Das grössere Glück
Roman
Eine junge Frau in Chicago, die vor Glück nur so strahlt. Sie lebt völlig ohne Zorn, alle Freunde und Bekannte kreisen nur um sie. Doch sie stammt aus Algerien, einem Hexenkessel aus Gewalt und Gegengewalt, dem sie nur knapp entging. Kennt sie das Geheimnis...
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Produktinformationen zu „Das grössere Glück “
Klappentext zu „Das grössere Glück “
Eine junge Frau in Chicago, die vor Glück nur so strahlt. Sie lebt völlig ohne Zorn, alle Freunde und Bekannte kreisen nur um sie. Doch sie stammt aus Algerien, einem Hexenkessel aus Gewalt und Gegengewalt, dem sie nur knapp entging. Kennt sie das Geheimnis des Glücks, besitzt sie gar das »Glücks-Gen«? Laboratorien und Fernsehshows reissen sich um sie, ein Karussell, das sich immer schneller dreht, bis sie alles zu verlieren droht.Meisterhaft ist Richard Powers ein grosser Roman gelungen über die Frage, was unser Leben bestimmt - die Sterne, die Eltern, oder liegt alles in den Genen? Mit einer zärtlichen Liebesgeschichte sucht er die Antwort: Greift die Zukunft nach uns oder wir nach der Zukunft?
Lese-Probe zu „Das grössere Glück “
Das größere Glück von Richard PowersEr heißt Russell Stone. Jedenfalls nennt er diesen Namen dem Wachmann in der Lobby des Mesquakie. Der Mann verlangt einen College-Ausweis; Russell Stone muss passen. Er versucht, seine Einstellung in letzter Sekunde zu erklären. Der Wachmann kämmt einen Ausdruck nach Russells Namen durch, vergeblich. Er telefoniert hin und her und wiederholt den Namen dabei so misstrauisch, dass Russell Stone sich am liebsten für den anmaßenden Irrglauben entschuldigt hätte, hier je einen Job bekommen zu haben.
Schließlich legt der Mann auf. Er erklärt mit verhaltenem Zorn, dass Stone den Stichtag versäumt habe, und gibt ihm trotz seiner Bedenken eine Sicherheitsmarke. Dabei schüttelt er die ganze Zeit den Kopf.
Als Russell den Raum endlich findet, sind seine acht, am ovalen Tisch sitzenden Studenten schon in zig Gespräche vertieft. Er begreift auf Anhieb, dass seine Vorbereitung grundfalsch war.
Er betastet das sorgfältig ausgewählte Textbuch durch das dicke Plastik der Tüte - Frederick P. Harmons Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht. Doch es ist zu spät; das Buch ist ein absurder Irrtum. Dieser Kurs wird sich noch lange darüber amüsieren.
Eigentlich müsste ich Mitleid mit dem Mann haben. Aber was, im Namen aller zweiten Chancen, hat er sich nur dabei gedacht?
Er steht in der Tür, probiert ein schüchternes Lächeln; niemand beachtet ihn. Er strebt kopfnickend auf die Lücke im Oval der Studenten zu. Um sie zur Ruhe zu mahnen und zu verbergen, dass seine Hände zittern, lässt er die Tüte auf den Tisch plumpsen. Er nimmt den Harmon zur Hand, betrachtet die Gruppe mit hochgezogener Augenbraue. Das Buch öffnet sich wie von selbst auf einer Seite mit vielen Anstreichungen:
... mehr
Überzeugende Figuren verhalten sich je nach Publikum und Art einer Krisensituation anders. Anhand ihrer wechselnden Strategien durchschauen wir sie bald besser, als sie sich selbst durchschauen.
»Hat jeder eine Ausgabe des Buches?«
Niemand antwortet.
»Gut. Tjaaa ...« Er blättert in seinem Notizblock. »Mal ... schauen. Bitte nichts verraten!« Ein oder zwei Studenten kichern mehrdeutig. »Ach ja. Vorstellung. Wie wäre es mit einem Namen, ein paar biographischen Angaben und einer Lebensphilosophie? Ich fange an. Russell Stone. Tagsüber engelsgeduldiger Redakteur bei einer lokalen Zeitschrift. Lebensphilosophie ...«
Aus Bequemlichkeit lege ich ihm meine in den Mund.
