Das Grab
Roman. Deutsche Erstausgabe
Kompromisslos, schockierend, brillant
Alle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Außenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe...
Alle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Außenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Grab “
Kompromisslos, schockierend, brillant
Alle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Außenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe einer Autobatterie zum Leben zu erwecken. Jahre später wird Vicki immer noch von Alpträumen gequält. Als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, wird Melvin gerade aus einer Anstalt entlassen. Er ist verrückter als je zuvor - und hat bei seinen Experimenten gewaltige Fortschritte gemacht.
Alle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Außenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe einer Autobatterie zum Leben zu erwecken. Jahre später wird Vicki immer noch von Alpträumen gequält. Als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, wird Melvin gerade aus einer Anstalt entlassen. Er ist verrückter als je zuvor - und hat bei seinen Experimenten gewaltige Fortschritte gemacht.
Klappentext zu „Das Grab “
Kompromisslos, schockierend, brillantAlle machten sich über Melvin lustig. Nur Vicki hatte den Mut, sich für den Aussenseiter einzusetzen. Das änderte sich schlagartig, als er auf die Idee kam, eine Leiche auszugraben und mit Hilfe einer Autobatterie zum Leben zu erwecken. Jahre später wird Vicki immer noch von Alpträumen gequält. Als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, wird Melvin gerade aus einer Anstalt entlassen. Er ist verrückter als je zuvor - und hat bei seinen Experimenten gewaltige Fortschritte gemacht.
Lese-Probe zu „Das Grab “
DAS LETZTE SCHULJAHRKapitel Eins Das musste Steve Kraft sein. Es war Krafts blauer Trans Am, den sein Dad ihm geschenkt hatte, als er im letzten Herbst gegen die Bay sechs Touchdown-Pässe geworfen hatte.
So wie sein Kopf aussah, erinnerte er Wes an ein Marshmallow, das man auf einen Stock gespiesst hat, um es schön goldbraun zu rösten, und das plötzlich in Flammen aufgeht.
Man bläst das Feuer aus. Dann zieht man das Marsh- mallow vom Stock. Die harte Kruste löst sich so leicht, als wäre sie eine Schale, und das weiche, pappige Innere bleibt am Stock kleben.
Vielleicht würde sich Steves Gesicht genau so leicht ablösen lassen, wenn man _ Wes wandte sich von dem brennenden Wrack des Wagens ab und krümmte sich. "Vorsicht!" Manny tänzelte zurück, um seine Schuhe in Sicherheit zu bringen, als Wes anfing zu würgen.
"Was soll denn das werden?", fragte Manny. "Willst du, dass es mir auch noch hochkommt?"
Wes hörte ihn lachen und fragte sich, wie es jemand - selbst Manny - lustig finden konnte, dass Steve Kraft in die Mauer der Brücke gekracht und wie ein Marshmallow verbrannt war.
Dann klopfte Manny ihm auf den Rücken. "Du hättest dir wegen Kraft keinen Kopf zu machen brauchen, Alter. Hat sich von selbst erledigt, die Geschichte."
Wes richtete sich auf. "Das ist wirklich krank", murmelte er.
"Hey, der Typ war ein Arschloch." Manny nahm einen Schluck von dem Old Milwaukee, den er geöffnet hatte, als sie angehalten hatten, um zu sehen, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Er reichte Wes die Flasche.
Wes trank ein paar Schlucke, um den sauren Geschmack des Erbrochenen aus seinem Mund zu spülen. "Vielleicht sollten wir besser verschwinden", sagte er. "Wenn die Cops hier auftauchen, kriegen sie doch sofort mit, dass wir Alkohol getrunken haben. Ganz besonders Pollock. Der macht uns garantiert Ärger."
"Scheiss auf Dexter Pollock", knurrte Manny. Er stand mitten auf der Strasse und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, als hielte er nach dem
... mehr
Polizeichef Ausschau. "Wenn irgendein Auto auftaucht, dann Sein Kopf ruckte nach rechts. Sein Mund klappte auf.
Wes starrte in die gleiche Richtung.
Das Mädchen lag über der niedrigen Betonbrüstung in der Mitte der Brücke.
Wes glaubte zumindest, dass es ein Mädchen war. Er war sich jedoch nicht sicher, denn ihr Kopf war nicht zu sehen. Andererseits sah es aus, als ob sie nackt wäre, und Steve Kraft hatte sicherlich keinen nackten Mann in seinen Wagen gelassen.
"Ich glaube, sie hat gar nichts an", sagte Manny. Seine Stimme klang gedämpft und irgendwie verschwörerisch. "Komm mit."
Sie gingen langsam auf sie zu. Wes fühlte, wie sein Herz hämmerte. Sein Mund war trocken. Er nahm noch einen Schluck Bier.
"Wette, es ist Darlene", sagte Manny.
"Ja."
Manny rieb sich mit der Hand über den Mund. "Die hat nicht einen Faden am Leib. Kein Wunder, dass Kraft gegen die Mauer gedonnert ist."
Der Schein des Feuers flackerte über die nackte Haut ihres Rückens, ihres Hinterns und ihrer Beine. Ihr linkes Bein hing auf den Gehweg herab. Das andere lag angewinkelt auf der Mauer, als hätte sie versucht, darüber zu klettern und in den Fluss zu springen.
"Was macht sie da?", flüsterte Wes.
"Vielleicht hat sie 'ne Kontaktlinse verloren", sagte Manny und stiess ein kurzes, nervöses Lachen hervor. "Nicht einen Faden am Leib", murmelte er erneut.
