und von der man unbedingt lernen kann und muss. So legt die Autorin ihr Augenmerk u.a. auf die damaligen und gegenwärtigen politischen Turbulenzen, auf das Erstarken von Nationalisten Separationsbewegungen, Fortschrittsideen, Freihandel, Grenzöffnungen und -schliessungen, Migranten und Migrations-bewegungen sowie den Umgang mit Minderheiten. Wichtig, dass man erkennt, dass das Habsburgerreich und die EU als notwendiges Dach, als übergreifende Struktur zur Konfliktvermeidung und -minderung dienen (können, müssen, sollen). Nicht zuletzt deshalb leben wir seit Jahrzehnten in einer Blase des Friedens.

Es wäre schade gewesen, wäre das mit eigenwilligen Fotos (s/w) illustrierte Buch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Es ist unbedingt empfehlenswert für Politik- und Geschichtslehrkräfte sowie –interessierte, oder für Menschen, die einfach auf der Suche nach spannender Lektüre sind.