»Wenn man zu wissen glaubt, was man sieht, sollte man noch einmal genauer hinschauen.«
Er blickt zur links von ihm sitzenden Frau, ganz Lila und Stahl. »Also: Wer sind Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind?«
Ich wünschte, ich hätte Stones Studenten besser vor Augen. Ich merke, wie sehr sie ihn aus dem Konzept bringen. Aber ich kann sie nicht genau erkennen. Sie verbergen sich hinter der trotzig-selbstbewussten Rolle der Jugend.
Zuerst ist Sue Weston an der Reihe, eine kleine, drahtige Frau, die sich unter Wölfen und im Auge der Gefahr am wohlsten fühlt. Sie hat einen schrägen Blick auf die Welt, unter dem schiefen Pony ihres selbstgestutzten Pagenschnitts. Kürzlich hat sie ihre wenigen weichen Stellen piercen lassen. Sie regt sich so sehr über die Meinung der Öffentlichkeit auf, dass man es mit der Angst zu tun bekommen könnte. Sie beschreibt ihre Lebensphilosophie: »Der lausigste, fünf Sekunden lange Werbejingle ist besser als jede Symphonie, wenn ihn mehr Leute summen.«
Eine dicke, blondierte, alles vertilgende Frau rechts von Sue bereitet sich schnaufend auf das Vorstellungsritual vor. Charlotte Hullinger ist in den letzten zweiundzwanzig Jahren zwölfmal umgezogen. Aus ihrem überfüllten Rucksack quellen Schmierzettel mit Skizzen. Ihr linker Mundwinkel ist in ständiger Skepsis verkniffen. Sie jagt mir Angst ein, verkündet schulterzuckend ihr Credo: »Ich probiere alles einmal aus. Wenn es gut ist, zweimal.«
Über Adam Tovars T-Shirt krabbeln Cowboys, über seine weite Hose trabt eine Parade von Zootieren. Diese Kluft trägt er immer und überall, ob beim Croquet auf der Dachterrasse oder bei der Beerdigung seiner Vorfahren. Er sagt: »Mein Urgroßvater wurde Bergmann, damit mein Großvater Ingenieur werden, damit mein Vater Dichter werden, damit ich Kiffer werden konnte.« Die anderen schenken ihm ein Lachen, und das ist schon alles, was er vom Leben will. Er erzählt, dass er im letzten Jahr an Bord eines Kreuzfahrtschiffs war, das von somalischen Piraten gekapert wurde. Mit einem stehe er noch in E-Mail-Kontakt. »Ich weiß nur eines ganz genau: Man kann nicht unbedarft genug sein.«
Roberto Mufioz - groß, hager, kahlköpfig und gehetzt - sieht sich ständig nach dem Ausgang um. Seine Haut lässt auf eine Stoffwechselstörung schließen, und er sollte besser zum Arzt
gehen. Ich stelle mir vor, dass seine Eltern nachts die Wüste von Chihuahua durchquert haben, um in dieses Land zu gelangen, aber das ist vielleicht nur ein Klischee. Während der letzten vier Jahre hat ihm das Malen geholfen, vom Crystal wegzukommen. »Man muss mit den Karten spielen, die man auf der Hand hat«, sagt er mit Nachdruck. »Jeder muss das Beste aus seinem Blatt machen.«
Die geduckte Gestalt neben Roberto flüstert: »Kiyoshi Sims.« Er verbirgt sich hinter seinem schwarzen Brillengestell, als würde ihn die Gruppe vergessen, wenn er nur lange genug stillhält. Seine Menschen sind die Maschinen; von ihnen wird er heiß geliebt und anerkannt. Er könnte wie aus Versehen hundert Millionen Dollar mit einem digitalen Patent verdienen, das die Welt auf den Kopf stellt, und wäre trotzdem unfähig, sich davon eine Eigentumswohnung zu kaufen. »Ich weiß nicht genau, welche Lebensphilosophie ich habe«, stammelt er. »Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht.«
»Mason Mason«, verkündet Mason Mason. Verlud für kurze Zeit Gepäck in O'Hare, bis man herausfand, dass er bei der Bewerbung gelogen hatte. Arbeitete für kurze Zeit als Berater für Jugendliche, bis man merkte, welche Ratschläge er gab. Er kratzt sich am Ohr und behauptet dann vollmundig: »Die meisten Leute hätten einen vermutlich gern tot, die wenigsten lebendig.«
Als Vorletzter ist John Thornell an der Reihe, ein schwerer, träger Hüne. Die Leute kümmern ihn weniger, als der Schnee einen Berg kümmert. Er erzählt von seinem neuesten Projekt, einer Serie von 365 Skriptolzeichnungen, die jeweils fein säuberlich das Logo eines täglich von ihm benutzten Produkts wiedergeben. Er verkündet seine Lebensphilosophie wie ein Roboter: »Das höchste aller menschlichen Gefühle muss wohl die Langeweile sein.«
Stones Studenten spielen sich selbst, jeder ist ein unvollendetes Kunstwerk. Ihre Augen füllen sich mit den Designs, die sie entwerfen, den Videoclips, die sie drehen, den Hypermedien, die sie heraufbeschwören werden. Russell Stone kennt sie alle aus der zehn Jahre zurückliegenden Zeit, als er noch einer von ihnen war. Er bedauert schon jetzt ihren Abstieg in die öden Weiten des Nonfiktionalen.