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, stellte Wes fest. Jetzt, da sie näher bei dem Mädchen waren, konnte er sehen, dass sie weisse Socken und weisse Tennisschuhe trug. An ihrem linken Knöchel baumelte ein Höschen, das im rötlichen Schein der Flammen zu glänzen schien.
"Glaubst du, sie ist froh, uns zu sehen?", fragte Manny.
Wes fand es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten. Er hatte den starken Verdacht, dass Darlene so ziemlich jeden anderen lieber sehen wollte als Manny. Sie und all die übrigen eingebildeten Cheerleader und die meisten anderen Kids in der Oberstufe der Ellsworth High hielten Manny für den Abschaum des Planeten.
"Hey, Darlene, nicht springen! So schlimm ist es doch gar nicht. Stevie ist hinüber, aber wir sind ja hier."
Sie bewegte sich nicht.
"Vielleicht ist sie verletzt", sagte Wes.
"So schlimm kann sie nicht verletzt sein, wenn sie so weit gekommen ist. Darle-e-ene."
Als sie näher kamen, sah sich Wes nach dem brennenden Wagen um. Flammen loderten durch das Loch, wo einmal die Frontscheibe gewesen war. Er blickte wieder nach vorn. Manny stand bereits neben dem reglos auf der Brüstung liegenden Mädchen. "Hey, glaubst du, sie ist so weit rausgeschleudert worden?"
"Ganz sicher nicht." Er gab ihr einen Klaps auf den nackten Hintern. Die Pobacken bebten ganz leicht, doch sie zuckte nicht und schrie auch nicht auf. Er beugte sich über sie. "Hey, Wes", sagte er. "Ich glaube, ich weiss, was sie verloren hat."
Wes gefiel der hohe, merkwürdig schrille Ton in Mannys Stimme überhaupt nicht. "Was denn?"
"Ihren Kopf."
"Lass die Witze."
"Schau doch selbst nach."
Wes schob sich seitlich an Manny vorbei und beugte sich vor.
Ihre linke Schulter lag auf der Mauer. Die rechte ragte über den Rand der Brüstung hinaus. Ihr Arm hing schlaff herab und schien auf den Fluss zu deuten.
Wes wusste, dass ihr Kopf direkt zwischen den Schultern sein hätte sollen, doch er konnte ihn tatsächlich nicht entdecken.
"Nein", sagte er. "Er muss doch da sein." Diese Seite der Mauer wurde nicht vom Lichtschein des Feuers erhellt. Deshalb konnte er Darlenes Kopf nicht sehen.
"Die Schlampe wurde glatt enthauptet." Um zu beweisen, dass er Recht hatte, zog Manny an einem der nackten Beine der Toten.
Wes stiess einen erschreckten Schrei aus und machte einen Satz rückwärts, als der Körper sich auf ihn zubewegte, von der Brüstung rollte und vor seinen Füssen auf den Gehsteig fiel.
"Siehst du?", sagte Manny und machte einen Schritt zur Seite, damit sein Schatten sie nicht mehr verdeckte.
Wes sah es jetzt auch. Er sah den Stumpf ihres Halses zwischen den Schultern.
"Das ist tatsächlich Darlene", brummte Manny. "Sonst hat keine solche Titten."
"Ich finde, wir sollten sie nicht so angaffen", sagte Wes. "Schliesslich ist sie tot."
"Ja, sieht ganz so aus." Manny ging in die Hocke, um alles besser in Augenschein nehmen zu können.
Wes war wütend auf Manny und angewidert von sich selbst. Er wusste, es war nicht richtig, sie anzustarren, doch er konnte nicht damit aufhören.
"Hast du schon mal eine gesehen?", fragte Manny.
"Nur Steve."
"Keine Leiche, Mann. Ich rede von einer nackten Frau."
"Klar", log er.
Manny strich mit der Hand über ihren Schenkel.
"Hey, lass das!"
"Greif zu, Mann. Anders kommt ein Loser wie du an so eine Klassefrau nicht ran."
"Nimm die Finger von ihr, verdammt."
"Es könnte ruhig ein bisschen heller sein." Manny fing an, ihr Bein zur Seite zu ziehen.
Wes versetzte ihm einen Tritt gegen die Schulter, und er fiel vornüber.
"Hey!"
"Fummel nicht an ihr rum. Lass sie in Ruhe!"
"Arschloch!" Manny sprang auf und wirbelte zu Wes herum. Er ballte die Fäuste.
Wes registrierte, dass er noch immer die Bierflasche in der Hand hielt. "Bleib, wo du bist!", zischte er warnend. "Ich schlag zu. Ich schwör dir, ich schlag dir den Schädel ein."
Er hob die Flasche wie einen Knüppel über den Kopf, und kaltes Bier floss seinen Arm hinab.
"Glaubst du, du kannst es mit mir aufnehmen? Ich schieb dir die Flasche in deinen jungfräulichen Arsch."
"Ich will mich nicht mit dir prügeln", sagte Wes.
"Das ist auch besser für dich. Lass es lieber."
Wes warf die Flasche weg. Sie flog über die niedrige Mauer, auf der Darlene gelegen hatte. Ein paar Sekunden später landete sie mit einem leisen Klatschen im Fluss.
"Okay?", fragte er. "Okay?"
