Das gläserne Paradies
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Das gläserneParadies von Petra Durst-Benning
LESEPROBE
18.September 1911
Mit steifemRücken und versteinerter Miene ging Wanda in Richtung Bahnhof. Wie immer umdiese Tageszeit herrschte dort reger Betrieb: Glasbläser aus dem nahen Lauscha, die ihre Waren bei einem SonnebergerVerleger ablieferten, Hausfrauen aus Steinach und anderen umliegendenGemeinden, die es nach ihren Einkäufen in der grossen Stadt nun eilig hatten,wieder nach Hause zu kommen, Geschäftsleute, die mit wichtiger Miene wichtigeAktenkoffer mit sich trugen. Viele der Wartenden streckten ihre Gesichter derSonne entgegen, um die letzten wärmenden Strahlen zu geniessen.
Doch Wandaspürte weder die Sonne, die für Mitte September noch ungewöhnlich warm war,noch bemerkte sie den verführerischen Geruch, der aus einer nahen Wurstbratereiherüberwehte.
Als sieendlich auf dem Bahnsteig stand, erschlaffte ihre angespannte Miene.
Aus.Vorbei. Sie brauchte keine Contenance mehr zu zeigen. Niemanden würde es mehrkümmern, ob sie heulte oder tobte oder ob ihr der Rotz aus der Nase lief wiebei einem kleinen Kind.
Aber sieheulte nicht. Und sie tobte nicht.
Sie spürtenicht einmal mehr ihre Traurigkeit, nicht die Angst und nicht die Sorge. Dennsie hatte alles verloren.
Sie hattedie Menschen, die ihr am nächsten standen, enttäuscht, war eine Versagerin aufder ganzen Linie.
Hatte siedas nicht schon immer gewusst?
Ihr Blickheftete sich auf die Schienen. Oh, wie vertraut war ihr der Weg, den die Bahnvon Sonneberg nach Lauscha nahm! In- und auswendigkannte sie diese Strecke. Kannte jede der Kurven, in denen es einen auf denharten Bänken zur Seite drückte, kannte das Stück, wo die Lokomotive zuschnaufen anfing und immer langsamer wurde. Sie wusste,wann die schattigen Stellen entlang der steilen Berghänge kamen, wo es in denAbteilen urplötzlich düster wurde.
Wieromantisch hatte sie diese Bahnstrecke stets empfunden! Genauso romantisch wieihr Lauscha am Ende der Strecke. Eingebettet in dashochgelegene Tal, mitten im gläsernen Paradies ...
Wandastöhnte auf. Bei dem Gedanken daran, wie viele Menschen dort am Bahnhof auf siewarteten, verkrampfte sich ihr Magen. Bestimmt stand schon jetzt ein Empfangskomiteebereit, womöglich mit Wein und Gesang - warum sonst hatten die anderen daraufbestanden, ausgerechnet heute in Lauscha zu bleiben,statt sie an diesem grossen Tag nach Sonneberg zu begleiten? Und diesen treuen,lieben Seelen, die ihr vertraut hatten und die nun mit ihr feiern wollten,sollte sie entgegentreten und ins Gesicht sagen, dass-
Nein,niemals! Nie mehr würde sie die Bahnstrecke entlangfahren, nie mehr würde siein Lauscha ankommen. Für sie gab es keine Einkäufemehr zu tätigen oder wichtige Unterlagen in wichtig aussehenden Aktenkoffernzu transportieren.
Sie war amEnde ihrer Reise angelangt. Was für ein seltsames Gefühl.
Wievielanders hatte sich gestern noch alles angefühlt, während des feierlichenGottesdienstes zur Einweihung der neuen Kirche in Lauscha!
In ihremRücken hörte sie die Geräusche des nahenden Zuges. Schon lag ein Hauch von verbrannterKohle in der Luft. Je näher der Zug kam, desto russgeschwängerterwürde die Luft werden, und die Menschen auf dem Bahnsteig, die gerade noch sogeniesserisch in die Sonne schauten, würden anfangen zu prusten, und ihre Nasenwürden sich kräuseln.
Erst imletzten Winter hatte sich eine junge Frau vor einen herannahenden Zug gestürzt.Ihr schrecklicher Tod hatte in allen Zeitungen Schlagzeilen gemacht. Wandahatte sich damals nicht vorstellen können, welche Verzweiflung einen Menschenzu solch einer Tat treiben konnte. Dem Leben auf diese Art ein Ende zu setzenwäre feige, hatte sie behauptet. Sie erinnerte sich noch genau an das Gesprächmit Eva, das über diesem Thema zum Streit ausgewachsen war. Eva hatte dieSelbstmörderin und ihre Verzweiflung verstanden. Als feige hätte sie einensolchen Menschen nie bezeichnet. Von den Schienen zermalmt zu werden warschliesslich kein gnädiger Tod, die Gliedmassen wurden durch tonnenschwereLasten abgetrennt, Gedärme entblösst, der ganze Körper zermalmt ... Wanda hattedavon nichts hören wollen.
Du unddeine selbstherrliche Arroganz! tönte es schrill in ihren Ohren. Immer hast dugeglaubt, alles allein meistern zu können. Hast dir eingebildet, besser zusein als andere. Mehr zu können, mehr zu wissen und zu wagen.
DasSchrillen in ihren Ohren wurde lauter und lauter. Wanda drehte sich um, sah dendampfenden, schwarzen Koloss näher und näher kommen.
Aus.Vorbei. Alles verloren.
Sie machteeinen Schritt nach vorn.
© Ullstein
Petra Durst-Benning ist eine internationale Bestsellerautorin. Seit ihrem Debütroman begeistern ihre mutigen Frauenfiguren die Leserinnen und laden sie zu grossen Abenteuern ein. Viele ihrer Romane werden verfilmt. Petra Durst-Benning lebt mit ihrem Mann bei Stuttgart.
- Autor: Petra Durst-Benning
- 2007, 413 Seiten, Masse: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548267912
- ISBN-13: 9783548267913
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