Die Runde der Vorstellungen schließt mit der links neben ihm sitzenden, schmalen, kleinen und ethnisch ambivalenten Frau. Sie trägt eine Jeans mit Bleichflecken und eine knallgelbe Tunika. An den rotbraunen Unterarmen trägt sie silberne Armreifen, über ihre Schultern schlängelt sich ein Tuch in bunten, mediterranen Farben. Sie hat ihr dunkles, lockiges Haar zum üppigen Pferdeschwanz gebunden. Sie wartet schamhaft, still und aufmerksam, bis sie an der Reihe ist.
Sie ist die Einzige, die ich ganz genau erkennen kann.
»Lassen Sie mich raten«, sagt Russell Stone. »Amzwar?« Das ist der letzte Name auf seiner Liste.
Sie lächelt über seinen lahmen Scherz. »Ja! Amzwar. Thassadit Amzwar.« Ihr Akzent passt in keine Schublade. Sie stellt sich als algerischstämmige Berberin aus der Kabylei vor und sagt, sie sei über Algier, Paris und Montreal gekommen. Ihre Augen sind bordeauxrot. Sie plaudert ganz entspannt, eingehüllt in den Nimbus ihrer Haare. Er meint zu hören, dass sie vor dem algerischen Bürgerkrieg geflohen ist. Er würde sie gern um eine Wiederholung dieser Worte bitten. Stattdessen packt ihn die Panik, und er fragt sie nach ihrer Lebensphilosophie.
»Das Leben ist zu schade für Philosophien«, erwidert sie. »Ich versuche, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.«
Meine Augen gewöhnen sich ein: Dunkles, rissiges Linoleum, Fenster mit kaputten Rahmen. Neonröhren, brummend wie Propellerflugzeuge und tief über einer Runde von Studenten hängend, die noch von der Anspannung und Begeisterung des Anfangs erfüllt sind, als wäre immer noch alles möglich, sogar an diesem späten Punkt der Geschichte, sogar in Chicago.
Die erste Stunde geht so glatt, dass es Russell Stone mit der Angst zu tun bekommt. Die Studenten reißen den Lehrplan regelrecht an sich. Jeder von ihnen ist hungrig auf Frisches. Selbst die Älteren unter ihnen glauben noch, dass sich ihre Bestimmung in einem der nächsten Semester zeigen wird. Drei gestehen, dass sie dabei sind, weil Reise und Reisetagebuch für Leute, die im Hauptfach Medienkunst studieren, die einfachste Möglichkeit ist, um die Pflichtkurse im Schreiben abzuhaken. Wörter sind nicht das Gewand, in das sie ihre Verzweiflung kleiden; Sätze können nicht darauf hoffen, die Bilderflut zu überleben. Aber wer weiß? Auch ein Eintrag im Reisetagebuch könnte in ein kurzes Video verwandelt werden.
Mason Mason stellt die auf der Hand liegende Frage: »Warum schreiben wir nicht online? Tagebücher sind doch nur tote Blogs, oder?«
Russell hat sich drei Tage lang auf diese Frage vorbereitet. Er verteidigt das private Schreiben gegen alle, die ihre Texte für Leute mit einer Suchmaschine ins Netz stellen. »Ich möchte, dass Sie denken und fühlen, nicht, dass Sie sich verkaufen. Ihr Schreiben sollte eine intime Mahlzeit sein, keine Dinnershow. «
Seine Nostalgie wird mit einem Schulterzucken quittiert. Sie werden in der Zeitmaschine eine Runde rückwärts drehen; immerhin etwas Neues.