"Okay." Mit einem Grinsen schlug Manny Wes auf die Schulter. Dann rammte er ihm sein Knie in den Bauch. Wes klappte zusammen. "Jetzt sind wir quitt", sagte Manny, nahm Wes' Arm und half ihm hoch. "Ich weiss nicht, warum du immer das Arschloch markieren musst. Los, wir checken sie aus. So 'ne Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage."
Wes krümmte sich vornüber und hielt sich den Bauch, während er nach Luft schnappte und den Kopf schüttelte.
"Wie du meinst, aber leg dich nicht mit mir an."
Manny drehte sich um und beugte sich über die Leiche. Und fuhr kerzengerade hoch, als in der Ferne Scheinwerfer auftauchten.
Sie rannten. Weg von der toten Darlene und durch die Hitze des brennenden Wagens in die kühlere Nachtluft dahinter. Dann stiegen sie in Mannys Wagen.
Manny liess den Motor an, warf Wes einen Blick zu und grinste. "Pech gehabt", sagte er. "Hätte ein echter Kick werden können." Dann wendete er den Wagen in einer engen Kurve, und sie bretterten in Richtung Stadt.
Kapitel Zwei Als am Montagmorgen ihr Wecker plärrte, drückte Vicki die Schlummertaste, um sich zehn weitere Minuten zu gönnen. Sie streckte sich, rollte herum und vergrub das Gesicht in der warmen Mulde ihres Kissens.
Eigentlich liebte sie diesen Moment, wenn sie sich in die wohlige Wärme ihres Betts kuscheln und die Gedanken schweifen lassen konnte.
Heute jedoch fühlte sie sich unbehaglich und verängstigt.
Sie wusste, dass Steve und Darlene der Grund dafür waren.
Es liess sie innerlich frösteln.
Sie hatte eigentlich kein Mitleid mit den beiden. Schliesslich hatten sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn es stimmte, was Cynthia erzählt hatte. Niemand raste mit siebzig über die River Road. Und wenn sie tatsächlich nackt gewesen waren, als sie gegen die Brücke knallten, umso schlimmer. Sie waren gerast und hatten es miteinander getrieben. Das war praktisch Selbstmord.
Ausserdem war es um die beiden nicht wirklich schade. Steve sah vielleicht blendend aus und gab einen ziemlich guten Quarterback ab, war aber derart eingebildet, dass einem das Kotzen kam. Und Darlene war nicht nur eingebildet, sondern setzte ihr Aussehen als Folterinstrument ein, um die Hälfte der Jungs in der Schule zu quälen.
Vicki wusste, dass sie keinen der beiden vermissen würde.
Aber sie waren tot.
Tot.
Die Kälte in ihrem Inneren nahm zu.
Rumliegen und Rumgrübeln machten es nicht gerade besser.
Sie stand auf und stellte die Weckwiederholung aus, streckte sich, zog ihre Pyjamahose hoch und trat ans Schlafzimmerfenster.
Draussen war es wunderschön. Der Himmel war wolkenlos und blassblau. In der Ferne ging Mr. Blain auf seinem Dock in die Hocke, um die Leine seines Aussenborders zu lösen.
Die warme Morgenbrise zupfte an Vickis Pyjama, so dass der leichte Stoff ihre Haut streichelte.
Sie hörte das Summen von Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Schnattern eines Seetauchers. Ein Schmetterling flatterte an ihrem Fenster vorüber.
Sie dachte, wie schön dies alles war, und dann dachte sie, dass Darlene und Steve nie wieder einen neuen Morgen erleben würden.
Sie stellte sich Darlene in einem dunklen, engen Sarg vor, begraben unter sechs Fuss Erde. Das schien ihr irgendwie schlimmer als verbrannt zu werden wie Steve.
Fröstelnd wandte sie sich vom Fenster ab. Sie ging zum Schrank und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Während sie aus dem Zimmer lief, beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass beide im Himmel waren. Sie war sich nicht sicher, ob es einen Himmel gab, aber der Gedanke daran war besser als die Vorstellung, dass sie einfach nur für immer tot waren.
Im Korridor roch sie Kaffee. Sie fragte sich, wie etwas, das so köstlich roch, so bitter schmecken konnte.
Dad sass mit seinem Kaffee am Frühstückstisch. Mom stand am Herd und sah über die Schulter, als Vicki hereinkam. "Willst du Spiegelei oder Rührei?", fragte sie.
"Spiegelei, glaube ich."
Es schien alles so normal.
"Morgen, Pops."
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hatte sich noch nicht rasiert.
Irgendwo hatte sie gehört, dass der Bart nach dem Tod eines Mannes noch eine Weile weiterwächst.
Er tätschelte Vickis Hüfte.
Er wird irgendwann sterben, dachte sie. Und Mom auch.
Hör auf damit, sagte sie sich. Sie sind erst achtunddreissig, Herrgott nochmal.
Sie drückte ihn noch einmal ganz besonders fest, richtete sich auf und sah ihre Mutter an. Mom schlug gerade ein Ei in die Pfanne. Sie trug das blaue Kleid, das Dad ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
Wenn ich jetzt rumlaufe und jeden umarme, dachte Vicki, werden sie mich für gestört halten.
Also setzte sie sich auf den Stuhl, auf dem sie immer sass, und trank einen Schluck Orangensaft. Dad sah ihr dabei zu.
"Hast du gut geschlafen?", fragte er.
"Klar."
"Schlecht geträumt?"
Sie zuckte die Achseln.
"Wir haben dich heute Nacht im Schlaf reden hören", sagte Mom vom Herd herüber.
"Wirklich? Hab ich irgendwas Interessantes gesagt?"
