Bis ich dich finde
Ein Roman voller Witz, Melancholie und Ironie. Eine Geschichte über Freundschaft, Verrat und Obsessionen: Jack Burns treibt eine grosse Sehnsucht durchs Leben. Er sucht den Menschen, der seinem Dasein Sinn gibt - seinen Vater. Denn schon mit seiner Mutter...
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Ein Roman voller Witz, Melancholie und Ironie. Eine Geschichte über Freundschaft, Verrat und Obsessionen: Jack Burns treibt eine grosse Sehnsucht durchs Leben. Er sucht den Menschen, der seinem Dasein Sinn gibt - seinen Vater. Denn schon mit seiner Mutter reiste er als Kind durch Europa. Immer dem Vater auf der Spur, der ständig einen Schritt weiter war. Erwachsen macht Jack dann eine erstaunliche Entdeckung.
Bis ich dich finde von John Irving
LESEPROBE
1 - Die Nord-und Ostsee
In der Obhut von Kirchgängern undEhemaligen
auf seiner Mutter war Jack Burnsbereits ein Schauspieler,
bevor er Schauspieler wurde, dochdie lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke,in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten.Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.
Natürlich erinnern wir uns kaum andie Zeit vor unserem vierten oder fünften Lebensjahr - und die wenigenErinnerungen an diese ersten Jahre sind sehr selektiv, unvollständig oderregelrecht falsch. Was in Jacks Erinnerung das erste Mal war, dass er das Bedürfnis verspürte, sich an der Hand seinerMutter festzuhalten, war in Wirklichkeit wahrscheinlich das hundertste oderzweihundertste Mal.
Vorschultests ergaben, dass Jack Burns über einen weit grösseren Wortschatzverfügte als Gleichaltrige, was bei Einzelkindern, die gewohnt sind,Unterhaltungen zwischen Erwachsenen zuzuhören, nichts Ungewöhnliches ist - insbesonderebei Einzelkindern von alleinerziehenden Müttern oderVätern. Signifikanter aber war, wie die Testergebnisse bewiesen, seine konsekutiveGedächtnisleistung, die im Alter von drei Jahren der eines Neunjährigenentsprach. Mit vier Jahren waren sein Erinnerungsvermögen für Einzelheiten(das auch unerhebliche Details wie Kleidungsstücke und Strassennamen umfasste) und sein Verständnis von linearer Zeitvergleichbar denen eines Elfjährigen.
Diese Testergebnisse verblüfftenseine Mutter Alice, die ihn für ein unkonzentriertes Kind hielt; in ihren Augendeutete Jacks Neigung zu Tagträumen darauf hin, dasser für sein Alter eher unreif war.
Trotzdem ging sie mit Jack im Herbst1969, als er vier Jahre alt war und noch nicht die Vorschule besuchte, zur EckePickthall und HutchinsHill Road in Forest Hill, einem wohlhabenden Viertelvon Toronto. Dort warteten sie, wie sie Jack erklärte, auf den Schulschluss, damit er sich die Mädchen einmal ansehen könne.
St. Hilda war das, was man eine»konfessionelle Mädchenschule« nannte. Das Angebot reichte von der Vorschulebis zur dreizehnten Klasse - die gab es in Kanada damals noch -, und JacksMutter hatte beschlossen, dass er dort eingeschultwerden sollte, obwohl er ein Junge war. Von dieser Entscheidung erzählte sieihm erst, als sich, wie um sie beide zu begrüssen, die Haupttore der Schuleöffneten und Mädchen in verschiedenen Stadien von Missmutigkeitund Überschwang, von Adrettheit und Schlampigkeitherausströmten.
»Nächstes Jahr«, verkündete Alice,»werden in St. Hilda auch Jungen aufgenommen. Allerdings bloss sehr wenige undnur bis zur vierten Klasse.«
Jack konnte sich nicht bewegen, jaer konnte kaum atmen. Mädchen gingen rechts und links an ihm vorbei -manche waren gross und laut, und alle hatten Schuluniformen in den Farben an, vondenen Jack Burns später dachte, sie würden ihn bis an sein Lebensendebegleiten: Grau und Kastanienbraun. Die Mädchen trugen graue Pullover oderkastanienbraune Blazer über weissen Matrosenblusen.
»Dich werden sie jedenfalls aufnehmen«,sagte Jacks Mutter. »Dafür werde ich sorgen.«
»Wie?«
»Darüber denke ich noch nach«,antwortete Alice.
Die Mädchen trugen ausserdem graueFaltenröcke und graue Kniestrümpfe. Es war das erste Mal, dassJack so viele nackte Beine sah. Er verstand noch nicht, dassdie Mädchen durch irgendeine innere Unruhe getrieben wurden, die Strümpfe biszu den Knöcheln oder wenigstens über die Waden hinunterzuschieben- trotz der Schulregel, dass Kniestrümpfe bis zum Kniezu reichen hatten.
Jack Burns bemerkte, dass die Mädchen ihn gar nicht wahrnahmen oder einfachdurch ihn hindurchsahen. Nur eine gab es - sie wareine von den älteren und hatte weiblich gerundete Hüften und Brüste, dazuLippen, so voll wie die von Alice -, die Jack in die Augen schaute, als sei sieausserstande, den Blick abzuwenden.