Sue Weston beschreibt ihr aktuelles Kunstprojekt. »Es heißt >Elster<. Ich stehe auf der Daley Plaza und notiere mir, was die Leute alles so in ihr Handy quasseln. Dann stelle ich es in einen Tumblelog. Schon verrückt, was die Leute auf der Straße einem Haufen Fremden preisgeben.«
Roberto Mufioz flüstert: »Erstaunt mich, dass du das ethisch korrekt findest.« Ein Aufschrei in der Gruppe, und schon fliegen unter den Kunststudenten die Fetzen. Russell Stone wird klar, dass er seinen Plan für die Stunde vergessen kann.
Adam Tovar beschreibt sein automatisches Geisterschreiben: »Ich lasse es einfach kommen.« Die Klasse beschließt durch namentliche Abstimmung, dass es tatsächlich Geister gibt, Uploads der Seele im virtuellen Vorrat.
»Das Schreiben kommt sowieso aus dem Jenseits«, behauptet John Thornell. »Einer ist doch immer tot, der Autor oder das Publikum, oder wird es jedenfalls bald sein.«
Die Algerierin sieht so fasziniert zu wie ein frisch von einer Krankheit genesenes Kind, das bei herrlichem Wetter einem Tennisspiel beiwohnt. Die anderen täuschen Gleichmut vor und ignorieren sie. Doch als sich Thassadit meldet, erstarren alle. »In meinem Land? Während der Schreckenszeit ...?«
Russell kann ihr bald nicht mehr folgen. Sie erzählt etwas von ihrem Vater, der erschossen wurde, weil er einen Brief geschrieben hatte, spricht aber so gemessen, als wäre all das eine Metapher. Über Algerien weiß Stone nur, dass es früher eine französische Kolonie war und eine Nationalflagge hat, die astronomisch falsch ist. Die Sache mit dem Bürgerkrieg ist ihm neu. Die ganze Welt ist ihm neu.
Das offene Grinsen der Berberin irritiert die Amerikaner, die wieder über die Frage diskutieren, ob das Lauschen ethisch korrekt ist. Thassadit beobachtet sie still, die Hände friedlich auf den Tisch gelegt, in sich selbst ruhend. Sie lächelt während der ganzen Diskussion, als wäre dies eine höchst unterhaltsame Filmvorführung.
Sie überziehen die erste abendliche Unterrichtsstunde, noch bevor Russell auch nur ein Viertel seiner Notizen abgehakt hat. Er gibt den Studenten zwanzig Seiten aus Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht auf, entschuldigt sich fast für den Text, als hätte ihn jemand anderer ausgewählt. Er stellt ihnen die erste Aufgabe für das Tagebuch; jene über das Ereignis vom Vortag, das es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden. Am übernächsten Abend werden sie den Eintrag laut vorlesen. »Viel Spaß«, sagt er und weicht dabei dem Blick der Algerierin aus. »Überrascht mich.«
Dann stolpert er am Wachmann des Colleges vorbei in die Septembernacht. Im Loop-Viertel herrscht Stille. Das dreidimensionale Gitterwerk aus Licht erinnert ihn an das Tetris-Spiel, nach dem sein Bruder süchtig ist. Neun Millionen Leben von hier bis zum Horizont, und Gott allein weiß, wie viele Kunsthochschulen für diesen Abend gerade Schluss machen. In einer Stunde werden die Abendkurse in Lima enden. In Tianjin hat der morgendliche Unterricht schon begonnen.
Mir geht auf, dass mein Aushilfslehrer noch nie von Tianjin gehört hat. Er steigt in der Roosevelt in die Red Line, fährt nach Norden, meidet die spärlich besetzten Abteile. Die Bahn taucht aus ihrer Grotte auf, braust durch eine Backsteinschlucht - die Rückseiten von Mietshäusern, eingerüstet in hölzerne Feuertreppen. Die abendlichen Lichter verwandeln sie in teure Eigentumswohnungen. Er ist hocherfreut, weil seine erste Stunde so gut gelaufen ist. Während der Fahrt kritzelt er einen Bericht über die letzten zwei Stunden in sein eigenes Tagebuch. Er schildert die gewollte Naivität und die mutige Selbsterfindung seiner Studenten. Wie würde das Leben wohl aussehen, schreibt er, wenn Kunststudenten am Ende ihre Revolution bekommen würden?
Russell Stone beantwortet seine Frage nicht. Ich beobachte ihn bei dem Versuch, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.
In seiner Einzimmerwohnung am Logan Square macht er sich ein kleines Sandwich mit schlaffem Salat und Käse, von dem er erst eine Schimmelschicht abschabt. Dann versucht er, die Kabylei zu finden. Er will sie schwarz auf weiß auf einer Buchseite haben, nicht online. Er entdeckt sie im Atlas. Im Atlasgebirge. Ein Versteck in zerklüftetem Gelände, eine Separatisten-Hochburg mit Ziegen und Olivenbäumen in einem Land, das mit dem wun- derbarsten und wohlriechendsten Frühling auf Erden gesegnet ist.