"Nur unverständliches Gebrabbel", erwiderte ihr Dad.
"Es klang jedenfalls ziemlich aufgebracht."
"Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht."
"Wenn dich irgendwas bedrückt "Ich bin okay, Mom. Wirklich."
"Wie zum Beispiel, dass deine Periode ausbleibt", sagte Dad.
Vicki merkte, wie sie rot wurde. "Sehr witzig."
"Das ist es also nicht?"
"Wohl kaum."
Mom brachte den Teller. Das Spiegelei lag auf einer Scheibe Toast, wie Vicki es mochte, mit zwei Streifen gebratenem Speck. Während sie ihr Frühstück zerschnitt und alles durcheinandermischte, goss Mom Dad und sich selbst Kaffee nach und setzte sich.
"Es war eine wunderschöne Totenmesse gestern. Du hättest wirklich mitkommen sollen."
"Hätte dir geholfen, die Sache aus dem Kopf zu kriegen", fügte Dad hinzu.
"Mein Kopf ist in Ordnung, vielen Dank."
"Dein Wissenschaftsprojekt hätte warten können", sagte Mom. "Du hast noch die ganze Woche Zeit bis zur Ausstellung." "Ich wollte es hinter mir haben. Ausserdem sind Dar- lenes Eltern eure Freunde, nicht meine."
"Sie haben nach dir gefragt", sagte Mom.
"Na toll", murmelte sie. Sie spiesste ein Stück Speck, Weisses vom Ei und dotterdurchweichten Toast auf ihre Gabel und schob sie in ihren Mund. Es schmeckte nicht so gut wie sonst.
Vielen Dank, dass ihr mir das Frühstück vermiest habt, Leute.
"Tja", sagte Dad, "es war deine Entscheidung."
"Meine Entscheidung, aber anscheinend die falsche."
"Es wäre nett gewesen, wenn du hingegangen wärst", sagte Mom.
"Okay. Das nächste Mal, wenn sich ein paar Kids umbringen, weil sie mit siebzig durch die Gegend rasen und dabei vögeln, gehe ich bestimmt zu ihrer Beerdigung."
Moms Gesicht lief dunkelrot an.
Dad zog die Augenbrauen hoch und schien irgendwie amüsiert.
"Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen?"
"Tut mir leid, Mom."
"Wenn du ihre Eltern gesehen hättest Mom biss sich auf die Unterlippe. In ihren Augen schimmerten Tränen. "Ihre einzige Tochter "Ich weiss. Tut mir leid."
"Ich musste immer nur denken, wie ich mich fühlen würde, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst."
Jetzt wurden auch Dads Augen feucht.
"War ich aber nicht."
"Du hättest es sein können."
"Klar hätte ich es sein können. Auf jeden Fall. Wenn ich so aussähe wie Darlene und die Anführerin der Cheerleadertruppe wäre und alle Jungs zu sabbern anfingen, wenn sie mir auf die Bluse glotzen, und einen superscharfen Freund hätte, der es cool findet, auszuprobieren, wie schnell er auf einer schmalen Strasse fahren kann, während ich weiss Gott was mit ihm mache. Hätte genauso gut ich sein können. Ganz bestimmt! Aber ich bin nun mal keine atemberaubende Schönheit, und Typen wie Steve Kraft ist es egal, dass ich existiere, und der Einzige, dem ich nicht egal bin, ist zu schüchtern und viel zu schlau, um wie ein Verrückter zu fahren, und wenn er es täte, würde ich den verdammten Zündschlüssel rausziehen und ihn zwingen, ihn zu schlucken."
Sie hielt inne, nickte einmal mit dem Kopf, kurz und heftig, und schob sich eine weitere Gabel vom Frühstück in den Mund.
"Na, na", sagte Dad. Er hatte noch immer feuchte Augen, doch um seinen Mund zuckte ein schiefes Grinsen.
Moms Mund stand offen. Sie wirkte perplex, hatte aber immerhin aufgehört zu weinen.
Dad stand vom Tisch auf. "Leider muss ich jetzt gehen und unseren Lebensunterhalt verdienen. Und ich hoffe, ihr Damen verfallt ohne mich nicht in irgendwelche üblen Tiraden, okay?"
Er trat hinter Vickis Stuhl und legte die Hände auf ihre Schultern. "Du bist ebenfalls eine atemberaubende Schönheit", sagte er.
Mom nickte zustimmend. "Du solltest dich nicht immer kleiner machen als du bist, Liebling. Du bist eine sehr attraktive junge Frau - und sehr klug. Dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich. Es gibt keinen Grund, warum du auf jemanden wie Darlene eifersüchtig oder neidisch sein solltest."
"Ich beneide sie nicht, das ist mal sicher."
"Gut", sagte Mom. Sie hatte ihre Bemerkung nicht kapiert.
Dad schon. Er küsste Vicki auf den Kopf. "Biest", murmelte er und ging.
Der Rest des Frühstücks schmeckte ausgezeichnet.
Sich die Dinge von der Seele zu reden, dachte sie, steigert anscheinend den Appetit.
"Alice ist da", rief Mom, kurz nachdem Vicki die Türglocke hatte läuten hören.
"Komme sofort." Sie band sich ihre weissen Nikes zu, sprang vom Bett auf und warf sich ihre Büchertasche um, während sie aus dem Zimmer eilte.
Es tat ihr gut, Ace zu sehen. An diesem Morgen ganz besonders.