Jack war vier, und er war sichkeineswegs sicher, ob er derjenige war, der seine Augen nicht von ihrlosreissen konnte, oder ob sie es war, die magisch von seinem Blick angezogenwurde. Wie auch immer es sich verhielt - aus ihrem Gesichtsausdruck sprach soviel Wissen, dass sie ihm angst machte. Vielleichthatte sie eine Art Vision gehabt, wie Jack als älterer Junge oder als Erwachseneraussehen würde, und war gebannt von Sehnsucht und Verzweiflung. (Oder von Angstund Erniedrigung, würde Jack Burns eines Tages denken, denn das ältere Mädchenschlug plötzlich die Augen nieder.)
Jack und seine Mutter standen indiesem Meer aus Mädchen, bis alle Schulbusse und Autos vor- und wiederweggefahren waren und bis von denen, die zu Fuss nach Hause gingen, nicht einmaldas Geräusch ihrer Schritte oder ihres einschüchternden, aber aufregendenLachens geblieben war. Die frühherbstliche Luft war noch warm genug, um ihrenDuft zu übertragen, den Jack zaghaft einatmete und für Parfüm hielt. Diemeisten Mädchen in St. Hilda benutzten so etwas nicht, sondern waren eingehülltin ihren eigenen Duft, an den Jack Burns sich nie gewöhnte, den er nie füretwas Selbstverständliches hielt. Nicht einmal am Ende der vierten Klasse.
»Aber warum soll ich hier zurSchule gehen?« fragte Jack seine Mutter, als dieMädchen verschwunden waren. Ein paar welke Blätter waren alles, was sich andieser ruhigen Strassenecke noch bewegte.
»Weil es eine gute Schule ist«,sagte Alice. »Und bei den Mädchen bist du sicher«, fügte sie hinzu.
Jack war offenbar anderer Ansicht,denn er griff sofort nach der Hand seiner Mutter.
In jenem Herbst vor JacksEinschulung in St. Hilda war seine Mutter voller Überraschungen. Nachdem sieihm die uniformierten Mädchen gezeigt hatte, die bald sein Leben beherrschenwürden, verkündete sie, sie werde in Nordeuropa nach Jacks verschwundenemVater suchen. Sie kenne die Hafenstädte an der Nord- und Ostsee, in denen ersich höchstwahrscheinlich vor ihnen verstecke; gemeinsam würden sie ihnaufspüren und mit seiner Pflicht und Schuldigkeit konfrontieren. Jack hatteöfter gehört, dass seine Mutter sie beide als »Pflichtund Schuldigkeit« seines Vaters bezeichnet hatte. Aber selbst im Alter von vierJahren war er überzeugt, dass sein Vater für immer fortgegangen war - und zwar schon vor seiner Geburt.
Und als seine Mutter sagte, siewerde unterwegs, in diesen fremden Städten, Geld verdienen, wussteJack auch, womit. Ihr Vater war Tätowierer, und Alice war Tätowiererin; es wardas einzige, was sie konnte.
In den Hafenstädten, die sieaufsuchen wollte, würden andere Tätowierer ihr Arbeitgeben. Man wusste, dass siebei ihrem Vater in die Lehre gegangen war, einem wohlbekannten Vertreter seinerZunft in Edinburgh - oder vielmehr im zu Edinburgh gehörenden Hafen Leith -,wo Jacks Mutter das Pech gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen.Dort hatte er sie geschwängert und umgehend sitzenlassen.
Laut Alice war Jacks Vater auf der NewScotland nach Halifax gefahren. Sobald er einebezahlte Arbeit gefunden hatte, würde er sie nachkommen lassen - das hatte erjedenfalls versprochen. Doch Alice sagte, sie habe nie wieder etwas von ihmgehört - nur über ihn. Bevor er aus der Stadt verschwunden war, hatteJacks Vater eine breite Spur durch Halifax gezogen.
Jacks Vater hiess eigentlich Callum Burns, doch er hatte während des Studiums seinenVornamen in William geändert. Sein Vater hiess Alasdair,was, wie William sagte, so schottisch war, dass es fürdie ganze Familie reichte. Zum Zeitpunkt seiner skandalösen Abreise nach Nova Scotia war William Burns Mitglied des Royal College of Organists in Edinburgh, was bedeutete, dasser nicht nur einen Abschluss in Musikwissenschaftenbesass, sondern auch diplomierter Organist war. Als er Jacks Mutter kennenlernte, war er Organist an der Pfarrkirche von Süd-Leith; Alice sang dort im Chor.
Für einen jungen Mann, der so tat,als gehöre er zur gehobenen Gesellschaft, und der eine gute Ausbildunggenossen hatte - William Burns war vor dem Studium der Musikwissenschaften ander Universität von Edinburgh in Heriot zur Schulegegangen -, hatte eine erste Anstellung als Organist in einer Arbeiterstadtwie Leith möglicherweise das Flair eines Ausflugs in die Unterschicht. AberJacks Vater pflegte scherzhaft zu sagen, die Church of Scotlandzahle einfach besser als die Scottish Episcopal Church. William gehörte der letzteren an, unddennoch gefiel es ihm ganz gut in der Pfarrkirche von Süd-Leith,auf deren Friedhof angeblich elftausend Menschen lagen, obgleich dort nichtmehr als dreihundert Grabsteine standen.
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© Diogenes Verlag
Übersetzung: Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl
- Autor: John Irving
- 2007, 10. Aufl., 1152 Seiten, Masse: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Dirk van Gunsteren, Nikolaus Stingl
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257236212
- ISBN-13: 9783257236217
- Erscheinungsdatum: 16.05.2007
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