Als er im Dunkeln im Bett liegt, spielt er die Diskussion des Abends noch einmal durch. Er denkt die ganze Zeit an Fiktiv/ Nonfiktiv. In vier Stunden muss er aufstehen und sich auf die lange Fahrt zum täglichen Redaktionsjob machen. Nachdem er vierzig Minuten lang so getan hat, als würde er schlafen, wälzt er sich herum und knipst das Licht an. Sein Tagebuch liegt griffbereit auf dem Nachttisch. Er notiert unter seinem euphorischen U-Bahn-Eintrag: Sie muss der glücklichste Flüchtling auf der ganzen Welt sein.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Überzeugende Figuren verhalten sich je nach Publikum und Art einer Krisensituation anders. Anhand ihrer wechselnden Strategien durchschauen wir sie bald besser, als sie sich selbst durchschauen.
»Hat jeder eine Ausgabe des Buches?«
Niemand antwortet.
»Gut. Tjaaa ...« Er blättert in seinem Notizblock. »Mal ... schauen. Bitte nichts verraten!« Ein oder zwei Studenten kichern mehrdeutig. »Ach ja. Vorstellung. Wie wäre es mit einem Namen, ein paar biographischen Angaben und einer Lebensphilosophie? Ich fange an. Russell Stone. Tagsüber engelsgeduldiger Redakteur bei einer lokalen Zeitschrift. Lebensphilosophie ...«
Aus Bequemlichkeit lege ich ihm meine in den Mund.
»Wenn man zu wissen glaubt, was man sieht, sollte man noch einmal genauer hinschauen.«
Er blickt zur links von ihm sitzenden Frau, ganz Lila und Stahl. »Also: Wer sind Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind?«
Ich wünschte, ich hätte Stones Studenten besser vor Augen. Ich merke, wie sehr sie ihn aus dem Konzept bringen. Aber ich kann sie nicht genau erkennen. Sie verbergen sich hinter der trotzig-selbstbewussten Rolle der Jugend.
Zuerst ist Sue Weston an der Reihe, eine kleine, drahtige Frau, die sich unter Wölfen und im Auge der Gefahr am wohlsten fühlt. Sie hat einen schrägen Blick auf die Welt, unter dem schiefen Pony ihres selbstgestutzten Pagenschnitts. Kürzlich hat sie ihre wenigen weichen Stellen piercen lassen. Sie regt sich so sehr über die Meinung der Öffentlichkeit auf, dass man es mit der Angst zu tun bekommen könnte. Sie beschreibt ihre Lebensphilosophie: »Der lausigste, fünf Sekunden lange Werbejingle ist besser als jede Symphonie, wenn ihn mehr Leute summen.«
Eine dicke, blondierte, alles vertilgende Frau rechts von Sue bereitet sich schnaufend auf das Vorstellungsritual vor. Charlotte Hullinger ist in den letzten zweiundzwanzig Jahren zwölfmal umgezogen. Aus ihrem überfüllten Rucksack quellen Schmierzettel mit Skizzen. Ihr linker Mundwinkel ist in ständiger Skepsis verkniffen. Sie jagt mir Angst ein, verkündet schulterzuckend ihr Credo: »Ich probiere alles einmal aus. Wenn es gut ist, zweimal.«
Über Adam Tovars T-Shirt krabbeln Cowboys, über seine weite Hose trabt eine Parade von Zootieren. Diese Kluft trägt er immer und überall, ob beim Croquet auf der Dachterrasse oder bei der Beerdigung seiner Vorfahren. Er sagt: »Mein Urgroßvater wurde Bergmann, damit mein Großvater Ingenieur werden, damit mein Vater Dichter werden, damit ich Kiffer werden konnte.« Die anderen schenken ihm ein Lachen, und das ist schon alles, was er vom Leben will. Er erzählt, dass er im letzten Jahr an Bord eines Kreuzfahrtschiffs war, das von somalischen Piraten gekapert wurde. Mit einem stehe er noch in E-Mail-Kontakt. »Ich weiß nur eines ganz genau: Man kann nicht unbedarft genug sein.«
Roberto Mufioz - groß, hager, kahlköpfig und gehetzt - sieht sich ständig nach dem Ausgang um. Seine Haut lässt auf eine Stoffwechselstörung schließen, und er sollte besser zum Arzt