"Ich weiss", sagte Ace zu Mom. "Es ist eine schreckliche Tragödie." Sie nickte Vicki zu. Ihr Gesicht wirkte ernst. "Besonders für ihre Eltern."
"Furchtbar", sagte Mom. Obwohl sie genauso gross war wie Vicki, die man nicht gerade als halbe Portion bezeichnen konnte, wirkte sie neben Ace klein und zerbrechlich.
Wie fast jeder.
Alice "Ace" Mason war das grösste Mädchen in der Abschlussklasse, und viele der Jungs schienen, auch wenn sie eigentlich grösser waren, in ihrer Gegenwart zu schrumpfen.
Imposant, dachte Vicki. Genau das ist sie.
Ebenso imponierend war die teilnahmsvolle Pose, mit der sie Vicki einen gekonnt traurigen Dackelblick zuwarf.
"Wir sollten langsam los", sagte sie. "Schönen Tag noch, Mrs. Chandler."
Vicki gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und folgte Ace nach draussen. Einen halben Block weiter sah Ace Vicki mit hellen schlitzohrig funkelnden Augen an.
"Trägst du kein Trauerschwarz, Vicks?", fragte sie in gewohnt barscher Art.
"Und du?"
Ace schnaubte verächtlich. "Ein schwarzes Höschen reicht doch wohl, Schätzchen." Sie streckte ihren Hintern in Vickis Richtung.
Sie trug knallenge weisse Shorts, durch deren Stoff sich ein dunkles Dreieck und ein schmales Hüftband abzeichneten.
"Ganz schön schwarz."
"Kann man es sehen?" Sie drehte sich herum und sah selbst nach. "Scheiss drauf."
"Sehr sexy."
"Hab ich extra bestellt. Soll ich dir auch einen besorgen?"
"Bestimmt nicht. Was, wenn Mom die Wäsche macht?"
Wes starrte in die gleiche Richtung.
Das Mädchen lag über der niedrigen Betonbrüstung in der Mitte der Brücke.
Wes glaubte zumindest, dass es ein Mädchen war. Er war sich jedoch nicht sicher, denn ihr Kopf war nicht zu sehen. Andererseits sah es aus, als ob sie nackt wäre, und Steve Kraft hatte sicherlich keinen nackten Mann in seinen Wagen gelassen.
"Ich glaube, sie hat gar nichts an", sagte Manny. Seine Stimme klang gedämpft und irgendwie verschwörerisch. "Komm mit."
Sie gingen langsam auf sie zu. Wes fühlte, wie sein Herz hämmerte. Sein Mund war trocken. Er nahm noch einen Schluck Bier.
"Wette, es ist Darlene", sagte Manny.
"Ja."
Manny rieb sich mit der Hand über den Mund. "Die hat nicht einen Faden am Leib. Kein Wunder, dass Kraft gegen die Mauer gedonnert ist."
Der Schein des Feuers flackerte über die nackte Haut ihres Rückens, ihres Hinterns und ihrer Beine. Ihr linkes Bein hing auf den Gehweg herab. Das andere lag angewinkelt auf der Mauer, als hätte sie versucht, darüber zu klettern und in den Fluss zu springen.
"Was macht sie da?", flüsterte Wes.
"Vielleicht hat sie 'ne Kontaktlinse verloren", sagte Manny und stiess ein kurzes, nervöses Lachen hervor. "Nicht einen Faden am Leib", murmelte er erneut.
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, stellte Wes fest. Jetzt, da sie näher bei dem Mädchen waren, konnte er sehen, dass sie weisse Socken und weisse Tennisschuhe trug. An ihrem linken Knöchel baumelte ein Höschen, das im rötlichen Schein der Flammen zu glänzen schien.
"Glaubst du, sie ist froh, uns zu sehen?", fragte Manny.
Wes fand es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten. Er hatte den starken Verdacht, dass Darlene so ziemlich jeden anderen lieber sehen wollte als Manny. Sie und all die übrigen eingebildeten Cheerleader und die meisten anderen Kids in der Oberstufe der Ellsworth High hielten Manny für den Abschaum des Planeten.
"Hey, Darlene, nicht springen! So schlimm ist es doch gar nicht. Stevie ist hinüber, aber wir sind ja hier."
Sie bewegte sich nicht.
"Vielleicht ist sie verletzt", sagte Wes.
"So schlimm kann sie nicht verletzt sein, wenn sie so weit gekommen ist. Darle-e-ene."
Als sie näher kamen, sah sich Wes nach dem brennenden Wagen um. Flammen loderten durch das Loch, wo einmal die Frontscheibe gewesen war. Er blickte wieder nach vorn. Manny stand bereits neben dem reglos auf der Brüstung liegenden Mädchen. "Hey, glaubst du, sie ist so weit rausgeschleudert worden?"
"Ganz sicher nicht." Er gab ihr einen Klaps auf den nackten Hintern. Die Pobacken bebten ganz leicht, doch sie zuckte nicht und schrie auch nicht auf. Er beugte sich über sie. "Hey, Wes", sagte er. "Ich glaube, ich weiss, was sie verloren hat."
Wes gefiel der hohe, merkwürdig schrille Ton in Mannys Stimme überhaupt nicht. "Was denn?"
"Ihren Kopf."
"Lass die Witze."
"Schau doch selbst nach."
Wes schob sich seitlich an Manny vorbei und beugte sich vor.
Ihre linke Schulter lag auf der Mauer. Die rechte ragte über den Rand der Brüstung hinaus. Ihr Arm hing schlaff herab und schien auf den Fluss zu deuten.