gehen. Ich stelle mir vor, dass seine Eltern nachts die Wüste von Chihuahua durchquert haben, um in dieses Land zu gelangen, aber das ist vielleicht nur ein Klischee. Während der letzten vier Jahre hat ihm das Malen geholfen, vom Crystal wegzukommen. »Man muss mit den Karten spielen, die man auf der Hand hat«, sagt er mit Nachdruck. »Jeder muss das Beste aus seinem Blatt machen.«
Die geduckte Gestalt neben Roberto flüstert: »Kiyoshi Sims.« Er verbirgt sich hinter seinem schwarzen Brillengestell, als würde ihn die Gruppe vergessen, wenn er nur lange genug stillhält. Seine Menschen sind die Maschinen; von ihnen wird er heiß geliebt und anerkannt. Er könnte wie aus Versehen hundert Millionen Dollar mit einem digitalen Patent verdienen, das die Welt auf den Kopf stellt, und wäre trotzdem unfähig, sich davon eine Eigentumswohnung zu kaufen. »Ich weiß nicht genau, welche Lebensphilosophie ich habe«, stammelt er. »Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht.«
»Mason Mason«, verkündet Mason Mason. Verlud für kurze Zeit Gepäck in O'Hare, bis man herausfand, dass er bei der Bewerbung gelogen hatte. Arbeitete für kurze Zeit als Berater für Jugendliche, bis man merkte, welche Ratschläge er gab. Er kratzt sich am Ohr und behauptet dann vollmundig: »Die meisten Leute hätten einen vermutlich gern tot, die wenigsten lebendig.«
Als Vorletzter ist John Thornell an der Reihe, ein schwerer, träger Hüne. Die Leute kümmern ihn weniger, als der Schnee einen Berg kümmert. Er erzählt von seinem neuesten Projekt, einer Serie von 365 Skriptolzeichnungen, die jeweils fein säuberlich das Logo eines täglich von ihm benutzten Produkts wiedergeben. Er verkündet seine Lebensphilosophie wie ein Roboter: »Das höchste aller menschlichen Gefühle muss wohl die Langeweile sein.«
Stones Studenten spielen sich selbst, jeder ist ein unvollendetes Kunstwerk. Ihre Augen füllen sich mit den Designs, die sie entwerfen, den Videoclips, die sie drehen, den Hypermedien, die sie heraufbeschwören werden. Russell Stone kennt sie alle aus der zehn Jahre zurückliegenden Zeit, als er noch einer von ihnen war. Er bedauert schon jetzt ihren Abstieg in die öden Weiten des Nonfiktionalen.
Die Runde der Vorstellungen schließt mit der links neben ihm sitzenden, schmalen, kleinen und ethnisch ambivalenten Frau. Sie trägt eine Jeans mit Bleichflecken und eine knallgelbe Tunika. An den rotbraunen Unterarmen trägt sie silberne Armreifen, über ihre Schultern schlängelt sich ein Tuch in bunten, mediterranen Farben. Sie hat ihr dunkles, lockiges Haar zum üppigen Pferdeschwanz gebunden. Sie wartet schamhaft, still und aufmerksam, bis sie an der Reihe ist.
Sie ist die Einzige, die ich ganz genau erkennen kann.
»Lassen Sie mich raten«, sagt Russell Stone. »Amzwar?« Das ist der letzte Name auf seiner Liste.
Sie lächelt über seinen lahmen Scherz. »Ja! Amzwar. Thassadit Amzwar.« Ihr Akzent passt in keine Schublade. Sie stellt sich als algerischstämmige Berberin aus der Kabylei vor und sagt, sie sei über Algier, Paris und Montreal gekommen. Ihre Augen sind bordeauxrot. Sie plaudert ganz entspannt, eingehüllt in den Nimbus ihrer Haare. Er meint zu hören, dass sie vor dem algerischen Bürgerkrieg geflohen ist. Er würde sie gern um eine Wiederholung dieser Worte bitten. Stattdessen packt ihn die Panik, und er fragt sie nach ihrer Lebensphilosophie.
»Das Leben ist zu schade für Philosophien«, erwidert sie. »Ich versuche, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.«
Meine Augen gewöhnen sich ein: Dunkles, rissiges Linoleum, Fenster mit kaputten Rahmen. Neonröhren, brummend wie Propellerflugzeuge und tief über einer Runde von Studenten hängend, die noch von der Anspannung und Begeisterung des Anfangs erfüllt sind, als wäre immer noch alles möglich, sogar an diesem späten Punkt der Geschichte, sogar in Chicago.