Wes wusste, dass ihr Kopf direkt zwischen den Schultern sein hätte sollen, doch er konnte ihn tatsächlich nicht entdecken.
"Nein", sagte er. "Er muss doch da sein." Diese Seite der Mauer wurde nicht vom Lichtschein des Feuers erhellt. Deshalb konnte er Darlenes Kopf nicht sehen.
"Die Schlampe wurde glatt enthauptet." Um zu beweisen, dass er Recht hatte, zog Manny an einem der nackten Beine der Toten.
Wes stiess einen erschreckten Schrei aus und machte einen Satz rückwärts, als der Körper sich auf ihn zubewegte, von der Brüstung rollte und vor seinen Füssen auf den Gehsteig fiel.
"Siehst du?", sagte Manny und machte einen Schritt zur Seite, damit sein Schatten sie nicht mehr verdeckte.
Wes sah es jetzt auch. Er sah den Stumpf ihres Halses zwischen den Schultern.
"Das ist tatsächlich Darlene", brummte Manny. "Sonst hat keine solche Titten."
"Ich finde, wir sollten sie nicht so angaffen", sagte Wes. "Schliesslich ist sie tot."
"Ja, sieht ganz so aus." Manny ging in die Hocke, um alles besser in Augenschein nehmen zu können.
Wes war wütend auf Manny und angewidert von sich selbst. Er wusste, es war nicht richtig, sie anzustarren, doch er konnte nicht damit aufhören.
"Hast du schon mal eine gesehen?", fragte Manny.
"Nur Steve."
"Keine Leiche, Mann. Ich rede von einer nackten Frau."
"Klar", log er.
Manny strich mit der Hand über ihren Schenkel.
"Hey, lass das!"
"Greif zu, Mann. Anders kommt ein Loser wie du an so eine Klassefrau nicht ran."
"Nimm die Finger von ihr, verdammt."
"Es könnte ruhig ein bisschen heller sein." Manny fing an, ihr Bein zur Seite zu ziehen.
Wes versetzte ihm einen Tritt gegen die Schulter, und er fiel vornüber.
"Hey!"
"Fummel nicht an ihr rum. Lass sie in Ruhe!"
"Arschloch!" Manny sprang auf und wirbelte zu Wes herum. Er ballte die Fäuste.
Wes registrierte, dass er noch immer die Bierflasche in der Hand hielt. "Bleib, wo du bist!", zischte er warnend. "Ich schlag zu. Ich schwör dir, ich schlag dir den Schädel ein."
Er hob die Flasche wie einen Knüppel über den Kopf, und kaltes Bier floss seinen Arm hinab.
"Glaubst du, du kannst es mit mir aufnehmen? Ich schieb dir die Flasche in deinen jungfräulichen Arsch."
"Ich will mich nicht mit dir prügeln", sagte Wes.
"Das ist auch besser für dich. Lass es lieber."
Wes warf die Flasche weg. Sie flog über die niedrige Mauer, auf der Darlene gelegen hatte. Ein paar Sekunden später landete sie mit einem leisen Klatschen im Fluss.
"Okay?", fragte er. "Okay?"
"Okay." Mit einem Grinsen schlug Manny Wes auf die Schulter. Dann rammte er ihm sein Knie in den Bauch. Wes klappte zusammen. "Jetzt sind wir quitt", sagte Manny, nahm Wes' Arm und half ihm hoch. "Ich weiss nicht, warum du immer das Arschloch markieren musst. Los, wir checken sie aus. So 'ne Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage."
Wes krümmte sich vornüber und hielt sich den Bauch, während er nach Luft schnappte und den Kopf schüttelte.
"Wie du meinst, aber leg dich nicht mit mir an."
Manny drehte sich um und beugte sich über die Leiche. Und fuhr kerzengerade hoch, als in der Ferne Scheinwerfer auftauchten.
Sie rannten. Weg von der toten Darlene und durch die Hitze des brennenden Wagens in die kühlere Nachtluft dahinter. Dann stiegen sie in Mannys Wagen.
Manny liess den Motor an, warf Wes einen Blick zu und grinste. "Pech gehabt", sagte er. "Hätte ein echter Kick werden können." Dann wendete er den Wagen in einer engen Kurve, und sie bretterten in Richtung Stadt.
Kapitel Zwei Als am Montagmorgen ihr Wecker plärrte, drückte Vicki die Schlummertaste, um sich zehn weitere Minuten zu gönnen. Sie streckte sich, rollte herum und vergrub das Gesicht in der warmen Mulde ihres Kissens.
Eigentlich liebte sie diesen Moment, wenn sie sich in die wohlige Wärme ihres Betts kuscheln und die Gedanken schweifen lassen konnte.
Heute jedoch fühlte sie sich unbehaglich und verängstigt.
Sie wusste, dass Steve und Darlene der Grund dafür waren.
Es liess sie innerlich frösteln.
Sie hatte eigentlich kein Mitleid mit den beiden. Schliesslich hatten sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn es stimmte, was Cynthia erzählt hatte. Niemand raste mit siebzig über die River Road. Und wenn sie tatsächlich nackt gewesen waren, als sie gegen die Brücke knallten, umso schlimmer. Sie waren gerast und hatten es miteinander getrieben. Das war praktisch Selbstmord.
Ausserdem war es um die beiden nicht wirklich schade. Steve sah vielleicht blendend aus und gab einen ziemlich guten Quarterback ab, war aber derart eingebildet, dass einem das Kotzen kam. Und Darlene war nicht nur eingebildet, sondern setzte ihr Aussehen als Folterinstrument ein, um die Hälfte der Jungs in der Schule zu quälen.