Die erste Stunde geht so glatt, dass es Russell Stone mit der Angst zu tun bekommt. Die Studenten reißen den Lehrplan regelrecht an sich. Jeder von ihnen ist hungrig auf Frisches. Selbst die Älteren unter ihnen glauben noch, dass sich ihre Bestimmung in einem der nächsten Semester zeigen wird. Drei gestehen, dass sie dabei sind, weil Reise und Reisetagebuch für Leute, die im Hauptfach Medienkunst studieren, die einfachste Möglichkeit ist, um die Pflichtkurse im Schreiben abzuhaken. Wörter sind nicht das Gewand, in das sie ihre Verzweiflung kleiden; Sätze können nicht darauf hoffen, die Bilderflut zu überleben. Aber wer weiß? Auch ein Eintrag im Reisetagebuch könnte in ein kurzes Video verwandelt werden.
Mason Mason stellt die auf der Hand liegende Frage: »Warum schreiben wir nicht online? Tagebücher sind doch nur tote Blogs, oder?«
Russell hat sich drei Tage lang auf diese Frage vorbereitet. Er verteidigt das private Schreiben gegen alle, die ihre Texte für Leute mit einer Suchmaschine ins Netz stellen. »Ich möchte, dass Sie denken und fühlen, nicht, dass Sie sich verkaufen. Ihr Schreiben sollte eine intime Mahlzeit sein, keine Dinnershow. «
Seine Nostalgie wird mit einem Schulterzucken quittiert. Sie werden in der Zeitmaschine eine Runde rückwärts drehen; immerhin etwas Neues.
Sue Weston beschreibt ihr aktuelles Kunstprojekt. »Es heißt >Elster<. Ich stehe auf der Daley Plaza und notiere mir, was die Leute alles so in ihr Handy quasseln. Dann stelle ich es in einen Tumblelog. Schon verrückt, was die Leute auf der Straße einem Haufen Fremden preisgeben.«
Roberto Mufioz flüstert: »Erstaunt mich, dass du das ethisch korrekt findest.« Ein Aufschrei in der Gruppe, und schon fliegen unter den Kunststudenten die Fetzen. Russell Stone wird klar, dass er seinen Plan für die Stunde vergessen kann.
Adam Tovar beschreibt sein automatisches Geisterschreiben: »Ich lasse es einfach kommen.« Die Klasse beschließt durch namentliche Abstimmung, dass es tatsächlich Geister gibt, Uploads der Seele im virtuellen Vorrat.
»Das Schreiben kommt sowieso aus dem Jenseits«, behauptet John Thornell. »Einer ist doch immer tot, der Autor oder das Publikum, oder wird es jedenfalls bald sein.«
Die Algerierin sieht so fasziniert zu wie ein frisch von einer Krankheit genesenes Kind, das bei herrlichem Wetter einem Tennisspiel beiwohnt. Die anderen täuschen Gleichmut vor und ignorieren sie. Doch als sich Thassadit meldet, erstarren alle. »In meinem Land? Während der Schreckenszeit ...?«
Russell kann ihr bald nicht mehr folgen. Sie erzählt etwas von ihrem Vater, der erschossen wurde, weil er einen Brief geschrieben hatte, spricht aber so gemessen, als wäre all das eine Metapher. Über Algerien weiß Stone nur, dass es früher eine französische Kolonie war und eine Nationalflagge hat, die astronomisch falsch ist. Die Sache mit dem Bürgerkrieg ist ihm neu. Die ganze Welt ist ihm neu.
Das offene Grinsen der Berberin irritiert die Amerikaner, die wieder über die Frage diskutieren, ob das Lauschen ethisch korrekt ist. Thassadit beobachtet sie still, die Hände friedlich auf den Tisch gelegt, in sich selbst ruhend. Sie lächelt während der ganzen Diskussion, als wäre dies eine höchst unterhaltsame Filmvorführung.