Vicki wusste, dass sie keinen der beiden vermissen würde.
Aber sie waren tot.
Tot.
Die Kälte in ihrem Inneren nahm zu.
Rumliegen und Rumgrübeln machten es nicht gerade besser.
Sie stand auf und stellte die Weckwiederholung aus, streckte sich, zog ihre Pyjamahose hoch und trat ans Schlafzimmerfenster.
Draussen war es wunderschön. Der Himmel war wolkenlos und blassblau. In der Ferne ging Mr. Blain auf seinem Dock in die Hocke, um die Leine seines Aussenborders zu lösen.
Die warme Morgenbrise zupfte an Vickis Pyjama, so dass der leichte Stoff ihre Haut streichelte.
Sie hörte das Summen von Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Schnattern eines Seetauchers. Ein Schmetterling flatterte an ihrem Fenster vorüber.
Sie dachte, wie schön dies alles war, und dann dachte sie, dass Darlene und Steve nie wieder einen neuen Morgen erleben würden.
Sie stellte sich Darlene in einem dunklen, engen Sarg vor, begraben unter sechs Fuss Erde. Das schien ihr irgendwie schlimmer als verbrannt zu werden wie Steve.
Fröstelnd wandte sie sich vom Fenster ab. Sie ging zum Schrank und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Während sie aus dem Zimmer lief, beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass beide im Himmel waren. Sie war sich nicht sicher, ob es einen Himmel gab, aber der Gedanke daran war besser als die Vorstellung, dass sie einfach nur für immer tot waren.
Im Korridor roch sie Kaffee. Sie fragte sich, wie etwas, das so köstlich roch, so bitter schmecken konnte.
Dad sass mit seinem Kaffee am Frühstückstisch. Mom stand am Herd und sah über die Schulter, als Vicki hereinkam. "Willst du Spiegelei oder Rührei?", fragte sie.
"Spiegelei, glaube ich."
Es schien alles so normal.
"Morgen, Pops."
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er hatte sich noch nicht rasiert.
Irgendwo hatte sie gehört, dass der Bart nach dem Tod eines Mannes noch eine Weile weiterwächst.
Er tätschelte Vickis Hüfte.
Er wird irgendwann sterben, dachte sie. Und Mom auch.
Hör auf damit, sagte sie sich. Sie sind erst achtunddreissig, Herrgott nochmal.
Sie drückte ihn noch einmal ganz besonders fest, richtete sich auf und sah ihre Mutter an. Mom schlug gerade ein Ei in die Pfanne. Sie trug das blaue Kleid, das Dad ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
Wenn ich jetzt rumlaufe und jeden umarme, dachte Vicki, werden sie mich für gestört halten.
Also setzte sie sich auf den Stuhl, auf dem sie immer sass, und trank einen Schluck Orangensaft. Dad sah ihr dabei zu.
"Hast du gut geschlafen?", fragte er.
"Klar."
"Schlecht geträumt?"
Sie zuckte die Achseln.
"Wir haben dich heute Nacht im Schlaf reden hören", sagte Mom vom Herd herüber.
"Wirklich? Hab ich irgendwas Interessantes gesagt?"
"Nur unverständliches Gebrabbel", erwiderte ihr Dad.
"Es klang jedenfalls ziemlich aufgebracht."
"Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht."
"Wenn dich irgendwas bedrückt "Ich bin okay, Mom. Wirklich."
"Wie zum Beispiel, dass deine Periode ausbleibt", sagte Dad.
Vicki merkte, wie sie rot wurde. "Sehr witzig."
"Das ist es also nicht?"
"Wohl kaum."
Mom brachte den Teller. Das Spiegelei lag auf einer Scheibe Toast, wie Vicki es mochte, mit zwei Streifen gebratenem Speck. Während sie ihr Frühstück zerschnitt und alles durcheinandermischte, goss Mom Dad und sich selbst Kaffee nach und setzte sich.
"Es war eine wunderschöne Totenmesse gestern. Du hättest wirklich mitkommen sollen."
"Hätte dir geholfen, die Sache aus dem Kopf zu kriegen", fügte Dad hinzu.
"Mein Kopf ist in Ordnung, vielen Dank."
"Dein Wissenschaftsprojekt hätte warten können", sagte Mom. "Du hast noch die ganze Woche Zeit bis zur Ausstellung." "Ich wollte es hinter mir haben. Ausserdem sind Dar- lenes Eltern eure Freunde, nicht meine."
"Sie haben nach dir gefragt", sagte Mom.
"Na toll", murmelte sie. Sie spiesste ein Stück Speck, Weisses vom Ei und dotterdurchweichten Toast auf ihre Gabel und schob sie in ihren Mund. Es schmeckte nicht so gut wie sonst.
Vielen Dank, dass ihr mir das Frühstück vermiest habt, Leute.
"Tja", sagte Dad, "es war deine Entscheidung."
"Meine Entscheidung, aber anscheinend die falsche."
"Es wäre nett gewesen, wenn du hingegangen wärst", sagte Mom.
"Okay. Das nächste Mal, wenn sich ein paar Kids umbringen, weil sie mit siebzig durch die Gegend rasen und dabei vögeln, gehe ich bestimmt zu ihrer Beerdigung."
Moms Gesicht lief dunkelrot an.
Dad zog die Augenbrauen hoch und schien irgendwie amüsiert.
"Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen?"
"Tut mir leid, Mom."
"Wenn du ihre Eltern gesehen hättest Mom biss sich auf die Unterlippe. In ihren Augen schimmerten Tränen. "Ihre einzige Tochter "Ich weiss. Tut mir leid."
"Ich musste immer nur denken, wie ich mich fühlen würde, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst."
Jetzt wurden auch Dads Augen feucht.
"War ich aber nicht."
"Du hättest es sein können."
"Klar hätte ich es sein können. Auf jeden Fall. Wenn ich so aussähe wie Darlene und die Anführerin der Cheerleadertruppe wäre und alle Jungs zu sabbern anfingen, wenn sie mir auf die Bluse glotzen, und einen superscharfen Freund hätte, der es cool findet, auszuprobieren, wie schnell er auf einer schmalen Strasse fahren kann, während ich weiss Gott was mit ihm mache. Hätte genauso gut ich sein können. Ganz bestimmt! Aber ich bin nun mal keine atemberaubende Schönheit, und Typen wie Steve Kraft ist es egal, dass ich existiere, und der Einzige, dem ich nicht egal bin, ist zu schüchtern und viel zu schlau, um wie ein Verrückter zu fahren, und wenn er es täte, würde ich den verdammten Zündschlüssel rausziehen und ihn zwingen, ihn zu schlucken."
Sie hielt inne, nickte einmal mit dem Kopf, kurz und heftig, und schob sich eine weitere Gabel vom Frühstück in den Mund.
"Na, na", sagte Dad. Er hatte noch immer feuchte Augen, doch um seinen Mund zuckte ein schiefes Grinsen.
Moms Mund stand offen. Sie wirkte perplex, hatte aber immerhin aufgehört zu weinen.
Dad stand vom Tisch auf. "Leider muss ich jetzt gehen und unseren Lebensunterhalt verdienen. Und ich hoffe, ihr Damen verfallt ohne mich nicht in irgendwelche üblen Tiraden, okay?"
Er trat hinter Vickis Stuhl und legte die Hände auf ihre Schultern. "Du bist ebenfalls eine atemberaubende Schönheit", sagte er.
Mom nickte zustimmend. "Du solltest dich nicht immer kleiner machen als du bist, Liebling. Du bist eine sehr attraktive junge Frau - und sehr klug. Dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich. Es gibt keinen Grund, warum du auf jemanden wie Darlene eifersüchtig oder neidisch sein solltest."
"Ich beneide sie nicht, das ist mal sicher."
"Gut", sagte Mom. Sie hatte ihre Bemerkung nicht kapiert.
Dad schon. Er küsste Vicki auf den Kopf. "Biest", murmelte er und ging.
Der Rest des Frühstücks schmeckte ausgezeichnet.
Sich die Dinge von der Seele zu reden, dachte sie, steigert anscheinend den Appetit.
"Alice ist da", rief Mom, kurz nachdem Vicki die Türglocke hatte läuten hören.
"Komme sofort." Sie band sich ihre weissen Nikes zu, sprang vom Bett auf und warf sich ihre Büchertasche um, während sie aus dem Zimmer eilte.
Es tat ihr gut, Ace zu sehen. An diesem Morgen ganz besonders.
"Ich weiss", sagte Ace zu Mom. "Es ist eine schreckliche Tragödie." Sie nickte Vicki zu. Ihr Gesicht wirkte ernst. "Besonders für ihre Eltern."
"Furchtbar", sagte Mom. Obwohl sie genauso gross war wie Vicki, die man nicht gerade als halbe Portion bezeichnen konnte, wirkte sie neben Ace klein und zerbrechlich.
Wie fast jeder.
Alice "Ace" Mason war das grösste Mädchen in der Abschlussklasse, und viele der Jungs schienen, auch wenn sie eigentlich grösser waren, in ihrer Gegenwart zu schrumpfen.
Imposant, dachte Vicki. Genau das ist sie.
Ebenso imponierend war die teilnahmsvolle Pose, mit der sie Vicki einen gekonnt traurigen Dackelblick zuwarf.
"Wir sollten langsam los", sagte sie. "Schönen Tag noch, Mrs. Chandler."
Vicki gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und folgte Ace nach draussen. Einen halben Block weiter sah Ace Vicki mit hellen schlitzohrig funkelnden Augen an.
"Trägst du kein Trauerschwarz, Vicks?", fragte sie in gewohnt barscher Art.
"Und du?"
Ace schnaubte verächtlich. "Ein schwarzes Höschen reicht doch wohl, Schätzchen." Sie streckte ihren Hintern in Vickis Richtung.
Sie trug knallenge weisse Shorts, durch deren Stoff sich ein dunkles Dreieck und ein schmales Hüftband abzeichneten.
"Ganz schön schwarz."
"Kann man es sehen?" Sie drehte sich herum und sah selbst nach. "Scheiss drauf."
"Sehr sexy."
"Hab ich extra bestellt. Soll ich dir auch einen besorgen?"
"Bestimmt nicht. Was, wenn Mom die Wäsche macht?"
... weniger
Autoren-Porträt von Richard Laymon
Laymon, RichardRichard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Grossbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Laymon
- 2010, Masse: 12 x 18,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Gerstberger, Helmut
- Übersetzer: Helmut Gerstberger
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345367555X
- ISBN-13: 9783453675551
Rezension zu „Das Grab “
»So unheimlich und gruselig, dass Ihnen das Blut in den Adern gefrieren wird.« Dean Koontz
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