Sie überziehen die erste abendliche Unterrichtsstunde, noch bevor Russell auch nur ein Viertel seiner Notizen abgehakt hat. Er gibt den Studenten zwanzig Seiten aus Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht auf, entschuldigt sich fast für den Text, als hätte ihn jemand anderer ausgewählt. Er stellt ihnen die erste Aufgabe für das Tagebuch; jene über das Ereignis vom Vortag, das es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden. Am übernächsten Abend werden sie den Eintrag laut vorlesen. »Viel Spaß«, sagt er und weicht dabei dem Blick der Algerierin aus. »Überrascht mich.«
Dann stolpert er am Wachmann des Colleges vorbei in die Septembernacht. Im Loop-Viertel herrscht Stille. Das dreidimensionale Gitterwerk aus Licht erinnert ihn an das Tetris-Spiel, nach dem sein Bruder süchtig ist. Neun Millionen Leben von hier bis zum Horizont, und Gott allein weiß, wie viele Kunsthochschulen für diesen Abend gerade Schluss machen. In einer Stunde werden die Abendkurse in Lima enden. In Tianjin hat der morgendliche Unterricht schon begonnen.
Mir geht auf, dass mein Aushilfslehrer noch nie von Tianjin gehört hat. Er steigt in der Roosevelt in die Red Line, fährt nach Norden, meidet die spärlich besetzten Abteile. Die Bahn taucht aus ihrer Grotte auf, braust durch eine Backsteinschlucht - die Rückseiten von Mietshäusern, eingerüstet in hölzerne Feuertreppen. Die abendlichen Lichter verwandeln sie in teure Eigentumswohnungen. Er ist hocherfreut, weil seine erste Stunde so gut gelaufen ist. Während der Fahrt kritzelt er einen Bericht über die letzten zwei Stunden in sein eigenes Tagebuch. Er schildert die gewollte Naivität und die mutige Selbsterfindung seiner Studenten. Wie würde das Leben wohl aussehen, schreibt er, wenn Kunststudenten am Ende ihre Revolution bekommen würden?
Russell Stone beantwortet seine Frage nicht. Ich beobachte ihn bei dem Versuch, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.
In seiner Einzimmerwohnung am Logan Square macht er sich ein kleines Sandwich mit schlaffem Salat und Käse, von dem er erst eine Schimmelschicht abschabt. Dann versucht er, die Kabylei zu finden. Er will sie schwarz auf weiß auf einer Buchseite haben, nicht online. Er entdeckt sie im Atlas. Im Atlasgebirge. Ein Versteck in zerklüftetem Gelände, eine Separatisten-Hochburg mit Ziegen und Olivenbäumen in einem Land, das mit dem wun- derbarsten und wohlriechendsten Frühling auf Erden gesegnet ist.
Als er im Dunkeln im Bett liegt, spielt er die Diskussion des Abends noch einmal durch. Er denkt die ganze Zeit an Fiktiv/ Nonfiktiv. In vier Stunden muss er aufstehen und sich auf die lange Fahrt zum täglichen Redaktionsjob machen. Nachdem er vierzig Minuten lang so getan hat, als würde er schlafen, wälzt er sich herum und knipst das Licht an. Sein Tagebuch liegt griffbereit auf dem Nachttisch. Er notiert unter seinem euphorischen U-Bahn-Eintrag: Sie muss der glücklichste Flüchtling auf der ganzen Welt sein.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Richard Powers
Wie kaum ein anderer ist Richard Powers der Gegenwart auf der Spur: Das Wissen unserer Zeit will er in Geschichten erfahrbar, die Verwerfungen emotional erlebbar machen. Er wurde 1957 geboren und lebt in den USA. Auf sein Romandebüt 'Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz' (1985) erschienen neun weitere Romane. Sie wurden Bestseller wie 'Der Klang der Zeit' und mehrfach preisgekrönt. 2006 erhielt er den National Book Award für 'Das Echo der Erinnerung', es folgte 'Das grössere Glück'. In der Reportage 'Das Buch Ich #9' beschreibt Richard Powers den Prozess, als neunter Mensch überhaupt sein Genom vollständig entschlüsseln zu lassen. Für seinen Roman 'Die Wurzeln des Lebens' (2018) wurde Richard Powers mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. 2021 erschien sein Roman 'Erstaunen', der für den Booker Prize und den National Book Award nominiert ist, Heute lebt Richard Powers in den Great Smoky Mountains der Appalachen.Literaturpreise:Pulitzer Prize 2019 für »Die Wurzeln des Lebens«National Book Award 2006 für »Das Echo der Erinnerung« Ahrens, HenningHenning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte diverse Lyrikbände sowie die Romane »Lauf Jäger lauf«, »Langsamer Walzer«, »Tiertage« und »Glantz und Gloria«. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini. Zuletzt erschien sein Roman »Mitgift«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Powers
- 2011, 2. Aufl., 416 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Henning Ahrens
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596180929
- ISBN-13: 9783596180929
- Erscheinungsdatum: 13.01.2011
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